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Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF März/April 2/2014 inprekorr INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ DIE UKRAINE ZWISCHEN OLIGARCHIE UND TROIKA cc - Christiaan Triebert, flickr.com

inprekorr 2/2014 · 2014-04-16 · Die Vorlage ver˛ng bei den Zieladressaten in den länd - lichen Regionen der Schweiz oder – wie manche Beob - achter bemerkten – oberhalb von

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Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF

März/April

2/2014

inprekorrINTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ

DIE UKRAINE ZWISCHEN OLIGARCHIE UND TROIKA

cc - Christiaan Triebert, �ickr.com

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TÄTIGKEIT DER VIERTEN IN GRIECHENLAND

SYRIZA ist in Griechenland

zur stärksten politi-schen Partei avanciert. Unsere Schwestersektion OKDE-Spartakos setzt weiterhin auf den Auf-bau und die Mitarbeit im Bündnis ANTARSYA.Von Manos Skoufoglou

ZUCKERBROT FÜR DIE HYÄNEN

Über die Rolle von Syriza bei der

Krisenbewältigung, den drohenden Weg AN-TARSYAs ins linke Sek-tierertum, die Rolle der „Goldene Morgenröte“ und die „Strukturrefor-men“ in Griechenland.Von Panos Petrou

Griechenland Griechenland

7 13

NEIN ZU SCHIEFERGAS UNDSCHIEFERÖL

Dass Dossier beschreibt Schie-

fergas, Fracturing oder hydraulisches Fracking und zeigen auf, dass diese Technik der Erdöl- bzw. Erdgasgewinnung heute nicht wirklich beherrschbar ist.Drei Beiträge

MYTHOS „ABSCHIED VOM PROLETARIAT“

Noch nie zuvor war das Proleta-

riat numerisch so stark und zugleich politisch so schwach wie heute. Geht es hierbei um einen Niedergang oder bloße Wandlungen im Erschei-nungsbild?Fünf Beiträge

DossierDossier

3319

VOLKS- ENTSCHEID IN DER SCHWEIZ – RASSISMUS PUR?

Das Versagen der Linken: Der

verunsicherten Klasse der Lohnabhängigen zu erklären, sie habe gar kein Problem mit der Zu-wanderung, treibt sie aus berechtigter Sorge in die Fremdenfeindlichkeit. Von Paolo Gilardi

Schweiz

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Ausgabe 2/2014

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INHALT

DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALE KRISE

Die Klasse der Lohnabhängigen

in Italien ist noch nicht ausreichend auf ihre unentbehrliche Rolle im Kampf gegen die Verur-sacher der wirtschaftli-chen und sozialen Krise eingestellt.Von Franco Turigliatto

WIDER DAS ABTREIBUNGS-VERBOT!

„Unser Körper, unsere Entschei-

dung.“ So der Titel eines Aufrufes. Hart erkämpf-te Rechte der Frau (u.a. Recht auf Abtreibung) sind erneut bedroht. Frauen des Spanischen Staats wehren sich. Izquierda anticapitalista

ZWISCHEN OLIGARCHIE UND TROIKA

Von keiner der inneren und

äußeren Kräfte, die zurzeit der Souveränität der Ukraine zerstö-rerisch den Garaus machen, ist etwas Gutes für die Bevölkerung zu erwarten. Von Catherine Samary

ItalienSpanischer Staat Ukraine

5256 38

MANIFEST: 10 THESEN DER „LINKEN OPPOSITION“

Es gibt auch Stimmen im uk-

rainischen Widerstand, die die Lösung der sozialen Probleme nicht von denen erwarten, die sie erzeugt haben und für ihre Zwecke ausnutzen...Von Zahar Popowitsch

Ukraine

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„BREITE PARTEIEN“ UND DIE MACHTFRAGE IN GESCHICHT- LICHER PERSPEKTIVE

Bei der anhalten-den europaweiten

Dynamik zur Bildung von breiten Parteien spielt meistens Syriza die Rolle eines Modells. Auch bei der NaO in Deutschland. Was ist davon zu halten?Von Willi Eberle

Die Internationale

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SCHWEIZ

4 Inprekorr 02/2014

Schweiz

Abgesehen von den notorisch fremdenfeindlichen Kreisen hat auch eine Verunsicherung in den lohnabhängigen Teilen der Bevölkerung das Ergebnis des Volksentscheids ermöglicht. Die Mitschuld der „institutionellen“ Linken an dieser Verunsicherung ist ein Thema des folgenden Beitrags.

�� Paolo Gilardi

Für Viele ist der Ausgang des Volksentscheids in der Schweiz „Gegen Masseneinwanderung“ bloßer Ausdruck von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Folglich müsse der Rassismus zum zentralen politischen Thema und der Antirassismus zur Hauptlosung erklärt werden. Dies ist unseres Erachtens völlig verfehlt und bringt uns v. a. nicht weiter, wenn wir die aktuellen und dringlichen politischen und sozialen Probleme angehen wollen, die auch ein Land wie die Schweiz mit der europaweit niedrigsten Arbeitslo-senrate betreffen.

Die Gesetzesinitiative steht ideologisch sehr wohl in der Tradition des Kampfes gegen die vorgebliche „Über-fremdung“, den die Schweizer Behörden nach dem Ersten Weltkrieg aufs Panier geschrieben haben, auch wenn sie sich mit pseudosozialen Argumenten umgibt wie dem Lohndumping, das sich zunehmend ausbreitet, den rasant steigenden Mieten und Immobilienpreisen oder der Über-lastung der Züge und Durchgangsstraßen.

Dahinter steckt die gleiche Ideologie wie in den 70er Jahren, als die Fremdenfeindlichkeit hochkochte und die Bevölkerung viermal zum Volksentscheid für die „Aus-scha�ung“ der ausländischen Arbeitskräfte aufgerufen wurde. Und nicht nur ideologisch gibt es eine Kontinuität,

sondern die Initiatoren sind auch dieselben wie damals. Insofern gibt es auch keine Zweifel daran, dass der Antrag der SVP nationalistisch und fremdenfeindlich gewirkt ist.

Die Vorlage ver�ng bei den Zieladressaten in den länd-lichen Regionen der Schweiz oder – wie manche Beob-achter bemerkten – oberhalb von 700 m ü.d.M., während in den Städten die Ablehnung überwog. Wie auch sonst in Europa sind es die Regionen mit der geringsten Fremden-dichte oder eben die Nobelorte mit zugezogenem Geld-adel aus dem Ausland, wo die meisten Stimmen gegen die „Überfremdung“ abgegeben wurden. Wie schon in den vergangenen 40 Jahren, als es um Einwanderung und Asyl ging, bildeten diese Schichten den harten Kern der Refe-rendumsbefürworter. Sie allein jedoch machen noch keine Mehrheit, und sei es nur eine von 20 000 Stimmen.

Die Jugend steht abseits

Über diesen harten Kern hinaus sind mindestens zwei Phänomene zu berücksichtigen. An erster Stelle steht, dass manche Kreise der Jugend für nationalistische Phra-sen wieder empfänglich sind und sich mit „nationalen“ Werten identifizieren, während andere Identifikationsfor-men auf sozialer oder Klassenbasis, die ohnehin unter der Jugend dieses Landes wenig vorhanden waren, noch weiter geschrumpft sind.

Ursächlich dafür ist ein langwährender politischer und struktureller Integrationsprozess der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung in den Staatsap-parat der Schweizer Bourgeoisie und ihre Unterordnung unter die Interessen des nationalen Kapitalismus, die am deutlichsten in der seit 80 Jahren praktizierten Politik des „Arbeitsfriedens“ zum Ausdruck kommt.

Auch wenn es vorerst eine relative Minderheit betri�t, zeigt sich dieses Wiederau�eben des Nationalismus unter der Jugend im Entstehen rechter Jugendkader, sei es in den Jugendorganisationen der Schweizerischen Volkspartei SVP – der unternehmerfreundlichsten und arbeiterfeind-

VOLKSENTSCHEID IN DER SCHWEIZ – RASSISMUS PUR?

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SCHWEIZ

Inprekorr 02/2014 5

lichsten bürgerlichen Partei – oder der Freisinnigen Partei.Auch wenn diese Kräfte an den Schulen – vorerst –

eher schwach vertreten sind, bemühen sie sich jedoch nach Kräften, den politischen Diskurs nach rechts zu rücken. Und während es in den 90er Jahren und auch noch danach spontane Protestkundgebungen gegen die nationalistische Abschottungspolitik gab, regte sich diesmal nichts. Dies war sicherlich nicht ausschlaggebend für das Abstim-mungsergebnis, aber ganz ohne Wirkung blieb die unter der Jugend geschürte Verunsicherung nicht. Indem sie sich – im Unterschied zur zweiten Referendumsvorlage am selben Wochenende über das Abtreibungsgesetz – nicht öf-fentlich zu Wort gemeldet hat, blieb der Raum unbesetzt.

Was die Verunsicherung noch weiter gesteigert hat, war die Zurückhaltung der Linken, die nur ganz verein-zelte und kaum wahrnehmbare Kampagnen gegen die fremdenfeindliche Initiative geführt hat.

Die „Linke“ als Sprachrohr des Kapitals

Zu dem traditionell nationalistisch eingestellten Wäh-lerlager kam eine weitere Schicht hinzu, nämlich die, die man vorschnell als Arbeiterstimmen bezeichnet hat. Auch wenn dieser Begriff mit Zurückhaltung zu gebrauchen ist, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass die protektionistischen Argumente unter der einfachen Bevöl-kerung breit verfangen haben.

Insofern ist zweifelsfrei die Tarifpolitik der Unter-nehmer, die unter Ausnutzung der grenzenlos verfüg-baren Arbeitskräfte – der real existierenden industriellen Reservearmee – und des vorauseilenden Gehorsams der Gewerkschaftsbewegung unwidersprochen allgemeine Dumpinglöhne durchgesetzt haben, für das Abstim-mungsverhalten mit maßgeblich. Im grenznahen Kanton Tessin bspw., in dem die Industrie schwach entwickelt ist, übt die grenzenlose Ausbeutung der unterbezahlten „GastarbeiterInnen“ beständigen und für die einheimische Bevölkerung einen nahezu unerträglichen Druck auf die Löhne aus. Was im Tessin früher der „polnische Klemp-ner“ war, ist heute der „Elektriker aus Reggio Emilia“, bloß eben bezahlt nach den Tarifen seines Herkunftslan-des.

Angesichts dieser Situation �el die Reaktion der insti-tutionellen Linken, ob Partei oder Gewerkschaft, kläglich aus. Getreu ihrer Unterordnung unter die Interessen der Schweizer Exportindustrie beschränkte sie sich in der Tat darauf, die Argumente der Unternehmer wiederzukäuen. Den Hunderttausenden von Lohnabhängigen, die sich um ihren Lebensunterhalt und ihren Arbeitsplatz sorgen,

erklärt sie „wie wichtig die EinwanderInnen für unser Wohlbe�nden“ seien und dass „die Ö�nung nach Europa der Garant für unseren Wohlstand“ sei.

Tatsächlich ist genau dieser Umstand für den Schweizer Kapitalismus entscheidend, denn die Aufkündigung der Abkommen mit der EU könnte dazu führen, dass der Zu-gang zu den europäischen Märkten deutlich eingeschränkt würde. Es ist in der heutigen Zeit, in der die Lohnabhängi-gen vom Schweizer Kapital nur Krümel bekommen sollen, schon schwierig genug, von ihnen weitere Opfer zu ver-langen; noch schwieriger ist dies, wenn die Unternehmen gleichzeitig Milliarden Gewinne machen, Beschäftigte entlassen und die Löhne drücken.

Das Stillschweigen der Linken in Parlament und Ge-werkschaften war umso schändlicher, als sie die o�zielle Propaganda niemals umgedreht haben, dass nämlich die Unternehmer es sind, die die Löhne senken, und nicht die Immigranten und dass die Immobilieneigner die Miete erhöhen und nicht die Zuwanderer Aber solche Worte hätten zur Folge gehabt, dass man sich klassenkämpferisch engagieren müsste, was diese „Linke“ wie die Pest fürch-tet.

Diese vorgebliche „Linke“ hat das Feld kamp�os ge-räumt und es der SVP überlassen, die Ängste der Bevölke-rung aufzugreifen und ihr „Schutz“ zu versprechen, indem die Zuwanderung kontingentiert werden soll.

In dieser Hinsicht war auch die Selbstzufriedenheit dieser „Linken“ verantwortlich für den Ausgang des Referendums. Bereits 2005 ist sie vor dem „Fortschritt der Zivilisation“ eingeknickt, als über die bilateralen Verträ-ge mit Europa abgestimmt wurde, und sie nicht für eine Regulierung der „Personenfreizügigkeit“ durch verbind-liche Arbeitsverträge, Mindestlöhne und Betriebsauf-sicht gekämpft hat. Und auch diesmal macht sie sich zum Steigbügelhalter und tritt für „Ö�nung und O�enheit“ ein, ohne sie mit sozialen Inhalten zu füllen, und treibt somit diejenigen, die am meisten unter den Auswirkungen des globalisierten Warenverkehrs zu leiden haben, dem fremdenfeindlichen Lager in die Arme.

Ansätze der Gegenwehr

Im Unterschied zu dem Szenario von heute gab es in den 70er Jahren in allen drei Regionen der Schweiz ein Gegengewicht gegen die fremdenfeindlichen Initiativen, als Schweizer und ausländische ArbeiterInnen in Komi-tees vereint kämpften. Die damalige Kampagne stand unter dem Signum der gemeinsamen Klasseninteressen der ArbeiterInnen jedweder Couleur oder Herkunft. Und

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SCHWEIZ

6 Inprekorr 02/2014

diese Interessensgemeinschaft kam in den Kämpfen zum Ausdruck und hinterließ ihre Spuren namentlich in Form gemeinsamer Strukturen der Schweizer und eingewander-ten Lohnabhängigen.

Und an den Orten, wo die Kämpfe am weitesten fort-geschritten waren und durch eine fortgesetzte antikapita-listische Propaganda und Agitation unterstützt wurden, erzielte die fremdenfeindliche Initiative bei dem Refe-rendum am 9. Februar ihre schlechtesten Ergebnisse. Die „Arbeiterstimmen“ zugunsten der Vorlage waren deutlich weniger als in den Gegenden, wo die institutionelle Linke sich um ihre Verantwortung gedrückt hatte.

Insofern besteht der wirksamste Kampf gegen natio-nalistische und fremdenfeindliche Propaganda im Aufbau einer konkreten sozialen Opposition, die auf Klassengeist und Internationalismus gründet. Die bloß abstrakte An-prangerung des „Rassismus“ führt letztlich nur zur Stig-matisierung derjenigen, die aus Verzwei�ung und mangels

Diese Broschüre zum marxistischen Verständ-nis von Gewerkschaften ist der zweite Band einer Reihe von Schulungstexten zu zentralen Themen der marxistischen Theorie.

Mandel schreibt darin: „Gewerkschaften sind […] ein Versuch, die Atomisierung der Lohn-abhängigen einzuschränken und die institutio-nelle Ungleichheit von Käufer und Verkäufer der Ware „Arbeitskraft“ wenigstens dadurch einzuschränken, dass der Verkauf nicht mehr individuell, sondern kollektiv statt�ndet.“

Ernest Mandel: Systemkonforme Gewerkschaften?

1,50 Euro, 28 Seiten, A5,

ab 5 Exemplaren versandkostenfrei

Infos & Bestellung:

www.rsb4.de oder RSB/IV. Internationale, Psf. 100 125, 46 001 Oberhausen oder per E-Mail an: [email protected]

einer Alternative der fremdenfeindlichen Propaganda auf den Leim gegangen sind.

Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen und die not-wendige Geduld dafür aufbringen.

Paolo Gilardi ist Mitglied der schweizer Organisation Gauche Anticapitaliste und Redakteur ihrer Zeitschrift L‘anticapitaliste. www.gauche-anticapitaliste.ch�� Übersetzung : MiWe

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GRIECHENL AND

Inprekorr 02/2014 7

In Griechenland hat die Vierte Internationale eine lange Geschichte. Hier hat es kontinuierlich eine Sektion der Vierten Internationale seit ihrer Gründung im Jahre 1938 gegeben.

1. Einige historische Bemerkungen

Im Jahr 1928 wurde die „Spartakos-Gruppe“ (die eine Zeitschrift gleichen Namens herausgab) als linke Oppo-sition innerhalb der Kommunistischen Partei Griechen-lands (KKE) gegründet. Diese Gruppe wurde von Pantelis Pouliopoulos geführt, dem ersten Sekretär der KKE. Die Zeitschrift „Spartakos“ verö�entlichte Übersetzungen der Dokumente der Internationalen Linken Opposition auf Griechisch und lokale Analysen des griechischen Kapitalis-mus. Im Jahr 1934 gründeten Genossinnen und Genossen, die größtenteils aus der „Spartakos-Gruppe“ stammten,

zusammen mit einer von den Archäomarxisten abgespal-tenen Gruppe (unter Führung von Michel Raptis – Pablo) die Organisation der kommunistischen InternationalistIn-nen Griechenlands, OKDE.

1938 wurde die OKDE auf dem Gründungskongress der Vierten Internationale durch Michel Raptis (Pablo1) vertreten. Nach Gründung der Vierten Internationale wurde die OKDE ihre griechische Sektion. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einer Vereinigungskonferenz mit anderen trotzkistischen Kräften im Jahr 1946, wurde die Internationalistische Kommunistische Partei Grie-chenlands (KDKE) gegründet und blieb griechische Sek-tion der Vierten Internationale bis 1974. Nach dem Sturz der Militärdiktatur im Jahr 1974 nahm die KDKE wieder den Namen OKDE und schließlich im Jahr 1986, nach einem Bruch mit Kräften, die sich allmählich von der

TÄTIGKEIT DER VIERTEN IN

GRIECHENLANDDie Sektion der Vierten Internationale in Griechenland setzt

auf den Aufbau einer revolutionären Kraft außerhalb der linken Wahlerfolgspartei Syriza. Wie lässt sich das begründen?

�� Manos Skoufoglou

Griechenland

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GRIECHENL AND

8 Inprekorr 02/2014

Vierten Internationale entfernten, ihren heutigen Namen an: OKDE-Spartakos (Griechische Sektion der Vierten Internationale). So blicken wir 2014 auf 80 Jahre konti-nuierlicher Präsenz der griechischen Sektion der Vierten Internationale in Griechenland zurück.

Als die „Spartakos-Gruppe“ im Jahre 1928 gegründet wurde, gehörten zu ihr eine Reihe der wichtigsten Kader der KKE, darunter nicht nur ihr erster Generalsekretär, Pantelis Pouliopoulos, sondern auch der erste Sekretär der Kommunistischen Jugend und erste Leiter der KKE-Zei-tung. Insbesondere Pouliopoulos war ein sehr wichtiger Intellektueller und ein führendes Mitglied der kommu-nistischen Soldatengruppen, die gegen den Krieg gegen die Türkei im Jahr 1922 auftraten.

Seit dem Jahre 1936 litt das griechische Volk unter der Metaxas-Diktatur, gefolgt von 9 Monaten Krieg und dann der Nazi-Besetzung des Landes bis 1944. Aufgrund der Verfolgungen seitens der Metaxas-Diktatur (1936–1940) und später sowohl der Nazis als auch der Stalinisten wurde die griechische Sektion der Vierten Internationale physisch fast ausgerottet.

Pouliopoulos selbst wurde 1943 von einem Erschie-ßungskommando der italienischen Faschisten hingerich-tet, wie auch viele andere Genossen. Es ist immer noch Gegenstand historischer Untersuchungen, die genaue Anzahl von GenossInnen der Vierten Internationale zu ermitteln, die von griechischen Faschistinnen und Faschisten, von Nazis und StalinistInnen in der Periode 1936–1945 hingerichtet oder ermordet wurden.

Die verbliebenen GenossInnen setzten – mit der Analyse, dass es sich um einen inter-imperialistischen Krieg handele – den Kampf gegen den deutschen und den britischen Imperialismus wie auch gegen die griechische Bourgeoisie unter sehr schwierigen Umständen fort.

Die Mehrheit der Führung der griechischen Sekti-on machte jedoch einen schweren Fehler, indem sie die Bedeutung der Forderung nach nationaler Befreiung während der deutschen Besatzung unterschätzte und eine sektiererische Haltung zur EAM (Nationale Befreiungs-front) einnahm. Die EAM wurde von der KKE geführt und verfolgte eine verräterische Volksfrontstrategie der Zusammenarbeit mit der nationalen Bourgeoisie, die am Ende zur Niederlage der KKE führte. Aber trotzdem war die Bewegung, die sie führte, ein echter Volksaufstand mit einer revolutionären Dynamik.

Leider nahm nur eine Minderheit der Führung der Sektion der Vierten Internationale in jenen Tagen eine unsektiererische Haltung zu den EAM-Massen ein, in

Übereinstimmung mit der Linie des Europäischen Sekre-tariats der Vierten Internationale. Durch die Entschei-dung der Mehrheit ihrer Führung wurde die griechische Sektion politisch für ein ganzes Jahrzehnt marginalisiert.

In den 1960er Jahren war die KDKE unter Führung derer, die Ende der 1940er Jahren in der Minderheit waren, die größte Gruppe links von der KKE. Doch die harte Repression während der Militärdiktatur (1967–1974) hatte einen negativen Ein�uss auf die Dynamik. Viele unserer GenossInnen wurden inhaftiert oder ins Exil geschickt. Dennoch spielten unsere Mitglieder eine Schlüsselrolle beim historischen Aufstand im Poly-techneion im Jahre 1973, vor allem bei der Organisation der Arbeiterversammlung, und im Jahre 1974 (nach dem Zusammenbruch der Militärjunta) war unsere Zeitung die erste, die auf den Straßen verkauft wurde, lange bevor die KKE-Zeitung erschien.

2. Unsere Politik heute

Kommen wir nun zu unserer Tätigkeit heute. OKDE-Spartakos ist eine kleine Organisation mit etwa 100 Mitgliedern in einem Umfeld linksradikaler Gruppen mit sehr unterschiedlicher Entstehungsgeschichte, wie man sich vorstellen kann.

Trotz unserer geringen Größe sind wir in verschie-denen Sektoren der Massenbewegung aktiv: in den Gewerkschaften, hauptsächlich durch die Teilnahme an „Paremvaseis“ (Interventionen), der Plattform der ra-dikalen Linken (ANTARSYA und andere). In einigen Bereichen hat die „Paremvaseis“-Plattform hat einen sehr wichtigen Ein�uss: Sie führt viele örtliche Gewerkschafts-gruppen der LehrerInnen und spielte eine wichtige Rolle bei den jüngsten Streiks der Lehrkräfte der weiterführen-den Schulen; sie hat die Mehrheit in vielen Ortsgruppen der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten usw. Sie ist auch bei einigen Gewerkschaftsverbänden stark vertreten, vor allem im ö�entlichen Sektor. Im neuen, vom jüngs-ten Kongress der ADEDY (Nationale Gewerkschaft der Beschäftigten im ö�entlichen Dienst) im November 2013 gewählten Exekutivkomitee hat die „Paremvaseis“-Platt-form ebenso viele Mitglieder wie die KKE.

� In der Studierendenbewegung sind wir in der EAAK aktiv, einem linksradikalen Bündnis mit rund 1000 Mit-gliedern. Die EAAK hat jede Studierendenmobilisierung seit 1991 geführt. In den Wahlen der Studierendengewer-kschaften errang die EAAK rund 12 % bis 14 % landes-weit, mehr als das Doppelte des Anteils der SYRIZA-Plattform.

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Inprekorr 02/2014 9

� Die antifaschistische Bewegung ist vielleicht der erfolgreichste Bereich unserer Arbeit. Diese Aufgabe wird seit vielen Jahren von der Mehrheit der Linken, einschließlich der radikalen Linken (und den meisten Organisationen von ANTARSYA) unterschätzt. OKDE-Spartakos arbeitet seit langer Zeit in antifaschistischen Komitees in den Stadtteilen, oft zusammen mit Anarchis-tInnen, und versucht, all diese Initiativen zu koordinieren. Wir haben den Vorschlag einer Einheitsfront aller linken und anarchistischen Organisationen im Kampf gegen den Faschismus wie auch die Notwendigkeit, die Selbstvertei-digung der sozialen Bewegung zu organisieren, unter-stützt. Wir spielten eine wichtige Rolle in der Kampagne, der es gelang, die Absage des internationalen Nazilagers in Griechenland in diesem Sommer durchzusetzen. Unsere praktische Arbeit wird durch die Verö�entlichung von Büchern und Broschüren zur Analyse des Faschismus aus marxistischer Sicht ergänzt.

Es ist bekannt, dass es in Griechenland heute mit dem Aufstieg der Neonazi-Partei Chryssi Avgi (Golde-ne Morgenröte) eine echte faschistische Gefahr gibt. Sie hat bei den Parlamentswahlen mit 10 % der Stimmen 18 Abgeordnete erhalten. Am wichtigsten ist, dass sie auf der Basis sich zersetzender kleinbürgerlicher Schichten, von der Krise getro�ener Ladenbesitzer, ma�ös-kapitalistische Kreise und arbeitsloser Jugendlicher lokale Gruppen orga-nisieren konnte. Sie begannen mit Angri�en auf Immi-grantInnen und gingen später zu Angri�en auf Arbeiter-organisationen, auf Linke und AnarchistInnen über. Der jüngste Mord an dem antifaschistischen Hip-Hop-Sänger Pavlos Fyssas (Killah P) am 18. September 2013 löste große antifaschistische Proteste und eine Demonstration gegen das Nazi-Hauptquartier aus. Es ist erwähnenswert, dass auf dem Höhepunkt dieser Bewegung – ich meine die Demo von 30 000 Menschen vor der Zentrale der Golde-nen Morgenröte am 25. September 2013 – ANTARSYA trotz aller früheren Widersprüchlichkeiten der größte und wichtigste Akteur war, im Gegensatz zu SYRIZA, deren Kontingent von ein paar hundert Menschen es vorzog, ein Konzert auf dem Syntagma-Platz zu besuchen.

� Unsere Sektion ist eine der wenigen Organisationen mit einer Präsenz in der Frauenbewegung, die in Grie-chenland eher unterentwickelt ist.

� Einige unserer jungen GenossInnen sind aktiv im Netzwerk für die demokratischen Rechte der Soldaten (in Griechenland gibt es noch eine Wehrp�icht), einige sind aktiv in lokalen städtischen Bewegungen, im letzten Jahr vor allem in einigen Stadtteilen von Athen. Dort haben

wir ein Institut gegründet, in dem an jedem Wochenende Seminare und Diskussionen statt�nden

3. Unsere Arbeit mit Antarsya und UnterstützerInnen der Vierten Internationale

Seit ihrer Gründung im Jahr 2009 haben wir in ANTAR-SYA, einem antikapitalistischen Bündnis auf Grundlage der politischen und organisatorischen Unabhängigkeit vom Reformismus, mitgearbeitet.

Es hat immer eine ganze Reihe von Organisationen und Aktiven links von den beiden reformistischen Par-teien, der KKE (eine stalinistische Partei, die derzeit eine bürokratische und ultrapessimistische Politik der dritten Periode verfolgt) und dem Synaspismos (eine ehemals eurokommunistische Partei, die heute eine moderne, linkssozialdemokratische Linie verfolgt). Einige von ihnen beschlossen, dem Synaspismos in SYRIZA hinein zu fol-gen. Die meisten anderen schlossen sich, nachdem sie lange

GRIECHENLAND

Einwohner: 11.3 Mio.

BIP pro Einwohner 2012: 25 343 € (kaufkraftbereinigt);

zum Vergleich Deutschland: 38 696 €

Erwerbslosenrate 2013: Ende 2013: 28%

Wirtschaft: Mehr als Dreiviertel der Wirtschafts -

leistung entstehen im Dienstleistungs-

sektor: Tourismus, Handel, Finanz-

dienstleistungen, Schifffahrt …

Radikale Linke: Antarsya (Antikapitalistische Linke für

den Umsturz) ist ein Bündnis von 10

revolutionären Organisationen. Das

Kurzprogramm der Antarsya findet

sich auf Deutsch unter: http://tinyurl.

com/ccqh798

OKDE-Spartakos (Organisation

kommunistischer Internationalisten

Griechenlands; www.okde.org) ist

die griechische Sektion der

IV. Internationale und Mitglied von

Antarsya.

Athen

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10 Inprekorr 02/2014

Zeit mit der EAAK und „Paremvaseis“ zusammengearbeitet hatten, ANTARSYA an.

ANTARSYA hat 3000, meist junge Mitglieder. Unter dem Wahldruck des Reformismus von SYRIZA gelang es ihr nie, mehr als 2 % bei regionalen und 1,2 % bei nationa-len Wahlen zu erreichen. Aber ihre reale Dynamik ist doch stärker. ANTARSYA ist auf nationaler Ebene sichtbar, sie hat eine beträchtliche Anzahl von Kämpfen geführt und eine bemerkenswerte Präsenz in mehreren Gewerkschaften. Ihr Programm ist noch recht vage und mehrdeutig mit eini-gen stalinistischen Ein�üssen (das ist der Grund, weshalb die Au�ösung der Sektion in dieser Front für uns nicht in Frage kommt), aber es ist eindeutig von revolutionären Ideen geprägt und fordert bewusst einen radikalen Bruch mit dem Kapital, den Institutionen des bürgerlichen Staats, der EU und allen imperialistischen Bündnissen.

Neben der Sektion gibt es in Griechenland auch einige andere Gruppen, die sich in der einen oder anderen Weise mit der Vierten Internationale identi�zieren.

Kokkino (Rot) ist eine kleine Gruppe, die hauptsächlich aus der IST stammt. Sie hat einen ständigen Beobachter-status bei der Vierten Internationale. Sie beteiligt sich an SYRIZA und unterstützt deren Linke Plattform. Kokkino erlitt im Zuge der letzten SYRIZA-Konferenz eine dreifa-che Spaltung und verlor die Hälfte ihrer Mitglieder, die die Mehrheitsplattform von Tsipras unterstützten. Die Linke Plattform in SYRIZA wird von der Bürokratie der Links-strömung des früheren Synaspismos geführt und auch von der DEA unterstützt.

Die DEA ist eine etwas größere Organisation und ebenfalls eine Abspaltung von der IST (genau genommen ist Kokkino eine Abspaltung von der DEA). Sie hat keinen formalen Status bei der Vierten Internationale, aber seit dem letzten Jahr wird sie eingeladen, an Sitzungen als Gast teilzunehmen.

Unsere Beziehungen zu Kokkino sind gut. Wir haben in der antifaschistischen Bewegung und in der Organisa-tion von zwei Jugendcamps der Vierten Internationale in Griechenland zusammengearbeitet, aber eigentlich sind unsere organisatorischen Verbindungen eher lose. Der Grund dafür ist, dass Kokkino und (noch mehr) DEA sich zu sehr der Arbeit in SYRIZA und ihren Plattformen in den Gewerkschaften widmen. Trotz Kritik an der Führung von SYRIZA ordnen sie sich ihr letztendlich unter. Hierzu ein Beispiel: DEA weigerte sich, zur Großdemonstration gegen die Zentrale der Goldenen Morgenröte im Oktober zu kommen, nur weil sich die SYRIZA-Führung im Namen der „Verantwortung“ und der Stabilität des Landes weigerte.

OKDE – Ergatiki Pali (Arbeiterkampf ), unsere alte Abspaltung aus den 1980er Jahren, steht in einer „mande-listischen“2 Tradition, hat aber keine wirkliche Verbindung zur Vierten Internationale mehr. Wir arbeiten gelegentlich bei der Herausgabe von Büchern oder Dokumenten unse-rer gemeinsamen historischen Strömung zusammen.

4. Unsere politischen Aufgaben

Die gegenwärtige Situation in Griechenland ist hinrei-chend bekannt, sodass hier nicht mehr dargestellt werden muss, was in Zeitungen und anderen Publikationen nach-gelesen werden kann. Die wirtschaftliche und politische Krise in Griechenland ist überhaupt nicht gelöst. Wir ha-ben jetzt eine sehr autoritäre und konservative Regierung aus Neuer Demokratie und PASOK.

Ich möchte betonen, dass die Situation zutiefst wider-sprüchlich ist.

Auf der einen Seite sind wir ständigen Angri�en des Kapitals und seiner HandlangerInnen ausgesetzt, die die Lebensbedingungen verschlechtern und das Selbstbe-wusstsein der arbeitenden Bevölkerung untergraben. Aber auf der anderen Seite können sie dies nur um den Preis des Verlustes ihrer Hegemonie durchführen.

Auf der einen Seite haben wir ständig Niederlagen erlitten und die Massenbewegung war kaum in der Lage, auch nur eine der Sparmaßnahmen abzuwehren. Aber auf der anderen Seite haben neue Schichten der Unterdrück-ten wertvolle Erfahrungen für künftige Kämpfe, die sicher kommen werden, weil das System sich nicht wieder stabili-sieren kann, gesammelt.

Auf der einen Seite droht der Faschismus, die Unter-drückten zu spalten und zu individualisieren, ihre Organi-sationen zu terrorisieren und zu zerstören. Aber auf der an-deren Seite kann der Kampf gegen den Faschismus sehr gut zu einem Kampf gegen den Kapitalismus selbst werden.

Was sind die Gründe für unsere Überzeugung, dass wir eine unabhängige antikapitalistische Linke in Griechen-land brauchen, außerhalb von KP und SYRIZA?

Zunächst einmal müssen wir deutlich machen, dass diese beiden Parteien nicht in der Lage sind, eine Lösung im Interesse der Arbeitenden anzubieten. SYRIZA hat Ho�nungen geweckt, als sie bei den nationalen Wahlen im Mai und dann im Juni 2012 zweitstärkste Kraft wurde. Sie wurde immer von der reformistischen Partei Synaspis-mos dominiert, hat aber eine weitere sozialdemokratische Wandlung durchgemacht, als sie der Regierung näher kam. Ihr Programm ist heute ziemlich dicht an dem der deutschen Partei „Die Linke“ und bleibt sogar weit hinter

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dem Programm zurück, mit dem die PASOK 1981 zum ersten Mal die Wahlen gewann. Sie hat eine ganze Reihe von ehemaligen PASOK-Bürokraten integriert. Sie erfüllt nicht das von unserer Internationale gesetzte Kriterium der Unabhängigkeit von den bürgerlichen Institutionen. Sie erfüllt auch nicht das Kriterium der internen Demokra-tie, das nach Entscheidung der letzten Konferenz in allen Organisationen erfüllt sein muss, in denen eine Integration mit der Au�ösung der eigenen Organisation statt�nden soll.

Wir kommen zu dem Ergebnis, dass SYRIZA ein-deutig die Massenbewegung auf ihrem Marsch an die Macht benutzt, statt ihre eigene Perspektive, die Macht zu gewinnen, dafür zu benutzen, die Massenbewegung zu unterstützen.

Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass sie den Streik der Lehrkräfte der weiterführenden Schulen in wenigen Monaten zweimal verraten haben: einmal im Frühjahr, als ihre gewählten VertreterInnen im Gewerkschafts-bund einen von den Generalversammlungen beschlosse-nen Generalstreik absagten, weil er von der Regierung verboten worden war, und noch einmal im September 2013, als sie beschlossen, einen neuen Generalstreik 7 Tage nach seinem Beginn zu beenden. Sie weigern sich, an den Demonstrationen gegen die Nazi-Zentrale teilzu-nehmen, während sie gleichzeitig alle „konstitutionellen“ Parteien, einschließlich der regierenden Rechtspartei Neue Demokratie, welche die Nazis jahrelang gehätschelt hat, dazu aufrufen zu diskutieren, wie man den Faschis-mus gemeinsam bekämpfen könne. Sie arbeiten mit der rechtspopulistischen, Memorandum-kritischen Partei der Unabhängigen Griechen zusammen. All das ist nun ganz o�ensichtlich. Und die GenossInnen von Kokkino sind mit ihnen einverstanden.

Am 8. Januar 2014 gab SYRIZA einen neuen Beweis ihrer politischen Orientierung. Es war der Tag des Amts-antritts der griechischen EU-Präsidentschaft. Regierung und Polizei verboten jede Demonstration an diesem Tag, was ein ziemlich beispielloser Vorgang war. ANTARSYA rief zu einer gemeinsamen Demonstration der gesamten Linken gegen die EU, die Regierung und das autoritäre Verbot auf. SYRIZA prangerte nur das Verbot an, tat aber sonst rein gar nichts (ebenso wenig die Linke Plattform und die Kommunistische Partei). Eine Demonstration von über tausend Menschen, überwiegend ANTARSYA-Mitglieder, fand tatsächlich trotz des Verbots, der Polizei-angri�e und des Boykotts der reformistischen Linken statt. Aber trotzdem könnte die Frage gestellt werden, warum

wir nicht als oppositionelle Strömung innerhalb einer die-ser Parteien, SYRIZA oder KKE, arbeiten. Die Gründe sollten in den konkreten Bedingungen des Klassenkampfs in Griechenland gesucht werden.a. Griechenland ist eines der Länder, das am schlimmsten von der weltweiten Krise betro�en ist. Ein Ende scheint nicht in Sicht, trotz aller Sparmaßnahmen und des Zusam-menbruchs jeder einzelnen Wohlfahrtseinrichtung und ö�entlichen Dienstleistung. Noch mehr Sparmaßnahmen werden kommen. Rund 70 % der Beschäftigten in den größten Universitäten wurden entlassen, deshalb sind wir jetzt in der elften Woche eines Hochschulstreiks. Dies ist nur das jüngste Beispiel. Angesichts der verheerenden Auswirkungen der Krise, müssen wir mehr statt weniger kämpferisch und aggressiv sein, auch wegen des hohen Niveaus der Kämpfe. Es gibt keinen Weg aus der Krise für unsere Interessen und Bedürfnisse im Rahmen der kapita-listischen Regeln und der bürgerlichen Institutionen. Wir müssen angreifen, nicht verteidigen – das ist unser Leitsatz in der heutigen Zeit.b. Es gibt keine stabile, historische Verbindung der Mas-sen mit den reformistischen Führungen mehr. Die Unter-stützung für SYRIZA ist etwas instabil ohne wirklichen Enthusiasmus, eine Taktik des „kleineren Übels“ in den Augen der meisten ihrer Anhängerinnen und Anhänger. Das gesellschaftliche Bewusstsein ist im Fluss und abrupte Sprünge sind zu erwarten – das ist die zweite Säule unseres Vorgehensc. Die Idee einer unabhängigen antikapitalistischen und revolutionären Linken in Griechenland ist keine Illusion. Es existiert wirklich ein Raum für solche KämpferInnen, die in verschiedenen Gruppen und Gewerkschaften seit vielen Jahren zusammengearbeitet haben. Dieser Raum hätte sich sowieso autonom gebildet – wenn wir SYRI-ZA beigetreten wären, hätte jemand anderes die Initiative ergri�en.d. Ausgehend von den früheren Bemerkungen denken wir, dass das Problem in Griechenland nicht eine ver-meintliche Restabilisierung des Kapitalismus oder ein Mangel an Kampfbereitschaft der Massen ist, sondern das Fehlen eines bewussten Subjekts, das die Vorhut organi-sieren und eine konkrete revolutionäre Perspektive bieten kann. Wir müssen an diesem subjektiven Faktor arbeiten, ihn gerade jetzt aufbauen und nicht auf objektive Fakto-ren und Vermutungen über mögliche Entwicklungen des Reformismus setzen. Wenn wir nicht unabhängig sind, können wir weder den Reformismus noch den Klassen-kampf selbst beein�ussen.

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ANTARSYA ist immer noch in einem widersprüchli-chen Prozess. Sie steht vor einem strategischen Dilemma. Trotzdem ist sie ein wichtiges Instrument. ANTARSYA hat die Lehrkräfte der weiterführenden Schulen bis zum Ende unterstützt. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei den aktuellen Streiks in den Universitäten und sicher bald auch in den Krankenhäusern, wo wir viele GenossInnen haben. Aber der wichtigste Faktor ist: ANTARSYA begrenzt ihre Kampfkraft nicht durch die Beschränkungen parlamenta-rischer Politik.

Zum Abschluss noch ein paar Worte über die weiteren Aufgaben:

� Wir brauchen eine Einheitsfront im Kampf gegen die kapitalistischen Angri�e und den Faschismus, um alle so-zialen Kämpfe zu koordinieren, die jeder für sich, egal wie heldenhaft, nicht gewinnen kann (ANTARSYA schlägt eine solche Front vor).

� Wir brauchen eine vereinigte und unabhängige anti-kapitalistische und revolutionäre Linke, die in der Lage ist, ein modernes Übergangsprogramm zum Sturz des Kapita-lismus vorzuschlagen.

� Wir müssen unsere eigenständige Organisation, die Sektion der Vierten Internationale, innerhalb einer Front aufrechterhalten, da strategische Fragen alles andere als überholt sind und heute immer noch wichtiger werden.

� Wir müssen erklären, dass keine „linke“ Regierung eine Lösung für die ArbeiterInnen und Unterdrückten bieten kann. Keine frühere eurokommunistische oder sozialdemokratische Bürokratie, keine Neuverhandlung im Rahmen der EU und der bürgerlichen Institutionen, kein „nationaler Entwicklungsplan“ ohne Memorandum, aber mit Aufrechterhaltung des individuellen Rechts auf Eigentum.

Wenn ANTARSYA gewählte Abgeordnete im Parla-ment hätte, würden wir eine bedingte Unterstützung einer linken (SYRIZA) Regierung in Betracht ziehen. Aber wir würden uns nicht daran beteiligen. Wir würden darauf bestehen, dass der einzige Ausweg massive Kämpfe, Selbst-organisation und eine revolutionäre Strategie sind.

Da wir keine Abgeordneten haben, können wir uns auch nicht von den Wahlen zurückziehen, zumal SY-RIZA kein Programm vorschlägt oder akzeptiert, das unserem ähnlich wäre. ANTARSYA traf SYRIZA nach den Wahlen vom Mai 2012 und schlug einige Kernforde-rungen vor, die wir als unverzichtbar betrachten, wie z. B. den Bruch mit der EU und dem Euro, die Streichung der Schulden, die Nationalisierung der strategischen Sektoren der Wirtschaft ohne jede Entschädigung, die Arbeiter-

kontrolle usw. Natürlich wurden sie abgelehnt. Trotzdem glauben wir immer noch, dass es absolut entscheidend ist, dass jemand solch ein antikapitalistisches Übergangspro-gramm aufstellt. Wir können es nicht im Namen einer abstrakten „Einheit der Linken“ opfern, die in der Praxis bedeutet, dem Reformismus hinterherzulaufen.

Wir verwenden die Losung einer Arbeiterregierung, aber wir müssen auch daran denken, was das Übergangs-programm3 sagt: a. Die Möglichkeit einer echten Arbeiterregierung (d. h. einer Regierung, die wirklich für die Interessen der Ar-beiterInnen eintritt) in einem bürgerlichen Staat ist extrem unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich;b. In jedem Fall brauchen wir eine unabhängige Organi-sation der revolutionären KommunistInnen, um Ein�uss auf die Entwicklungen nehmen zu können, die eine solche Regierung auslösen würde (also gerade nicht mit der Re-gierungspartei zu fusionieren).

Im Gegensatz zu einem etappentheoretischen Ansatz, der behauptet, dass ein „einfaches“ (d. h. reformistisches) Klassenbewusstsein eine notwendige Etappe sei, die wir durchlaufen müssen, bevor wir über eine Revolution sprechen können, ist es unsere Aufgabe heute, Klassen- und revolutionäres Bewusstsein gleichzeitig aufzubauen. Die Revolution mag der Mehrheit der Arbeiterklasse unmöglich erscheinen, aber es ist die Reform, die objektiv unmöglich ist.

Manos Skoufoglou ist Mitglied des Politbüros der OKDE/Spartakos, der griechischen Sektion der Vierten Internationale. Dieser Artikel ist eine leicht aktualisierte Version einer Einführung im Rahmen der Konferenz zum 75. Jahrestag der Vierten Internationale. Die Konferenz fand im November 2013 in Mannheim statt. �� Übersetzung: Björn Mertens

1 Pablo war zusammen mit Ernest Mandel ein wichtiger Füh-rer der Vierten Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach ihrer Spaltung lehnte er die Wiedervereinigung der Internationale 1963 ab und blieb ihr fern. – Anm. d. Üb.2 Vom Namen Ernest Mandels abgeleitet, dem großen Nach-kriegsführer der Vierten Internationale (Vereinigtes Sekreta-riat), wie unsere Strömung nach 1963 genannt wurde). Mandel war auch ein bedeutender Wirtschaftswissenschaftler und Autor des Buches „Spätkapitalismus“.3 Für den etwas abweichenden Wortlaut (und Sinn) des Ka-pitels „Arbeiter- und Bauernregierung“ siehe beispielsweise http://trotzkismus.�les.wordpress.com/2012/08/c3bcber-gangsprogramm.pdf, Seite 19. – Anm. d. Üb.

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Für einen Großteil der griechischen Bevölkerung handelt es sich heuer um einen harten Winter. Die meisten Leute können kein Gas, kein Heizöl und keinen Strom kaufen. Zahlreiche Menschen können die Stromrechnun-gen nicht bezahlen (laut Eurostat haben 32 % der Bevölke-rung Schwierigkeiten, sie zu bezahlen) und Tausenden von Familien wurde der Strom abgestellt, weil sie mit den Zah-lungen bei ihrer Stromgesellschaft in Verzug geraten waren. (Allein im ersten Halbjahr 2013 soll es 173 000 Stromsper-ren gegeben haben!) Viele Menschen benutzen daher Koh-le- oder Holzöfen, um ihre Häuser warm zu bekommen. In den kalten Nächten bedeckt der den Häusern entströ-mende Rauch den Himmel von Athen. Einige tragische Unfälle (so der Tod eines Mädchens, das den Rauch eines Kohleofens inhaliert hatte, oder aber Häuserbrände) infolge des Einsatzes von Öfen in den Wohnungen, zeigen, wie schlimm die Lage ist. Außerdem ist die von uns eingeat-

mete Luft laut einigen Spezialisten wegen des Rauchs sehr gefährlich. Dieses Bild aus einer Industriestadt des Kapita-lismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat dieselbe Bedeu-tung wie die vielfältigen Zerstörungen, wie sie durch die ganzen Sparprogramme in der griechischen Gesellschaft angerichtet worden sind. In Thessaloniki lag vor Kurzem die Verschmutzung der Atmosphäre (bei 50 mg/m3 Luft ist „dringendes Handeln“ geboten und bei 150 mg müssten die „Alarmglocken“ wegen Gesundheitsgefahr läuten) bei 316 mg/m3. Daraus ergeben sich Atembeschwerden und „steigende Gesundheitskosten“ – sofern sich die Menschen eine Behandlung überhaupt noch leisten können.

In keinem Land wurden so brutale „Strukturreformen“ durchgeführt

Auch 2013 war ein Jahr extremer neoliberaler Austeri-tätspolitik. Sie hat die seit 2010 vorangetriebenen Zerstö-

Eine andere Position als die des vorigen Beitrags zur Mitarbeit revolutionärer Linker in SYRIZA vertritt der Autor des folgenden Artikels, verbunden mit einer Kritik an dem seiner Meinung nach

drohenden Weg der ANTARSYA ins Sektierertum.

�� Panos Petrou

ZUCKERBROT FÜR DIE

HYÄNEN

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rungen, als die griechische Regierung das erste „Memo-randum“ mit der Troika (IWF, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission) unterzeichnete, weiter beschleunigt.

Die Regierung Samaras freute sich über den „Primär-überschuss“ (ohne Schuldendienst) im Haushalt 2013. Sie erwähnt jedoch die gigantischen sozialen Kosten nicht; außerdem sind die vorgelegten Zahlen durchaus zu dis-kutieren1. Das hat Angel Gurria, den Generalsekretär der OECD, nicht daran gehindert zu prahlen: „Kein Land hat solche Strukturreformen durchgeführt wie Griechenland“.

Die EOPYY (die nationale Krankenkasse), eine Orga-nisation, die für die einfachen Gesundheitsdienstleistun-gen vor Ort sorgen soll, wird „reformiert“, also in ihrer Substanz zerstört. Viele Ärzte be�nden sich Ende Dezem-ber 2013 seit Wochen im Streik (und behandeln häu�g gratis). Die Finanzierung der Krankenhäuser wurde um 21 Prozent gekürzt, nachdem schon 2012 Kürzungen erfolgt waren. Die Patienten müssen 25 Euro bezahlen, wenn sie behandelt werden wollen. Diese Maßnahme wurde bereits 2012 beschlossen und wird nun zum 1. Januar 2014 um-gesetzt. Der Gesundheitsminister Adonis Georgiadis hat einen wahren Proteststurm hervorgerufen, als er erklärte: „Laut den Statistiken werden die Bürger einmal alle zehn Jahre hospitalisiert. Dann 25 Euro bezahlen zu müssen, be-deutet nicht, dass die Welt untergeht.“ In Presse und Radio �nden sich viele Zeugnisse: „Ich bin Rentner oder Rent-nerin, ich bekomme 500 Euro im Monat, wie soll ich da noch diese Summe bezahlen.“ Sogar die PASOK (Regie-rungspartei) sah sich gezwungen, Georgiadis zu kritisieren. Hinzu kommt die steigende Zahl von Kranken, die ihre Behandlung nicht fortsetzen können, weil die Medikamen-te einfach zu teuer sind.

Die staatliche Finanzierung der Fonds für die Renten der ö�entlich Bediensteten wurde um 22 Prozent gekürzt und das in einer Zeit, in der Arbeitslosigkeit, Steuer�ucht der Reichen und Jahre der Spekulation mit den Reserven dieses Fonds de facto zum Zusammenbruch des Rentensys-tems geführt haben. Dadurch wurde der Weg zum Traum der Neoliberalen eines Systems à la Pinochet in Chile erö�net, also einer massiven Privatisierung der Altersver-sorgung.

Eine Entlassungswelle betri�t die Verwaltungsange-stellten der Unis, die bald ohne Personal dastehen werden. Die Schulen be�nden sich bereits in einer schwierigen Lage, weil Tausende Lehrer entlassen wurden. Die neuen Steuern, die vor allem die Immobilienbesitzer tre�en und zu einem Überschuss im Budget führen sollen, richten

sich vor allem gegen die Mittelklasse und jene Teile der Arbeitenden, denen es in besseren Zeiten gelungen ist, sich eine Wohnung oder ein Haus zu erwerben. Mit der knappen Mehrheit von 152 Stimmen (von 300) hat die Regierung Samaras ein Gesetz durchgebracht, das im Falle von Rückständen bei den Zahlungen die Vertrei-bung (durch Zwangsversteigerung) aus den Wohnungen vorsieht (dabei bleibt unklar, wie lange zugewartet wird). Für einen Arbeitslosen oder einen Rentner jedenfalls kann diese Vertreibung schnell kommen. Das Gesetz bestimmt, dass der Eigentümer sein Haus erst verkaufen kann, wenn alle aufgelaufenen Steuerschulden beglichen sind, wobei die Steuern in den letzten Jahren immer weiter angestie-gen sind. Für Nichtzahler sind Strafen vorgesehen. Da der Abgeordnete der Nea Dimokratia Vyron Polydoras gegen das „Einheitsgesetz zum Eigentum“, das auch die Bauern betre�en wird, gestimmt hat, wurde er prompt aus der Fraktion ausgeschlossen.

Die o�zielle Arbeitslosigkeit lag im September 2013 bei 27,4 % und im Oktober bei 27,8 %. Bei den 15- bis 24-Jährigen lag sie bei 57,9 %; im angeblich „produktivs-ten Alter“ von 25 bis 34 Jahren immer noch bei 37,8 %; im Oktober 2013 waren insgesamt 1 387 540 Menschen arbeitslos gemeldet. Von ihnen waren 71 % Arbeitslose von „langer Dauer“, also über einem Jahr; 23,3 % waren „neue Arbeitslose“, die noch nie in Lohn und Brot stan-den. Das Wachstum der Arbeitslosigkeit zwischen dem 3. Quartal 2010 und dem 3. Quartal 2013 lag bei 130,1 %. Die Zahlen des wissenschaftlichen Instituts der GSEE (Ge-werkschaft der Privatangestellten) sind noch höher. Eine genauere Prüfung der o�ziellen Zahlen zeigt eine weit alarmierendere Realität des sog. „Arbeitsmarktes“. So ist die Zahl der (zwangsweise) Teilzeitbeschäftigten (die gerne voll arbeiten würden) seit dem dritten Quartal 2010 von 135 100 auf 213 900 im dritten Quartal 2013 gestiegen. Die Zahl der Menschen, die aus Frustration überhaupt nicht mehr nach Arbeit suchen, aber gerne arbeiten würden, ist im gleichen Zeitraum von 54 900 auf 96 700 angestiegen. Griechenland hat inzwischen die geringste Zahl von im Ö�entlichen Dienst Beschäftigten aller OECD-Länder im Vergleich zur Gesamtbeschäftigung. Im Privatsektor sind 1 371 450 Menschen beschäftigt, was der Zahl der Arbeits-losen entspricht. Diese Situation hilft den Kapitalisten, das „Gesetz des Dschungels“ durchzusetzen. So verdienen 20 Prozent der Beschäftigten höchstens 500 Euro im Monat, während es bei 43 % bis zu 800 Euro sind – jeweils brutto! Der um die saisonalen Schwankungen korrigierte Lohnin-dex (laut der Verö�entlichung des Amtes für Statistik vom

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27. Dezember 2013) lag 2008 bei 101,5 und �el bis Ende 2013 auf 82,1. In zahlreichen Sektoren sind die Löhne um mehr als ein Drittel gefallen, im Ö�entlichen Dienst um 30 Prozent. Außerdem wird ein bedeutender Teil der Arbeits-kräfte o�ziell in „Teilzeit“ für vier oder weniger Stunden angestellt, arbeitet aber acht und mehr Stunden unbezahlt. Hinzu kommt, dass viele Menschen über mehrere Monate auf ihren „Scheißlohn“ warten (vier Monate haben sozusa-gen „Tradition“), aber dennoch arbeiten, um ihre Sozial-versicherung zu behalten.

Die vorgebliche „Erfolgsgeschichte“ der Regierung stellt daher für die Mehrheit des Volkes einen zynischen Witz dar. Doch sogar wenn man von den o�ziellen Krite-rien der „Beendigung der Wirtschaftskrise“ ausgeht, ist es ein Witz. Das von der Regierung für 2014 vorausgesagte Wirtschaftswachstum von 0,5 % wurde seit 2011 jedes Jahr vorhergesagt. Doch Morgan Stanley, Moody’s, die OECD und die wichtigsten Wirtschaftsberater von Kanzlerin Angela Merkel sagen auch für 2014 ein weiteres Rezessi-onsjahr voraus. Auch die Senkung der Schuldenquote, die 2013 bei 174 % des BIP liegt, auf 124 % im Jahr 2020 ist verrückt; laut OECD wird im Jahr 2020 die Quote 157 % des BIP erreichen.

Wird Samaras seiner eigenen Politik zum Opfer fallen?

Die gleiche Politik geht also munter weiter. Nicht weil die Regierung blöde ist. Und auch nicht, weil sie vor der deutschen Regierung von Angela Merkel kapituliert hat. Sie wird fortgesetzt, weil sie für einen ganz kleinen Teil der Bevölkerung eine „Erfolgsgeschichte“ darstellt: Viele Unternehmer feiern (zumindest diejenigen, die die „Kollateralschäden“ des von ihnen betriebenen Krieges überlebt haben). Die hier beschriebene Lage der Lohn-empfängerInnen ermöglicht es den Unternehmern, immer mehr Mehrwert aus ihren Beschäftigten herauszupressen. Die an der Börse gelisteten Unternehmen vermochten ihre Pro�tabilität im Jahr 2013 um 152,6 % zu steigern. Die griechischen Banken, die mit ö�entlichem Geld wieder �ott gemacht wurden und die mit Unterstützung des Staates (des Hellenic Financial Stability Fund) 10 Banken „geschluckt“ haben, liegen bei den Pro�ten an der Spitze. Andere Monopole, so die Luftfahrtgesellschaft Aegean (die ihren wichtigsten Konkurrenten Olympic Air, der sich zeitweilig in Ö�entlicher Hand befand, geschluckt hat), macht ebenfalls satte Pro�te. Während die Angri�e durch neue Steuern gegen die Arbeiter- und die Mittelklasse wei-tergehen, werden neue Steuerschlup�öcher für die Reeder,

die reichste Schicht der herrschenden Klasse, die dafür berühmt ist, keinen Pfennig Steuern zu bezahlen (so wie die Kirche, die auf die Nächstenliebe setzt), erö�net. Trotz der wilden Suche nach neuen Steuereinnahmen musste die Regierung zugeben, dass von den 6575 in Griechenland gezählten O�shore-Firmen … 34(!) Steuern bezahlten. Wenn es darum geht, die Reichen zu besteuern, hat sich die Regierung als befähigt und ausreichend stark gegen-über der Troika gezeigt, auf „ihren Positionen zu behar-ren“, sodass die Troika vergeblich drängte, dass die Reichen mehr bezahlen sollten.

Die Weiterführung dieser Politik führte bereits zu einer ernsten politischen Krise. Die beiden wichtigsten Parteien, die das griechische politische Leben jahrzehnte-lang dominierten, be�nden sich als Ergebnis ihrer Politik und wegen der Aktivitäten der Widerstandsbewegung im historischen Niedergang. Die früher mächtige PASOK (panhellenische sozialistische Bewegung) hat bereits 2012 eine schmachvolle Niederlage erlitten. In den Umfragen liegt sie heute auf der fünften oder sechsten Position in der Parteienlandschaft. Viele gehen davon aus, dass sie sogar aus dem Parlament verschwinden könnte.

Auch die Partei der Rechten, die Nea Dimokratia (Neue Demokratie), die „solide“ Säule der Regierung, be�ndet sich im Abschwung. Samaras hat versucht, auf seiner Seite einen „sozialen Block“ zu organisieren, um auf der Grundlage einer gegen die Arbeitenden, die Immig-rantInnen und die Linke ausgerichteten Politik Unterstüt-zung zu gewinnen. Er versuchte dies mittels einer ideolo-gischen Konterrevolution gegen alle Werte der linken und fortschrittlichen Kräfte zu erreichen, indem er die Angst einsetze, es könnte „noch schlimmer kommen“; außerdem bekämpfte er alle Formen des Widerstandes.

Diese Strategie hat es ihm ermöglicht, eine Zeit lang Unterstützung in Teilen der Bevölkerung (um die 25 %) zu bekommen, doch sie wurde zu einem Misserfolg, als es darum ging, die Unterstützung über die klassische Wähler-schaft der Konservativen hinaus auszubauen. Zuletzt war es so, dass sogar die klassische Klientel der Konservativen der ND das Vertrauen entzog.

Dafür gibt es einen o�ensichtlichen Grund: die Fortset-zung der Austeritätspolitik, des Misserfolgs bei der „Stabili-sierung der Wirtschaft“ und der neuen Welle von Steuerer-höhungen gegen die Mittelklasse, die auch diese Schichten von der ND wegführen. Der zweite Grund liegt in den Ergebnissen der Klassenkämpfe in Griechenland: Samaras ist es nicht gelungen, der sozialen Widerstandsbewegung massive Niederlagen beizubringen. Er ist gescheitert, der

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griechischen Gesellschaft seine „Friedhofsruhe“ zu verord-nen, was eine notwendige Vorbedingung für den Erfolg seiner Strategie gewesen wäre. Und Samaras wird auch von den Korruptionsa�ären eingeholt, die nun aufgedeckt werden und die ND wie die PASOK betre�en.

Die Goldene Morgenröte im Hinterhalt

Es ist Samaras auch nicht gelungen, im Gefolge der An-gri�e gegen Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) nach dem Mord an dem Sänger Pavlos Fyssas (in den Umfragen) Gewinne an Wählerstimmen einzuheimsen. Der Anstieg der Zustimmung für die Neonazis wurde gestoppt, doch nach wie vor verfügen sie in den Meinungsumfragen über eine Unterstützung zwischen sieben und neun Prozent. Wir haben immer darauf insistiert, dass der Staat gar nicht daran interessiert ist, die Nazis zu zerschlagen. Ihre lokalen Netze, ihre Beziehungen zu bestimmten Teilen des Staats-apparates (Polizei) und der Kapitalistenklasse (z. B. zu den Reedern) bestehen weiterhin. Wir haben auch behauptet, dass die bürgerliche Regierung unfähig sei, die Nazis zu zerschlagen. Und dies zeigt sich in der Unterstützung für Chrysi Avgi. Solange die sozialen Verwüstungen, die lang-jährige Arbeitslosigkeit, die Ruinierung der Mittelklassen und als deren Resultat die politische Krise weitergehen, �ndet der Faschismus immer Gehör in dem Teil der Gesell-schaft, der seine vergiftete Botschaft hören mag. Nachdem nun der Niedergang der Nea Dimokratia begonnen hat und sich sogar Teile der konservativen Mittelklasse von ihr entfernen, müssen wir eventuell mit einem neuen Anwach-sen von Chrysi Avgi rechnen (in einigen Meinungsum-fragen bekommen sie bereits wieder 10 %), das sich aus der Wut und Verzwei�ung bestimmter Schichten „nährt“.

Die gute Nachricht ist, dass die massive Welle von antifaschistischen Demonstrationen, an denen weit mehr Menschen sich beteiligten als die üblichen aus den „an-tifaschistischen Kreisen“, das Auftreten von Chrysi Avgi auf der Straße geschwächt hat. Die Goldene Morgenröte hat am 30. November 2013 nach Athen mobilisiert, um die Freilassung ihres im Gefängnis sitzenden Führers2 zu verlangen. Nach massiven Anstrengungen der Führung, die alle Sympathisanten aus ganz Griechenland zusammen-bringen wollte, um ein „deutliches Zeichen“ zu setzen, fanden sich nur 2000 Leute auf dem Syntagma-Platz ein. Sie durften nicht demonstrieren, weil es am gleichen Tag zwei Gegendemonstrationen auf benachbarten Straßen gab. Auch in Thessaloniki haben die Neonazis eine ähnliche Niederlage erlebt; infolge einer mehrere Tage laufenden antifaschistischen Kampagne, die in einer Großdemonst-

ration endete, mussten die Nazis das Datum und den Ort ihres Aufmarsches ändern (von der Innenstadt in einen Außenbezirk). Es gelang ihnen nur, etwa 200 demoralisier-te Leute zusammenzubringen.

Die Neonazis bleiben also in der Krise – hinsichtlich ihrer physischen Präsenz auf der Straße, doch sie verfügen über erhebliche Reserven in der („schweigenden“) Wäh-lerbasis, die auch auf die Straße gehen könnte, wenn sich die politische Lage deutlich änderte – zumindest wenn die Herrschenden sich entschieden, sie wieder zu fördern, oder aber die antifaschistische Bewegung in ihren Aufgaben versagt.

Die antifaschistische Aktion muss auch weiterhin zu den vorrangigen Prioritäten der radikalen Linken gehö-ren, in Kombination und Koordination mit der Bewegung gegen die Austeritätspolitik, die sich vor allem gegen die Arbeitenden richtet; dies könnte den Nazis den Boden unter den Füßen wegziehen.

Die Schwierigkeiten einer zentralisierten sozio-politischen Mobilisierung und die Entwicklung von Syriza

Im Bereich des Kampfes gegen die Austeritätspolitik fehlte es seit einiger Zeit an geeigneten Auseinandersetzungen, um das „Zentrum der soziopolitischen Szene“ zu besetzen, etwa die 48-stündigen Streiks, große Demonstrationen vor dem Parlament oder auch „Bewegungen auf den Plätzen“. Doch gleichzeitig ging der Widerstand weiter. Ob es sich um den Streik der Lehrer und Lehrerinnen im September, oder um den Streik des Verwaltungspersonals der Universi-täten im Herbst, ein militanter Streik, der mehrere Wochen dauerte, den wichtigen Streik der Ärzte und Ärztinnen im Dezember, die in der EOPYY arbeiten, handelte – immer gab es wichtige Streikaktionen gegen die Sparmaßnahmen der Regierung.

Hier sind auch die Gründe für die Entwicklung der Wahlumfragen zu suchen. Nach Monaten eines „Kopf an Kopf-Rennens“ zwischen der Nea Dimokratia und Syriza führt nun die Partei der radikalen Linken in allen Meinungsumfragen und liegt weit vorne, wenn man die Frage stellt: „Wer wird deiner Meinung nach die nächsten Wahlen gewinnen?“Das Fehlen von breiten Widerstands-bewegungen führt bei einem erheblichen Teil der Bevöl-kerung zu einem Anstieg der Illusionen in Wahlen. Sie setzt Ho�nungen auf die Urnen, auf die nächsten Wahlen und auf einen Sieg von Syriza. Doch gleichzeitig ermögli-chen es die weiterlaufenden und fortdauernden Streiks in zahlreichen Sektoren, diese Tendenz hin zu Wahlen auf

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einem radikalen, linken Weg zu halten. Das bedeutet, dass die Unterstützung noch nicht mit einer Verzwei�ungs-wahl verbunden ist, sondern dass dynamische Ho�nungen auf ein „Mandat des Volkes“ bleiben, die Sparpolitik zu beenden.

In dieser Lage realisiert die herrschende Klasse, dass die Übernahme der Regierungsmacht durch Syriza inzwischen zu einer ernsthaften Möglichkeit geworden ist, mit der sie rechnen muss. Sie ist also zur alten Taktik von Zuckerbrot und Peitsche übergewechselt. Was die „Peitsche“ ist, ist o�ensichtlich – es sind Angri�e im Stil und Ton des Kalten Krieges – die in Griechenland wegen seiner Geschichte besonders ausgeprägt waren. In den Medien wird Alexis Tzipras als ein Abkömmling von Stalin dargestellt. Doch die heftigsten Angri�e werden gegen den linken Flügel von Syriza geritten, die „gefährlichen, neostalinistischen Hyänen, die sich hinter Tzipras verste-cken“. Wir kennen diese Situation seit den Wahlen im Mai und Juni 2012. Wenn sie etwas zeigen, dann die Angst der herrschenden Klasse, ihre Furcht vor den sozialen und politischen Kräften, die die Syriza-Koalition unterstützen. Die Syriza-Wähler und -wählerinnen, die Widerstandsbe-wegung, die Basis der Partei, ihre radikalsten Kader sind die „Hyänen“, die die herrschende Klasse angesichts eines möglichen Wahlsieges von Syriza beunruhigen.

Was jedoch neu und potenziell gefährlicher ist, ist das „Zuckerbrot“, eine Orientierung, die gut vorankommt, weil Syriza möglicherweise die Regierung übernehmen kann. Die herrschende Presse hat uns mit Artikeln gera-dezu bombardiert, die mit der Möglichkeit „�irten“, dass eine Syriza-Regierung „realistisch und gemäßigt“ bleiben könnte; sie hat eine solche Orientierung durch „freund-schaftliche Vorschläge“ an die Leitung der Partei geradezu aufgedrängt, die „die radikale Opposition in der Partei besiegen müsse, wenn sie das Land regieren möchte“.

Während Syriza auf dem Weg zu einer möglichen Regierungsübernahme vorangekommen ist, und, weil die großen Massenkämpfe fehlen, ins Zentrum des politischen Lebens des Landes gerückt ist, gibt es massiven Druck, dass die Partei zu einer „Volkspartei“ („catch-all-party“) wird, um das Ziel zu erreichen. Dieser Druck zeigt sich auch in den gemäßigten Aussagen der führenden Wirtschafts-fachleute der Partei. Gegenwärtig kommt der Druck, die politische Orientierung von Syriza zu „mäßigen“, vor allem von der Europa-Frage und besonders der Wahlkam-pagne der Europäischen Linkspartei, deren stellvertretender Vorsitzender Tzipras ist. Der Vorsitzende ist Pierre Laurent von der KPF. Als man Tzipras als Aushängeschild auf den

Wahlplakaten zur EU-Wahl vorschlug, haben wir (die Mit-glieder der linken Plattform in Syriza, die vom Abgeordne-ten Lafazanis und dem Red Network, das aus der DEA, der APPO und Kokkino besteht, und die beim Gründungspar-teitag von Syriza etwa 30 % erhalten hat) festgestellt, dass dies die Politik der Europäischen Linkspartei auf Syriza „übertragen“ würde.

Das Problem besteht darin, dass aus vielen Gründen (einer liegt im hohen Grad von Kämpfen in Griechenland, aber auch den besonderen Zügen der Krise dort), die Positi-onen von Syriza weit radikaler sind als die der Verbündeten in EU-Europa. Außerdem verp�ichtet sich Syriza in den o�ziellen Dokumenten eindeutig auf einen Bruch mit den Strategien und Bündnissen von „Mitte-Links“. Dies gilt leider nicht für alle Parteien der Europäischen Linkspartei. (Dafür stellt die KPF, eine wichtige Kraft in der Europäi-schen Linkspartei, ein deutliches Beispiel dar!)

Die Rede, die Alexis Tzipras auf dem Kongress der Europäischen Linkspartei in Madrid (4. Kongress, 11.-13. Dezember 2013) gehalten hat, zeigt die Gefahr, die radikale politische Linie von Syriza in Richtung „gemäßigterer“ Politik der Europäischen Linkspartei anzupassen: Dies bedeutete eine reduzierte Kritik an der Europäischen Uni-on, einen keynesianischen Ansatz bei den Fragen ö�ent-liche Verschuldung, Bankensektor oder Besteuerung des Kapitals, der unter dem Begri� „europäischer New Deal“ zusammengefasst wurde.

Diese Orientierung betri�t die Europawahlen, doch die politischen Auswirkungen wurden von der linken Platt-form in Syriza auf dem letzten Plenum des Zentralkomitees thematisiert. Die linke Plattform hat gegen die politische Entscheidung der Mehrheit gestimmt und ein alternatives Projekt vorgelegt. In den kommenden Monaten werden die Entscheidungen zu Fragen wie Kommunalwahlen (Bündnisse, Programm etc.), Haltung in den Kämpfen (aktive Organisierung des Widerstandes statt einfacher Ankündigung der Unterstützung der Streiks in Erwartung einer Wahlniederlage von Samaras, ohne sich aber auf die Perspektive der Vorbereitung eines politischen General-streiks einzulassen), das programmatische und praktische Engagement gegen die Sparpolitik (zusammen mit dem, was dies nicht nur gegenüber der Troika, sondern auch der herrschenden Klasse in Griechenland bedeutet), zu tre�en sein, zu einem Zeitpunkt, wo eine Regierungsübernahme durch Syriza möglich geworden ist. Schließlich stellt sich die Frage des politischen Funktionierens, also nach der Parteikoalition, also bei der Umsetzung der Entscheidung, die Widerstandskomitees des Volkes aktiv zu unterstützen.

