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Inklusion verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler Aufgaben und Anfragen an die Schulentwicklung Regensburg 01.10.2014 Dr. Thomas Müller Universität Würzburg Pädagogik bei Verhaltensstörungen

Inklusion verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler · 1. Psychologistische Umdeutung von pädagogischen Phänomenen: Einfluss von Bezugswissenschaften steigt 2. Standardisierung

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Page 1: Inklusion verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler · 1. Psychologistische Umdeutung von pädagogischen Phänomenen: Einfluss von Bezugswissenschaften steigt 2. Standardisierung

Inklusion verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler

Aufgaben und Anfragen an die Schulentwicklung Regensburg 01.10.2014 Dr. Thomas Müller Universität Würzburg Pädagogik bei Verhaltensstörungen

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Inklusion – was diskutieren wir?

• von der Integration zur Inklusion: inhaltliches oder sprachliches Problem?

• das Verhältnis von Inklusion und Exklusion: Gegensatz oder paradoxe Einheit?

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Fragen an die Inklusionsdiskussion

1. Warum wird jeder Unterschied als Ungleichheit gedeutet? 2. Und warum wird aus jeder Ungleichheit Ungerechtigkeit

abgeleitet? 3. Warum haben wir keinen positiven Begriff von Ungleichheit

entwickelt? 4. Liegt die Illusion der Vielfaltsidee nicht gerade darin, alle

Ungleichheit für gleichermaßen wirksam zu halten? 5. Müssen wir wirklich jede Form der Ungleichheit, z.B. in

Form extrem auffälligen und massiv übergriffigen Verhaltens, willkommen heißen?

Was bedeuten diese Fragen für verhaltensauffällige Schülerinnnen und Schüler?

Und was bedeuten sie für uns?

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Kein Platz? Kein Ort? Nirgends…?

© Magdalena Jetelowa

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Über wen reden wir eigentlich?

• Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Metaanalyse von Ihle & Esser 2002; 2008)

• mittlere Prävalenz bei 18 %, Persistenz bei ca. 10 %

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Es werden immer mehr…

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Sonderpädagogische Förderung in Förderschulen und allgemeinen Schulen zusammen

Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf: Förderquoten

2003: 0,481% aller Schülerinnen und Schüler 2012: 0,944% aller Schülerinnen und Schüler

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Was bedeuten die Zahlen?

• Diskrepanz Epidemiologie + Förderbedarfsfeststellung: Unterstützung aller Schulen ist unverzichtbar!

• „Problemspitzen“ sowie hohe Persistenzraten:

Spezielle Angebote sind unverzichtbar! (Exklusion als Diskriminierung oder als Wohl des Kindes?)

• Das Vorhandensein und bloße Dabeisein der Schüler mit

FB esE bedeutet nicht die Verwirklichung von Inklusion

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Woher könnte der Zuwachs kommen?

• Rückbau des Wohlfahrtsstaates: Erfahrung der Versorgung aus Sicherheitserwägungen

• Zunehmende Eigenverantwortung des Einzelnen: Erfahrungen des Scheiterns steigen

• Zunehmende Tendenzen der Punitivität: z.B. Erfahrungen einer Null-Toleranz-Politik

Gesellschaftliche Probleme sind nicht ausnahmslos pädagogisch zu lösen

Aber: gesellschaftliche Entwicklungen bedingen die pädagogische Praxis und damit auch inklusive Entwicklungen

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Was wissen wir aus Studien?

• das Selbstkonzept verhaltensauffälliger Kinder ist an Sonderschulen leicht besser als an Regelschulen – ihre Mütter gehen aber vom Gegenteil aus

• verhaltensauffällige Schüler sind sozial weniger beliebt, selbst wenn sie sich u.U. genauso verhalten wie Regelschüler, sie neigen zur Binnengruppenbildung (vgl. auch Huber 2010)

• negative Modellwirkung vor allem bei Hyperaktivitäten : Mitschüler reagieren mit Nichtbeachtung, Rückzug und negativer Zuwendung

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Was wissen wir aus Studien?

• verhaltensauffällige Kinder in Integrationsklassen: mehr Interaktion mit Lehrer, nicht-am-Arbeitsplatz sein, nach dem Lehrer rufen: entsteht aber erst durch inkonsistentes Lehrerverhalten im vorsichtigeren, kontrollierenderen und unsichereren Umgang

Selbst wenn man die vorhandenen Studien

methodenkritisch ansieht, bleibt festzuhalten: die Annahme, die Regelbeschulung brächte selbstverständlich positive Effekte und Verhaltensänderungen mit sich, ist falsch.

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… und wie ist die pädagogische Lage?

1. Psychologistische Umdeutung von pädagogischen Phänomenen: Einfluss von Bezugswissenschaften steigt

2. Standardisierung und Technologisierung von Unterricht, Schule und Erziehung steigen

3. Zunehmende Pathologisierung schulischer Lernprozesse sowie Überführung in (schein)therapeutische Fragestellungen

(vgl. Willmann 2012)

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Achtung Falle!