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GRIECHENL AND

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Bislang blieb die Idee eher auf dem Papier. Außerdem muss die Tendenz bekämpft werden, dass die „Führungsgruppe“ die kollektiven Organe der Partei ersetzt. All dies wird für die Zukunft von Syriza entscheidend sein.

Die „linke“ Linke und das beschwörende Sektierertum

Leider ruht dieser politische Kampf auf den Schultern der linken Plattform, sowie der Linken in Syriza allgemein, während die anderen Kräfte der politischen Linken weiter-hin eine sektiererische Orientierung verfolgen.

Die Kommunistische Partei (KKE) attackiert Syriza fortwährend. Sie versteckt sich hinter dem „Argument“, wir „wissen bereits, was die Rechte ist3“ und bekämpft Syriza häu�g härter als die Regierung! Hinter dem „reinen Antikapitalismus“ der KKE, die laufend verkündet, nur der Sozialismus könne die Probleme der Arbeiterklasse lösen, versteckt sich eine ganz und gar passive und konservative Haltung. Die wichtigste Idee ist, dass man nichts machen kann, „bis die Umstände reif sind“. Leider scheint diese passive Politik, diese „konservative“ Beurteilung der Lage, sich in den Aktivitäten der KKE immer mehr auszubreiten. So haben ihre Mitglieder in vielen Situationen (etwa dem Streik der LehrerInnen oder dem der Uniangestellten) eine negative Rolle gespielt, indem sie auf eine Beendigung der Streiks gedrängt haben. Somit wendet die KKE eben keine „revolutionäre“ Strategie an, sondern die stalinistische Strategie der Kommunistischen Parteien in der „dritten Periode“ von 1928 bis 1934, die sie zur Passivität und den bekannten historischen Niederlagen geführt hat4.

Antarsya weigert sich ebenfalls, auf zentraler politischer Ebene mit Syriza zusammenzugehen. Die von zahlreichen GenossInnen von Antarsya formulierte Kritik an Syriza war jedoch immer geschwisterlicher als die der KKE. Au-ßerdem waren die AktivistInnen von Antarsya bestrebt, auf der Ebene der Basis, vor Ort oder in den Gewerkschaften zur Aktionseinheit zu kommen. Traurig ist, dass es inzwi-schen eine Tendenz zu geben scheint, sich sogar aus diesen Aktionseinheiten in den Stadtteilen oder Gewerkschaften zurückzuziehen. Einige GenossInnen von Antarsya schei-nen zum Schluss gekommen zu sein, dass die Kapitulation von Syriza vor der herrschenden Klasse nur eine Frage der Zeit ist. Statt sich aber gegen ein solches Szenario zu weh-ren (wir schließen, wie bereits gesagt, diese Möglichkeit nicht aus), warten sie nur am Rand und verkünden: „Syriza wird die Arbeiterklasse verraten.“ Eine propagandistische Anprangerung (die angesichts ihrer Schwäche Selbstsicher-heit gibt), die im Gegensatz zur permanenten Aktionsein-

heit steht, um einerseits konkret den Ausgang bestimmter Kämpfe (auch von Teilkämpfen) und andererseits das Kräfteverhältnis innerhalb der radikalen Linken und also auch in Syriza, ihrem bei weitem wichtigsten politischen Ausdruck, zu ändern, führt nur in die Isolierung.

2014 wird ein entscheidendes Jahr sein; es hält zahl-reiche Möglichkeiten für die griechische Linke bereit, die sich ihrer großen Verantwortung bewusst sein muss. Vieles muss erst noch geleistet werden. Die Tendenz zur Mäßi-gung und zum „Realismus“ kann innerhalb von Syriza politisch bekämpft werden und durchaus eine Niederlage erleiden. Die Tendenz zur politischen Rechthaberei und Passivität muss in der „anderen Linken“ bekämpft werden.

Die Aktionseinheit und der Radikalismus können der arbeitenden Klasse und der Linken in Griechenland einen bedeutenden politischen Sieg bringen, der die Grundlage für neue Auseinandersetzungen legen wird. Griechenland bleibt das „schwächste Kettenglied“ in Europa, und wenn diese Kette bricht, wird sich eine Schockwelle über Europa ergießen. Doch die Aufgaben, sich gegen die Europäische Union zu wehren und einen siegreichen Kampf gegen die kapitalistische O�ensive zu führen, können nicht in einem Land voll bewerkstelligt werden. Dieser Kampf kann von Griechenland, das sich gegenwärtig in der Frontlinie be�ndet, seinen Ausgang nehmen, doch eine internationa-le Mobilisierung der arbeitenden Klassen und der Linken wird nötig sein, wenn wir einen siegreichen Weg erö�nen wollen hin zu einem radikalen Umbau der Gesellschaft auf dem Weg zum Sozialismus.

Panos Petrou ist Mitglied der DEA, der Internationalistischen Arbeiterlinken, einer der Organisa-tionen der linken Plattform in Syriza.�� Übersetzung: Paul B. Kleiser

1 Der Staat hat Zahlungsrückstände in Milliardenhöhe.2 Nikos Michaloliakos wurde wegen der „Bildung einer ver-brecherischen Organisation“ inhaftiert. Gegen viele Mitglie-der von Chrysi Avgi wird auch wegen Mordes, Totschlags und Körperverletzung bzw. Anstiftung dazu ermittelt.3 Ende der 1980er Jahre gab es sogar eine Koalition aus ND und KKE (Kommunistische Partei Griechenlands)!4 Die stalinisierte Komintern und die Kommunistischen Parteien fuhren damals einen ultralinken Kurs. Die Sozialde-mokratie wurde als „sozialfaschistisch“ und als „Zwilling des Faschismus“ bezeichnet und ein gemeinsames Vorgehen gegen die aufkommenden Nazis verunmöglicht. In einzelnen Fällen (Berliner U-Bahn-Streik) kam es sogar zur Zusammenarbeit mit den Nazis.

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DOSSIER

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MYTHOS „ABSCHIED VOM

PROLETARIAT“

Das Proletariat als politisches SubjektSEITE 20

Lohnabhängige und Proletarier weltweitSEITE 22

Wo steht das französische Proletariat?SEITE 23

Wider die Legenden-bildungSEITE 26

Die Bourgeoisie hat ihre Skrupel abgelegtSEITE 30

Dossier

Noch nie zuvor war das Proletariat numerisch so stark und zugleich politisch so schwach wie heute. Geht es hierbei um einen Niedergang oder bloße

Wandlungen im Erscheinungsbild oder ein lediglich ephemeres Phänomen? Das folgende Dossier befasst sich mit den Ursachen dieser widersprüchlichen

Entwicklung und möglichen Lösungswegen.

Ein Dossier mit 5 Beiträgen

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Waren sich bis dahin weite Teile der Unterdrückten, aber auch der Intelligentsia und des politischen Lagers über die Existenz dieser Klassen und selbst ihre antagonistischen Widersprüche einig gewesen, setzte sich mit dem Rück-gang der Arbeiterbewegung und des Marxismus die Vor-stellung durch, dass die Klassen(kämpfe) ein für allemal der Vergangenheit angehörten.

Nachdem in den vergangenen 20 Jahren jedoch die sozialen Mobilisierungen (nicht nur) in Europa wieder Auftrieb bekommen haben, in den vormaligen „Schwel-lenländern“ wie China, Indien etc. immer weitere Teile der Bevölkerung in die Lohnabhängigkeit geraten und entsprechende Kämpfe auf die Tagesordnung getreten sind und die tiefste Krise seit 1929 ausgebrochen ist, haben sich derlei Prognosen als hinfällig und illusionär erwiesen, wonach der Kapitalismus in der Lage sein könnte, seine Widersprüche zu überwinden. Trotzdem haben die Nie-derlagen und Enttäuschungen der vergangenen Jahre – ungeachtet des Fortbestehens tiefer sozialer Ungleichheit und Spaltungslinien zwischen den Klassen in der französi-schen Gesellschaft – eine tiefe Skepsis hinterlassen, ob das Proletariat noch als Träger einer radikalen Umwälzung der Gesellschaft fungieren und sich als historisches Subjekt einer universalen Emanzipation konstituieren könne.

Damit stehen wir vor der paradoxen Situation, dass das Proletariat – verstanden als Gesamtheit der Individuen, die ihren Unterhalt nur durch den Verkauf ihrer physi-schen oder intellektuellen Arbeitskraft sichern können – noch niemals numerisch so stark in der erwerbstätigen Bevölkerung in Frankreich vertreten und zugleich als

politische Kraft so sehr an den Rand gedrängt war wie heute. Diese Feststellungen gelten natürlich nicht nur für Frankreich, sondern für alle entwickelten kapitalistischen Metropolen und besonders für die USA, Deutschland und England.

Das Proletariat wächst im Kampf zum Kollektiv

Das Gesagte dürfte freilich kaum jemanden überraschen, der sich ernsthaft mit den Werken von Marx (aber auch mit der Soziologie von Bourdieu) auseinandergesetzt hat und weiß, dass die Existenz des Proletariats als Klasse für sich, die für ihre eigenen Interessen einzutreten in der Lage ist, niemals a priori gegeben ist.

Aus dem bloßen Umstand, dass Individuen vergleich-baren Existenz- und Arbeitsbedingungen unterliegen, oder aus einer übereinstimmenden Stellung in den Produktionsverhältnissen heraus, ergibt sich noch keine Klasse, es sei denn sie tritt durch kollektive Kämpfe und Organisationen ins politische und soziale Leben, auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen, Bezugspunkte und Perspektiven. Das heißt, dass das Klassenbewusstsein nicht automatisch und quasi spontan entsteht, sondern den Klassenkampf zur Voraussetzung hat. Insofern ist für die AntikapitalistInnen die kollektive Existenz des Proletari-ats als autonome Klasse ein Anliegen, das verteidigt, und ein Ziel, das erstritten werden muss, und nicht etwa eine Gegebenheit.

Umgekehrt haben sich die herrschenden Klassen selbstredend feste Institutionen gescha�en, mit denen sie ihre Eigeninteressen verteidigen können, und zwar namentlich im Rahmen der Unternehmerverbände, der Nationalstaaten und der internationalen Institutionen wie EU, IWF, WB, WTO etc. Das gleiche gilt – im Falle Frankreichs – für die Eliteschulen, deren spezi�sche Funktion darin besteht, eine Elite für wirtschaftliche, politische, administrative, intellektuelle und militärische Belange zu ziehen und daneben für die kulturelle Verein-heitlichung dieser verschiedenen Fraktionen der herr-schenden Klasse zu sorgen. Dieser Vereinheitlichungs-prozess vollzieht sich vermittels einer Ideologie, deren Transmission über eben diese Eliteschulen erfolgen soll und deren Adressaten zur Machtausübung in den Unter-nehmen, politischen Institutionen, Verwaltungsspitzen, Militär etc. vorgesehen sind, und darüber hinaus vermit-tels einer gemeinsamen Kultur, d. h. einheitlichen Denk-, Sicht- und Handlungsweise.

Etwas Vergleichbares �ndet man – zumindest gegen-wärtig – kaum auf Seiten der Unterdrückten. Genauer

DAS PROLETARIAT ALS POLITISCHES SUBJEKTIn den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte die neoliberale Konterrevolution den Mythos verbreiten, dass sich die verschiedenen sozialen Klassen zugunsten einer breiten „Mittelschicht“ aufgelöst hätten. Von Ugo Palheta

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gesagt sind die Instrumente, die der Organisierung, Mo-bilisierung und Vereinigung der unterdrückten Klassen dienen (Verbände, Gewerkschaften und Parteien) und die seit 1830 in Frankreich im Rahmen der sogenannten or-ganisierten Arbeiterbewegung aufgebaut und entwickelt worden sind, in den vergangenen 30 Jahren erheblich schwächer geworden. Hier bedarf es einer genaueren Un-tersuchung dieser Mechanismen, die zu Parzellierung und organisatorischem Zerfall des Proletariats geführt haben, denn in jeder historischen Situation sind darin zentripeta-le und zentrifugale Kräfte wirksam, die für Annäherung und Vereinigung resp. für Distanz und Spaltung sorgen.

Die Ursachen für die politische Schwächung des Proletariats

Zunächst wären hier die Methoden des modernen Managements zu nennen, mit denen besonders seit den 1980er Jahren die Individualisierung der Berufswege und der Löhne und Gehälter anstelle tari�icher Regelun-gen vorangetrieben wurden, was einherging mit neuen Praktiken der Unternehmer, die gewerkschaftliche Or-ganisierung zu unterdrücken. Durch die Erzeugung von Massenarbeitslosigkeit und durchgängige Prekarisierung haben die Unternehmer außerdem den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt verschärft, kollektive Solidarität untergraben und die Bewusstseinslage der Lohnabhängi-gen geschwächt.

Ein weiterer wichtiger Grund sind die staatlichen Inte-grationsmechanismen in die Instanzen des sog. „sozialen Dialogs“, d. h. der Klassenkollaboration, in die sich die Gewerkschaftsführungen zur vorgeblichen Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen haben einbinden lassen. Durch diese Integrationsmechanismen konnte maßgeblich die Vorstellung eines „Allgemeininteresses“ eingebläut werden, das man durch Verhandlungen der „Sozialpartner“ (Staat, Unternehmer und Gewerkschaf-ten) am grünen Tisch durchsetzen und dabei das Gewese um Klassengegensätze und Klassenkampf hinter sich lassen könne.

Nicht übersehen werden darf auch die Rolle der herrschenden Medien bei der Verdrängung des Proleta-riats von der politischen Bühne und aus dem ö�entlichen Bewusstsein. Indem sie die tatsächlichen Lebensbedin-gungen der übergroßen Bevölkerungsmehrheit verschlei-ern oder die Alltagskultur der einfachen Bevölkerung für verstaubt erklären oder die tatsächlich statt�ndenden Kämpfe in den Betrieben negativ darstellen, leisten die Massenmedien ihren Beitrag dazu, das Proletariat nicht

nur aus dem ö�entlichen Bewusstsein verschwinden zu lassen sondern auch die vorhandenen Spaltungslinien im Proletariat und dessen politisches Ohnmachtsgefühl weiter zu vertiefen.

Last but not least fungiert auch die Institution Schu-le – freilich nicht nur – als massives Spaltungsinstrument innerhalb des Proletariats, was unter dem wachsenden Wettbewerbsdruck [zwischen den Schulen] noch weiter zunimmt. Den einen verspricht sie den Platz auf der Son-nenseite der Gesellschaft und die anderen hält sie unter unwürdigen schulischen Bedingungen und/oder sortiert sie als „bildungsfern“ aus der höheren Schullaufbahn aus, indem sie eine individualistische Ideologie vermittelt, wonach jeder das bekommt, was er kraft seiner angeb-lich naturgegebenen Talente verdient. Außerdem ist das Erziehungswesen so angelegt, dass das bereits vorhandene [soziale und Bildungs-] Gefälle innerhalb der Lohnabhän-gigen noch verstärkt wird, statt dass kollektive Formen der Emanzipation vermittelt würden.

Niedergang oder vorübergehende Schwäche

Will man die Faktoren analysieren, die unter Ände-rung der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse zur Schwächung des Proletariats geführt haben, muss man zunächst daran festhalten, dass dieser Niedergang nicht unausweichlich ist und dass er letztendlich vom Organisa-tionsgrad der Klasse und vom Ausgang der Klassenkämpfe abhängt – wie auch Olivier Besancenot in dem unten-stehenden Interview betont. Das Proletariat ist lediglich als kollektives Subjekt teilweise verschwunden und nicht vom soziologischen Standpunkt aus. Und dies ist weder naturwüchsige Folge technischer Neuerungen noch so-ziologischer Veränderungen.

Wie Jean-François Cabral ausführt, hat das Proletariat in seiner Geschichte bereits tiefgreifende soziologische Veränderungen erfahren. Zwischen der Entstehung der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert und ihrer Blüte in den sog. „glorreichen 30 Jahren“ [nach dem 2. WK] hat sich die Industrie in Frankreich stark entwickelt und Arbeiterhochburgen hervorgebracht, in denen die Ge-werkschaftsorganisationen nicht auf Anhieb Fuß fassen konnten. Dennoch hatte sich die Arbeiterbewegung zunehmend eine soziale und symbolische Stärke erringen können, die während der vergangenen 30 Jahre weitge-hend zerbröselt worden ist.

Wohl könnte man einwenden, dass die „glorreichen 30 Jahre“ nur einen Einschub in der Geschichte des Prole-tariats in Frankreich und des Kapitalismus an sich darge-

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stellt haben und dass sich die gegenwärtige Lage wieder mehr dem Ausgangszustand annähert, der wirtschaft-lich und politisch sehr viel instabiler war. Insofern ist es wichtig – wie Patrick Le Moal in seinem untenstehenden Beitrag ausführt – die soziologischen Wandlungen des Proletariats ernst zu nehmen, um besser politisch agieren zu können, zumal sie zweifelsohne zu neuen Organi-sations- und Mobilisierungsformen geführt haben, die nicht einfach an die Stelle der alten getreten sind, sondern sie modernisiert oder überlagert haben.

In dem Beitrag von Pierre Nodi über die Bewegung in Guadeloupe 2009 am Ende dieses Dossiers geht es um den Nachweis, dass Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Prekarität nicht dagegen stehen, dass sich das Proletariat auf möglichst breiter und radikaler Ebene organisiert und mobilisiert, sofern kollektive Organisationen explizit die Befreiung der ArbeiterInnen anstreben und fähig sind, innerhalb der Klasse und ausschließlich für die Interessen der Klasse im weitesten Sinn, d. h. unter Einschluss sämt-licher Lohnabhängigen, aber auch der Arbeitslosen, des Prekariats, der „illegal“ Beschäftigten etc. zu handeln.

Das Proletariat als Subjekt der Befreiung – eine noch immer aktuelle Idee

Es gibt also keinen Grund, den Gedanken zu revidieren, dass das Proletariat dazu in der Lage ist, sich zum politi-schen Subjekt aufzuschwingen, oder gar das Ziel aufzuge-ben, dass es sich kollektiv als Klasse für sich behauptet, als die einzige nämlich, die die kapitalistische Gesellschaft in ihren Grundfesten infrage stellen kann.

Wenn die Vorstellung, dass das Proletariat selbst zum Subjekt seiner Befreiung werden muss, in der Tat noch immer aktuell ist, dann nicht nur deswegen, weil "die proletarische Bewegung […] die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl [ist]." Sondern und v. a. auch weil „das Prole-tariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft […], sich nicht erheben, nicht aufrichten [kann], ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die o�zielle Gesell-schaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“1 Das Proletariat bezeichnet somit nicht bloß eine soziale Lage, sondern ist die kollektive Bezeichnung der einzigen Klasse, deren be-sondere Interessen sich potentiell mit denen der Gesamt-heit vermischen.

In eben dieser Bildung, Organisierung und Mobili-sierung „einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die

Au�ösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird“2, liegt die Ho�nung auf eine universelle Emanzipation und eine soziale Umwälzung, die an die Wurzeln aller Ausbeutung und Unterdrückung rührt.

1 Zitate aus Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei2 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einlei-tung, MEW Bd.1, S 390

Nichtsdestotrotz ist es nicht ohne Nutzen, die ungefähren Zahlen zu kennen, die der britische Marxist und Leitungs-genosse der SWP Cris Harman anhand von Zahlenmate-rial der Weltbank von 1995 erstellt hat1 und die wir hier anhand neuerer Daten aktualisiert haben2.

Nach Angaben der Weltbank lag die Zahl derjenigen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, 2012 weltweit bei über 3 Milliarden. Davon sind 1,6 Milliarden lohnabhän-gig und 1,5 Milliarden Bauern oder Unternehmer, was vom Handwerker bis zum Unternehmenschef reicht. Der Anteil der Lohnabhängigen variiert je nach Wirtschafts-zweig beträchtlich und reicht von der Landwirtschaft, wo die Lohnabhängigen in der Minderheit sind (wobei hier

LOHNABHÄNGIGE UND PROLETARIER WELTWEITWelches Gewicht dem Proletariat in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen zukommt, lässt sich nicht rein quantitativ beantworten, wie schon Marx mit der Unterscheidung zwischen der „Klasse an sich“ und der „Klasse für sich“ betont hat, die Ugo Palheta in seinem Beitrag auf Seite 23 in dieser Ausgabe aufgreift. Von Henri Wilno

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Überschneidungen durch Nebenerwerb möglich sind) bis hin zu den übrigen Sektoren, die mehrheitlich lohnabhän-gig geprägt sind (wobei es auch hier Schwankungen in der weltweiten Verteilung gibt).

Chris Harman kam zu dem Ergebnis, dass etwa 10 % derjenigen, die einen Lohn beziehen, nicht eigentliche ArbeiterInnen sind. Tatsächlich gehören manche von ihnen zur Bourgeoisie – wie etwa leitende Angestellte in Spitzenpositionen – oder werden hauptsächlich dafür be-zahlt, die Masse der ArbeiterInnen zu kontrollieren. Diese Annahmen hier zu diskutieren, würde zu weit führen – dennoch liegt auf der Hand, dass ein Teil der Lohnab-hängigen Positionen in Unternehmen und Verwaltung einnimmt, die ihn vom Rest der Arbeiter unterscheiden. Insofern belassen auch wir es bei diesen angenommenen 10 %.

Die Zahl der lohnabhängigen ArbeiterInnen (Pro-letarier) liegt demnach bei ungefähr 1,4 Milliarden und damit inzwischen doppelt so hoch wie die Zahl, die Chris Harman mit 700 Millionen für 1995 errechnet hat. Davon sind 60 % in Dienstleistungsberufen und der Verwaltung tätig und die Anderen in der Industrie.

Die Zahlen dienen hierbei lediglich als Bezugsgrößen und unterliegen statistischen und soziologisch-politischen Schwankungen, was besonders für die Landwirtschaft gilt. Hier �nden sich häu�g Mischformen, da gerade in den armen Ländern viele Menschen neben einer lohnabhän-gigen Tätigkeit noch eine eigene Scholle bewirtschaften. Daneben gibt es Halbpächter, die in verschiedenen Län-dern einen Gutteil der Bauern ausmachen und die nicht lohnabhängig sensu stricto sind aber zu den ausgebeuteten Arbeitern gehören und ein erhebliches soziales Mobilisie-rungspotential besitzen.

Chris Harman wies zu Recht darauf hin, dass man sich nicht auf die Zahl der Beschäftigten beschränken dürfe, um das Gewicht des Proletariats an der weltweiten Bevölkerung zu ermessen. Hinzu kommen die Ehegatten der Arbeiter, die berenteten Arbeiter etc. Seine Schlussfol-gerung lautet, dass „wer auch immer glaubt, dass man sich vom Proletariat verabschieden könne, nicht in der Wirk-lichkeit lebt“3.

1 Chris Harman: „The Workers of the World“, in International Socialist, Herbst 20022 Weltbank: Weltentwicklungsbericht 20133 Harman bezieht sich hierbei nicht nur auf André Gorz (Abschied vom Proletariat) sondern auch auf andere Autoren, na-mentlich Michael Hardt und Antonio Negri und ihr Konzept von der „Multitude“.

Patrick Le Moal

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der her-gestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ (Karl Marx: Die deutsche Ideologie) Die Bedingungen für den Klassenkampf sind im ständigen Fluss. Sie sind abhängig von den Gegebenheiten unter der Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die wir traditionell Proletariat nennen, ihren Beziehungen zu den anderen Klassen, ihrem Bewusstsein und ihren Orga-nisationen. Dadurch entstehen ständig neue wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge.

Insofern ist die Analyse der Zusammensetzung des Proletariats und seiner Kamp�ormen unabdingbar für die Intervention all derer, die den Kapitalismus abscha�en wollen. Um etwas zu erreichen, müssen wir uns an die Um-stände anpassen können, die sich in Frankreich während der letzten 40 Jahre grundlegend geändert haben, nachdem sie zuvor ein halbes Jahrhundert lang stabil gewesen waren.

Die Ausgebeuteten und Unterdrückten von heute

Warum so weit ausholen? Weil das Proletariat, das sich aus denen zusammensetzt, die ihre Arbeitskraft verkaufen und beherrscht werden, die Klasse ist, die als einzige eine freie Gesellschaft, den Sozialismus, aufbauen kann.

Noch nie war es so zahlreich. Gegenwärtig gibt es 26 Millionen Beschäftigte, wovon 91 % lohnabhängig sind. 1949 waren es noch 64 %, was hauptsächlich am Nieder-gang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft liegt. Aber das Proletariat von heute hat kaum mehr etwas gemein mit dem der 60er Jahre, als die Arbeitskräfte ganz überwie-gend – nämlich zu zwei Dritteln – männlich waren, in unbefristeter Stelle Vollzeit arbeiteten – wenig quali�zier-te, „typische“ Arbeiter eben, die vorwiegend in großen

WO STEHT DAS FRANZÖSISCHE PROLETARIAT?

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Industrieunternehmen arbeiteten. Hieran hat sich einiges grundlegend geändert.

Zunächst einmal sind inzwischen Frauen in großem Umfang lohnabhängig beschäftigt. Die Beschäfti-gungsquote liegt bei den Frauen inzwischen fast so hoch wie bei den Männern. Dabei gibt es gravierende Benachtei-ligungen in Bezug auf Löhne, „typische“ Berufe, Karriere und v. a. Teilzeitarbeit, in der die Diskriminierung am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Die Teilzeitarbeit hat massiv zugenommen und liegt inzwischen bei 20 %, wobei 82,5 % davon weiblich sind.

Die Installation einer strukturellen Arbeitslosig-keit, die 1968 o�ziell noch bei 3 % lag und inzwischen sechs Mal so hoch liegt, ist ein entscheidender Faktor. Die Arbeitslosenquote hängt nicht nur mit der momentanen Bescha�enheit des Arbeitsmarktes und somit konjunktu-rell mit der Wirtschaftskrise zusammen, sondern ist auch Ausdruck einer bewussten und organisierten neoliberalen Politik. Dies hat erhebliche Folgen, indem ganze Sektoren des Proletariats langfristig in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden. In manchen Vierteln sind 50 bis 60 % der Bevöl-kerung arbeitslos und der Rest lebt von Jobs. Der Alltag wird dort nicht mehr durch eine feste Arbeitsstelle geprägt. Frauen und ImmigrantInnen sind stärker betro�en und Jugendliche gar doppelt so hoch, sodass ihr Eintritt in das gesellschaftliche Leben immer weniger auf dem Arbeits-weg erfolgt. Nur wenige unter 30 haben eine feste Stelle, sondern hangeln sich durch prekäre Verträge. Hier spielt die Prekarisierung von Millionen Arbeitsplätzen eine ganz besondere Rolle.

Die Beschäftigungsstruktur hat sich grundlegend gewandelt. In den 50er Jahren waren etwa noch gleich vie-le Lohnabhängige in Industrie, Landwirtschaft und Dienst-leistungssektor beschäftigt. In der Landwirtschaft waren 1949 noch 29 % der erwerbstätigen Bevölkerung aktiv, in-zwischen sind es 3 %, während sich der Anteil des tertiären Sektors mehr als verdoppelt hat. Die Zahl der Beschäftigten in der Industrie, die seit Ende des 19. Jahrhunderts schnell und regelmäßig gestiegen war, wuchs im gleichen Zeitraum zunächst, wenn auch viel langsamer, um dann nach 1974 um jährlich 1,5 % abzunehmen. Nach einer Untersuchung des Wirtschaftsministeriums sind zwischen 1980 und 2007 zwei Millionen Arbeitsplätze in der Industrie vernichtet worden. Durch diese Entwicklung ist heutzutage die Mehr-heit des Proletariats im tertiären Sektor beschäftigt – insge-samt drei Viertel vs. 22 % in der Industrie. Etwa 60 % dieser Stellen entfallen auf den Handelssektor und der Rest auf Verwaltungsangestellte mit unterschiedlichem Status.

Zugleich haben sich die Industrieunternehmen selbst strukturell gewandelt. Während die Konzerne und Unternehmen im Ganzen immer größer werden, schrumpfen die einzelnen Betriebe. Dies hat Auswirkun-gen auf die kämpfende Belegschaft, deren Zusammenhalt nicht durch die Konzernzugehörigkeit bestimmt wird sondern durch die KollegInnen vor Ort, die alle dem-selben Betrieb angehören, auf gemeinsame Erfahrungen zurückblicken und untereinander kommunizieren. Allein auf nationaler Ebene ist die Koordination zwischen den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften der einzelnen Betriebe desselben Unternehmens schon schwer genug. Und auf internationaler Ebene ist dies noch komplexer und entsprechend rar.

In Frankreich gibt es mittlerweile nur noch 500 Betriebe mit mehr als 2000 Beschäftigten, wovon zwei Drittel dem Tertiärsektor angehören und weniger als 150 der Industrie. Während der letzten zehn Jahre haben erstere um 40 % zugenommen, während letztere um 20 % geschrumpft sind. Wenn kleinere Betriebe auf die Barri-kaden gehen, kümmert das die Konzerne immer weniger, da sie einen größeren �nanziellen und politischen Rück-halt haben, um dies durchzufechten. Mit diesem Problem haben bspw. die Stahlarbeiter von Florange gegenüber Mittal zu kämpfen. Exemplarisch ist der größte Arbeitge-ber im Großraum Paris, der Flughafen Charles de Gaulle, mit 100 000 Beschäftigten, die sich jedoch auf Hunderte von verschiedenen Gesellschaften verteilen, wodurch die Trennlinien entlang der Berufsgruppen und Quali�kati-onsstandards noch vertieft werden.

Der Einsatz von Subunternehmen ist sprung-haft gestiegen. Die Subunternehmer sind ihren großen Auftraggebern völlig ausgeliefert, was die Tarife angeht als auch die Arbeitsplanung. Wenn der Auftraggeber die Preise um 10 % senkt, müssen sie sich fügen oder gehen. Durch die Vergabe an Subunternehmen werden Arbeitsplätze in den Stammbetrieben eingespart, wodurch die Belegschaft in ihrer Organisationsfähigkeit und Schlagkraft geschwächt wird, während die Beschäftigten in den Subunternehmen ohnehin schwerer zu organisieren und zu mobilisieren sind.

Wir müssen diese tiefgreifenden Änderungen im Alltag des Proletariats berücksichtigen: den Verfall bzw. die Rela-tivierung des wirtschaftlichen und politischen Stellenwerts der Industrieunternehmen, das gestiegene Gewicht des ter-tiären Sektors und die fortdauernden oder gar verschärften Spannungen innerhalb des Proletariats aufgrund rassisti-scher Diskriminierung oder der vermeintlichen Zugehö-rigkeit zur Mittelschicht.

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Selbst wenn es wieder zu einem wirtschaftlichen Auf-schwung kommt, bleibt dieser Trend ungebrochen, weil er im Rahmen der wirtschaftlichen Neuordnung infolge des technologischen Wandels und der neoliberalen Globalisie-rung politisch und sozial gewollt ist.

Verschiebung der Dimensionen

Die Wirkung von Streiks. Die klassischen Kamp�or-men, indem man die Unternehmer durch Arbeitsnieder-legungen zu Zugeständnissen zwingt, greifen in immer weniger Wirtschaftsbereichen. Durch die Umstellung der kapitalistischen Produktion auf bedarfssynchrone Beliefe-rung sind die Vorratslager auf die Straße verlagert worden. Dadurch und durch die wachsende Zersiedelung sind nun-mehr die Transportsysteme zur Achillesferse des Systems geworden. Und die dort sowie im Energiesektor Beschäf-tigten sind weiterhin in der Lage, die Wirtschaft lahmzule-gen, wie die diversen Angri�e auf das Streikrecht während der letzten zehn Jahre gezeigt haben. Allerdings stehen solche minoritären Sektoren immer vor dem Problem, ob ihre Streiks bei der Mehrheit der Bevölkerung Unterstüt-zung �nden.

Die Integration der Gewerkschaften ins System. Um die Gewerkschaften loszuwerden, die ihre Macht infrage stellen, üben die Bosse Druck auf die kämpferischen Gewerkschafter aus und bauen gelbe Gewerkschaften auf. Zudem haben sie dies System perfektioniert und angepasst, indem sie Integrationsmechanismen entwickelt haben. Die großen Gewerkschaften �nanzieren sich inzwischen zu über 50 % aus Mitteln, die letztlich von den Unternehmen kommen. Innerhalb der Unternehmen verbringen etliche Gewerkschaftsführer mehr Zeit mit Vorstandssitzungen, auf denen sie endlos über alles Mögliche verhandeln, anstatt gemeinsam mit den Beschäftigten konkrete solidarische Aktionen hierzu zu organisieren1.

Die Widerstandsnester, die sich noch halten können, sind zu schwach, um diese Entwicklung aufzuhalten, die natürlich auch die Wahrnehmung der Gewerkschaften durch die Beschäftigten beein�usst: Man braucht sie zwar, aber sie gelten den Meisten nicht mehr als Vertretung der Lohnabhängigen sondern eher als Institutionen, an denen man nicht vorbei kommt.

Die neuen Formen der Entfremdung. Im Zuge der Umstrukturierungen des Kapitalismus wurde auch die Arbeit in den Unternehmen völlig umorganisiert: Es wer-den Zielvorgaben an den Einzelnen gemacht und damit die Ausbeutung auf die kognitive und psychologische Ebene ausgedehnt, wohingegen die physische Ausbeutung in ihren

brutalsten Formen eher in den Hintergrund tritt. Hinzu kommt die gezielte Ausschaltung potentieller kollektiver Abwehrmechanismen im Alltag, indem durch permanente Umstrukturierungen und Versetzungen die Belegschaft ständig neu gemischt und entsolidarisiert wird. Dieser destruktive E�ekt durchdringt den gesamten Betrieb und macht es erheblich schwerer, sich im Alltag solidarisch zu verhalten, was wiederum die Entfremdung von der Arbeit weiter verschärft. Daher auch die vielen Selbstmorde und Burn-out-Syndrome.

Die Zukunft der Erde und der Menschheit. Die Ökologie geht alle an, auch am Arbeitsplatz. Wohl sind schon immer destruktive Produkte gefertigt worden, etwa in der Rüstungsindustrie. Aber die dort Tätigen konnten mit diesen manchmal schwer zu ertragenden Widersprü-chen leichter fertig werden, indem sie sich für die Emanzi-pation von Unterdrückung engagierten. Inzwischen jedoch steigt die Zahl der Arbeitsplätze mit destruktivem Potential ständig. Und es macht einen Unterschied, ob man eine Ar-beit verrichtet, die die Gesellschaft voranbringt und mit der man sich voll Stolz identi�zieren kann, oder ob man etwas arbeitet, das die Zukunft bedroht.

Wie sahen die Kämpfe der letzten Jahre aus?

Hier ein Rückblick auf die Mobilisierungen der vergange-nen 20 Jahre gegen die verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus:

Beispiellose Teilnahme an Demonstrationen. Seit den 80er Jahren hat die Beteiligung an Demonstrationen als politisches und soziales Medium immer weiter zugenom-men. Zeigte sich 1988 noch die Hälfte der Franzosen bereit, selbst zu demonstrieren, waren es 1995 schon zwei Drittel und 2002 drei Viertel. Damit haben Demonstrationen als Mittel zum Protest mit Streiks gleichgezogen, was beson-ders unter der Jugend gilt.

Für viele Lohnabhängige gilt, dass die Beteiligung an Demonstrationen wichtig und machbar ist. Alle können hieran teilnehmen, egal ob im unbefristeten Ausstand oder nur im tage- oder stundenweisen Streik, ob in der Gleitzeit oder am Ruhetag … Während der Proteste gegen die Ren-tenreform 2010 war die Beteiligung an den Demonstratio-nen so hoch wie nie zuvor: acht Tage lang Massendemons-trationen innerhalb von zwei Monaten. Damit wurden die bereits sehr hohen Zahlen von 1995 (Rentenreform) und 2002 (Europäische Verfassung) erreicht oder bis um das mindestens Dreifache überschritten. Fünf oder sechs Mal lag die Teilnehmerzahl mit ein bis drei Millionen (nach An-gaben der Polizei bzw. der Organisatoren) auf dem höchsten

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Stand innerhalb der letzten 30 Jahre. Das bedeutet, dass zwi-schen 5 und 15 % aller Lohnabhängigen mitgemacht haben, während zugleich 70 % der Bevölkerung dahinterstanden. Das Durchschnittsalter der Beteiligten nahm beständig ab, als wenn eine neue Generation sich erheben wollte.

Die Streiks. Streiks zur Blockade der Unternehmen und der Wirtschaft, in denen die Lohnabhängigen die täg-liche Ausbeutung abstreifen, um als Kollektiv zu handeln, sind ein unersetzbares Aktions- und Politisierungsmittel und können zur politischen Wa�e werden, wenn sie sich ausbreiten und die Bourgeoisie im Ganzen und den bürger-lichen Staat herausfordern.

Allerdings haben Zahl und Umfang der Streiks drastisch abgenommen. Nach den (unvollständigen) Angaben des Ar-beitsministeriums, in denen Kon�ikte, die das ganze Land erschütterten (1995, 2003 oder 2010), als „Grundrauschen“ unberücksichtigt sind, lag die Zahl der Streiktage Ende der 70er Jahre bei jährlich 3 Millionen, um dann bis Mitte der 90er Jahre auf zweihundertfünfzig- bis fünfhunderttausend abzufallen. Damit ist – abgesehen von den beiden Welt-kriegsperioden – der tiefste Punkt seit Beginn des 20. Jahr-hundert erreicht. Das soll jedoch nicht heißen, dass es keine Unzufriedenheit oder Kon�ikte gäbe, sondern nur, dass sie andere Formen, nämlich die einer „geringen Intensität“ angenommen haben.

Blockadeaktionen. Eine Aktionsform, um die Herr-schenden zum Einlenken zu zwingen, ist die selektive oder komplette Blockade von Straßen, Flughäfen und Indust-riegebieten. In den Mobilisierungen der vergangenen Jahre wurden solche Aktionsformen gemeinsam von Streikenden und anderen Aktivisten angewandt, um die Folgekosten der Streiks für Unternehmer und Regierung in die Höhe zu treiben.

Gut möglich, dass daraus heute, wo Streiks zunehmend branchen- und unternehmensübergreifend geführt werden und mit Blockadeaktionen und Besetzungen ö�entlicher Plätze zusammen tre�en, wo also die Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Teile der Gesellschaft gemeinsam auf die Barrikaden gehen, eine soziale und politische Alternati-ve entstehen kann.

Berufsübergreifende Strukturen. In den Streiks Ende des letzten Jahrhunderts sind Strukturen entstanden, in denen einzelne Berufsgruppen wie Krankenschwestern oder Eisenbahner ihre Aktionen koordiniert haben. So konnten bei den Protestbewegungen, die das ganze Land mobilisierten, entgegen der Bevormundung der landes-weiten Bewegung durch die Gewerkschaftsführungen zahlreiche lokale Strukturen entstehen, die für unbefristete

und ausgeweitete Aktionen eintraten und dabei lokal unter-schiedliche Formen einnahmen.

Eine vorläufige SchlussfolgerungNatürlich sind bei dieser kurzen Betrachtung viele analy-tische Aspekte außer Acht geblieben, bspw. welche For-men die Kämpfe gegen die Entlassungen angenommen haben, die Massenmobilisierungen in der Bretagne, aber auch die Rolle des Proletariats bei den sozialen und politi-schen Protesten, den antirassistischen und feministischen Mobilisierungen gegen die Diskriminierung und bei den Bewegungen gegen den Flughafenbau in Notre Dame des Landes, gegen die Förderung von Schiefergas, gegen Atom-strom etc., sowie seine Rolle innerhalb der Initiativen, der Gewerkschaften und der Parteien. Wir müssen uns mit der grundlegenden Frage auseinandersetzen, auf welche Weise und mit welchen Mobilisierungen wir dieses Proletariat, das zahlreicher als je zuvor und zugleich sozial und politisch zer-splitterter denn je ist, zusammenschweißen können. Denn nur vereint im Kampf um die Befreiung kann es zu einer Kraft werden, die den Kapitalismus überwinden und den Sozialismus des 20. Jahrhunderts scha�en kann.

1 Allein 2012 sind in Frankreich 38799 (und damit 4930 mehr als im Vorjahr) betriebliche Abkommen getro�en werden. Davon wurden 31310 von Gewerkschaftsvertretern und 7489 von Betriebsräten unterzeichnet.

WIDER DIE LEGENDEN-BILDUNGEin Streifzug durch die Geschichte der Arbeiterklasse in Frankreich und den USA Von Jean-François Cabral

Wenn man die heutigen Entwicklungen verstehen und einordnen will, muss man auch die eigenen – mitunter uneingestandenen – historischen Referenzen kritisch beleuchten, statt sie nostalgisch zu verklären. Oft liegt

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eine Konfusion zugrunde: ein Proletariat, dessen Vielfalt vorsätzlich ignoriert und auf eine Stereotype reduziert wird, nämlich den Facharbeiter im Blaumann, der bei Renault-Billancourt arbeitet, klassenbewusst und in der Gewerkschaft organisiert ist, der KPF politisch nahe steht, sozial geachtet und verankert ist und nichtsdes-totrotz eine Ziel verfolgt: den Sozialismus, der in der Sowjetunion verwirklicht schien …

Aus dieser Warte mag der Vergleich mit der Gegenwart besonders schmerzen, wenn man nicht mehr sicher sein kann, ob das Proletariat noch existiert, nachdem man es zuvor mit den Industriearbeitern in eins gesetzt hat und diese inzwischen eher marginalisiert sind und kaum mehr als 20 % der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen. Gar nicht zu reden vom realen Sozialismus …

Man kommt daher zu einem paradox erscheinenden Ergebnis: Die Arbeiterklasse soll zu einer Art „unsichtba-rer Klasse“ geworden sein, im Gegensatz zur Zeit davor, wo sie für die 68er der Bezugspunkt schlechthin und mit einer wahren Aura versehen war. Aber heißt das, dass aus dem „Alles“ nun ein „Nichts“ geworden sein soll? Dies wäre wohl genauso eine Verzerrung, wie wenn man das „normale“ Funktionieren des Kapitalismus mit der Zeit des „Wirtschaftswunders“ gleichsetzen würde. Und selten sah auch die Arbeiterklasse so aus wie in dieser kurzen „Zeit der Blüte“.

War früher alles besser?

Eine der Besonderheiten des Proletariats im Frankreich des 19. Jahrhunderts lag darin, dass es nur sehr langsam erwachsen ist, obwohl die industrielle Revolution relativ frühzeitig erfolgte1.

Die Arbeiter, die im Juni 1848 die rote Fahne schwan-gen und die „soziale Republik“ forderten, waren kaum andere als die Sansculotten in der französischen Revoluti-on oder die Kommunarden knapp 25 Jahre später. In Paris lebte damals ein Proletariat, das zugleich äußerst zahlreich, aber auch zersprengt und in eine Vielzahl von mitunter rivalisierenden „Berufen“ gespalten war und wo sich die Tradition der „Zünfte“ noch gehalten hatte. Viele Meister und Vorarbeiter waren in einer Zwitterposition und rekru-tierten sich ihre „eigenen“ Gesellen, die wiederum oft ihr Werkzeug selbst stellen mussten.

Und dennoch brachte diese Epoche wichtige Änderun-gen: 1863 gab es nach dem Ende der repressiven Zweiten Republik zum ersten Mal „Arbeiterkandidaturen“ bei den Wahlen, dann folgte 1864 die Gründung der Ersten Internationale und es entwickelten sich harte und langdau-

ernde Streiks. So streikten etwa die Bronzegießer in Paris 1867 über mehrere Wochen, auch wenn sie über hunderte von Werkstätten verstreut, aber trotzdem in „Innungen“ organisiert waren.

Diese Besonderheit lässt sich im Wesentlichen aus der Französischen Revolution heraus erklären. Durch die Ag-rarrevolution wurde die Land�ucht lange Zeit aufgehalten und Frankreich wurde dadurch zum Land des bäuerlichen Kleinbürgers schlechthin. Noch sehr lange galt, wenn ein Bauer zum Arbeiten in die Stadt ging, dass dies nur vorü-bergehend und zu dem Zweck war, die auf seiner Scholle lastenden Hypotheken bezahlen zu können. Aber aus der Erinnerung an die „großen Tage der Revolution“ rührt auch die bleibende Idee, dass man Politik betreiben muss, um sein Schicksal zu ändern. „Wer Wa�en hat, hat auch Brot“, rief Blanqui voller Stolz und die Menge verstand ihn.

Als Jaurès in den 1880er Jahren aus dem republikani-schen Lager ins sozialistische wechselte, waren Arbeiter-hochburgen wie die Kohlenregionen Nordfrankreichs oder die Metallindustrie in Le Creusot noch Ausnahmeer-scheinungen. In vielen Fabriken galt noch die Saisonarbeit und nur eine kleine Minderheit von Facharbeitern, vor-wiegend Schlosser, waren das ganze Jahr über angestellt, während die Masse im größten Elend lebte, was sowohl die Arbeit als auch die Behausung betraf: Meist wohnten sie in Herbergen, möblierten Zimmern also, aus denen sie sich oft heimlich verdrückten, bevor der Wirt die Mietrück-stände eintreiben konnte.

Sogar in den 1920er Jahren waren noch nicht die gro-ßen Fabriken zwangsläu�g der Hort des Klassenkampfes. Der erste große Streik, den 1924 die gerade frisch gegrün-dete KP führte und mit dem sie ein Exempel statuieren und ihrem ersten Wahlkampf für das Parlament einen Auftakt verscha�en wollte, fand nicht in der Automobil-industrie bei Renault oder Berliet statt, sondern unter den ArbeiterInnen der Fischkonservenfabriken von Douar-nenez in der damals noch beschaulichen Bretagne, unter noch sehr viel schwierigeren Bedingungen also als heute zumeist.

Eine Vorreiterrolle

Anfang des 20. Jahrhunderts gab die sonstige Ausgangs-lage in organisatorischer Hinsicht dennoch mehr Grund zur Ho�nung. Denn wenn man aus dieser Zeit eine Lehre ziehen will, dann, dass das Proletariat wohl gesellschaftlich in der Minderheit, zerstreut, verarmt und durch eine viel-fältige Binnenhierarchie2 gespalten sein kann, dass es aber

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trotzdem eine starke und dynamische Arbeiterbewegung geben kann, an der man politisch nicht vorbeikommt.

Die CGT organisierte damals unter Führung der An-archisten hunderttausende Proletarier. Stolz vertrat sie die „Doppelfunktion“ der Gewerkschaft, den Kampf um So-fortforderungen und für die Enteignung der Kapitalisten, und propagierte dabei eine Art ganzheitliche Befreiung, in der jedwede staatliche Einmischung unzulässig war. Die Jahre 1906 bis 1910 zeugten dann auch von außergewöhn-lich heftigen Auseinandersetzungen mit der Bourgeoisie, aber die Niederlagen ließen nicht lange auf sich warten: Der erste Generalstreik der Eisenbahner 1910 endete in tausend-fachen Entlassungen und der zweite 1920 vor dem Hinter-grund der Russischen Revolution gar mit der Entlassung Zehntausender.

Die Sozialistische Partei unter Jaurès und Guesde stellte 1914 mehr als hundert Abgeordnete, schloss aber im Au-gust den „Burgfrieden“ mit der Bourgeoisie. In mancher Hinsicht hat sich die Arbeiterbewegung davon nie wieder erholt und �el sehr schnell trotz der Russischen Revoluti-on und bald nach der Gründung der KP dem Stalinismus anheim.

Der Einigungsprozess unseres sozialen Lagers war in-sofern ein außerordentliches Unterfangen mit ungewissem Ausgang und es war keineswegs so, dass dieser Prozess aus sich heraus zustande gekommen ist. Umgekehrt jedoch gab es sehr schnell und sehr bald politische Rückschläge mit dauerhaften Auswirkungen.

Exkurs auf die USA zu Zeiten von Jack London

Ein Blick über den Atlantik verdeutlicht das Problem recht gut. Die US-Arbeiterbewegung hatte mit zwei zusätzli-chen Schwierigkeiten zu kämpfen: ihrer geographischen Streuung über einen ganzen Kontinent und dem gewalt-tätigen Ausmaß der Konfrontationen in einem Land, in dem der Klassenkampf gerne mit Wildwestmethoden geführt wird3. Trotzdem sind dort Organisationen und politische Aktionsformen entstanden, die auf sehr originelle Weise die Arbeiterklasse zu einigen versucht haben, was umso schwerer war, als diese aus frischen Einwanderern bunt zusammengewürfelt war. In erster Linie wären hier die „Wobblies“ von der Industrial Workers of the World (IWW) zu nennen.

Hinzu kam jedoch, dass der geschichtliche Verlauf der dortigen Arbeiterbewegung in ihren groben Zügen vorwiegend vom Rhythmus der Repressionsmaßnahmen bestimmt wurde und weniger aus einer inneren Dynamik heraus, die keinen langfristigen Automatismen unter-

worfen ist. Die Frühphase war zugleich die blutigste und am wenigsten bekannte, zumal es in den USA keine vom Gesamtstaat ausgehende Repression in Form einer klassi-schen Diktatur und auch keinen Aufschwung politischer Bewegungen wie des Faschismus gab, zumindest nicht auf dem Niveau wie in Europa. Stattdessen gab es haufenweise bewa�nete Banden, die fürchterlich wüteten. Vor Aus-bruch des Ersten Weltkriegs und in den Folgejahren führte die Angst vor den „Roten“ dazu, die Organisationen der Arbeiterbewegung förmlich ausrotten zu wollen. Ein Ziel, das in weiten Teilen erreicht worden ist.

Als die Arbeiterbewegung mit den großen Streiks von 1934-1937 wieder auf die Beine kam, musste sie sich erneut gegen allerhand Probleme behaupten, wovon die Berichte zeitgenössischer Autoren zu den Streiks der Automobilar-beiter in Flint oder der Teamster in Minneapolis zeugen4. Durch die Repression während der McCarthy-Ära konnte sich nach 1947 die Arbeiterbewegung nur in ihren ange-passtesten und harmlosesten Formen behaupten. Nachdem es in den 1960er Jahren zu einem Wiederaufschwung ge-kommen war, markierten die Massenentlassungen während des Streiks der Fluglotsen 1981 einen neuen Tiefpunkt, der auch diesmal wieder mit – wenn auch geringeren – Repres-sionen einherging.

Steht das Proletariat vor einer „Reproletarisierung“?

Wenn wir von einer „Blütezeit“ im Frankreich zur Zeit des „Wirtschaftswunders“ sprechen, wollen wir zwei wesent-liche Merkmale, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, hervorheben: ein langfristig günstiges Kräfteverhältnis, das sich in erster Linie auf die Errungen-schaften einer stalinistisch dominierten Arbeiterbewegung stützen konnte; und eine gewisse Position der Stärke, die das Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft errin-gen konnte, und die seinen Stellenwert und seine Rechte de�nierte. Zu dieser Zeit wurde das unbefristete Beschäfti-gungsverhältnis zur Regel und war mit bestimmten Rech-ten ausgestattet, sodass die Lohnabhängigen einen hohen Status innerhalb der gesamten Gesellschaft genossen und nicht für Ausbeutung und soziales Außenseitertum standen.

Dieser soziale Kompromiss ist inzwischen infrage ge-stellt worden. Für Millionen von Menschen, deren Lebens-umstände über den Haufen geworfen wurden, ist dies zum regelrechten Drama geworden. Dies wirkt natürlich auch auf die Arbeiterbewegung zurück, die sich an dieses System ziemlich gut gewöhnt hatte. Doch soll man deshalb alles schwarz malen?

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In der Tat lassen sich viele Argumente umkehren, wenn man die gegenwärtige Entwicklung der Kräfte-verhältnisse ermessen will. Denn hinter jeder Situation stecken gewisse widersprüchliche Aspekte. Betrachtet man etwa anscheinend ganz unterschiedliche Milieus, etwa den Diplominformatiker bei Axa oder den Paketzusteller bei der Post, haben diese trotz alledem ein paar Gemeinsam-keiten: Im Alter von 30 sind sie weder in der persönlichen Lebensplanung noch beru�ich in festen Gleisen, egal ob sie relativ gut bezahlte Dienstleister oder Befristete mit Mindestlohn sind. Letztlich entwickeln sie in ihrer Lage irgendeine zynische Einstellung zu ihrem Arbeitgeber (wir nehmen ihn aus, wie er uns ausnimmt) und eine nur sehr schwache Bindung (an den Beruf, das Unternehmen und an all die Regeln, Werte und Verhaltensweisen, die die vorigen Generationen lange geprägt haben). Dies passiert vorwiegend auf eine individualistische Weise, sodass sie sich auch sehr viel schwerer an die traditionellen Organisa-tionen binden oder sich noch nicht einmal in irgendeiner Weise kollektiv organisieren können.

Aber war dies früher besser? Als die jungen Leute mit Karriereabsichten in ein Unternehmen gegangen und bis zu ihrer Rente geblieben sind und zwischendurch die Raten für ihr Reihenhaus abgestottert haben? Oder ihre Punkte gezählt haben, bloß um wieder in ihr Heimatdorf zurückzugehen, nachdem sie die Aufnahmeprüfung bei der Post bestanden haben? Als sie der Gewerkschaft beige-treten sind, so wie man eine Versicherung abschließt, um an dem sozialen Kompromiss teilzuhaben, der nach 1945 geschmiedet wurde und der die Lohnabhängigen ebenso sehr schützen sollte, wie er den Kapitalisten als Gewähr-leistung diente?

In vielerlei Hinsicht ist der moderne Kapitalismus dabei, die Proletarier wieder zu eben solchen zu machen, was vermutlich mehr in moralischer als in materieller Hin-sicht zutri�t. Unter diesen Umständen ist es keineswegs ausgemacht, dass die revolutionären Organisationen dabei verlieren und dass sie deswegen nicht hartnäckig daran festhalten sollten, sich betrieblich zu verankern und auf Streiks zu setzen, die sicher seltener aber dafür umso hef-tiger vonstatten gehen werden und die von den angeschla-genen Gewerkschaftsapparaten, die in der Vergangenheit eher als Bremser denn als Motor fungiert haben, wohl viel schwerer kontrolliert werden können.

Wiederholt sich die Geschichte?

Dies könnte man zumindest glauben, wenn man liest, was Danos und Gibelin in ihrem Buch über den Juni 19365 kol-

portiert haben, als sich Unternehmer und Gewerkschaften erstmals auf Vermittlung von Leon Blum im Regierungs-palast getro�en haben. Die Unternehmer beschwören ein Untergangsszenario, da die Lage außer Kontrolle geraten sei. Die CGT nutzt dies aus, um ihnen eine Lektion zu erteilen, und sagt sinngemäß: Wenn Ihr nicht Eure Zeit damit verbracht hättet, uns aus Euren Fabriken zu ver-jagen, dann wären wir vielleicht nicht hier dabei. Die Unternehmer schweigen beschämt …

Die hier gemeinte Repression betraf nicht nur die Aktivisten, sondern die Unternehmer wollten die ganze Arbeiterklasse auf Dauer konditionieren. In Anbetracht der Krise von 1929 hat Louis Renault die Taylorisierung seiner Fabriken erheblich vorangetrieben. Dabei ging es nicht bloß um höhere Produktivität, sondern grund-sätzlicher um den Eingri� in das soziale Gefüge und die Binnenstruktur der Arbeiterklasse, um das Unternehmen anders zu steuern. Die ganze Selbstbestimmung bei der Arbeit wurde infrage gestellt und auch der Stolz darauf, etwas Wertvolles von vorn bis hinten gescha�en zu haben, woraus wiederum im Alltag das Recht abgeleitet werden konnte, eine andere Gesellschaftsordnung fordern zu können, da man ja schließlich davon überzeugt war, den ganzen Reichtum allein zu scha�en. Von nun an thronte das „Arbeitsbemessungsbüro“ über allem und die Macht der Unternehmer über die immer mehr entfremdete Ar-beit wuchs weiter. Freilich änderte dies nichts daran, dass die Proteste verpu�ten.

In Billancourt, einer Fabrik mit über 30 000 Beschäf-tigten, sind 1935 kaum mehr als eine Handvoll Arbeiter in der KP, die nie sonderlich unter den Fließbandarbeitern re-krutiert hat. In einer vergleichbaren Situation stecken wir heute inmitten der schweren Wirtschaftskrise mit all ihren Folgen, wenn auch etwas weniger heftig und brüsk. Aber zugleich war diese Konstellation nicht ohne Ausschlag für das, was danach geschah: 1936 kam eine Revolte in Gang, die sich ohne Unterstützung der Gewerkschaftsführungen immer mehr ausbreitete, sodass der KP-Führer Thorez sich sehr schwer tat mit der Erklärung, „man müsse einen Streik auch beenden können“.

Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht buch-stäblich. Und die jetzige Entwicklung mag zwar in be-stimmter Hinsicht an die Vergangenheit gemahnen, scha�t aber zugleich eine völlig neue Situation. Aber man muss nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen.

1 Gerard Noiriel, Les Ouvriers dans la société française (XIXe – XXe siècle), Paris, Seuil, coll. « Points », 1986.

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Im Januar 2014 erschien das Buch La conjuration des inégaux – La lutte des classes au XXIème siècle (Die Verschwörung der Ungleichen in Anspielung auf „Die Verschwörung der Gleichen“ um Gracchus Babeuf 1796) von Olivier Besancenot. Darin befasst sich der Autor mit den heutigen Klassenverhältnissen und namentlich mit dem paradoxen Phänomen, dass das Proletariat noch nie so zahlreich war und zugleich kaum jemals zuvor ein so schwaches Bewusstsein von der eigenen potentiellen Stärke hatte. Von Jihane Halsanbé

Wie erklärst du, dass die Bourgeoisie gegenwärtig die einzige Klasse ist, die sich ihrer Gesamtinteres-sen bewusst ist?Die Bourgeoisie vertraut auf ihre Vergangenheit und ihre dauerhafte Herrschaft über die Gesellschaft und rechnet sehr wohl damit, wie sehr die Niederlagen der Vergangen-heit auf unseren Schultern lasten. Dies erklärt wohl, dass sie sämtliche Skrupel verloren hat. Ihre spezi�sche Stel-lung in der Gesellschaftsordnung treibt sie sogar instinktiv

vorwärts, zumal sie durch die Ägide der Finanzmärkte paradoxerweise politisch enger zusammengeschweißt wird, auch wenn sich die Kapitalisten durch ihre Marktkonkur-renz untereinander bekriegen mögen. Die Konkurrenz, die sie untereinander betreiben, bewahren sie sich als Elite exklusiv und verteidigen sie mit Zähnen und Klauen gegen den Rest der Gesellschaft. An Zahl überschaubar verfügen die Ausbeuter über die kostbare Zeit – die sie uns durch die Lohnarbeit vorenthalten –, um sich untereinander abzu-stimmen und das Räderwerk ihres Herrschaftsapparats zu schmieren, wobei sie obendrein noch die aktive Kompli-zenschaft des Staatsapparats hierbei genießen.

Schon immer in ihrer Geschichte hat es die Bourgeoisie verstanden, ganz bewusst ihre Interessen aktiv durchzuset-zen. Man könnte auch sagen, dass sie seit jeher dafür Ge-wehr bei Fuß steht. Sie hat sich frühzeitig in geschlossenen Zirkeln organisiert, um das Wirtschaftsleben zu kontrollie-ren, und über verschiedene Pressure-Groups in der Politik mitgemischt. Die Gegenwart zeigt uns wieder einmal, dass es der Bourgeoisie seit der Französischen Revolution stets darum zu tun war, die Politik nach ihrer Façon zu gestalten.

Seit gut 20 Jahren kann sie dabei noch unverblümter zu Werke gehen, nachdem das sozialistische und kom-munistische Gedankengut durch die neoliberale Wende der Sozialdemokratie und den tragischen Abgesang des Stalinismus diskreditiert worden ist. Noch nicht einmal die internen Widersprüche mit ihren schrecklichen Folgen, die das ganze System untergraben und existentiell bedrohen, scheinen sie sonderlich zu beunruhigen. Inzwischen ist die Wahrung ihrer herrschenden Stellung unumwunden zu einem fundamentalen Ziel geworden – eine Vorstellung, die weniger Romantik weckt als die Ideen der Französi-schen Revolution, die aber von den Vertretern dieser Klasse anscheinend sehr e�zient verfolgt wird.

Du sprichst vom Proletariat als „verlorenes Selbst“. Woher dieser Verlust?Daniel Bensaid erinnerte in Marx l’intempestif („Der un-zeitgemäße Marx“) an den Rückgang der Ideologien in den 1990er Jahren und meinte, dass die sozialen Klassen anscheinend als Diskussionsthema verschwunden und vom zurzeit vorherrschenden Diskurs über das Verschwinden der Klassen und den Tod der Ideologien verdrängt worden seien. Tatsächlich hat ein neues Jahrhundert sich über das gelegt, das mit der Russischen Revolution 1917 erö�net worden war und mit dem Fall der Berliner Mauer abge-schlossen wurde. Nicht nur, dass sich das Kapital bis in jeden Winkel der Erde ausbreiten konnte, sondern – schlimmer

DIE BOURGEOISIE HAT IHRE SKRUPEL ABGELEGT

2 Hinzu kämen die verheerenden Auswirkungen des rasch aufkommenden Nationalismus und Rassismus, wie das Auf-kommen der Rechtsextremen unter Gen. Boulanger oder das Massaker an italienischen Fremdarbeitern in Aigues-Mortes 1893 zeigen. 3 Die Autobiogra�e der Mother Jones. Herausgegeben von Mari-anne Ihm. Prometh-Verlag, Köln 1979.4 Henry Kraus The Many and Few: A Chronicle of the Dynamic Auto Workers, Reprint 1985Farrell Dobbs, Teamster Rebellion, Path�nder Books, 20045 Danos, Jacques und Marcel Gibelin: Die Volksfront in Frank-reich. Generalstreik und Linksregierung im Juni ‘36. Junius, 1982w

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noch – es haben die antikapitalistischen, emanzipatorischen Ansätze jedweder Couleur heftige Rückschläge erlitten und die neuen Generationen, selbst die rebellischsten, nicht mehr erreicht. Stattdessen ist das kritische Bewusstsein vieler Köpfe erloschen. In den letzten 150 Jahren haben Millionen von Ausgebeuteten in der Ho�nung gelebt, dass eine bessere Welt, befreit von kapitalistischer Herrschaft und sozialer Ungleichheit, ein realisierbares Ziel wäre. Mittlerweile leben die Menschen in der Überzeugung, dass die kommenden Generationen schlechter leben werden als sie selbst.

Dieser Verfall des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist beileibe nicht für die Ewigkeit, aber er bezeich-net die gegenwärtigen Verhältnisse und Herausforderun-gen, nämlich eine langsame Aufbauphase, wo das Klassen-bewusstsein aus dem Wiederau�odern der Klassenkämpfe entstehen wird und aus der Fähigkeit der revolutionären Linken, diese Kämpfe mit den besten Traditionen der Arbeiterbewegung zu beseelen. Unter den ideologischen Trümmern des vergangenen Jahrhunderts hat uns der Sta-linismus ein Danaergeschenk aus dem Jenseits hinterlassen: Kommunismus und Demokratie erscheinen als Fremdkör-per, selbst in revolutionären Zeiten. Aller plausiblen politi-schen Inhalte beraubt kommt der vor sich hin humpelnde Klassenkampf nicht von der Stelle. Das heutige Subjekt der Befreiung erkennt sich nicht als solches, während es objek-tiv betrachtet noch nie so stark gewesen ist.

Wie kann diese Identität als politisches Subjekt wieder erlangt werden? Kann eine Partei wie die NPA hierin eine Rolle spielen und wenn ja, welche?Diejenigen, die ihre geistige oder physische Arbeitskraft an einen „Arbeitgeber“ verkaufen, sind im marxistischen Wortsinn Proletarier. Während das Proletariat in der Geschichte des Kapitalismus zahlenmäßig seinen Höchst-stand erreicht hat, ist es zugleich erstaunlich unsichtbar als sozialer und politischer Faktor. Egal wie wir sie bezeichnen wollen – es ist das Gebot der Stunde, dass die Klasse der Ausgebeuteten wieder zu sich kommt und zum kollektiv handelnden Subjekt wird. Eine immense Aufgabe, die un-sere Kräfte weit übersteigt und der wir uns trotzdem wid-men müssen. Heute wie in der Vergangenheit ändert und entwickelt sich das Proletariat und ist keine statische Masse, aus der sich so ohne Weiteres der Mehrwert abzapfen ließe. Das Proletariat o�enbart sich jetzt und in Zukunft in erster Linie als das, was zu sein es sich entscheidet, wenn es sich bewusst zu kollektivem Handeln entschließt.

Wir als NPA müssen wohl – wie andere Bewegungen auch – von einem klassenkämpferischen Standpunkt aus die Vielzahl der Kämpfe vorantreiben und dabei die vielfäl-tigen Ansätze von Radikalisierung integrieren, die den Klassenkampf anheizen und über den bloßen betrieblichen Rahmen hinausgehen. Da wir uns als Kampfpartei verste-hen, müssen wir versuchen, die Kämpfe auf eine politische Dimension, nämlich den Sturz der Klassengesellschaft, zu

DIE ENTSTEHUNG EINES WELTPROLETARIATS

In den 90er Jahren führte die Integration Chinas, Indiens und

der vormaligen Comecon-Staaten in den Weltmarkt zu einer

Verdopplung der Arbeitskräfte, die der weltweiten Konkurrenz

ausgesetzt sind.

Nach den Angaben der IAO ist die Zahl der Lohnabhängigen in

den Industrieländern zwischen 1992 und 2008 um ca. 20 % ge-

stiegen und stagniert seither infolge der Krise. In der gleichen

Zeit wuchs diese Zahl in den vormaligen „Schwellenländern“ um

80 %. Noch ausgeprägter ist diese Entwicklung in der verarbei-

tenden Industrie, wo zwischen 1980 und 2005 die Zahl der Be-

schäftigten in den „Schwellenländern“ um 120 % gestiegen ist,

während sie in den klassischen Metropolen um 19 % sank.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine kürzlich erstellte Studie

des IWF über die Zahl der Beschäftigten in den jeweiligen Ex-

portindustrien, die also direkt in die weltweite Wertschöpfungs-

kette involviert sind. Hiernach ist die Zahl der Arbeitskräfte in

den „Schwellenländern“ zwischen 1990 und 2010 um 190 %

gestiegen, in den klassischen Metropolen um 46 %.

Die Globalisierung führt also neben der Entstehung eines Welt-

markts auch zu einer „Weltarbeiterklasse“, deren Wachstum

hauptsächlich in den „Schwellenländern“ stattfindet. Parallel

dazu wuchs die Lohnabhängigkeit unter den Beschäftigten, und

zwar von 33 % auf 42 % während der letzten 20 Jahre. Beson-

ders ausgeprägt ist diese Tendenz unter den weiblichen Beschäf-

tigten.

Diese Weltarbeiterklasse ist aufgrund der massiv ungleichen

Löhne und der begrenzten Mobilität äußerst segmentiert, wäh-

rend das Kapital nahezu völlig frei zirkulieren kann. Dadurch ge-

raten die Lohnabhängigen aller Länder potentiell in Konkurrenz

zueinander, was in einer sinkenden Lohnquote weltweit durch-

schlägt.

Michel Husson (gekürzt aus alencontre)

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heben. Dies setzt voraus, dass wir am Entwicklungsstand der sozialen Bewegungen ansetzen.

Unsere besondere Stärke könnte darin liegen, dass wir das Konzept ablehnen, das die Verfechter der postindustri-ellen Gesellschaft und die Ouvrieristen eint: die Verkün-der des angekündigten Todes der Industriearbeiterklasse möchten am liebsten den Arbeitersektor innerhalb des Proletariats als Träger des Umsturzes ad acta legen, obwohl dieser weiterhin für die kapitalistische Produktion von strategischer Bedeutung ist. Dass sie hierin irren, zeigt nicht nur der Blick jenseits der Grenzen. Zugleich ist es unbe-streitbar, dass die Arbeiter in den Ländern, die an der Wiege der Arbeiterbewegung standen, nicht mehr die gleiche dynamische Rolle wie früher spielen, zumal das Proletariat in den vergangenen 50 Jahren zweifellos einen Prekarisie-rungsprozess durchlaufen hat und über das Land verstreut worden ist. Dies macht es für uns natürlich nicht leichter, die Kämpfe zu koordinieren. Davon abgesehen bestand das Proletariat niemals nur aus Blaumännern und Fließband-arbeitern. Inzwischen sind aus den Dienstleistungssektoren neue Schichten hinzu gekommen.

Mehr denn je ist es erforderlich, dass sich diese Klasse eine demokratische und autonome Vertretung scha�t, um auf der Basis eines modernisierten und angepassten antika-pitalistischen Programms das politische Ziel ihrer Emanzi-pation wieder mit Leben füllen zu können. Unser Beitrag kann darin bestehen, Losungen mehrheitsfähig zu machen, die unserer Zielgruppe wieder eine Perspektive weisen können. Beispiele dafür sind die Verteilung des Reichtums, die Enteignung oder die vorrangige Erfüllung sozialer Be-dürfnisse anstelle von Spekulation und Pro�t. Eine weitere Aufgabe liegt darin, einen selbstbewussten Anziehungspol zu scha�en, in dem sich unsere Zielgruppen wieder�nden können, in dem Franzosen Seit an Seit mit Immigranten kämpfen und sich nicht durch die Berufspolitiker entmün-digen lassen. Denn hier liegt das Hauptproblem: Zweifel und Unsicherheit werden von unseren Ausbeutern bewusst gestreut und sorgen dafür, dass die Unseren mit dieser Idee sich zwar anfreunden können, sie aber nicht für umsetzbar halten. Wieder in unserem eigenen Namen zu sprechen, ist wahrscheinlich das Grunddilemma, das das Proletariat des 21. Jahrhunderts umtreibt.