1. Spagat zwischen Standardisierungstendenzen einerseits und Individualisierungsdruck andererseits

2. Spagat wird mit bedenklichen Mitteln gelöst: einseitiger Rückgriff auf Verhaltensmodifikation und Classroommanagementideen

Führt zu Verkürzung auf äußerlich Beobachtbares Führt zur Verkürzung von Erziehungsprozessen Führt zur Verkürzung der Person

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Nur EIN Negativ-Beispiel unter vielen: „Bei Stopp! ist Schluss“ • „Aufgabe der Schule ist es nicht, Gleichheit herzustellen,

sondern Unterschiede deutlich zu machen… In meiner Rolle als Lehrer muss ich von jedem von Euch Opfer verlangen, um euch fit zu machen für die Leistungsgesellschaft“ (9)

• „Wenn Kinder ihren Bewegungs- und Spieltrieb opfern, um Dinge zu lernen, die sie brauchen, um in unserer Leistungsgesellschaft nach ‚oben‘ zu kommen, verdient dies unsere Hochachtung und Anerkennung, ...." (29) Lohn und Strafe werden als Anerkennung und Konsequenz

‚verkauft‘ ‚Klassenrat‘-Konzept wird missbraucht zur Beschämung,

Isolation von Kindern: „Die Chance ist ein wertvolles Geschenk. Wer es achtlos wegwirft, hat es nicht verdient… Übrig bleiben dann die Ordnungsmaßnahmen“ (103)

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Achtung Falle! – weshalb…

• Verhaltensmodifikation ist Anpassung von Symptomen auf einen institutionellen Kontext, aber nicht die erzieherische Arbeit an dem, was den Symptomen zugrunde liegt

• Verhaltensmodifikation mag immer wieder hilfreich sein, ersetzt aber nicht Beziehungsarbeit

• Fortsetzung gesellschaftlicher Punitivitätstendenzen durch überzogene Verhaltensmodifikation

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Was aber hilft dann…?

1. Konzepte subjektiven Sinns 2. Konzepte des sicheren Ortes 3. Konzepte der Selbstbildung

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… Konzepte subjektiven Sinns der Mythos ‚Stärken und Schwächen‘ Kevin schlägt andere Kinder auf dem Schulweg und in der Pause. a) Kevin kann sich abgrenzen und seine Gefühle zum Ausdruck bringen. b) Kevin verfügt über keine Impulskontrolle. Sebastian zerknüllt regelmäßig Arbeitsblätter und Proben. a) Sebastian hat einen Weg gefunden, mit seiner Angst vor Versagen umzugehen. b) Sebastian hat keine Frustrationstoleranz. Jessica ritzt sich mit einer Schere. a) Jessica kennt ein Mittel, um sich selbst spüren zu können. b) Jessica kann mit ihren seelischen Verletzungen nicht adäquat umgehen.

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Kevin schlägt andere Kinder auf dem Schulweg und in der Pause. a) Kevin kann sich abgrenzen und seine Gefühle zum Ausdruck bringen. b) Kevin verfügt über keine Impulskontrolle. c) Kevin sehnt sich danach, von anderen gemocht zu werden. Sebastian zerknüllt regelmäßig Arbeitsblätter und Proben. a) Sebastian hat einen Weg gefunden, mit seiner Angst vor Versagen umzugehen. b) Sebastian hat keine Frustrationstoleranz. c) Sebastian fürchtet sich vor ausbleibender Anerkennung, wenn ihm etwas nicht gelingt. Jessica ritzt sich mit einer Schere. a) Jessica kennt ein Mittel, um sich selbst spüren zu können. b) Jessica kann mit ihren seelischen Verletzungen nicht adäquat umgehen. c) Jessica träumt davon, ihren inneren Druck los zu werden.

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… Konzepte subjektiven Sinns

I. Jedes Verhalten drückt ein Verhältnis zu einem Gegenüber aus.

II. Jedes Verhalten ist (daher) subjektiv sinnvoll. III. Jedes Verhalten erzeugt Wirkungen, (die oft dem

eigentlichen Anliegen entgegen stehen und daher kontraproduktiv wirken können).

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… Konzepte subjektiven Sinns

• Wie auffällig oder schwierig Verhalten auch immer anmuten mag, es ist subjektiv sinnvoll und daher geht es zunächst nicht um Veränderung, sondern um Annäherung.

• Wie auffällig oder schwierig Verhalten auch immer anmuten mag, es ist subjektiv sinnvoll und daher geht es darum, Verhalten und Person zu fragmentieren: Nicht „Du bist böse!“ steht im Vordergrund, sondern „Was Du tust, ist auffallend, schwierig für mich/uns.“

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… Konzepte der sicheren Orte

Schule als Ort der massenweisen Sozialisation ist immer ein riskanter Ort, biografische Belastungen, Krisen erhöhen das Risiko • Orte der Öffnung und des Rückzugs • Verlässlichkeit und Überschaubarkeit • Regeln und Rituale • Partizipation der Schüler bei der Gestaltung von

Orten und Räumen

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Konzepte der Selbstbildung

© Quint Buchholz

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