Du sprichst in deinem Buch vom „emanzipatori-schen Erbe des Proletariats“. Wie können wir es uns wieder aneignen?Dies ist das eigentliche Ziel einer politischen Organisation. Klassenkampf wird nicht verordnet, er existiert und folgt

seinen eigenen Rhythmen. Zugleich hat sie einen eman-zipatorischen Auftrag, der nach vorne und weniger nach hinten weist. Trotzdem ist unser Erbe ganz wichtig, da es uns die zurückliegenden Erfahrungen weist, im Guten wie im Schlechten. In der Entdeckung, oder Wiederentde-ckung, dass die ausgebeutete Klasse noch gestern dazu in der Lage gewesen ist, die schönsten Seiten der Geschichte zu schreiben, liegt eine Chance, sich heute neu zu er�nden. Zugleich ist es aber auch nützlich, die Fehler der Vergan-genheit zu bedenken, um sie nicht zu wiederholen. Die Feinde auf unserem Weg zur Befreiung sind nicht neu und sie sind hartnäckig, egal ob mit staatlicher Repression oder bürokratischer Konterrevolution, die droht, sobald sich die demokratischen Basisorgane einer Revolution erschöpfen. In heutigen Zeiten ist das politische Erbe leider unter vielen revolutionären Organisationen zuvörderst zum Gegenstand von Streitigkeiten verkommen. Dieses Manko nimmt uns die Möglichkeit, dieses Erbe über unsere Organisationen hinaus nach außen zu kehren, und hindert uns v. a. daran, es in Hinblick auf die Zukunft zu nutzen. Ein Erbe macht nun einmal nur Sinn, wenn man es mit der Gegenwart verknüpft. Andernfalls verliert man beim Blick zurück die Gegenwart aus den Augen und wird zum bloßen Betrachter der Ereignisse, die unsere Welt erschüttern.

�� Übersetzung des Dossiers (5 Artikel): MiWe

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DOSSIER

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NEIN ZU SCHIEFERGAS UND

SCHIEFERÖL

Das neue Eldorado?SEITE 34

Hydraulisches FrackingSEITE 35

Die Folgen sind keineswegs unter KontrolleSEITE 36

Am 22. Januar 2014 hat in der EU die Diskussion über Empfehlungen zur Schiefergasgewinnung begonnen. Die folgenden

Artikel beschreiben Schiefergas, Fracturing oder hydraulisches Fracking und zeigen auf, dass diese Technik der Erdöl- bzw.

Erdgasgewinnung heute nicht wirklich beherrschbar ist.

Ein Dossier mit 3 Beiträgen

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Dick Cheney, Präsident des Unternehmens Halliburton und ehemaliger Vizepräsident der USA, hat die Wende hin zum Schiefergas eingeleitet. Im Jahr 2005 wurde in den USA ein neues Gesetz zur Energiepolitik erlassen („Energy Policy Act“). Damit wurden alle Flüssigkeiten, die für das Aufbrechen der Erdkruste unerlässlich sind, von allen Vorschriften und Verboten zum Schutz des Trinkwassers, der Luft- und Wasserqualität befreit und diese Industrie massiv subventioniert. Von Gérard Gagnier

Die USA bauten daraufhin ihre chemische Industrie aus und wurden noch vor Russland zum größten Produzenten von Naturgas. Bohrunternehmen bemühen sich um Bohrlizen-zen und nutzen dabei die Gesetzeslücken in den einzelnen Staaten aus.

Auf allen Kontinenten

In Kanada hat British Columbia Grundstücke für 4000 $ pro Hektar verkauft, um so die Gegner zum Schweigen zu bringen. Doch in Québec haben die für ein paar Brosamen gekauften und ohne Absprache genutzten Rechte einen Aufstand der Bevölkerung ausgelöst, der zu einem Baustopp geführt hat. Das stark von der Kohle abhängige China schätzt seinen zusätzlichen Energiebedarf bis 2020 auf zusätzliche 30 bis 40 %. Ein Prozent des Bedarfs würde dann aus Schiefergas gewonnen, das als „grüne“ Energie gilt. Indien hat mit den USA ein Abkommen für „saubere Energien“ abgeschlossen und 2011 mit Bohrungen begonnen. Die Firma Total hat in Australien Lizenzen für die Ausbeutung von Schiefergas gekauft.

Argentinien mit den drittgrößten Schiefergasvorkommen hat der Firma Chevron Konzessionen verkauft. Doch wegen des starken Widerstandes der Bevölkerung sahen sich bereits 15 Lokalregierungen gezwungen, hydraulisches Fracking1 zu verbieten. In Afrika hat Algerien Interesse bekundet, doch wäre ein Rückgang seiner Wasserreserven ab 2020 die Folge.

Auch Südafrika hat nach Mobilisierungen einen Baustopp verhängt.

In Europa nehmen die Gasvorkommen Großbritanniens in der Nordsee, seiner größten Energielieferantin, ab. Dies hat das Vereinigte Königreich dazu bewogen, Schiefergas zu gewinnen. Firmen werden mit Steuerprivilegien angelockt. Nach einem ersten Versuch, der wegen mehrerer Erdbeben in Blackpool wieder gestoppt wurde, hat Cuadrilla Ressources in Sussex mit Bohrungen begonnen, die wegen Protestbewe-gungen ebenfalls wieder eingestellt wurden.

In Polen, Litauen, Ungarn, der Ukraine, Bulgarien (wie in Frankreich gesetzlich verboten) und Rumänien �ndet im Energiesektor ein kalter Gaskrieg gegen Russland und für die Unabhängigkeit in Sachen Energie statt. Die Abkommen mit den USA und die abgegebenen Konzessionen stoßen auch hier auf den Widerstand der Bevölkerung. Auch die Türkei engagiert sich in der Schiefergasgewinnung, obwohl es eines Tages eine direkte Pipelineverbindung zwischen dem Mittleren Osten und Europa geben wird. Um den Rückgang der Vorkommen in der Nordsee zu kompensieren, beutet Dänemark, aber auch Irland, Österreich und die Niederlande Schiefergas aus. In Deutschland haben SPD und CDU das Moratorium aufgehoben, doch 45 % der Elektrizität werden aus Kohle gewonnen und jetzt soll auch die riesige Kohlen-mine in Garzweiler, wo im Tagbau abgebaut wird, ausgebaut werden.

Ein Markt ohne Regulierungen

Die Vorkommen an Erdöl und herkömmlichem Gas gehen unvermeidbar zur Neige. Andere fossile Energiequellen, die als Ersatz dienen, werden bereits abgebaut: bitumenhaltiger Sand, Schweröle, Gas aus Steinkohle und sogar Methan-hydrate2, die dem Permafrost oder dem Grund der Ozeane entnommen werden ...

Der Markt der fossilen Energieträger ist nicht weltweit reguliert. Die Schiefergas produzierenden Länder können ihre Produktion nicht der Nachfrage anpassen und in der Geopolitik die Golfstaaten ersetzen. Die Gaspreise in den USA fallen, obwohl sie weltweit im Steigen begri�en sind. Die USA exportieren ihre Kohle zu niedrigen Preisen. In Europa haben mehrere Gesellschaften, unter anderen die Gaz de France-Suez, gemeinsam beschlossen, Gasfabriken herun-terzufahren oder sogar zu schließen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Bevölkerungen zu Spitzenzeiten unter Energieman-gel zu leiden haben.

Die Europäische Union debattiert im März 2014 über eine Direktive, mit welcher „die Verträge sicherer werden sollen“. Bei der Verhandlung über den Transatlantischen Ver-

DAS NEUE ELDORADO?

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trag geht es um das Gleiche. Es ist höchste Zeit, die Wahn-sinnssuche nach fossilen Energiequellen zu stoppen und den Energieverbrauch zu reduzieren. Der Druck der Lobbys führt dazu, dass die Regierungen der notwendigen Energiewende ausweichen. Die Mobilisierungen zum internationalen „No Fracking Day“ am 19. Oktober 2013 waren ein Beitrag, die Problematik bekannt zu machen und weitere weltweite Pro-teste vorzubereiten.

Der Autor ist Mitglied der Landes-kommission für Umweltfragen der NPA (Neue antikapitalisti-sche Partei in Frankreich): [email protected] �� Übersetzung: Ursi Urech

1 Hydraulische Frakturierung oder hydraulisches Fracking: Methode v. a. der Erdöl- und Erdgasförderung, bei der in Tiefbohrungen eine Flüssigkeit in den Boden eingepresst wird, um im Gestein Risse zu erzeugen und auszuweiten. Dadurch wird die Gas- und Flüssigkeitsdurchlässigkeit der Gesteinsschicht erhöht, damit Erdgas oder Erdöl leichter zum Ort der Bohrung hin�ießen kann. Dafür ist die massive Zuga-be von chemischen Substanzen notwendig. (aus Wikipedia)2 Methanhydrat, auch Gashydrat genannt: in erstarrtem Wasser eingelagertes Methan, wobei die Wassermoleküle das Methan vollständig umschließen. Methanhydrat wird daher als Einlagerungsverbindung bezeichnet. Erstmals wurde reines Methanhydrat 1971 im Schwarzen Meer entdeckt. Unter Nor-malbedingungen entspricht 1 m3 Gashydrat 164 m3 Gas und 0,8 m3 Wasser. (aus Wikipedia)

Von François Favre Die Schichten aus Kohlenwassersto�-Verbindungen im Boden sind durch die Einwirkung von Bakterien und Wärme aus organischen, vor allem p�anzlichen, Ablage-rungen entstanden. In der Erdkruste ist aus dieser Biomas-se Kohle, Gas, Erdöl, bitumenhaltiger Sand entstanden.

Die „herkömmlichen“ �üssigen oder gasförmigen Kohlenwassersto�-Verbindungen, die in riesigen Re-servoiren vorkommen, wurden zuerst abgebaut. Durch senkrechtes Bohren und Pumpen sind sie relativ leicht abbaubar. Schiefergas und Schieferöl, die in Stein oder Fels

HYDRAULISCHES FRACKING

eingeschlossen sind, können nicht mit einfachen Boh-rungen abgebaut werden. Steinkohlegas ist im Grunde genommen ein brennbares Gas, das beim Abbau einer bestimmten Steinkohle freigesetzt wird (Grubengas), aber immer noch in nicht abgebauten Kohle�özen eingebunden vorkommt. Auch dieses Gas kann nur mit Hilfe von hyd-raulischem Fracking rentabel freigesetzt werden.

Fracking wird hydraulisches Fracking genannt, weil dafür Flüssigkeit notwendig ist, Wasser oder andere Flüssigkeiten auf Probe wie Propan, um das Gestein auf-zubrechen und an die eingebundenen Kohlenwassersto�-Verbindungen heranzukommen:

� Bis zum Schiefergestein wird ein zwei bis fünf Kilome-ter langer senkrechter Schacht gebohrt, der mit mehreren horizontalen Schächten ergänzt wird, die sich über einen bis fünf Kilometer erstrecken.

� Dann werden Rohre versenkt und einzementiert, um das Ganze zu festigen.

� Dann wird Sprengsto� eingesetzt, um die horizontal gelegten Rohre zu sprengen.

� Dann werden ungefähr 30 Tonnen Salzsäure in den Schacht gegossen, um die Rohre zu reinigen.

� Das Wasser (10 bis 20 Mio. Liter pro Fracking), der Sand und die chemischen Substanzen (200 Tonnen pro Schacht, zwischen 600 und 2500 Komponenten, von denen Dutzende krebserregend sind) werden mit sehr hohem Druck (700 bis 1000 Bar) in den Schacht gespritzt, was dem mehrere Hundertfachen des Luftdruckes in der Atmosphäre entspricht) und dies bei drei bis vier Frackings pro Tag.

� Dies führt zu Rissen, die vom Sand o�en gehalten wer-den. Das freigesetzte Gas strömt in das Rohr und steigt auf.

� Das abgezapfte Gas wird mit Lastwagen in Fabriken transportiert, wo es weiterverarbeitet wird.

� Das verunreinigte Wasser wird geklärt und anschlie-ßend zum Verdunsten gebracht (die giftigen Sto�e gehen in die Luft). Die festen Bestandteile werden ge�ockt und elektrisch gefestigt oder in der Fabrik weiterverarbeitet und wieder in den Boden versenkt.

� Ein Schacht wird bei jeweils 200 bis 500 m bis zu acht-zehn Mal oder mehr gefrackt je nach Bescha�enheit des Gesteins und der Länge der Bohrung.

Folgen für Umwelt und Gesundheit

Die Zerstörung ist schon daran ersichtlich, dass fünfzig bis hundert Mal mehr Schächte gebohrt werden müssen als bei der herkömmlichen Art. Deshalb können keine Transport-einrichtungen von längerer Dauer gebaut werden (Pipe-

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36 Inprekorr 02/2014

Unterscheidung bringt jedoch nichts, weil in beiden Fällen das hydraulische Fracking zur Anwendung kommt, das für die Umwelt in beiden Fällen die gleichen Folgen zeitigt. Hinzu kommt, dass die Kommission zur Kontrolle mögli-cher Forschungen nie eingesetzt worden ist.

�� Übersetzung: Ursi Urech

lines, Wasserrohre). Hunderte Lastwagen sind notwendig für den Transport des Wassers und der verschiedenen „Inhaltssto�e“ und für den eskortierten Transport der Kohlenwassersto�-Verbindungen zu den Zonen, wo sie gelagert werden. Hinzu kommt noch die Luftverschmut-zung durch den Diesel der Kompressoren (krebserregen-des Benzin). Das Erdbebenrisiko ist erwiesen. Es kann zu Stärken bis zu vier auf der Richterskala kommen. In Frankreich sind Bohrungen in der Nähe von AKWs oder auf Seveso-Gelände geplant.

Für das Fracking sind Riesenmengen an Wasser notwendig, während es in vielen Regionen regelmäßig an Wasser mangelt. Die Gefahr, dass das Grundwasser für immer verschmutzt wird, ist groß, weil die Bodenbeschaf-fenheit in Frankreich komplexer ist als in den USA.

Bei der Verwendung dieser Sto�e, von denen einige sehr gefährlich sind, kommt es unter der Einwirkung von Druck und Hitze zu unkontrollierten chemischen Re-aktionen. Und im Gegensatz zu den Behauptungen der Industriellen trägt der Abbau von Schiefergas ebenso stark, wenn nicht stärker, zur Bildung von Treibhausgasen bei als die Kohle.

Die Lohnabhängigen sind von diesen Verschmutzun-gen zuerst betro�en: Zu den Risiken bei den Bohrungen kommt der Kontakt mit den chemischen Substanzen, Krebserkrankungen, Hautkrankheiten, Verhaltensstö-rungen... Die Gefahr für die Bevölkerungen ist schon deshalb sehr groß, weil die Krankheitsursachen unbekannt sind, weil die Liste der „Cocktails“ geheim gehalten wird. Die wilde Fauna, die Haustiere und die Zuchttiere sind ebenfalls betro�en. Sämtliche Tätigkeiten der betro�enen Regionen sind bedroht – von der Landwirtschaft bis zum Tourismus.

Die Schiefergasreserven

Je tiefer ein Untergrund, desto weniger ist über seine Be-scha�enheit bekannt. Alle Schätzungen über Vorkommen an Schiefergas stammen von der US-amerikanischen Ener-gieagentur. Doch sie wurden bereits mehrmals widerlegt, wie zum Beispiel in Polen. Erst mit dem Fracking können die Gasvorkommen abgeschätzt werden. Die Erfahrung in den USA zeigt, dass die Schächte nur zwei Jahre lang produktiv sind (im Gegensatz zu den herkömmlichen Bohrungen, die zwanzig bis vierzig Jahre etwas hergeben), dass die Umweltschäden hingegen bleiben.

Im Gesetz Jacob vom 13. Juli 2011 wird zwischen der Erforschung, die unter gewissen Bedingungen erlaubt ist, und dem Abbau unterschieden, der verboten ist. Diese

DIE FOLGEN SIND KEINESWEGS UNTER KONTROLLEFrançois Favre im Interview mit Prof. Séverin Pistre

Das Unternehmen Schuepbach in Texas hat beim amerikanischen Verfassungsrat eine dringliche Verfassungsklage eingereicht: Es sei zu prüfen, ob das Gesetz Jacob, das hydraulisches Fracking untersagt, verfassungsgemäß sei. Dies mit der Begründung, es entstehe ungleiches Recht, wenn hydraulisches Fracking zur Gewinnung von Schiefergas und Schieferöl untersagt, das Stein-fracking zur Gewinnung von Erdwärme hingegen erlaubt sei. Mit seinem Entscheid vom 11.10.2013 hat der Verfassungsrat die Klage abgewiesen mit der Begründung, das Gesetz Jacob scha�e keine Ungleichheit. Denn, obwohl die Technik ähnlich sei, seien die Risiken ungleich viel größer. Damit wird Fracking mit der Gewinnung von Erdwärme in Zusammenhang gebracht. Sind Sie der Mei-nung, es handle sich dabei um die gleiche Art von Fracking und die Risiken seien in beiden Fällen gleich groß?

In der Tat kommt bei der Gewinnung von Erdwärme ein Verfahren zur Anwendung, das dem hydraulischen Fracking gleicht. Doch beim gefrackten Gestein bestehen zwei bedeutende Unterschiede. Bei der Erdwärme ist das

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Inprekorr 02/2014 37

Tiefengestein teilweise bereits gesprungen. Man will diese Sprünge lediglich verbreitern. Außerdem ist die chemische Zusammensetzung des Gesteins ganz anders. Bei der Erd-wärme enthält es viel weniger natürliche Bestandteile, die der Umwelt schaden wie z. B. Schwermetalle, radioaktives Material, Kohlenwassersto�-Verbindungen wie Methan sowie organische Zusammensetzungen, die sich in Form von Dampf ver�üchtigen. Demzufolge werden bei den beiden Fracking-Methoden nicht die gleichen Substanzen hineingepumpt. Die Substanzen, die an die Ober�äche gespült werden (�owback), sind viel weniger umweltbe-lastend. Folglich wiegen die möglichen negativen Auswir-kungen auf die Umwelt viel weniger schwer.

Teilen Sie als Wissenschafter die Meinung der französischen Akademie der Wissenschaften, wo-nach die Risiken mit entsprechenden Regulierun-gen unter Kontrolle gehalten werden könnten?

Vor der Europäischen Kommission habe ich die Mei-nung vertreten, dass mit einer strengeren Regulierung als in den USA bestimmte Risiken in der Tat verringert werden könnten. Insbesondere undurchlässige Bohrtürme, ein strengeres P�ichtenheft zu den Au�angbecken, wo die an die Ober�äche gespülten Substanzen und Flowbacks gesammelt werden. Das Gleiche für die Rohre und deren Durchlässigkeit, Vorschriften zum Transport und zur Herleitung der Herkunft der eingepumpten und herausge-sogenen Substanzen, Verbot bestimmter, beim hydrauli-schen Fracking eingesetzter Substanzen, sowie Studien in den USA über die Folgen für die Umwelt. Verfügen wir überhaupt über die methodologischen Hilfsmittel für sol-che Studien? Wie lange Zeiträume und wie große Gebiete müssen untersucht werden? Meiner Meinung nach kann die Vergiftung durch einen Abbau erst über zwanzig Jahre später sichtbar werden, wenn man zum Beispiel an die Zirkulationszeit der unterirdischen Gewässer denkt.

Damit die Abbau�rmen diese eventuell strengere Regulierung respektieren, braucht es eine kostspielige Kontrolle (die oft schlecht mit dem Schutz von Indust-riegeheimnissen vereinbar ist) über eine längere Zeit. Als Beispiel kostet die Analyse einer einzigen Wasserprobe 1000 €. Dieser Betrag muss mit der Anzahl Wasserstellen und der Anzahl aufeinanderfolgender Jahre multipliziert werden. Dafür sind Bohrungen zur Überwachung der unterirdischen Gewässer notwendig … Weitere Kosten, die auf den Gaspreis abgewälzt werden und das Gas im Vergleich zu anderen Energieträgern weniger konkurrenz-fähig machen.

Wie dem auch sei: Bestimmte Risiken könnten in der Tat reduziert werden, andere bleiben bestehen.

Die Erdöl�rmen versuchen seit Jahren, das Austreten von Erdöl aus den Röhren, die beim Bohren in den Boden gerammt werden, zu reduzieren, doch man weiß, dass bereits ab dem ersten Bohrjahr 6 % des heraufgepumpten Erdöls austritt (ungefähr 50 % nach 30 Jahren). Die ver-schmutzenden Substanzen, die in Form von Schlamm an die Ober�äche kommen, bleiben auch weiterhin ein Pro-blem, weil man in den meisten Fällen nichts dagegen tun kann. Die in die tiefen Schichten gepressten Verschmut-zungen und das Methan, die das Grundwasser verunreini-gen können, sind trotz strengerer Vorschriften nicht unter Kontrolle zu bringen. Meiner Meinung nach stellt dies ein großes Risiko dar, auf das nicht genug hingewiesen wird. Dieses Risiko bestünde auch dann, wenn die beim hyd-raulischen Fracking zum Einsatz gelangenden chemischen Substanzen sehr stark reduziert würden.

Es stellen sich weitere Fragen: Was nützen strenge Vorschriften bei Erdbebenschäden? Im Allgemeinen ist der geologische Untergrund Frankreichs wegen der tiefen Brüche und der besonderen, durchlässigen geologischen Schichten (Karstgestein) komplexer als in den USA (ins-besondere das südöstliche Becken). Diese Voraussetzungen sind vor allem in großen Tiefen sehr wenig bekannt und folglich nicht unter Kontrolle zu bringen. Es stellt sich des-halb die Frage: Wie können Vorschriften zu etwas erlassen werden, das nicht umschrieben werden kann?

Séverin Pistre ist Professor für Un-terwassergeologie an der Université de Montpellier 2�� Übersetzung: Ursi Urech

1 Dabei wird die in einer Tiefe von über 3000 m natürlich vorkommende Erdwärme genutzt. Es wird kaltes Wasser hinuntergepumpt, das mit 150 °C wieder an die Erdober�äche gelangt. Damit können Dampfturbinen zur Stromgewinnung betrieben werden. Um das Wasser in tiefen Gesteinsschichten zum Zirkulieren zu bringen, um so den Wärmeaustausch zu ermöglichen, müssen diese „gefrackt“ werden.

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UKR AINE

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Die Abstimmung im ukrainischen Parlament vom 14. Januar 2014 über drakonische Maßnahmen zur Unterdrückung des Widerstands markiert eine Wende in der politischen Krise, die das Land seit November 2013 erschüttert1. Heftige Zusammenstöße mit mehreren To-ten lösen eine unvorhergesehene Dynamik aus. Die an der Regierung beteiligte ukrainische KP (rund 14 % bei den Parlamentswahlen) befürwortet ein Referendum über die internationale Ausrichtung der Ukraine. Derweil kommt es zwischen der immer stärker auf Repression setzenden Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch, die mit 33,27 % die stärkste Parlamentsfraktion stellt, und den Oppositionsparteien zu einem Machtkampf. Letztere for-dern wie die Demonstranten den Rücktritt des Präsiden-

ten, ohne ein über dieses Ziel hinausgehendes, kohärentes Alternativprogramm vorzulegen.

Worum geht es?

Am 21. November 2013 verweigerte völlig überraschend der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, Vorsit-zender der seit 2010 regierenden Partei der Regionen, die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Diese Schmach seitens eines Landes, das mit seinen 40 Millionen EinwohnerInnen eine entscheidende geopo-litische Rolle spielt, bedroht das Projekt der Ostpartner-schaft, das die EU seit 2009 sechs angrenzenden Ländern anbietet2 und das sie als unvereinbar mit der Beteiligung dieser Länder an der Zollunion und den Plänen einer Eu-

ZWISCHEN

OLIGARCHIE UND

TROIKAVon keiner der inneren und äußeren Kräfte, die zurzeit der Souveränität der

Ukraine zerstörerisch den Garaus machen, ist etwas Gutes für die Bevölkerung zu erwarten. Die Autorin sieht die Lösung nur in einem zu schaffenden demokratischen

„Großeuropa“, das das Selbstbestimmungsrecht aller seiner Teile anerkennt.

�� Catherine Samary

Ukraine

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UKR AINE

Inprekorr 02/2014 39

rasischen Union unter russischer Vorherrschaft versteht. Die ausdrückliche Unterstützung der Vereinigten Staaten und europäischer Diplomaten für die DemonstrantInnen zeigt ebenso wie die russische Erpressung mit Energie-preisen und Handelsabkommen, welche Bedeutung beide den dahinterstehenden wirtschaftlichen und geostrate-gischen Fragen beimessen. Die Chinareise von Präsident Janukowitsch im Dezember, mitten während der Krise, gefolgt von einem Besuch in Russland wurde wenig beachtet. Der Abschluss von immer mehr Abkommen mit Peking soll helfen, die Abhängigkeiten der Ukrai-ne gegenüber der Troika aus EU, IWF und Russland zu lockern.

Stimmt es, dass die Demonstranten des „Euro-Maidan“, die seit September ihr Protestlager auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) aufgebaut haben, und die Hunderttausende, die sich ihnen mehrmals ange-schlossen haben, einfach „europafreundlich“ sind, wie oft behauptet wird? Und dass die Regierung der Ukraine, eines Landes, das so sehr Wert auf seine Unabhängigkeit legt und historisch zwischen den östlichen und westlichen Regionen gespalten ist, „russlandfreundlich“ ist?

Bunte Zusammensetzung der Ukraine

Kommt die bunte Zusammensetzung der ukrainischen Gesellschaft und ihre Entwicklung in den Stellungnah-men auf dem Maidan oder im Parlament gut zur Geltung?

Die Karte auf der nächsten Seite zeigt die Wahlergeb-nisse von 2010 nach Regionen3 zwischen dem aktuellen Präsidenten Viktor Janukowitsch, Ehrenvorsitzender der Partei der Regionen (die gemeinsam mit der kommunis-tischen Partei die Regierung stellt), und Julia Timoschen-ko4, Vorsitzende der liberalen Vereinigung „Vaterland“, einer der sogenannten prowestlichen Oppositionspar-teien. Sie bildet die Realität eines politisch, kulturell, historisch und territorial zutiefst gespaltenen Landes ab. Die russischsprachigen, orthodoxen Regionen im Osten, in denen die Regierungskoalition dominiert, sind geprägt von den Großunternehmen aus der Sowjetära und stark abhängig vom Handel mit Russland. Dagegen dominiert die Opposition klar im katholischeren Westen mit seiner ausgeprägt antirussischen Tradition, wo auch die stär-ker in Richtung Westeuropa orientierten Unternehmen angesiedelt sind. Das Landesinnere liegt zwischen beiden Polen. Kann man also davon reden, dass sich am Maidan die ukrainische Gesellschaft gegen ihre Regierung und zugunsten privilegierter Beziehungen zur EU ausspricht? Oder muss im Gegenteil betont werden, dass sich „der

Euro-Maidan gegen die Ukraine“ ausspricht – unter Be-tonung der Spaltungen in diesem 40 Millionen Einwoh-nerInnen zählenden Land und der geogra�schen Veran-kerung der Proteste, die zu ihrer besten Zeit höchstens 300 000 Personen mobilisierten?

Hier lohnt ein genauerer Blick und die Berücksichti-gung der Entwicklung – wobei auch Vorsicht geboten ist angesichts der abwartenden Haltung eines Großteils der 40 Millionen EinwohnerInnen, die sich nicht am Maidan zu Wort melden. Zweifellos hat sich nicht nur seit der „Orangen Revolution“, sondern auch seit der Rückkehr der sogenannten prorussischen Parteien nach den Wahlen 2010 vieles verändert.

UKRAINE

Fläche: Nach Russland der zweitgrößte

Flächenstaat Europas, knapp doppelt so

groß wie Deutschland.

Einwohner: 45,6 Millionen.

Sprachen: Obwohl 15% der Bevölkerung

russisch als Muttersprache haben, ist

dies seit 1991 keine offizielle

Amtssprache mehr. Fast alle beherrschen

jedoch beide Sprachen, die eng

miteinander verwandt sind. Etwa die

Hälfte der Bevölkerung bevorzugt die

russische Sprache, Tendenz allerdings

sinkend.

Unabhängigkeit: Jahrhundertelang waren die

UkrainerInnen eine benachteiligte

Minderheit im russischen Zarenreich.

Erst mit der Auflösung der Sowjetunion

1991 wurde die Ukraine unabhängig.

Wirtschaft: Die ukr. Wirtschaft wurde durch die

Wirtschaftskrise 2007 ff besonders hart

getroffen (Rückgang des BIP 2009:

15%). Heute gehört die U. zu den

ärmsten Ländern Europas. Das

Durchschnittseinkommen liegt bei 300

Euro/Monat.

Kiew

Halbinsel Krim

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UKR AINE

40 Inprekorr 02/2014

Von einer erneuten „Orangen Revolution“, mit der 2004 die lange Herrschaft des seit 1993 regierenden Leo-nid Kutschma beendet wurde5, ist man weit entfernt, auch wenn damals wie heute auf demselben Unabhängigkeits-platz, ungeachtet ausländischer Instrumentalisierungen, eine tiefe Verzwei�ung der Bevölkerung über den sozialen Zerfall und eine Ablehnung von Korruption zum Aus-druck kommen.

Die Ikone der „Orangen Revolution“ saß seit sieben Jahren wegen Machtmissbrauchs im Gefängnis6, verurteilt von einer zweifellos selektiven Justiz, denn kein Mit-glied der Clans, die sich an der Macht ablösen, ist frei von Korruption und Klientelwirtschaft. Während es bei den Massenprotesten 2004 um die Anerkennung der neuen Parlamentsmehrheit ging, sind die Parteien heute weitge-hend diskreditiert, außer vielleicht jene des ehemaligen Boxweltmeisters Vitali Klitschko. Dieser wird gerade deshalb geachtet, weil er die endemische Korruption kriti-siert, das Gewicht stärker auf soziale Aspekte legt und sich

gegen Gewalt ausspricht. Wie die „Empörten“ in Bulgari-en7, steht die Bewegung sowohl den Parteien als auch den verschiedenen Ideologien kritisch gegenüber, wobei ihre Bezüge alles andere als klar sind. An den Kundgebungen auf dem Euro-Maidan wurde das Orange der liberalen Führung des Jahres 2004 durch Blau-Gelb abgelöst. Blau und Gelb stehen aber genauso für die Ukraine in ihrer Vielfalt wie für die Fahne einer idealisierten EU und die Farbe der Freiheitspartei Svoboda (mit drei gelben Fingern auf blauem Hintergrund), die mit 10 % der Stimmen ins Parlament eingezogen ist und Gedenkveranstaltungen an SS-Bataillone veranstaltet, eine Lenin-Statue zerstört hat und das Verbot der Kommunistischen Partei fordert. Die aktive Beteiligung der Neonazis von Svoboda und ihre Aktionen polarisieren die Kundgebungsteilnehmer. Wie sehr sie Unterstützung erhalten oder Missfallen, Ableh-nung oder gar Konfrontationen, insbesondere seitens der anarchistischen Strömungen der Direkten Aktion und allgemeiner des „linken Maidan“, lässt sich schwer abschät-

STIMMVERTEILUNG PRÄSIDENTENWAHLEN 2010

Quelle: Ukrainische Wahlkommission

Timoschenko

50 % 50 %

mehr als 70 %

mehr als 70 %

mehr als 50 %

mehr als 50 %

Janukowitsch

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UKR AINE

Inprekorr 02/2014 41

zen. In den deutlich rechts positionierten Kundgebungen kann sich der linke Maidan jedenfalls nur schwer Gehör verscha�en8.

Die westliche Presse gab sich, von einigen Ausnahmen abgesehen9, natürlich erfreut über diese Sympathiebekun-dungen, die der EU gerade in diesen Krisenzeiten gut tun. Doch was Hunderttausende dazu bewog, auf die Straße zu gehen, ist vor allem die Gewalt der Sondereinheiten („Ber-kut“) gegen einige Hundert EU-freundliche Demonstran-tInnen. Darauf hat die Regierung übrigens reagiert und die Gewalt rasch als „übertrieben“ verurteilt, zu Jahres-ende eine Untersuchungskommission eingesetzt, um die Lage zu beruhigen, einige Verantwortliche entlassen und verhaftete DemonstrantInnen auf freien Fuß gesetzt. Zwar überwiegen unter den sogenannt europafreundlichen De-monstranten, die sich gegen die Einbindung der Ukraine in eine von Russland dominierte Zollunion aussprechen, EinwohnerInnen aus Kiew und der westlichen Ukraine, die in diesen Fragen nicht die ganze Ukraine vertreten. Doch sie bringen Ho�nungen und Befürchtungen zum Ausdruck, die das ganze Land und insbesondere die Jugend teilen: die Ho�nung auf einen Rechtsstaat und die Angst vor einer Entwicklung des oligarchischen Regimes der Ukraine in Richtung Gewalt und Autoritarismus nach dem Muster Putins.

Die sozioökonomischen Probleme und das Festhalten an der Unabhängigkeit und Einheit der Ukraine haben jedoch zur Folge, dass sich die Ukraine international in verschiedene Richtungen orientiert, was auch die ideo-logischen und territorialen Grenzen bei den Parteien wie in der Bewegung aufweicht. Um dies richtig ermessen zu können, lohnt ein Blick auf den Zustand des Landes seit 1991.

Ein doppelt erschüttertes Land

Alle osteuropäischen Länder im weiteren Sinn, einschließ-lich Russlands, durchlebten seit dem Ende des Einpartei-ensystems und dem Zerfall der UdSSR, der 1989/91 in die kapitalistische Restauration führte, drei Phasen: eine mehr oder weniger tiefe „Systemkrise“ ab 1990; einen zuerst zögerlichen und zwischen 2003 und 2008 beschleunigten Wiederaufschwung, der sogar das Wachstum im alten Eu-ropa übertraf; und schließlich die aus den kapitalistischen Zentren überschwappende Krise 2008/09.

Doch nicht alle Länder verfügten über dieselben Ressourcen und denselben Ausgangsstand: Trotz vieler Gemeinsamkeiten unterschieden sie sich in ihren Ent-wicklungswegen. Russland entwickelte sich dank seiner

Größe, seiner Ressourcen und seiner internationalen Be-deutung anders als die restlichen Länder, worauf hier nur kurz hingewiesen wird. Dagegen war die Entwicklung in den Ländern im unmittelbareren Ein�ussbereich der EU, den sogenannten Mittel- und Osteuropäischen Ländern (MOEL), und den drei baltischen Staaten direkter von der normativen Rolle der EU geprägt.

Die Ukraine übt eine Scharnierrolle zwischen zwei geopolitischen Welten aus, was auch im Namen zum Aus-druck kommt (Ukraine bedeutet Grenzgebiet, Militär-grenze). In sozioökonomischer Hinsicht wurde das Land, das großen Wert auf seine 1991 ausgerufene Unabhän-gigkeit legt, die auch durch die Beteiligung an der relativ zwanglosen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) nicht infrage gestellt wurde, von zwei die gesamte Region erschütternden Krisen erfasst.

In der „Systemkrise“ Anfang der 90er-Jahre litt das Land unter den Folgen der Au�ösung des alten planwirt-schaftlichen Systems und der radikalen Neubestimmung der Rolle des Geldes, des Staates und der Eigentumsver-hältnisse, aber auch unter den Folgen der Au�ösung der UdSSR. Für Länder wie die Ukraine, die organisch in die sowjetische Planwirtschaft integriert waren, bedeutete die Unabhängigkeit, dass der Waren�uss zwischen den Großbetrieben und Republiken, der bislang weitgehend in Naturalien erfolgt war, ohne dass Geld eine wirkliche Rolle gespielt bzw. ohne dass es eine wirkliche marktwirt-schaftliche Abrechnung innerhalb der Großunternehmen gegeben hatte, durch den Austausch in Geldwerten ersetzt wurde. Je nach Land wurde die Bevölkerung nach 1991 im neuen Preissystem zwar noch einige Zeit wie früher gratis oder sehr günstig mit Energie und Gütern des täglichen Bedarfs versorgt, um soziale Proteste zu vermeiden. Doch im internationalen Handel war das Russland Jelzins – genauer gesagt die riesige Russische Föderation – nicht nur ein Opfer der Loslösungstendenzen der ehemaligen Republiken. Als wichtigster Energielieferant pro�tierte es oft auch davon und nutzte seine wirtschaftliche Domi-nanz, um sich die eigene Produktion gegen einen „Preis“ abgelten zu lassen, der zu einem zentralen geopolitischen Instrument der Erpressung gegenüber den neuen mehr oder weniger nahen „Nachbarn“ wurde. Gleichzeitig war dieses Preissystem für die herrschenden Eliten und die Oligarchie in der Ukraine ein Einfallstor für Korruption, die sich durch alle Parteien zog.

In den gesamten 90er-Jahren erlebte die Ukraine gemäß einem Bericht der Europäischen Bank für Wie-deraufbau und Entwicklung (EBRD) aus dem Jahr 1999

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ein kontinuierliches Negativwachstum. Das in�ations-bereinigte BIP erreichte nur 37 % des Niveaus von 1990. Ausmaß und Dauer der Anfang der 90er-Jahre einsetzen-den „Systemkrise“, von der alle Länder der ehemaligen UdSSR und Osteuropas betro�en waren, sind „für all die Länder vergleichbar mit der Situation der Industrie-staaten während der Weltwirtschaftskrise, wenn nicht sogar noch gravierender“, wie die Weltbank betont10. Im selben Bericht heißt es, das Niveau an Ungleichheit habe in den betre�enden Ländern zu Beginn des Übergangs weltweit zu den niedrigsten gehört. Der Bericht nennt (auf S. 30) Zahlen: Der Gini-Koe�zient, eine der Maß-einheiten für Ungleichheit, stieg in den MOEL zwischen 1987/90 und 1996/98 von 0,23 auf 0,33 Prozent. In der Ukraine schnellte er von 0,24 auf 0,47 Prozent und rückte damit nahe an den Durchschnitt aller GUS-Mitglieder. Am geringsten stieg der Wert für die genannte Periode in Weißrussland, von 0,23 auf 0,26 Prozent, am stärksten in Armenien von 0,27 auf 0,61 Prozent).

Die Neuausrichtung der Beziehungen zu Russland als strategischem Partner in Energiefragen und als Transitland für wichtige Ölpipelines in Richtung EU sowie als bedeu-tendstem Absatzmarkt für die Ukraine war und ist für das ganze Land von zentraler Bedeutung. Ausgehandelt wurde sie im Kontext von Privatisierungen durch die Oligarchie und undurchsichtigen Finanzkonstrukten beider Seiten unter Jelzin in den 90er-Jahren und unter Putin seit den 2000er-Jahren. Die letzte Phase �el aber mit der Wieder-erstarkung des russischen Staates nach der Zahlungskrise von 1998 zusammen11. Das konsolidierte Wachstum Russ-lands war begleitet von o�en ausgetragenen Rivalitäten und angespannten internationalen Beziehungen. Die Uk-raine wurde zu einem geostrategischen, d.h. militärischen, sozioökonomischen und politischen Faktor im Interessen-kon�ikt zwischen Vereinigten Staaten, EU und Russland. Die inneren Kon�ikte mit der schwelenden Korruption und der autoritären Führung der Ära Kutschma brachen im Zuge der sogenannten „Orangen Revolution“ des Jah-res 2004 auf (und wurden in dieser instrumentalisiert).

Die Bevölkerung war aber schnell ernüchtert, da sich zwar die innen- und außenpolitische Situation veränderte, aber weder eine soziale Revolution noch ein wirklicher Bruch mit den politischen Institutionen des Regimes statt-fand. Es kam zu einer ersten Annäherung an die NATO, die am russischen Veto scheiterte, und der Bejahung einer „europäischen Zukunft der Ukraine“. Der Machtantritt der neuen, aus der „Orangen Revolution“ hervorgegan-genen liberalen Führung war keine „Revolution“. Denn

die verschiedenen Parteien, die sich in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern an der Macht ablösten, verfolgten samt und sonders dieselben klientelistischen, oft undurchsichtigen Privatisierungen. Vor dem Hintergrund des allen Ländern gemeinsamen kapitalistischen Umbruchs kam es je nach geopolitischen und nationalen Strategien und Zeitpunkt zu einer Ö�nung bzw. im Gegenteil zu ei-ner gewissen Abschottung gegenüber ausländischem Kapi-tal12. Überdies machten sich die neuen Abgeordneten mit ihren Praktiken und ihrer Korruption schnell unbeliebt. In politischer und �nanzieller Hinsicht erfolgte die Ö�nung zum Westen jedoch radikaler – der Anteil ausländischer Bankaktiva stieg im Jahr 2008 auf 50 %. Die Ukraine bemühte sich daraufhin, denselben Weg der �nanz- und handelspolitischen Integration in die EU zu beschreiten wie die MOEL, doch die EU reagierte zurückhaltend ge-genüber neuen Erweiterungen. Der Wille, sich im Westen zu verankern, kommt in der Strategie der Bankenö�nung zum Ausdruck, wurde aber abgeschwächt durch nationa-listische Gefühle und die Krisen.

Wie viele andere Länder der Region stürzte die Uk-raine 2009 in eine tiefe Rezession. Damit einher gingen Finanzskandale und eine Bankenkrise – mit massivem Abzug von ausländischem Kapital. Als sich in den neuen EU-Mitgliedsländern ein ähnlicher Ab�uss von Mitteln abzeichnete, stimmten alle Großbanken und globalen Fi-nanzinstitutionen zwei Mal in Folge ihre Reaktion in den sogenannten Wiener Initiativen 1 und 2 aufeinander ab.13

Doch 2009 war in der Ukraine auch ein Jahr der Finanzskandale und der „Gaskrieg“ erreichte vor dem Hintergrund von Spannungen über die NATO eine neue Stufe. Die Unterbrechung von Gaslieferungen traf das Land und seine Einwohner hart – ebenso einige andere eu-ropäische Länder. Die Frage der Stabilisierung der Bezie-hungen zu Russland und der Lockerung aus der Abhän-gigkeit stellte sich für die EU ebenso wie für die Ukraine.

In diesem ausgesprochen unsicheren Kontext fand nun, nach fünf Jahren der Spannungen mit Russland, das ins-besondere den Beitritt der Ukraine zur NATO blockierte, der Präsidentschaftswahlkampf statt. Janukowitsch sprach sich für eine militärische „Neutralität“ und ausgewogene internationale Beziehungen aus. Auf dieser Grundlage setzte er sich 2010 in einer Wahl durch, deren Korrektheit international anerkannt wurde. Was bedeutet, dass die farbliche Zuordnung auf der Wahlkarte nicht als klare Zu-ordnung in ein „russlandfreundliches“ und ein „prowest-liches“ Lager interpretiert werden kann. Zumal sich auch die Oligarchie in ihren Praktiken und ihrer Macht nicht

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klar einem Lager zuordnen lässt. Präsident Janukowitsch besitzt ebenso wie seine nur knapp geschlagenen Gegner eines der größten Vermögen im Land – mit ausgedehnten familiären Ver�echtungen.

Auch die Verhandlungen mit der EU wurden von der als „russlandfreundlich“ titulierten Regierungskoalition geführt und bis zum kürzlich erfolgten Bruch in Vilni-us in den östlichen (russlandnahen) Regionen ebenfalls propagiert. Au�allend ist in diesem Zusammenhang auch, dass nach der Polizeigewalt gegen die DemonstrantInnen von Ende November das von den Oppositionsparteien erho�te Misstrauensvotum im Parlament nicht zustande

kam. Auch die Solidaritätsbekundung dreier ehemaliger ukrainischer Präsidenten – Leonid Krawtschuk, Viktor Juschtschenko und Leonid Kutschma, der politische Pate des aktuellen Präsidenten Janukowitsch –, die sich in einem Schreiben „mit den friedlichen Aktionen Hundert-tausender junger Ukrainer“ solidarisierten, zeugt von der Unmöglichkeit solch klarer Zuschreibungen. Dasselbe gilt für den Rücktritt des Chefs der Präsidialverwaltung (Nr. 2 der Macht) und des Polizeichefs von Kiew Anfang De-zember und die Tatsache, dass mehrere Abgeordnete der Partei der Regionen (des Präsidenten) im Verlauf der Krise abgesprungen sind.

ANTEIL AUSLÄNDISCHER BANKAKTIVA UND JAHR, IN DEM EIN MEHRHEITSANTEIL ERREICHT WURDE

Quelle: Makroindikatoren der EBWE

1. Jahr mit mind. 50 % Bankaktiva in ausländ. Bankaktiva in ausländ. Bankaktiva in ausländ

Anteil ausl. Bankaktiva Eigentum (%) 2007 Eigentum (%) 2008 Eigentum ( %) 2011

Einige Länder der ehem. UdSSR, heute GUS (außer Georgien seit 2008)

Russland – 17,2 18,7 16,92

Ukraine 2008 39,4 51,1 38

Georgien 2004 90,6 90,8 87,2

Kasachstan 2003 38,5 12,9 19,2

Aserbaidschan – 9,5

Weißrussland – 19,7 20,6 k.A.

Armenien 2001 49 50,5 67,5 (2010)

Rep. Moldau – 24,8 31,6 40,9

Neue EU-Mitgliedsländer (Beitrittsdatum)

Bulgarien (2007) 2000 82,3 83,9 76,5

Kroatien (2014) 2000 90,4 90,8 90,6

Estland (2004) 1998 98,8 98,2 94

Ungarn (2004) 1997 64,2 84 85,8

Lettland (2004) 1996 63,8 65,7 65

Litauen (2004) 1998 91,7 92,1 90,8 (2010)

Polen (2004) 2000 75,5 76,5 69,2

Tschech. Rep. (2004) 2000 84,8 84,7 k.A.

Rumänien (2007) 2001 87,3 87,7 81,8

Slowak. Rep. (2004) 2001 99 99,2 91,5

Slowenien (2004) – 28,8 31,1 29,3

Westbalkan

Albanien 2004 94,2 93,6 90,3

Bosnien & Herzegowina 2001 93,8 95 94,5 (2009)

FYR Mazedonien 2000 85,9 93,1 92,4

Montenegro 2005 78,7 84,6 89,7

Serbien 2005 75,5 75,3 74,5

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Wie die meisten osteuropäischen Staaten und Balkan-länder hat sich die Ukraine von der Krise des Jahres 2009 nicht wirklich erholt. Sie leidet nicht nur unter den Folgen einer „von außen“ (dem alten Europa und den USA) im-portierten Krise, obwohl die Unternehmen, die �nanziell, von der Produktion und vom Handel her am meisten von der EU und insbesondere von den großen Multis abhän-gen, die rezessiven Folgen der Austeritätspolitik der EU und der anhaltenden Schwäche der Banken am intensivsten zu spüren bekommen.

Bei allen Unterschieden ist den Ländern der östlichen Peripherie der EU (im Gegensatz zur südlichen) gemein-sam, dass sie mit Löhnen, die sich mit den chinesischen messen lassen, und der Einführung und Ausweitung der „Flat Tax“, einer einheitlichen Besteuerung von Einkom-men und Kapital, die zur Anlockung ausländische Direk-tinvestitionen (FDI) gesenkt wurde, den Sozial- und Steu-erabbau beschleunigt haben. Das massive Vordringen von FDI im Finanzsektor kurbelte bis 2008 das Wachstum an, das sich angesichts der massiven Verarmung in den letzten zwei Jahrzehnten auf eine hohe Privatverschuldung stützte. Die als Erfolgsgarantie beworbene Abhängigkeit von der EU entpuppte sich als zentraler Faktor der Instabilität.

Die Rolle des IWF

Nach dem drastischen Einbruch 2009 (nahezu 15-prozen-tige Rezession) kam es 2010 und 2011 zu einem vorsich-tigen Wiederaufschwung, begleitet von einem massiven Anstieg der ö�entlichen Verschuldung (von –1,5 % des BIP 2008 auf –4 % 2009 und –6 % 2010) und einem drasti-schen Rückzug von Geldern durch westliche Banken, was zur Verknappung von Krediten führte. Die Regie-rung entschied sich zur Stützung des Konsums mit einer expansionistischen Ausgabenpolitik und geriet damit in Kon�ikt mit dem IWF, der trotz einer relativ moderaten Durchschnittsverschuldung (unter 40 % des BIP, wie das in Osteuropa oft der Fall ist), wie in anderen Ländern auch, auf dem Abbau ö�entlicher Schulden – insbesondere bei Beamtenlöhnen – und der Erhöhung von Energiepreisen für staatliche Unternehmen beharrte14. Die Regierung lehnte aus Angst vor sozialen Unruhen die Forderungen des IWF ab und nahm eine kurzfristige Verschuldung in Kauf, die die Reserven des Landes überstieg (laut Studien des CERI lag sie im Dezember 2013 bei 158 %)15. 2012 brachte mehre oder weniger ein Nullwachstum. Gefolgt von einer erneuten Rezession (–0,5 %) 2013 mit weiterer Zunahme der Auslandsverschuldung und einer drohenden Zahlungseinstellung.

Die Verhandlungen mit IWF und EU fanden vor dem Hintergrund der Drohungen Russlands statt, die Schoko-lade- und Getreideimporte aus der Ukraine zu blockieren und den Gaspreis zu erhöhen. Damit verschärfte sich die Lage insgesamt, denn die Ukraine wickelt ein Viertel ihres Handels mit Russland und 40 % mit den mit Russland verbundenen GUS-Ländern, aber nur 20 % mit der EU ab. Wie die Bevölkerung und ein großer Teil der politischen Führung, sind natürlich auch die Industriellen der Ukraine gespalten und lassen sich jenseits journalistischer Zuschrei-bungen nicht eindeutig dem „russlandfreundlichen“ oder dem „prowestlichen“ – sprich barbarischen oder demokra-tischen – Lager zuordnen.

Die Rolle der EU

Unmittelbar vor dem Bruch bat Präsident Janukowitsch die EU (und die USA) um Hilfe, um sich dem Druck des IWF entziehen zu können, den kurzfristigen Zahlungsver-p�ichtungen nachzukommen. Er forderte zudem Kom-

BIP-WACHSTUMSRATE Wachstum des BIP in % 2008 2009 2012

Neue EU-Mitgliedsländer

Bulgarien 6,2 –4,9 0,8

Kroatien 5,1 6,2 –2

Ungarn 0,8 –6,7 –1,7

Polen 5 1,7 1,9

Tschechische Rep. 2,5 –4,1 –1,3

Rumänien 7,3 –7,1 0,7

Slowakische Rep. 5,8 –4,8 2

Slowenien 3,7 –8,1 –2,3

Estland –5,1 –13,9 3,2

Lettland –4,2 –18 5,6

Litauen 2,9 –14,7 3,7

Westbalkan

Albanien 5,9 7,7 1,5

Bosnien & Herzegowina 6,2 5,7 –0,7

FYR Mazedonien 6,1 5 –0,2

Montenegro 10,7 6,9 –0,5

Serbien 6,9 5,5 –1,7

GUS

Russland 5,2 –7,8 3,4

Ukraine 2,3 –14,8 0,2

Quellen: IWF – CERI-Studien 2011 u. 2012, L’Ukraine aux prises avec sa Troika – FMI, UE et Russie

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pensationszahlungen für die 20 Mrd. Euro, die Russland dem Land im Fall einer Unterzeichnung des Assoziations-abkommens anlasten würde, und bat um eine gemeinsame Sitzung und Absprache zwischen Russland, der EU und der Ukraine.

Die Antwort der EU war unmissverständlich: Sie war bereit, anstelle des IWF einzuspringen, knüpfte die Unterstützung aber an die Bedingung, dass die vom IWF verlangten Reformen umgesetzt würden. Kompensati-onszahlungen wurden ausgeschlossen. Zudem schloss das Assoziationsabkommen jede Möglichkeit der Teilnahme an einer Zollunion mit Russland aus. Die Unterhändler der EU waren sich ziemlich sicher, dass es zu keiner Einigung zwischen Kiew und Moskau kommen würde, und knüpf-ten jeden weiteren Fortschritt mit Kiew an die politische Bedingung der Freilassung von Julia Timoschenko oder zumindest ihrer Überstellung nach Deutschland, wo sie sich behandeln lassen wollte. Das lehnte das ukrainische Parlament im Namen des Rechtes auf souveräne Lösung eines laufenden Rechtsstreits ab.

Entscheidend war aber, was die EU tatsächlich anbot. Unter den EU-Mitgliedsländern und insbesondere in ihrem Zentrum besteht derzeit keinerlei Einigkeit darüber, der Ukraine einen EU-Beitritt anzubieten. Die EU unter-scheidet zwischen möglichen Beitrittskandidaten und eu-ropäischen Nachbarn. Abgesehen von westlichen Balkan-ländern16, deren Beitritt o�ziell möglich, wenn auch unter den gegenwärtigen Umständen wenig wahrscheinlich ist, �nden mit keinem osteuropäischen Land Beitrittsver-handlungen statt. Die Assoziationsabkommen werden von der EU im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik (ENP) gepriesen. Analog zu den Abkommen, die Nicolas Sarkozy den Mittelmeerländern angebotenen hat, wurde 2009 der von Polen mit Unterstützung Schwedens vorgebrachte Vorschlag einer Ostpartnerschaft angenommen, die sich an die drei angrenzenden Länder Ukraine, Republik Mol-dau, Weißrussland und die drei südkaukasischen Staaten Armenien, Georgien und Aserbaidschan – lauter ehema-lige UdSSR-Republiken – richtet. Damit sollen „poli-tische“ Beziehungen hergestellt werden, ohne dass diese eine EU-Mitgliedschaft nach sich ziehen würden. Konkret bedeutete das vor allem Assoziationsabkommen, die auf die Errichtung einer vertieften und umfassenden Freihandels-zone (die engl. Abkürzung dieses neuen Ungetüms lautet DCFTA für Deep and Comprehensive Free Trade Area) hinauslaufen.

Praktisch zielen die Abkommen auf die radikale Libera-lisierung des Arbeitsmarkts (Abbau der letzten Schutzvor-

kehrungen, sogenannter „Starrheiten“), des Kapitalmarkts (Freizügigkeit, sprich „Aufhebung“ politischer bzw. wirt-schaftlicher „Kontrollen“) sowie den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen (sprich „Privatisierungen“). Das Ganze entspricht, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, dem „freien“ Austausch zwischen Ungleichen und erin-nert unweigerlich an das Bild vom freilaufenden Fuchs in einem o�enen Hühnerstall. Die Asymmetrien innerhalb der bestehenden EU und deren Auswirkungen würden noch auf zwei Ebenen verschärft: Erstens besteht infolge der diversen Krisen ein enormes Entwicklungsgefälle beim BIP ebenso wie bei den Löhnen, die noch unter denen Rumäniens und Bulgariens liegen. Zweitens würden die „Nachbarländer“ nicht in den Genuss derselben Unter-stützungen kommen wie die Mitgliedsländer (etwa Polen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik oder der EU-Strukturfonds), auch wenn diese an sich ungenügend und an fragwürdige Bedingungen geknüpft sind. Der Schlüsselbegri� des Normensystems, in dem die EU die Interessen ihre exportorientierten Konzerne, nicht aber das Wohlergehen und die sozialen Rechte der Bevölkerung verteidigt, lautet „Wettbewerbsfähigkeit“.

Was die Personenfreizügigkeit betri�t, handelt es sich zweifellos um einen Traum, den im Osten nach dem Fall der Mauer insbesondere die Jugend am sehnlichsten herbeiwünscht, den (durchaus unterstützenswerten) Traum von einem Europa ohne Grenzen und Mauern für all seine BewohnerInnen. Wie wird diese für die „Partner“ der EU, wie sie nun einmal ist, konkret aussehen? Hier sind durchaus Zweifel angebracht, zumal in der EU Ausländer-feindlichkeit und rechtliche Ungleichbehandlung zuneh-men. Das Arbeitsverbot für Bulgaren und Rumänen, die seit 2007 EU-BürgerInnen sind, wurde erst im Januar 2014 aufgehoben und weckte in Großbritannien wahnwitzige Vorstellungen über die Flut an Arbeitskräften, die 2014 über das Land hereinbrechen würden, ganz zu schweigen vom Rassismus, der in Frankreich gegen die Roma gras-siert. Die riesigen Netze von Prostituierten aus Osteuropa, insbesondere aus der Ukraine, sind ein anderer Hinweis auf den Charakter dieser „Personenfreizügigkeit“ im Kontext eines verheerenden sozialen Zerfalls. Und die Erweiterung des Schengen-Raums, die vermutlich an die Stelle zukünf-tiger EU-Erweiterungen treten wird, ist auch alles andere als einfach und gesichert. Bei all dem gilt es zudem, nach sozioprofessionellem Hintergrund, Sprache und Quali�ka-tion zu unterscheiden.

Dennoch war letztlich die EU stärker an der Unter-zeichnung eines Abkommen mit der Ukraine in Vilnius

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interessiert als umgekehrt – aus symbolischen wie geopo-litischen Gründen, die Teil des Kräfteverhältnisses sind. Die EU malte das Schreckgespenst der gegenwärtigen politischen Führung in Russland und des dortigen oligar-chischen Kapitalismus an die Wand, um sich selbst in ein besseres Licht zu stellen. Und gemäss neoliberaler Argu-mentation, die für sich in Anspruch nimmt, im Gegensatz zur Willkür der dirigistischen Parteien „wissenschaftlich“ abgestützt zu sein, verursacht der „freie, unverfälsch-te Wettbewerb“ am wenigsten Kosten und erfüllt am besten die Bedürfnisse, zwingt gegenüber Korruption zur Transparenz und schützt Freiheiten. Auch wenn darin ein Körnchen Wahrheit steckt, sind es doch Lügen, die umso akzeptierter sind, je weniger sie den Wahrheitsbeweis er-bringen mussten. Immer wieder werden in Osteuropa die „Hemmnisse“ der Unternehmensfreiheit und des Wettbe-werbs (bei Löhnen) oder der „unvollständige“ Übergang zum Kapitalismus17 als Ursache der Arbeitslosigkeit und des sozialen Niedergangs dargestellt. Der seinem Wesen nach korrupte, „schlechte Kapitalismus“ des Ostens müsse durch „den guten“ ausgetrieben werden.

Die Assoziationsabkommen verhießen also bessere Zeiten für alle, die sich auf „gute Regierungsführung“ und die nötigen „Strukturreformen“ einlassen würden. Doch mit der Krise in der EU schwand auch die Attrakti-vität von Assoziationsabkommen. Nach dem Vollbeitritt Weißrusslands zur von Moskau initiierten Zollunion im Jahr 2010 überraschte am 3. September 2013 Armenien mit seiner Entscheidung, sich diesem Projekt Vladimir Putins anzuschließen. Während sich die EU mit Kritik am politischen Regime Aserbaidschans zurückhält (obwohl es sich kaum von dem Weißrusslands unterscheidet), solange es im Bezug auf die beiden Projekte in einer beobachten-den Rolle bleibt, zeigte sich in Vilnius, dass nur Georgien und die Republik Moldau die vorgeschlagenen Abkom-men paraphiert hatten – die folglich noch bestätigt werden müssen. So schätzen Kommentatoren, dass sich die 3,5 Millionen EinwohnerInnen Moldaus in einem komple-xen Prozess der Identitäts- und Souveränitätsbestimmung tatsächlich Rumänien „anschließen“ und damit EU-Mitglieder werden könnten, während Georgien durch den Entscheid Armeniens und die Tatsache, dass 20 % seines Territoriums von Russland kontrolliert werden, unter Druck steht. Der Ausfall der Ukraine als eines bedeuten-den strategischen und geopolitischen Korridors, zudem mit einem Bevölkerungsanteil, der über dem der anderen fünf Länder zusammen liegt, ist jedenfalls ein schlagender Misserfolg.

Die Rolle Russlands

Der Vorschlag der Ukraine zu trilateralen Verhandlungen (EU, Russland, Ukraine) wurde von Russland positiv auf-genommen. Trotz o�ensichtlicher Rivalitäten hegt Putins Russland einige Ambitionen in Europa. Die Logik des Wettbewerbs solle durch ein „Großeuropa“ mit den beiden Machtpolen Moskau und Brüssel ersetzt werden, die bei gemeinsamen Interessen zusammenarbeiten18. Russland bekommt die Auswirkungen der Krise in der EU und die sinkenden Rohsto�preise selbst zu spüren und steht in Konkurrenz zu China und Eurasien.

Doch es behält seine dominante Rolle als Energiever-sorger für viele Länder (insbesondere im Osten Europas), die durch das Projekt der Gasleitung Nabucco gebrochen werden sollte. Im Juni 2013 wurde nach fünfzehn Jahren Gesprächen und Verhandlungen19 bekannt gegeben, dass dieser Plan zugunsten eines neuen Projekts fallen gelas-sen würde, in dem neben Russland auch Aserbaidschan eine Schlüsselrolle zukommt. Der Beitritt Armeniens zur Zollunion war eine weitere Bestätigung der diplomati-schen Erfolge Moskaus im letzten Jahr. Die Krise der EU verscha�te Russland mehr Druckmittel gegenüber Arme-nien, der Ukraine und anderen. Die von der EU seit 2009 vorgeschlagene Politik der „Ostpartnerschaft“ wurde von Moskau als Teil eines die eigenen Interessen bedrohenden Vorgehens wahrgenommen. Der Plan einer eurasischen Union wurde im Oktober 2011 als Herzstück eines größe-ren Alternativvorschlags – „Großeuropa“ mit zwei Polen – angekündigt und soll allen Staaten o�en stehen, die dies wünschen. Seither versucht Russland, alle an der Ostpart-nerschaft beteiligten GUS-Länder und Georgien (das 2008 aus der GUS ausgetreten ist) zum Beitritt zur Zollunion zu gewinnen, die als erste Etappe des Plans einer eurasischen Union gesehen wird, die 2015 entstehen soll. Gegenwärtig beteiligen sich an der Zollunion Russland, Weißrussland, Kasachstan und neuerdings Armenien. Die Ukraine hat vorläu�g Beobachterstatus – woran die jüngste Reise des ukrainischen Präsidenten nichts geändert hat. Sie spielt da-rin – wie in der Partnerschaft mit der EU – eine wichtige geostrategische Rolle.

Nach Drohungen am Vorabend der Verhandlungen in Vilnius wurden am 17. Dezember konkrete Abkommen unterzeichnet: 15 Mrd. Dollar wurden in ukrainische Staatstitel investiert und die Gaspreise um ein Drittel redu-ziert. „Daran sind keinerlei Bedingungen geknüpft, weder eine Erhöhung noch eine Senkung noch ein Einfrieren von sozialen Vergünstigungen, Renten, Börsen oder Aus-gaben“, betonte Vladimir Putin mit einem Augenzwin-

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kern in Richtung IWF. Zur Zollunion wurde jedoch kein Vertrag unterzeichnet, wie er erklärte.

Die Asymmetrie der Beziehungen innerhalb einer solchen Union steht außer Frage – und somit die reale Ent-scheidungsmacht Russlands über diverse relevante Punkte. Dennoch besteht für die Ukraine wie für Armenien – die beide auf ihre Unabhängigkeit großen Wert legen und die seit Langem die Ho�nung hegen, bei der EU anzudocken – im Bezug auf Handel wie Produktion ein unmittelbares Interesse am Abkommen mit Moskau.

Die B(R)ICS-Staaten

Da sich Russland wirklich wie eine Großmacht gebärdet, wandte sich die Ukraine aber pragmatisch an die aufstre-benden Staaten, insbesondere die BRICS20 ohne das R, um dem Druck Russlands, der EU und des IWF auswei-chen zu können. China wurde 2009 zum drittwichtigsten Handelspartner. Es schielt auf Land in der Ukraine und hat mit dieser bereits im September 2010 dreizehn Koope-rationsabkommen unterzeichnet. Während seiner Reise Anfang Dezember soll der ukrainische Präsident weitere Zusagen für Kredite und Investitionen erhalten haben. Dazu kommt ein Plan, die Ukraine bei der Produktion von synthetischem Gas aus Kohle zu unterstützen – was auch die Abhängigkeit der europäischen Gasversorgung von Russland, die mehrheitlich über die Ukraine läuft, verringern würde.

Aufgrund eines im Dezember 2012 unterzeichneten Vertrags21 soll die Chinesische Entwicklungsbank der staatlichen ukrainischen Gasgesellschaft Naftogaz für die Umsetzung des Programmes einen Kredit über 3,656 Mrd. Dollar gewährt haben. Weiter hat sich Peking dazu verp�ichtet, Kiew seine Technologien zur Verfügung zu stellen.

Auch der bilaterale Handel mit China hat sich zwischen 2010 und 2012 verdoppelt, mit Abkommen in den Berei-chen zivile Nutzung der Atomenergie, Wissenschaft und Technik, Verteidigung und Rüstungsindustrie. Dasselbe lässt sich bezüglich Brasilien (Zusammenarbeit bei der Trägerrakete „Cyclone IV“, visumfreies Reisen) und der Türkei sagen, die nach der Verdopplung des Handels in-nerhalb von vier Jahren zum zweitwichtigsten Abnehmer der Ukraine avanciert ist.

Zukunftsaussichten

Wie es mit der o�en ausgebrochenen Krise in der Ukraine weitergehen kann, ist völlig unklar. Die Mobilisierungen zu internationalen Fragen sind Anfang des Jahres 2014

jedenfalls deutlich zurückgegangen, da von europäischer Seite auch keine konkreten Angebote vorliegen, die die russischen Geschenke aufwiegen könnten, die der Präsi-dent in der Tasche hat. Da bislang kein Vertrag unterzeich-net ist, bleibt letztlich alles weiterhin o�en. Doch mit wem auch immer ein Abkommen abgeschlossen wird, es bliebe vergiftet, wenn es nicht einer radikalen sozialen Kontrolle unterworfen und Zielen untergeordnet würde, die von der betro�enen Bevölkerung explizit formuliert würden.

Die Außenminister Polens und Schwedens – der beiden Länder, die die Initiative für die von der Ukraine nun zurückgewiesene Ostpartnerschaft ergri�en hatten – solidarisierten sich gemeinsam mit den Demonstran-ten des Maidan; Alexander Kwasniewski, Mitglied der Überwachungsmission des europäischen Parlaments, riet ö�entlich dazu, den Druck auf die ukrainische Regierung zu erhöhen; der deutsche Außenminister Guido Wester-welle traf sich in Kiew mit zwei Führern der ukrainischen Opposition, bevor er sich unter die DemonstrantInnen mischte; und eine Delegation der Protestierenden wurde am 11. Dezember in Straßburg empfangen. Die ameri-kanische Staatssekretärin für europäische und asiatische Angelegenheiten, Victoria Nuland, bestätigte, die Verei-nigten Staaten seien „mit dem ukrainischen Volk, das seine Zukunft in Europa sieht“22, und am 15. Dezember riefen laut der französischen Zeitung Libération der republikani-sche Senator John McCain und der demokratische Senator Christopher Murphy den 200 000 Kundgebungsteilneh-merInnen auf dem Unabhängigkeitsplatz zu: „Amerika steht hinter euch!“

Welches Amerika? Welches Europa? Mit wem?

Tatsächlich steht einiges auf dem Spiel – aber was genau und für wen?

O�enbar haben in Lwiw (Lemberg, russ. Lwow), Hauptstadt der westlichen Region (Galizien), Tausende Demonstranten am 23. Januar die Regionalverwaltung gestürmt und erklärt, mit Unterstützung von Abgeordne-ten der extremen Rechten, die über eine Mehrheit in der Region verfügt, die „Macht zu übernehmen“. Ähnliche „Machtübernahmen“ soll es auch in Riwne und Schyto-mir gegeben haben. Die Oppositionsparteien wie auch die ausländischen Diplomaten, die darauf verzichten, diese Strömung zu kritisieren, spielen mit dem Feuer. Kommt die Solidarität diesen Neonazi-Aktivisten zugute, die andere DemonstrantInnen angreifen, weil sie jüdisch, kommunistisch, homosexuell oder schlicht nicht genug „ukrainisch“ sind?

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UKR AINE

48 Inprekorr 02/2014

Erst mit der Abstimmung über das drastische23 Gesetz zur Niederschlagung der Proteste erhielten diese neuen Zulauf – der von der extremen Rechten vereinnahmt wird. Bleibt zu ho�en, dass diese demokratisch infrage gestellt werden. Nicht die Wahl zwischen diesen repressi-ven Gesetzen und Svoboda steht auf dem Spiel. Auch nicht die zwischen „Europa“ und „Russland“. Die Souveränität der ukrainischen Bevölkerung wird nur dann real werden, wenn eine tiefgreifende soziale und politische Demokra-tisierung innerhalb eines aufzubauenden „Großeuropas“ statt�nden kann, das das Selbstbestimmungsrecht aller seiner Teile voll anerkennt und die Vorherrschaft der Olig-archen wie der Finanzmärkte zurückweist.

�� Übersetzung: Tigrib

1 Vgl. die kürzlich erschienene Artikelreihe über die Ukraine auf www.europe-solidaire.org/spip.php?mot96942 Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Georgi-en, Republik Moldau.3 Dem Text von Jacques Sapir, Maidan contre Ukraine, ent-nommen.4 Die ehemalige liberale Regierungsche�n der Orangen Revolution, Julia Timoschenko und ihre Vereinigung „Vaterland“ (mit 23 % der Parlamentssitze) beobachten mit Missfallen die wachsende Popularität des ehemaligen Box-weltmeisters Vitali Klitschko und seiner gemäßigt rechten Partei UDAR (die Abkürzung steht für Demokratisches Ukrainisches Reformbündnis, bedeutet aber auch „Schlag“), die 13 % der Stimmen erhielt, und der Freiheitspartei Svoboda mit 9 % der Stimmen. Letztere beteiligt sich am Nationalen europäischen Bündnis unter Führung von Oleg Tiahnibokh, beruft sich auf die ukrainischen SS-Bataillone in Galizien, deren rassistische, antikommunistische Ideologie sie übernom-men hat. Die beiden anderen Parteien distanzieren sich ebenso wenig von Svoboda wie westliche Diplomaten und teilen mit der Partei das Ziel, die Regierungskoalition zu stürzen.5 Siehe J.M. Chauvier, Les multiples pièces de l’échiquier ukrainien“. http://www.monde-diplomatique.fr/2005/01/CHAUVIER/11836; V. Cheterian über die farbigen Revolu-tionen http://www.monde-diplomatique.fr/2005/10/CHE-TERIAN/12816; und Régis Genté und Laurent Rouy, “Dans l’ombre des révolutions spontanées”, http://www.monde-diplomatique.fr/2005/01/GENTE/11838.6 Sie wurde verurteilt wegen Veruntreuung im Zusammen-hang mit dem 2009 abgeschlossenen Gasvertrag mit Russland und ist auch mit anderen Anklagepunkten konfrontiert, die noch anhängig sind. Ihr Komplize und ehemaliger Regie-rungschef Pavel Lazarenko wurde im Jahr 2000 in der Schweiz und 2004 in den Vereinigten Staaten wegen Geldwäscherei, Betrugs und Erpressung verurteilt.7 Siehe dazu Mariya Ivancheva, Bulgarien – eine Welle von Protesten. In: Inprekorr 1/2014, S. 22–26.8 Ein Teil der ukrainischen Linken stellt sich lieber außerhalb der generell als rechts bzw. extrem rechts charakterisierten

Bewegung, ein anderer Teil, der sich als Linke Opposition bezeichnet, versucht, mit einem Manifest von zehn Punkten (siehe S. XX�.) die Diskussion in die Bewegung zu tragen.9 Dieser Artikel von Romaric Godin, der sich bemerkenswert von dieser Heuchelei abhebt, erschien in der Zeitung La Tribu-ne unter dem Titel „Ukraine : ce que l‘Europe refuse de voir“, siehe https://tinyurl.com/krrbf26.10 World Bank. Transition: the First Ten Years, 2002 und Annual World Development Reports (WDP) Baltimore, John Hopkins.11 http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article30938, vgl. Jacques Sapir. Le Krach russe, Paris, La Découverte 1998.12 In dieser Hinsicht interessant ist ein Vergleich zwischen den radikal gegensätzlichen Entscheidungen der baltischen Staa-ten, die sich als Erste dem ausländischen Kapital ö�neten, um ihren Bruch mit der UdSSR zu markieren, und Slowenien, das versuchte, bei der Integration in die EU eine von ausländi-schem Kapital unabhängige nationale Identität zu bewahren..13 http://ec.europa.eu/economy_�nance/articles/governance/2012-01-17-viena_en.htm14 Siehe den ausgezeichneten Artikel von József Börö-cz auf ESSF, http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article30910, der den Link zu den europäischen Doku-menten über das Assoziationsabkommen herstellt und den letzten Bericht des IWF analysiert.15 Vgl. Etudes du CERI Nr. 202, Dezember 2013, Tafelbild Eurasien, S. 68.16 Diese geopolitische „Kategorie“ wird von der EU ver-wendet, um die Balkanländer zu bezeichnen, die noch nicht Mitglied, aber in Beitrittsverhandlungen sind. 17 Siehe den Artikel von Igor Šticks und Sreko Horvat in der Zeitschrift Les Possibles.18 Siehe Etudes du CERI Nr. 201 und 202, Wandbild von Eurasien, Dezember 2012 und 2013.19 Es wurde zehn Jahre lang von der Europäischen Kommissi-on und den USA unterstützt, dann aber vor dem Hintergrund wachsender Unsicherheiten über die Gasmärkte zugunsten der weniger kostspieligen Trans-Adriatic Pipeline (TAP) (Inves-tition von 1,5 Mrd. $ gegenüber 10 Mrd. $) aufgegeben. Siehe Fussnote 23.20 BRICS steht für die ersten fünf Buchstaben der Länder, die sich an einer Vereinigung von aufstrebenden Volkswirt-schaften beteiligen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. 21 http://www.leblog�nance.com/2013/12/ %C2 %AB %C2 %A0http:/www.naturalgaseurope.com/ukraines-naftogaz-signs-deal-with-china22 Vgl. l’Echo républicain vom 4. Dezember 2013.23 http://citizenjournal.info/wp-content/uploads/dictator-ship-en.jpg und Fussnote 1 des Artikels vom 21. Januar.

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UKR AINE

Inprekorr 02/2014 49

Die Euromaidan-Proteste haben großen Zulauf. Doch die UkrainerInnen verbringen nicht ganze Nächte auf der Straße, weil ihnen das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union so wichtig ist.

�� Zahar Popowitsch, Linke Opposition

Der eigentliche Grund liegt in den sozioökonomischen Problemen des Landes, die noch akuter sind als jene der östlichen und westlichen Nachbarn. In der Ukraine ist das Durchschnittsgehalt 2- bis 2,5mal kleiner als in Russland und Weißrussland und viel niedriger als in der EU. [1]

Die weltweite Wirtschaftskrise hat sich auf die Wirt-schaft der Ukraine so drastisch ausgewirkt wie in kaum einem anderen Land Europas vom Atlantik bis zum Ural. Nach der Krise lag das ukrainische Wirtschaftswachs-tum nahezu bei Null und die Industrie wird wohl auch für das Jahr 2013 sinkende Zahlen präsentieren. Hinzu kommt, dass das Wirtschaftssystem der Ukraine die Oligarchen größtenteils von den Steuern befreit. Es ist völlig legal, Minerale, Metalle, Ammoniak, Weizen und Sonnenblumen in Dollars in zweistelliger Milliardenhö-he zu exportieren und keinen Gewinn auszuweisen. Die Einkünfte werden in O�shore-Ländern versteckt, wo fast alle funktionierenden Unternehmen der Ukraine ei-nen Sitz haben. Jegliche Gewinne, die ein Unternehmen im Inland macht, können legal und mühelos zu einem O�shore-Sitz transferiert werden, etwa indem man dar-aus ein �ktives Darlehen macht.

Es ist also kaum erstaunlich, dass die Regierung der Ukraine ständig Schwierigkeiten hat, den Staatshaushalt im Gleichgewicht zu halten. Ende letzten Jahres stand das Land kurz vor dem Bankrott. Es wurde gängige Praxis, die Löhne der Staatsangestellten zurückzuhalten und die Budgetposten für Sozialprogramme zu streichen. Als Gazprom die ukrainischen Gaspreise auf osteuropäische

Rekordhöhe ansteigen ließ, verschlimmerte sich die Si-tuation durch den Handelskrieg mit Russland zusätzlich. Die Oligarchen haben das Land in eine Sackgasse manö-vriert; auch nach endlosen Diskussionen ist es ihnen nicht gelungen, eine kohärente Entwicklungsstrategie festzu-legen. Sie umgehen jegliche Investitionen in den Staat und saugen ihn gleichzeitig systematisch aus. Entwick-lungsstrategien für die Ukraine müssten aufzeigen, wie dieser grenzenlose Appetit zu zügeln ist – das Mindeste wäre, einen Teil der O�shore-Geschäfte zu unterbinden und für minimale Steuereinnahmen zu sorgen. Doch genau dagegen wehren sich die Oligarchen. Sie sind nicht bereit, die Regeln zu ändern. Und obwohl sie wissen, dass sie den Staat damit in eine soziale und wirtschaftli-che Katastrophe treiben, sägen sie weiter am Ast, auf dem sie sitzen.

Wenn sich die rechte Opposition zu den ökonomi-schen Problemen äußert, stellt sie vor allem die Korrup-tion und die wirkungslosen Regelungen ins Zentrum. Spricht man sie auf die Oligarchen an, die den Staat ausplündern, dann erwähnt sie nur die Unternehmer, die der Partei der Regionen nahestehen, und meistens geht es dabei nur um die Geschäfte der Janukowitsch-Söhne. Die anderen Oligarchen sind nach Ansicht des rechten Flügels kein Problem, weil sie nationales Bewusstsein haben. Folgt man dieser Logik, dann dient es der nati-onalen Sache, wenn die Ukraine von einem „echten“ Ukrainer ausgeplündert wird.

Die Situation ist paradox: Jeder vernünftige Ökonom (sogar ein neoliberaler wie zum Beispiel Viktor Pinze-nik) wird zustimmen, dass das Steuer- und Regelsystem des Landes darauf ausgerichtet ist, die Oligarchen von den Steuern zu befreien. Obwohl alle einsehen, dass es so nicht weitergehen kann, wagen es die PolitikerInnen im Parlament nicht, die naheliegenden und realistischen Alternativen zu diesem System vorzuschlagen. In der Öf-fentlichkeit getraut sich kaum jemand klarzustellen, dass nicht die EU oder das Freihandelsabkommen die dring-lichsten Probleme der Ukraine sind, sondern schlicht die Oligarchen, die man endlich besteuern sollte. Der

MANIFEST: 10 THESEN DER „LINKEN OPPOSITION“

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50 Inprekorr 02/2014

Staatsapparat könnte dies sehr gut durchsetzen, denn die produktiven Einrichtungen der Oligarchen be�nden sich alle in der Ukraine. Doch, wie Andrej Hunko kürzlich sagte, die Oligarchisierung der ukrainischen Politik hat ein solches Ausmaß erreicht, dass dieses Problem von sämtlichen Parlamentsparteien nicht einmal angespro-chen werden kann.

Leider sind die radikalen Linken die Einzigen, die diese minimalen und auf der Hand liegenden Forderun-gen zur Sprache bringen. Ich möchte betonen, dass es sich dabei nicht um die politische Agenda der „Linken Opposition“ handelt, sondern um erste Schritte in Rich-

tung einer Politik, die sich darum bemüht, alle antiolig-archischen Kräfte zu sammeln, die in einer ultrarechten, faschistischen Diktatur keine Lösung sehen. Denn eine Diktatur dieser Art will uns die Allukrainische Verei-nigung „Svoboda“ aufdrängen, während die o�ziellen Oppositionsführer tatenlos zuschauen.

Das Fehlen eines kohärenten Aktionsplans, der die Ukraine aus der Krise führen könnte, ist so drängend, dass sogar ziemlich liberale und rechts-liberale Publi-kationen eine Diskussion über unsere „Zehn Punkte“ begonnen haben, so zum Beispiel zaxid.net in Lwiw (russ. Lwow).

ZEHN-PUNKTE-PLAN FÜR DEN GESELLSCHAFTLICHEN WANDEL

Unser Dokument mit dem Titel „Plan für gesellschaftlichen Wan-

del“ zeigt auf, wie das Wohl der Bevölkerung gesteigert und der

soziale Fortschritt gesichert werden kann. Einer der Gründe, die

zu diesem Papier geführt haben, ist die Tatsache, dass in den

Euromaidan-Protesten bisher kaum sozioökonomische Forde-

rungen laut wurden. Unsere Hoffnung ist, dass das Dokument

als Plattform dienen und viele soziale, linke und gewerkschaftli-

che Gruppen vereinen kann. Der Text stammt von AktivistInnen

der „Linken Opposition“, einer sozialistischen Organisation, die

die Vereinigung all jener anstrebt, die zur Gemeinschaft mit dem

provisorischen Namen „#leftmaidan“ gehören.

Es versteht sich von selbst, dass politische Parteien die Pro-

testbewegung umformen und in Richtung Wahlpolitik steuern;

sie bemühen sich um neue Stimmen, anstatt das System grund-

legend zu verändern. Wir unterstützen weder die Vorschläge li-

beraler Kreise, die die freie Marktwirtschaft propagieren, noch

die radikalen NationalistInnen, die eine diskriminierende Politik

verfolgen.

Wir hoffen, dass die Protestbewegung, die wegen sozialer Un-

gerechtigkeit aktiv geworden ist, die Ursachen dieser Ungerech-

tigkeit beseitigen kann. Unserer Ansicht nach liegen die Wur-

zeln der meisten sozialen Probleme bei der Oligarchie, die ein

Produkt des ungezügelten Kapitalismus und der Korruption ist.

Es ist wichtiger, die egoistischen Interessen unserer Oligarchen

in die Schranken zu weisen, als auf die Hilfe von Russland oder

IWF zu bauen und das Land in internationale Abhängigkeiten zu

führen. Statt in den Ruf nach europäischer Integration einzustim-

men, sollten wir klar aufzeigen, welche Veränderungen im Inte-

resse der normalen BürgerInnen, insbesondere der entlassenen

ArbeiterInnen, nötig sind. In unserem Plan erwähnen wir dazu

verschiedene Beispiele europäischer Länder, die fortschrittliche

Maßnahmen ergriffen haben.

Die von uns formulierten Ziele sind relativ bescheiden, damit

möglichst viele Organisationen zustimmen können. Für uns ist

dieser Plan – das möchten wir nicht verheimlichen – weniger

eine Reaktion auf die aktuellen Vorkommnisse als ein Schritt auf

dem Weg zu einer zeitgemäßen linken Kraft, die fähig ist, auf die

Mächtigen Einfluss zu nehmen und eine Alternative zur jetzigen

Gesellschaftsordnung zu bieten. Der vorgeschlagene Plan stellt

für die „Linke Opposition“ das nötige Minimum dar, um den So-

zialismus auf Grundlage der Selbstverwaltung aufzubauen: die

Industrie verstaatlichen, Gewinne für soziale Belange einsetzen

und BürgerInnen mit staatlichen Funktionen betrauen.

Wir laden euch ein, eure Meinung via unsere Facebook-Seiten

kundzutun oder uns per Mail anzuschreiben: gaslo.info@gmail.

com. Unser Leben wird sich nicht verbessern, wenn wir die eine

Gruppe von PolitikerInnen und Oligarchen durch die andere er-

setzen, ohne umfassende systemrelevante Änderungen vorzu-

nehmen. Deshalb haben wir, AktivistInnen aus dem sozialen und

gewerkschaftlichen Umfeld, zehn Punkte zusammengestellt,

auf deren Grundlage die Wirtschaftskrise überwunden und ein

künftiges Wachstum der Ukraine gewährleistet werden kann.

1. Führung durch das Volk statt durch Oligarchen. Die Präsidi-

alrepublik muss zu einer parlamentarischen Republik werden, in

der sich die Macht des Präsidenten auf repräsentative Aufgaben

auf internationaler Ebene beschränkt. Die Macht muss von den

staatlichen Stellen zu gewählten Regionalgremien verschoben

werden (Sowjets). Die Behörden müssen das Recht haben, Ab-

geordnete zu entlassen, die den Erwartungen nicht entsprechen;

Richter und Polizeichefs sollten gewählt statt ernannt werden.

2. Nationalisierung der Primärindustrie. Metallindustrie, Berg-

bau, chemische Industrie und Unternehmen im Bereich Infra-

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UKR AINE

Inprekorr 02/2014 51

struktur (Energie, Transport, Kommunikation) müssen zum sozi-

alen Wohlstand beitragen.

3. Kontrolle aller Eigentumsformen durch die Arbeiter. Wir

müssen ein weites Netz unabhängiger Gewerkschaften auf-

bauen, die das Management kontrollieren und die Rechte der

ArbeiterInnen durchsetzen. Erfolgreiche Beispiele aus Europa

können dabei als Vorbild dienen. Die Angestellten müssen das

Recht haben, zu streiken (Arbeitsniederlegung bei ausstehenden

Lohnzahlungen) und Kredite auf Kosten der Arbeitgeber aufzu-

nehmen, wenn Lohnzahlungen ausbleiben (gemäß dem Beispiel

von Portugal). Alle Unternehmen mit mehr als 50 Angestellten

oder einem Kapitalumsatz über einer Million Dollar sollten ver-

pflichtet werden, ihre Daten zu Produktion, Bilanzen und Ma-

nagement online zu veröffentlichen.

4. Einführung einer Luxussteuer. Auf Luxusgüter sollte eine

Steuer von 50 % erhoben werden, zum Beispiel auf Jachten, Lu-

xusautos und andere Güter im Wert von über 1 Million Hrywn-

ja1. Außerdem brauchen wir eine progressive Einkommenssteu-

er. Personen mit einem Jahreseinkommen von über einer Million

Hrywnja sollten bis zu 50 % besteuert werden, wie dies in Dä-

nemark der Fall ist (unter diesen Bedingungen hätte allein schon

Rinat Achmetow 1,2 Milliarden Hrywnja an den Staatshaushalt

abgeliefert – im Vergleich zu den 400 Millionen, die er im Jahr

2013 bei einer Steuer von 17 % tatsächlich bezahlte).

5. Unterbindung des Offshore-Kapitaltransfers. Die Bestim-

mungen, nach denen ukrainische Unternehmen in einigen

Offshore-Ländern steuerbefreit sind, sollten aufgehoben wer-

den, um den Kapitaltransfer in Steueroasen zu unterbinden. Die

Vermögenswerte von Offshore-Firmen in der Ukraine müssen

gesperrt und einer vorübergehenden Verwaltung unterstellt

werden, bis geklärt ist, ob die Kapitalanlagen legal sind.

6. Trennung von Regierung und Business. BürgerInnen mit ei-

nem Einkommen von über 1 Million Hrywnja sollten sowohl auf

staatlicher als auch auf lokaler Ebene von Regierungspositionen

ausgeschlossen werden. Zur Umsetzung dieser Regel braucht es

landesweite Neuwahlen.

7. Senkung der Ausgaben für den Verwaltungsapparat. Die

Staatsausgaben sollten kontrolliert und transparent sein. Es

braucht eine Verwaltungsreform, um die Zahl der leitenden

Angestellten zu reduzieren. Obwohl heute ganze Abteilungen

durch Computerprogramme ersetzt werden könnten, ist die Zahl

der Beamten in der staatlichen Verwaltung in den letzten acht

Jahren um beinahe 10 % auf über 372 000 Personen gestie-

gen (in der Ukraine kommen 8 Beamte auf 1000 Einwohner – in

Frankreich sind es nur 5 pro 1000!).

8. Auflösung von Berkut und anderen Spezialeinheiten. Ab

2014 sollten die Ausgaben für den staatlichen Sicherheitsappa-

rat sukzessive gesenkt werden. Diese Forderung betrifft insbe-

sondere das Innenministerium, den Sicherheitsdienst (Inlands-

geheimdienst), die Staatsanwaltschaft und Spezialeinheiten der

Polizei. Es ist inakzeptabel, dass das Innenministerium 2013 über

16,9 Millionen Hrywnja erhielt – 6,9 Millionen mehr als sämtliche

öffentlichen Gesundheitsausgaben betrugen!

9. Zugang zu freier Schulbildung und Gesundheitsversorgung.

Die Mittel zur Realisierung dieses Vorschlags können durch die

Verstaatlichung der Industrien und durch Einsparungen bei den

Sicherheits- und Verwaltungsapparaten beschafft werden. Die

Korruption in Bildung und Medizin wird nur verschwinden, wenn

wir die Gehälter der Lehrkräfte und ÄrztInnen anheben und die-

sen Berufen wieder mehr Ansehen verschaffen.

10. Rücktritt von repressiven internationalen Finanzinstituti-

onen. Wir fordern, dass die Zusammenarbeit mit dem Internati-

onalen Währungsfonds und anderen internationalen Finanzins-

titutionen eingestellt wird. Stattdessen sollten wir dem Beispiel

Islands folgen, das sich weigert, für die Verschuldung aufzukom-

men, die Banker und Beamte (unter staatlicher Garantie) herbei-

geführt haben – eine Verschuldung, die eher mit persönlicher

Bereicherung und „sozialen Almosen“ als mit der Entwicklung

der Industrie zu erklären ist.

Kollektiv der Linken Opposition, 22. Januar 2014

Aus: http://internationalviewpoint.org/spip.php?article3249�� Übersetzung aus dem Englischen: A.W.

1 Dieser Betrag entspricht zur Zeit ca. 74.600 Euro.

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ITALIEN

52 Inprekorr 02/2014

Die Mobilisierung gewisser Sektoren der italienischen Gesellschaft (der sogenannten Forconi – Mist- bzw. Heugabeln) Anfang Dezember (2013) zeigt, dass in dem Land eine neue Phase der wirtschaftlichen und sozialen Krise beginnt. Früher scheuten die sozialen Gruppen, die diese Bewegung repräsentiert, vor bestimm-ten Aktionsformen zurück, die bei dieser Gelegenheit angewandt wurden: Straßenblockaden, spontane Kundge-bungen und Massendemonstrationen auf den italienischen Piazze (Plätzen).

An dieser Bewegung nehmen Teile des Kleinbürger-tums teil, die aufgrund der wirtschaftlichen Krise Ein-kommensverluste hinnehmen mussten und ihre Interessen verletzt sahen: kleine Unternehmer, BesitzerInnen von Marktständen, Handwerker, Lastwagenfahrer und kleine landwirtschaftliche UnternehmerInnen. Aber auch andere mehr oder weniger marginalisierte Teile der Gesellschaft beteiligten sich: Gruppen von Jugendlichen aus den Vor-

städten, von Arbeitslosen und auch eine gewisse Anzahl von Studierenden. All diese Aspekte waren besonders sichtbar in Turin, das während des größten Teils des 20. Jahrhunderts eine der stärksten Arbeiterbewegungen hatte und das industrielle Zentrum des Landes war (ebenso wie Sitz der Fiat-Zentrale). Denn im Gegensatz zum Stadtzen-trum, das mit seinen kürzlich restaurierten königlichen Palästen und Gebäuden eine Attraktion für BesucherIn-nen ist, sind viele Einheimische von massiver Verarmung betro�en.

Ein anschließender Versuch der Forconi, in Rom eine weitere große Demonstration zu organisieren, scheiterte an internen Di�erenzen (einige der etwas besser gestellten Teile wie die kleinen landwirtschaftlichen Unterneh-merInnen und die Lastwagenfahrer glaubten, dass ihnen Verhandlungen mit der Zentralregierung einen Nutzen bringen würde – und distanzierten sich folglich von diesem Versuch), aber das bedeutet keineswegs, dass solche Pro-

DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALE KRISE

Die Klasse der Lohnabhängigen in Italien ist noch nicht ausreichend auf ihre unentbehrliche Rolle im Kampf gegen die

Verursacher der Krise eingestellt – ein gefährliches Vakuum, in dem sich schon zu viele Rechte organisieren. Die Zeit drängt!

�� Franco Turigliatto

Ita l ien

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ITALIEN

Inprekorr 02/2014 53

teste nicht das Ergebnis tie�iegender und ernster Ursachen sind. Sie können in naher Zukunft wieder statt�nden.

Die wirtschaftliche Krise und das Kleinbürgertum

Bedeutende Teile der italienischen kleinen und mittleren Bourgeoisie haben jahrelang einen relativen und beschau-lichen Wohlstand genossen (einige aufgrund von Steuer-hinterziehung), aber jetzt, nach 6 Jahren Wirtschaftskrise, haben ihre sozialen und wirtschaftlichen Stützen ange-fangen nachzugeben und für viele von ihnen beginnt, ein rapides Absinken ihres Lebensstandards und ein Abglei-ten in Armut eine realistische Möglichkeit zu sein. Diese Sektoren sind nicht nur von der Dynamik der Wirtschafts-krise betro�en, sondern auch – was für die überwältigende Mehrheit der europäischen Bevölkerung zutri�t – von der Austeritätspolitik der verschiedenen bürgerlichen Regie-rungen im Namen des europäischen Finanzpaktes.

Seit einigen Jahren hat diese Politik den Lebensstan-dard arbeitender Männer und Frauen sowohl im privaten als auch im ö�entlichen Sektor stark gedrückt; Löhne und Arbeitsplatzsicherheit wurden abgesenkt, der Wohlfahrts-staat zurückgefahren – alles im Namen von "Opfern", die der Neoliberalismus verlangte und die dem einzigen Zweck dienen, die Pro�te und Versorgungsansprüche der Industriekapitäne und des Großbürgertums als Individu-en und als Klasse zu sichern. Um diese Umverteilung des Reichtums von unten nach oben zu garantieren, fordert die herrschende Klasse seit kurzem Opfer von großen Teilen der Mittelschichten. Sie machen diese Zwischen-schichten der Gesellschaft ärmer, obwohl sie für die Aufrechterhaltung des politischen und sozialen Status quo entscheidend bleiben. "Auspressen" ist das Wort, das die gegenwärtige Politik der Zerstörung und Verringerung der Rechte und des Lebensstandards der Mehrheit am bes-ten beschreibt; es ist ein Wort, das vor allem der arbeiten-den Bevölkerung aufgezwungen wurde, aber jetzt betri�t es auch Teile des Kleinbürgertums und führt so zu ihrer sozialen Verwirrung. Die hier beschriebene Situation zeigt charakteristische Züge schwerer wirtschaftlicher Krisen, die sich dann auch in soziale und politische verwandeln und zu Rissen im sozialen Gefüge der Gesamtgesellschaft führen. Das ist einer der Gründe, warum wir jetzt von ei-nem epochalen Wandel sprechen, der in Europa statt�ndet.

Turin und die soziale und wirtschaftliche Krise

In einer ganzen Reihe von Städten wie Turin hat die Krise viele und dramatische Wendungen gemacht; einst war sie das industrielle Zentrum Italiens mit einer starken und

kämpferischen Arbeiterklasse und obwohl es immer soziale Ungleichheiten gab, waren sie nie so groß wie heute. In nur wenigen Jahren hat die Arbeitslosigkeit atemberauben-de Ausmaße erreicht, in Piemont sind Hunderttausende arbeitslos.

Es ist o�ensichtlich, dass das Kleinbürgertum – und besonders Ladenbesitzer, die schon von der allgemei-nen wirtschaftlichen Krise betro�en waren – unter dem Rückgang von Handel und Einkommen leidet aufgrund der einfachen Tatsache, dass, wenn eine so große Anzahl von Arbeitenden ihre Kaufkraft verliert bzw. sie stark verringert wurde, eine Ausstrahlung auf kleine Geschäf-te nicht vermieden werden kann. Die wirtschaftliche Krise hat zuerst ArbeiterInnen getro�en, jetzt hat sie auch Konsequenzen für InhaberInnen kleiner Geschäf-te und LadenbesitzerInnen, die auch mit der Guillotine von Ausgabenkürzungen seitens der Stadtverwaltungen konfrontiert sind, denen die Zentralregierung die Aufgabe zugewiesen hat, die Austeritätspolitk auf örtlicher Ebene umzusetzen. Weiterhin gab es früher Planungsrichtlini-en, die die Anzahl und den Umfang neuer kommerzieller Unternehmungen regulierte, aber die fast vollständige Liberalisierung des Marktes verbunden mit der enormen Macht großer Einzelhandelsketten hat die örtlichen Ge-schäfte beginnend mit den Marktständen kaputt gemacht. Sie wurden nicht nur durch die großen Einkaufszentren, sondern auch durch den ruinösen Wettbewerb zwischen den verbleibenden kleinen Geschäften aus dem Markt gedrängt. Letztere ö�nen und schließen dauernd, ihre Be-treiberInnen wechseln ständig, weil sie feststellen, dass ihr Einkommen gering oder nicht ausreichend ist. In diesem Rahmen gibt es einen weiteren und neuen Aspekt: Viele der neuen LadenbesitzerInnen kommen aus der Arbeiter-klasse, viele waren arbeitslos; eine große Zahl von jungen Männern und Frauen, die vorher abhängig beschäftigt waren, haben mit den letzten Reserven ihrer Familien gerade genug zusammengekratzt, um auf der Suche nach Einkommen ein kleines Geschäft zu beginnen, nur um dann festzustellen, dass sie davon nicht leben können.

Am ersten Tag waren in Turin fast alle Geschäfte geschlossen und zwar sowohl aufgrund einer bewussten und autonomen Entscheidung der GeschäftsinhaberInnen aber auch wegen der Präsenz aktiver Gruppen von Akti-visten, die durch die Stadt zogen und LadeninhaberInnen unter Anwendung vielfältiger Maßnahmen zwangen, die Läden herunterzulassen. Die Großmärkte waren auch an den folgenden Tagen geschlossen; dafür "sorgten" die oben erwähnten Gruppen.

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ITALIEN

54 Inprekorr 02/2014

Vielleicht die bemerkenswerteste Entwicklung war die Beteiligung großer Teile jugendlicher BewohnerInnen der Vorstädte, die ihren Ärger und ihre Frustration über den von ihnen zu zahlenden sozialen Preis und die Bedingun-gen unter denen sie leben müssen, mit Straßenblockaden und Patrouillen zum Ausdruck brachten. Auf den Stra-ßen waren auch viele ähnlich motivierte Studierende, die keine produktiveren Wege gefunden hatten, um den Protest über ihre Frustrationen auszudrücken – aber dieses Phänomen wurde schon in der Vergangenheit beobachtet: die Bezugspunkte während dieser Demonstrationen sind die National�agge und die Nationalhymne, was klar zeigt, welches Gewicht die heute herrschenden Denkmuster und Ideologien haben.

Die Rolle rechter Kräfte

Alle diese gerade beschriebenen sozialen und wirtschaftli-chen Phänomene werden meisterhaft in Unterstützung der politischen Ziele der branchenspezi�schen Organisationen umgemünzt, die sehr e�ektiv eine Ideologie und Identität gescha�en haben, in der nur die Gestalt des unabhängig Arbeitenden und des unabhängigen Unternehmers den Wohlstand Italiens garantieren kann, während alle anderen "Diebe" sind, seien es PolitikerInnen, Beschäftigte im Ö�entlichen Dienst (die oft "Parasiten" genannt werden), oder selbst die ArbeiterInnen, die über ein kleines Sicher-heitsnetz verfügen, wenn sie entlassen werden. Es ist recht einfach die sozialen Volksklassen zu spalten, wenn alle große Schwierigkeiten haben und es wenig Solidarität zwischen den einzelnen Gruppen von ArbeiterInnen gibt.

Tatsächlich war die große Rolle, die rechte und extrem-rechte Kräfte bei der Organisierung der Demons-trationen spielten, nicht zu leugnen und sie ist Grund für große Besorgnis. Diese Kräfte waren sichtbar, sie führten Gruppen von Jugendlichen an und prägten die Dynamik des Protests, der oft unklar und verwirrt war. Durch die Straßen der Stadt marschierten rechte Fußball-Hooligans zusammen mit italienischen neo-faschistischen Elemen-ten wie Forza Nuova und Casa Pound; überall konnte man reaktionäre und faschistische Parolen und Haltungen wahrnehmen; es gab auch eine gefährliche Konfrontati-on zwischen einigen Teilen der reaktionären Kräfte und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, Mitgliedern der FIOM, der größten Metallarbeitergewerkschaft.

Ungeachtet der o�ensichtlichen Desorganisation steck-te nichtsdestotrotz eine klare Richtung und akribische Planung hinter der Entwicklung der Ereignisse, eine Art Demonstration der Stärke seitens rechts-gerichteter Kräfte,

die dann als Rekrutierungsmittel genutzt wird. Letztlich muss noch das Verhalten der Polizei erwähnt werden: Es war klar tolerierend und unterschied sich völlig von ihrem Verhalten bei linken Demonstrationen. Verschiedenes deutet auf eine Übereinstimmung hin, die nicht nur auf Sympathien mit den Gründen und Frustrationen der For-coni basiert, sondern auf eine organisatorische Beziehung zwischen der Polizeihierarchie und rechten Elementen schließen lässt. Der beunruhigendste Ausdruck einer sol-chen war die Blockade der Zugangsstraßen zum Stadtteil Pinerolo am Rande Turins; eine Blockade, geplant und durchgeführt von faschistischen Kräften zusammen mit dem organisierten Verbrechen, bekannten Steuerhinterzie-hern und mit vollkommener Duldung durch die Polizei.

In diesem Zusammenhang tat sich die Turiner Justiz auf unrühmliche Weise besonders hervor, denn am Abend des gleichen Tages ordnete sie Polizeiaktionen gegen Aktivisten der NO TAV Bewegung an, die gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse im Susa Tal protestiert; Aktionen, die mit der Verhaftung von vier jungen Aktivis-ten aufgrund von "Terrorismus"-Vorwürfen endeten!

Das Kleinbürgertum und die rechten Kräfte

Es ist jetzt vollkommen klar, dass die erwähnten sozialen Gruppen (die TeilnehmerInnen an den Straßendemonst-rationen waren zum großen Teil kleine Marktstand- und LadeninhaberInnen) zusammen mit einer großen An-zahl von Arbeitslosen, zur Massenbasis faschistischer und ultra-reaktionärer Kräfte werden können. Verbunden mit der möglichen reaktionären Radikalisierung von Teilen des Kleinbürgertums kann die Situation sehr schnell sehr gefährlich für die Arbeiterklasse werden, denn seit einigen Jahren hat es keine Massenbewegung der Arbeitenden ge-geben, um dem etwas entgegenzusetzen. Die Verantwor-tung der Gewerkschaftsführungen dafür, dass es so weit kam, muss besonders angeprangert werden.

Notwendig ist die Mobilisierung der ArbeiterInnen

Nur eine starke und militante, klassenbewusste Ar-beiterbewegung kann einen Damm gegen reaktionäre Tendenzen sein. Um konstruktiv auf die statt�ndenden Ereignisse zu antworten, muss die Gewerkschaftsbewe-gung, beginnend mit ihren militantesten Teilen, breitgefä-cherte Initiativen starten, um Kaufkraft, den Mindestlohn und Arbeitsplatzsicherheit zu verteidigen. Sie muss eine vollkommen andere Wirtschaftspolitik vorschlagen. Diese Initiativen dürfen sich nicht nur auf die Arbeiterklasse beziehen, sondern auch auf Teile der unteren Mittelklassen

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ITALIEN

Inprekorr 02/2014 55

und mehr noch auf die Desillusionierten und Arbeits-losen. Um das zu erreichen ist die Organisierung eines Generalstreiks ein wichtiger Aspekt, denn wenn es einen richtigen, ernsthaften Generalstreik gegeben hätte, hätten viele der jungen Leute auf den Straßen eine völlig andere Möglichkeit gehabt, ihrer Unzufriedenheit und ihrem Dissens Ausdruck zu verleihen. Außerdem, es wäre däm-lich, diese gegenwärtigen Demonstrationen als wirklichen und konstruktiven Kampf gegen die Austeritätspolitik und die Regierungen, die sie durchsetzen, einzuschätzen, wie das einige auf der Linken tun.

Zu glauben, dass das Kleinbürgertum und die Unter-schichten angesichts der größten globalen Ausdehnung des Kapitalismus eine Alternative zum globalen Kapital entwickeln können, ist nicht nur eine Illusion, die al-len historischen Erfahrungen widerspricht, sondern ein gefährlicher Irrtum, der zu sehr realen politischen Tra-gödien führen kann. Wie Trotzki schrieb, hat das Klein-bürgertum, dieser Staub der Geschichte (viele Individuen, die nicht in Produktionsstätten und in Produktionsketten organisiert, aber in ihren sozialen Beziehungen von ihnen abhängig sind) weder die Rolle noch die soziale oder poli-tische Kraft, einem alternativen Projekt zum herrschenden Modell Ausdruck zu verleihen. Im Kampf zwischen den beiden Hauptklassen werden die Mittelklassen sich am Ende derjenigen zuwenden, die ihre Stärke am e�ektivsten zeigt. Jetzt, wie in der Vergangenheit, kann die herrschen-de Klasse Teile der Arbeitslosen und des Kleinbürgertums als Rammbock gegen die Arbeiterklasse benutzen, ähnlich wie das der Faschismus getan hat. Der russische Revoluti-onär schrieb in Bezug auf das Deutschland der 30ger Jahre: "Bei jeder Wendung der Geschichte, bei jeder sozialen Krise muss man immer wieder die Frage der gegensei-tigen Beziehungen der drei Klassen der gegenwärtigen Gesellschaft überprüfen: der vom Finanzkapital geführten Großbourgeoisie, der zwischen den beiden Hauptlagern schwankenden Kleinbourgeoisie und des Proletariats. Die Großbourgeoisie, eine kleine Minderheit der Nation, kann ihre Macht nicht halten, wenn sie sich nicht auf die Klein-bourgeoisie in Stadt und Land, d. h. auf die Reste des alten und auf die Masse des neuen Mittelstandes stützen kann." Und weiter: "Um aus der sozialen Krise eine proletarische Revolution werden zu lassen, ist es – abgesehen von ande-ren Bedingungen – nötig, dass ein entscheidender Teil der kleinbürgerlichen Klassen sich auf die Seite des Proleta-riats stellt. Das gibt dem Proletariat die Möglichkeit, sich als Führer an die Spitze der Nation zu stellen. Die letzten Wahlen zeigen – und darin liegt ihre wichtige symptoma-

tische Bedeutung – eine entgegengesetzte Tendenz. Unter den Schlägen der Krise tendierte das Kleinbürgertum nicht zur proletarischen Revolution, sondern zur äußers-ten imperialistischen Reaktion und zog dabei bedeutende Schichten des Proletariats mit." Zum Abschluss stellte er fest: "Wenn die Kommunistische Partei die Partei der revolutionären Ho�nungen ist, so ist der Faschismus als Massenbewegung die Partei der konterrevolutionären Ver-zwei�ung." (Leo Trotzki, Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, 26. September 1930, in H. Dahmer (Hg.), Leo Trotzki, Wie wird der Nationalsozia-lismus geschlagen, EVA 1971, S. 16f.)

Den Kampf der Arbeiterklasse entwickeln

Nur mit einer Arbeiterklasse, die sich ihrer Rolle als Pro-tagonist und ihrer Stärke bewusst ist und für die Siche-rung der Arbeits- und Lebensbedingung der Volksmassen kämpft, kann es eine Kraft geben, die im Kampf mit der herrschenden Klasse, Teile des Kleinbürgertums anziehen oder zumindest neutralisieren kann. Das ist die dringende und wichtige Aufgabe vor der wir stehen und die durch die Rückkehr des Klassenkampfes in die Betriebe erleichtert werden kann.

Aber es stellt sich auch die Zeitfrage: Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung muss wieder auf ihren eigenen beiden Beinen stehen; auf der einen Seite darf sie nicht bestimmte soziale Schichten als solche dämonisieren. Sie darf nicht der Führung der Partito Democratico und der Spitzen der Gewerkschaften folgen, denselben, die die In-teressen der ArbeiterInnen denen der herrschenden Klasse unterordnen. Auf der anderen Seite muss sich die Arbei-terbewegung der Tatsache bewusst sein, dass die Forconi von reaktionären und rechten Kräften geführt werden (die durch eben diese Ereignisse gestärkt wurden). Eine Her-ausforderung, der man sich stellen muss.

Aus diesem Grund muss die Arbeiterklasse heute – und die Bewegungen der anti-kapitalistischen Linken müssen mit all ihrer Kraft dazu beitragen – mit ihrem eigenen Kampf, ihrer eigenen Klassenrevolte gegen die Regie-rungen des Fiskalpakts – und das heißt: die herrschenden Klassen – beginnen.

�� Übersetzung: W. Weitz

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SPANISCHER STA AT

56 Inprekorr 02/2014

Spanischer Staat

In den vergangenen Jahren wurden die gesetzlichen Rech-te der Frauen, namentlich derer auf Abtreibung, immer weiter zurückgedrängt. Während die Frauen zunehmend heftigeren Attacken ausgesetzt waren und die reaktionärs-ten Kreise ihre Position weiter ausbauen konnten, verlor die Frauenbewegung an Ein�uss und zersetzte sich.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, dass die einzelnen Bundesstaaten die Durchführung einer Abtreibung nicht verbieten dürfen, war ein Erfolg für die Frauen. Freilich darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem Ein�uss der fundamentalistischen christlichen Rechten das Recht auf Abtreibung in praxi immer weiter ausgehebelt wird.

Auch in Europa be�ndet sich die Lobby der „Lebens-schützerInnen“ mit dem Papst an der Spitze auf dem Vor-marsch. Im Dezember 2013 wurde der „Estrela-Bericht über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ durch das EU-Parlament zurückgewiesen. Der Bericht empfahl, „aus Erwägung der Menschenrechte und der ö�entlichen Gesundheit“ allen Frauen in der Europäischen Union einen legalen Zugang zu „hochwertigen Diensten im Bereich des Schwangerschaftsabbruches“ zu gewähr-leisten, und enthielt eine Au�orderung an die Länder, sicherzustellen, dass medizinische Fachkräfte im Falle von Abtreibungen nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Vor diesem Hintergrund fühlte sich der spanische Ministerpräsident Rajoy dazu berufen, über das Thema Abtreibung der eigenen Regierung den Rücken zu stärker und die rechte Klientel bei Laune zu halten, die angesichts der wenig rosigen Bilanz der Wirtschafts- und Sozialpoli-tik von der Stange zu gehen drohte. Wie der Zauberlehr-ling aus Goethes gleichnamigem Gedicht entfachte Rajoy jedoch einen Wirbelsturm, der ihn überrollen könnte.

Selbst Regionalpräsidenten aus der eigenen Partei sind gegen die Reform, die das Recht auf Abtreibung aushe-belt, und einzelne PP-Abgeordnete pochen darauf, entlang ihres Gewissens abzustimmen. Auch die fortschrittlichen Kreise der Kirche sind dagegen wie auch 86 % der Bevöl-kerung.

Die PSOE versucht, das Thema für sich zu inst-rumentalisieren, indem sie auf der Welle der Proteste mitschwimmt und die Jugend dazu aufruft, 2015 für die PSOE zu stimmen, da die Partei „die demokratischen Rechte verteidigt, während die PP sie abscha�en will“. Diese Taktik scheint aufzugehen, wie die jüngsten Umfra-gen zeigen.

Zugleich jedoch geraten Spaniens Frauen in Bewe-gung. Hunderttausend TeilnehmerInnen versammelten sich am 1. Februar in Madrid, um gegen die Verschärfung des Gesetzes zu protestieren. In zahlreichen Städten Euro-pas fanden gleichzeitig Solidaritätskundgebungen statt.

Zu dem Thema dokumentieren wir den Aufruf unserer spanischen Genossinnen von der Izquierda Anticapitalista.

Gekürzt und bearbeitet aus l’Anticapitaliste – la revue�� Übersetzung: Miwe

WIDER DAS ABTREIBUNGSVERBOT!Einleitende Hintergrundinformation zu dem Aufruf „Unser Körper – unsere Entscheidung“ der Izquierda anticapitalista

�� Izquierda anticapitalista

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SPANISCHER STA AT

Inprekorr 02/2014 57

Anscheinend muss auf ein Neues erklärt werden, um was es bei der gegenwärtigen Debatte eigentlich geht. Denn auf ein Neues zeigen die Kirche und die konservativsten Teile von Politik und Gesellschaft mit dem Finger auf die, die von ihrem Recht und ihrer Freiheit Gebrauch machen – und kriminalisieren sie.

�� Izquierda anticapitalista

Uns geht es nicht darum, zu diskutieren, wann das Leben beginnt. Über diesen Punkt kann uns die Wissenschaft Auskunft geben – und zwar besser als die Kirche.

Ihnen – Kirche und Staat – geht es eben nicht um das Leben. Sie interessieren sich eben nicht für das Leben derjenigen Frauen, die wg. eines heimlichen, verpfuschten Schwangerschaftsabbruchs sterben; oder für das Leben derjenigen, die schon auf der Welt sind, aber keine Arbeit haben, kein Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung oder ein würdiges Leben.

Gegenüber einer Politik des Sparens und des Sozialab-baus schweigen sie.

Nicht um das Leben geht es ihnen; es geht ihnen dar-um, Kontrolle über den Frauenkörper zu haben und über seine Fähigkeit, Kinder zu bekommen.

Den Frauen wird bei dieser Diskussion unterstellt, sie könnten nicht selber über ihren Körper und über ihre Se-xualität zu entscheiden. Verteidigt werden hier traditionel-le Rollenverhältnisse, bei denen die Frau sich unterwirft; und eine Vorstellung von Sexualität, die auf Heterosexua-lität reduziert ist und bei der es vorrangig ums Kinderkrie-gen geht.

Zurückkehren wollen wir nicht – aber auch nicht so weiter machen wie bisher

Auf der einen Seite sehen wir uns konfrontiert mit einem Gesetzesvorschlag der PP (aus dem Justizministerium, nicht aus dem Gesundheitsministerium!): Die Möglich-

keit, innerhalb der ersten 14 Wochen legal und frei eine Schwangerschaft abbrechen zu können, soll abgescha�t werden. Stattdessen soll ein System von Bedingungen und Voraussetzungen, restriktiver als beim früheren Gesetz von 1985, eingeführt werden. Auf der anderen Seite ist Abtreibung teilweise entkriminalisiert. Die PSOE ist einige Schritte in die richtige Richtung gegangen, aber sie hat sich nicht getraut, sich gegen den Druck der Kirche zu stellen. Mit der Privatisierungslogik hat sie auch nicht gebrochen.

98 % der Schwangerschaftsabbrüche werden außerhalb des ö�entlichen Gesundheitssystems vorgenommen, in privaten Kliniken. In einigen Kommunen ist ein Abbruch gar nicht möglich, in anderen muss die Frau erstmal selber für die Kosten aufkommen und sich hinterher darum kümmern,ob sie die Kosten evtl. erstattet bekommen kann. Geht die Frau an einen anderen Ort, dann macht sie den Abbruch „ino�ziell“ und so, als ob sie etwas Schlech-tes tut.

Wendet sich die Frau an einen niedergelassenen Arzt, dann wird sie nochmal für drei Tage zum Nachdenken nach Hause geschickt. – mit einem Umschlag voller Infor-mationsmaterial, das nicht objektiv ist und hauptsächlich über Möglichkeiten von Unterstützung berät, wenn die Frau das Kind behält (Adoption,etc.) Anscheinend wird den Frauen die Fähigkeit abgesprochen, selber eine über-legte Entscheidung zu tre�en - so als ob wir einfach nur hysterisch und impulsiv wären!

Auf der anderen Seite gibt es keinen kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln, dabei wäre Prävention die beste Alternative und außerdem ein Grundrecht!

Auch gibt es keine (sensible) zeitgemäße Sexualerzie-hung, die Sexualität als Teil unserer Identität anerkennt. Das Informieren über sexuell übertragbare Krankheiten und über die biologischen Aspekte des Kinderkriegens hat so gut wie nichts mit Aufklärung zu tun und ist in keinster Weise ausreichend.

Viele, die sich in der Ö�entlichkeit aus Gewissensgrün-den gegen Schwangerschaftsabrüche aussprechen, führen diese aber dann im Geheimen selber durch. Wenn es dar-

UNSER KÖRPER – UNSERE ENTSCHEIDUNG

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SPANISCHER STA AT

58 Inprekorr 02/2014

um geht, Geschäfte zu machen, wird die Moral plötzlich zweitrangig.Das gilt aber natürlich nur für sie selber. Den anderen wird eine absurde Moral aufgezwungen, die alles verteufelt, was nicht zu ihrer beschränkten De�nition von Sexualität, Familie etc. passt.

Abhängigkeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust, Einsparungen bei Bildung und sozialer Unterstützung etc. schränken unsere Rechte in jeder Hinsicht ein. Frauen sind davon jedoch besonders betro�en, da Frauen oft von einer schlechteren Position aus starten und da Frauen in beson-derem Maße die Adressaten von ö�entlichen Leistungen sind.

Das neue Gesetz der PP – eine weitere Umdrehung bei der Abwärtsspirale

Die PP droht damit, die Entscheidung einer Frau, ob sie Mutter werden will oder nicht, wieder zu einem Ver-brechen zu machen. Das neue Gesetz würde schwangere Frauen dazu zwingen, auf jeden Fall Mutter zu werden, z. B. auch wenn nachgewiesen ist, dass sie vergewaltigt wurde. Diejenigen, die dann für einen Abbruch nicht nach London reisen können, gehen ein großes – sogar lebensbe-drohliches – Risiko ein.

Das Gesetz würde Minderjährige wesentlich stärker bevormunden, indem diese zwar für fähig erklärt werden, Mutter zu sein, aber nicht für fähig, sich entscheiden zu können, es nicht zu sein. Im Gegensatz hierzu dürfen sie bei jedem anderen chirurgischen Eingri� schon ent-scheiden. Dieser neue Angri� auf die Rechte von Frauen geschieht nicht isoliert von anderen Maßnahmen, unter denen wir leiden: Einsparungen, Entlassungen und Preka-rität unterliegen derselben Logik. Der Kapitalismus muss unsere Körper kontrollieren, um zu überleben und um die derzeitige Krise überstehen zu können. Er nutzt die schwa-che Position der Frau auf dem Arbeitsmarkt aus, indem er die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse voran treibt und sie dann auf die ganze ArbeiterInnenklasse ausdehnt. Während im ö�entlichen Sektor immer mehr eingespart wird, wird den Frauen immer mehr aufgebürdet – die Versorgung des Haushalts, der Kinder, der Kranken, der Alten …

Die Lebensbedingungen der Frauen und aller werden immer prekärer.

Das neue Gesetz ist nur eine weitere Umdrehung bei dieser Spirale nach unten. Das Recht, selbst zu entscheiden, gehört zu den sozialen, politischen und arbeitsrechtlichen Errungenschaften, die die Gewinnspanne des Kapitals

etwas vermindern. Und genau diese Errungenschaften sollen – zu Gunsten des Kapitals – jetzt abgescha�t werden. Wir, die wir Tag für Tag kämpfen und uns widersetzen und unsere Würde verteidigen, wir wissen, was auf dem Spiel steht. Wir müssen die feministische Forderung nach Selbstbestimmung unterstützen und auf die Straße tragen.

�� Übersetzung: Larissa

TEXT DES AUFRUFS

Sexuelle Aufklärung – damit jedeR selber entscheiden kann!

Freie Verhütungsmittel – damit niemand abtreiben muss!

Legale und kostenfreie Schwangerschaftsabbrüche – damit

niemand sterben muss!

Wir fordern:

Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und über

unsere Sexualität, ohne dass sich Staat oder Kirche einmi-

schen.

Anerkennung unserer Fähigkeit, selber darüber zu entschei-

den, ob und wann wir Mutter sein wollen; ohne Bevormun-

dung, ohne erzwungene Bedenkzeit, egal ob als Minderjähri-

ge oder Volljährige.

Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen: Strei-

chung aus dem Strafgesetzbuch; wir wollen das Recht, über

unseren Körper ohne jegliche Einschränkungen selber ent-

scheiden zu dürfen.Entscheidungsfreiheit ist kein Verbrechen,

sondern ein Recht!

Legale und kostenfreie Schwangerschaftsabbrüche: Fertig-

stellung der Vereinbarungen mit den privaten Kliniken. Für

alle dieMöglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs im öffent-

lichen Gesundheitswesen.

Kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln: in allen

Bildungsstätten,in allen Gesundheitszentren und in allen so-

zialen Einrichtungen

Sexuelle Aufklärung: damit alle – auch jenseits von Hetero-

normierung – ihre Sexualität selbstbestimmt, ohne Risiko und

verantwortungsvoll leben können; die Lust ist keine Sünde.

Selbstbestimmungsrecht bzgl.des Kinderkriegens für alle:

Beseitigung der Einschränkungen für künstliche Befruchtung

für alleinstehende und lesbische Frauen. Es gibt nicht nur ein

Familienmodell!

Verteidigung des Lebens gegenüber Enthaltsamkeit und Un-

sicherheit: Unsere Leben sind mehr Wert als ihre Gewinne!

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Die Internationale

Auf einer Tagung des NaO-Projektes in Berlin stellte sich die Frage, ob es für die

griechische Arbeiterklasse einerlei sei, ob die bürgerliche Koalition um Samaras

oder eine linke Koalition um Tsipras (Syriza) an der Regierung wäre

„BREITE PARTEIEN“ UND DIE MACHTFRAGE IN GESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE

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DIE INTERNATIONALE

60 Inprekorr 02/2014

Auf einer Tagung des NaO-Projektes1 in Berlin im IGM-Haus am 14. Juni 2013 mit dem Titel „Die kom-menden Aufstände in Südeuropa – Was tun?“2 stellte ein Genosse der Gruppe Arbeitermacht die Frage, ob es für die griechische Arbeiterklasse einerlei sei, ob die bürgerliche Koalition um Samaras oder eine linke Koalition um Tsipras (Syriza) an der Regierung wäre. Die Frage war im Sinne eines „Killerargumentes“ rhetorisch gestellt. Der Genosse machte die Einschätzung, dass eine Tsipras-Regierung eher ermöglichen würde, die Angri�e auf die Arbeiterklasse abzuwehren. (Siehe dort nach etwa 2 Stunden 35 Minuten). Die dahinter stehende Wahrnehmung des dringlichen Man-gels eines politischen Instrumentes der Arbeiterklasse deutet auf eine richtige Einschätzung. Aber lässt sich dieser Mangel auf die Schnelle und in erster Linie über Wahlen lösen?

Der Charme, den Syriza seit vier, fünf Jahren auf die europäische radikale Linke ausübt, kann in der verbreite-ten positiven Beantwortung dieser rhetorisch gestellten Frage verortet werden. So auch im Manifest für eine Neue antikapitalistische Organisation, der „Grundlage für das Handeln der NaO“ (Gegen Ende des Manifestes). Dort steht nämlich, in einer Verkennung der zugrundeliegen-den Problematik und Möglichkeiten: „Wo, wie in Grie-chenland, in einer zugespitzten Klassenkampfsituation die Bildung einer Linksregierung möglich werden kann, fordern wir von diesen die Bildung einer Regierung ohne bürgerliche Parteien und Maßnahmen, die einen wirkli-chen Bruch mit dem System einleiten“. Ist dies mehr als die x-te Wiederauferstehung einer über 100-jährigen zent-ristischen Illusion oder bestehen nun – endlich! – reelle

„BREITE PARTEIEN“ UND DIE MACHTFRAGE IN GESCHICHTLICHER

PERSPEKTIVE

In der seit etwa vier bis fünf Jahren andauernden europaweiten Dynamik der Bildung von breiten Parteien spielt meistens Syriza die Rolle eines Modells. Gerade auch bei der Bildung der Neuen antikapitalistischen Organisation

(NaO) in Deutschland. Was ist davon zu halten?

�� Willi Eberle

Die Internat ionale

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DIE INTERNATIONALE

Inprekorr 02/2014 61

Chancen, durch die elektorale Machtergreifung in einem bürgerlichen Staat, vor dem Hintergrund einer darnieder-liegenden internationalen Arbeiterbewegung und einer sich verschärfenden sozialen Krise das Steuer in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive rumzureißen? Was wäre denn diesmal wirklich anders?

Überall entstehen oder entstanden seit den 1990er Jahren Initiativen zur Sammlung der teilweise zersplit-terten radikalen Linken, um den angeblich verwaisten politischen Raum links von der Sozialdemokratie neu zu besiedeln. Meistens gar ohne einen organischen Bezug zu den Segmenten der Arbeiterklasse, die sich in Bewegung gesetzt haben. So in Frankreich, Spanien, Portugal, Däne-mark, Deutschland, Großbritannien; selbst in die poli-tisch ruhige Schweiz gelangte im Vorfeld der nationalen Wahlen von 2011 ein schwacher Ausläufer dieser Welle. Soweit ich sehe, ist die Frage der Regierungsbeteiligung bei all diesen Ansätzen ein heißes Eisen, das bestenfalls be-wusst unklar formuliert wird. Klarheit in dieser Frage der „politischen Wasserscheide“ zwischen Reformismus und einem revolutionären Aufbauprojekt würde diese Projekte einer breiten Linken links von der Sozialdemokratie sofort sprengen. Dies ist eine praktisch-politische Bestätigung der klassischen marxistischen Kritik des bürgerlichen Staates, insbesondere ihrer Einschätzung seiner Klassengrundla-gen.

Dass nun gerade diese Frage innerhalb des NaO-Prozesses nicht klar beantwortet wird, lässt doch eine beträchtliche Skepsis an den Perspektiven dieser Initiative aufkommen. Wird sie, wenn sie überhaupt je eine greifba-re organisationspolitische Dynamik auslösen sollte, einen systematischen Unterschied zu den zentristischen Projek-ten wie etwa Die Linke, an deren Projekt viele Beteiligte des NaO-Prozesses mitarbeiten, darstellen? Zweifel sind angebracht. Gerade in Zeiten verschärfter sozialer Ausein-andersetzungen braucht die Bourgeoisie politische Kräfte, die einen mäßigenden Ein�uss auf die radikalisierten Segmente der Gesellschaft, insbesondere innerhalb der Ar-beiterklasse ausüben – wie eben Die Linke oder wie aller Voraussicht nach Syriza, wie z. B. deren seit dem Sommer 2012 zunehmend demobilisierende Rolle sich erneut beim Streik der Lehrerinnen und Lehrer von Mitte September 2013 zeigte.

Syriza ist selbst ein Produkt der Einschätzung, dass angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der problematischen Rolle der Sozialdemokratie vor allem seit den 1990er Jahren ein solches politisches Vakuum links der Sozialdemokratie bestehen würde, einfach so. Als ob es

ein Naturgesetz gäbe, dem gemäß die politischen Bedürf-nisse der wahlberechtigten Bevölkerung stets auf einem gleichförmigen wahltechnischen Kontinuum aufgereiht wären. Wechselt ein Baustein seine Position, so wird sein Platz frei. Dies ist die explizite Logik etwa von Ken Loach, der im britischen Projekt „Left Unity“ eine wichtige Rolle spielt.

Syriza entstand im Hinblick auf die Wahlen von 2004 um den eurokommunistischen Synaspismos, der lokal übrigens mehrfach in Regierungsverantwortung war bzw. weiterhin ist. Ähnliches gilt für die eng befreundeten AKEL in Zypern und die spanische Izquierda Unida (IU) (1986) um die ebenfalls eurokommunistische PCE, für Rifondazione comunista (1991) in Italien; die mittlerweile im Todeskampf liegende Linksfront (FdG) in Frankreich entstand vor den Europa-Wahlen von 2009 ebenfalls um die KPF und eine linke Abspaltung der PS (Sozialistische Partei). Etwas anders beim Bloco de Esquerda (BE) in Portugal, der auf die Wahlen von 1999 hin unter anderem aus einer maoistischen und einer trotzkistischen Formation gegründet wurde.

Einheit von politischem und sozialem Widerstand

Bei alldem mag eine „politische“ Illusion eine Rolle gespielt haben, vor allem aktuell in den Folgeprojekten zu Syriza, die mit den bislang nahezu erfolglosen großen Massenmobilisierungen von 2009 bis 2012 vorerst an Boden gewannen. Aber die oft angeführte „Antithetik“ zwischen sozialer und politischer Achse des Widerstands hat lediglich einen beschränkten Erklärungswert. Hier herrscht eher eine Dialektik. Die Abwendung der breiten Massen vom Politischen hat weniger mit einer vermehrten Zuwendung zu sozialen Widerstandsformen zu tun als mit dem Abscheu und dem wachsenden Misstrauen gegenüber der institutionellen Politik, gegenüber den Kräften, die diese repräsentieren. Aber politische Intervention bleibt für die Lösung der Probleme der Massen unumgänglich; die groß�ächigen Angri�e auf demokratische Rechte, auf die Arbeits- und Lebensbedingungen und Sozialversicherun-gen, die Liberalisierungen und die Privatisierungen, die Austeritätspolitik, Krieg etc. sind politische Maßnahmen der Bourgeoisie. Das Proletariat muss seiner Natur nach diesen Angri�en etwas entgegensetzen und kommt des-halb nicht um politische Aktionsformen und damit um die Scha�ung unabhängiger politischer Instrumente und einer eigenen politischen Führung herum.

Umgekehrt: Die Massen beginnen selbst in ihr Ge-schick einzugreifen, wenn sie keine andere Möglichkeit

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DIE INTERNATIONALE

62 Inprekorr 02/2014

mehr sehen und die Achse des sozialen Kampfes eine gewisse Aussicht auf Erfolg hat. Dabei werden sie gleich-zeitig eminent politisch. Die Machtfrage stellt sich für sie unmittelbar, wenn sie in den Institutionen nicht gehört werden, oder, was in solchen Situationen häu�g der Fall ist, sich diese gegen sie stellen. Auch hier zeigt sich, dass sie unabhängige politische Instrumente benötigen, mit denen sie ihre Interessen organisieren und vorwärts bringen können. Scheitern die Massen in ihren Kämpfen, fallen sie eher in die alten Pfade und in Lethargie zurück, als dass sie Kräfte wie Syriza oder Die Linke wählen. Da half selbst die Rechtsentwicklung von Syriza und von Die Linke nichts.

„Nützliche Stimmen“ oder „nützliche Idioten“?

Dieses Argument des Genossen von Arbeitermacht taucht immer wieder als Killerargument gegenüber linken Formationen auf. So beispielsweise bei Abstimmungen und Wahlen, wo alle linken Stimmen nun an den aus-sichtsreichsten Kandidaten auf der „Linken“, als nützliche Stimmen, gehen sollten. Linke Kandidaturen links der Sozialdemokratie oder einer aussichtsreichen zentristischen Partei würden nur die Aussichten untergraben, die Abbau-politik zu stoppen. Dieses Szenario hat sich seit mittlerwei-le hundert Jahren als ein fataler Irrweg herausgestellt. Seit den entfesselten neoliberalen Angri�en, je nach Land seit 25 bis 40 Jahren, wurden gerade durch diese Logik soziale und politische Bewegungen abgewürgt und der Wider-stand gegen Angri�e gelähmt. In dieser Logik wurde gegenüber Antarsya, einem antikapitalistischen Bündnis in Griechenland, als dieses bei den nationalen Wahlen 2012 selbständig auftrat, der Vorwurf der Verhinderung einer linken Regierung unter Tsipras erhoben.

Syriza etwa hat sich bereits vor den Wahlen vom Juni 2012 bei den Mobilisierungen gegen die Regierung eher zurückgehalten; der Regierung Samaras wurde daraufhin nur als „loyale“ Opposition, d. h. im Parlament, Wider-stand geleistet. Der traditionelle Weg der Sozialdemokratie eben. Nur ist die Situation in Griechenland von einer Dra-matik, wie sie in Europa seit über 80 Jahren so nie mehr erlebt wurde.

Die Falle der institutionellen Logik

Falls eine solche linke Partei an der Regierung, auch lokal, beteiligt ist – insbesondere die regierende AKEL in Zypern, aber auch Die Linke in Deutschland, verschiedene Komponenten des FdG in Frankreich, Izquierda Unida in Spanien, die rot-grüne Allianz in Dänemark, der Bloco in Portugal, BastA!, die PdA, die AL und solidaritéS in

der Schweiz3, ändert sich nichts Grundsätzliches an der politischen Logik. Auch ihnen bleibt im Rahmen ihrer Konzeption von Politik o�enbar keine andere Wahl, als die Angri�e auf die Renten, Sozialversicherungen, auf die Arbeitsbedingungen und die Demokratie mitzutra-gen und die Privatisierungen und Marktliberalisierun-gen, den Ausbau des Repressionsapparates, die repressive Einwanderungspolitik etc. zumindest in der Regierung weiterzutreiben. Sie arbeiten im Rahmen einer letztend-lich nur parlamentarischen Logik. Die Entwicklung von politischem und sozialem Widerstand ausserhalb dieser „geschützten politischen Werkstatt“ ist nicht organischer Teil von deren praktischer Politik.

Zumindest für die Linke; die Rechte setzt die Instru-mentalisierung der sozialen und politischen Frustration durchaus im Sinne ihres Aufbaus ein, wie die Beispiele der SVP in der Schweiz, der FPÖ in Österreich oder von radikaleren rechten Kräften, etwa des FN in Frankreich, der �ämischen Nationalisten, der Goldenen Morgenröte in Griechenland und anderen zeigen. Aber auch die „norma-len“ bürgerlichen Parteien gehen letztendlich denselben Weg, um ihre Position im Spiel des Politikbetriebs zu halten oder auszubauen. Sie tun dies unter anderem mit der Förderung und dem Ausbau eines nationalistischen bis fremdenfeindlichen Diskurses, der dann auch von der Sozialdemokratie als angeblich unausweichliches Erfolgs-modell übernommen wird.

Selbstermächtigung der Arbeiterklasse sui generis

Solange diese Frage des Genossen von Arbeitermacht nur auf den Augenblick und die politischen Institutionen und Handlungsmöglichkeiten beschränkt bleibt, ist sie meines Erachtens falsch gestellt. Die bald 150-jährige Geschichte der Arbeiterräte ist ein unverzichtbarer Anknüpfungs-punkt, deren Keime in aktuellen Kämpfen jeweils ent-deckt, aufgebaut und gestärkt werden müssen. Eine poli-tische Organisation, die nicht organisch in einem solchen Zusammenhang verankert ist, wird wohl kaum, einmal an den Schalthebeln der Macht, diese nicht im Sinne der herr-schenden Mächte betätigen. Wie gehabt.

Eine Regierung, die die neoliberalen Reformen rückgängig macht, wird nur in einer Periode der Her-ausbildung und Lösung einer Doppelmachtsituation in mehreren wichtigen Staaten an die Macht kommen, und nicht durch einen ganz „normalen“ Wahlgang in einem isolierten Land. Und davon ist selbst die Arbeiterklasse in Griechenland noch weit entfernt. Griechische Genossin-nen und Genossen mögen im Rahmen von RProjekt, der

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DIE INTERNATIONALE

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linken Plattform in Syriza, daran arbeiten, der eher rechten Führung zu starke Konzessionen an die Bourgeoisie zu verwehren. Aber sie kann das nur im Rahmen von ent-sprechenden sozialen und politischen Kräfteverhältnissen. Und diese Wende wird nur möglich sein mit einer generel-len und einigermaßen vorwärtsdrängenden Dynamik der Aneignung gesellschaftlicher und politischer Macht durch die Massen. Eben einer aufsteigenden Doppelmachtsitu-ation, die nach Klärung verlangt. Und eine solche muss schnell und praktisch-politisch entschieden werden. Und genau dazu werden solche breiten Bündnisse, die in den entscheidenden Fragen bestenfalls lavieren und keine relevante Programmdebatte p�egen, nie imstande sein. Syriza arbeitet in einer historischen Situation, die durchaus vor solchen Perspektiven betrachtet werden muss; sie wird aufgrund ihrer Geschichte und ihrer internen Kräftever-hältnisse nie in der Lage sein, diese Aufgabe im revolutio-nären Sinne zu lösen.

Die Frage müsste vielleicht eher lauten: Bringt eine Regierung Samaras oder eine Regierung Tsipras die Ar-beiterklasse eher dazu, die Strukturen der Selbstaktivität zu entwickeln, auszubauen und in der Tiefe der sozialen Fabrik zu verankern? Dies würde die Suche nach prakti-schen politischen Antworten etwas anders gestalten, ande-re Einschätzungen würden in den Vordergrund gerückt. Es scheint mir aber klar, dass auch diese Fragestellung nicht

einfach beantwortet werden kann. Immerhin ist mir kein Beispiel bekannt, wo eine sozialdemokratische Regierung oder Regierungsbeteiligung je diesen unverzichtbaren Prozess der Selbstermächtigung des Proletariats als Klasse angestoßen, vorwärtsgetrieben oder ihr gar zum Sieg verholfen hätte; das Gegenteil würde, wenn überhaupt, eher zutre�en. Angefangen bei der Weimarer Republik. Oder die verschiedenen sozialdemokratischen Regierun-gen nach 1945, oft mit Beteiligung der Kommunisten. Ganz zu schweigen von den düsteren Erfahrungen seit den 1980er Jahren, wo beinahe alle europäischen Staaten über eine kürzere oder längere Periode unter sozialdemokrati-schen Regierungen im Auftrag der Bourgeoisie neolibe-

Bringt eine Regierung Samaras oder eine

Regierung Tsipras die Arbeiterklasse eher dazu, die Strukturen der Selbstaktivität auszubauen?

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DIE INTERNATIONALE

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rale Angri�e auf allen Ebenen führten – meistens in enger Zusammenarbeit mit den Führungen der Gewerkschaften. Dies gilt insbesondere gerade für Deutschland.

Eine ähnliche und besonders tragische Bilanz er-gibt sich, wenn dieselbe Frage mutatis mutandis für die Volksfrontstrategie gestellt wird, wie sie von den kom-munistischen Parteien seit den 1930er Jahren verfolgt wurde. Diese hat beispielsweise die spanische Revolution 1936 und die chilenische Revolution 1973 in eine blutige Katastrophe, die portugiesische Revolution 1974 und die ANC-Regierung in Südafrika in eine perfekte Niederlage getrieben. Also: Irgendetwas scheint doch dran zu sein an der klassischen marxistischen Einschätzung des bürgerli-chen Staates als eines Instruments der Klassenherrschaft.

Wo liegt der Unterschied zum traditionellen Zentrismus?

Weshalb integrieren sich die Genossinnen, Genossen und die Organisationen im NaO-Prozess nicht einfach in Die Linke? Was würde die NaO von dieser unterscheiden, wenn nicht ein kritischeres Verhältnis zum Staat? Eine klare Strategie, dass dieser politische Raum links der Sozialdemokratie nur durch ein politisch-organisatorisches Aufbauprojekt besiedelt werden kann, das sich organisch mit Ansätzen der Selbstorganisierung der Arbeiterklasse entwickelt und sich so zu einem Instrument der politischen Machteroberung für die Arbeiterklasse entwickelt? Dieses Problem kann nur gelöst werden im Zusammenhang mit sozialen Kämpfen – es gibt keine Abkürzung, zumindest ist mir keine bekannt. Leider wird auch im NaO-Prozess verzweifelt nach einer solchen gesucht, auf Kosten der programmatischen Klärung. Wie schon in der Partei Die Linke.

Die neue Debatte um die Besetzung des politischen Raumes links der Sozialdemokratie ist so neu nicht; sie hat die Arbeiterbewegung mindestens seit dem Ersten Weltkrieg ständig begleitet. Die zentristischen Abspaltun-gen von der Sozialdemokratie gingen früher oder später unter oder integrierten sich wieder in diese. Denn in der entscheidenden Frage um die Bedeutung des bürgerlichen Staates steckten sie mit ihr unter einer Decke und wandten sich in entscheidenden Momenten gegen die kämpfenden Segmente der Arbeiterklasse. Die tragische Rolle der III. Internationale ab Mitte der 20er Jahren ist ähnlich gela-gert: sie setzte zunehmend auf die Interessen der regieren-den Clique und deren Staat in der Sowjetunion und gegen die Selbstorganisation der Arbeiterklasse. Was steckt da-hinter? Es muss sich hier wohl um grundsätzliche Defekte

und Problemstellungen handeln, jenseits konjunktureller Dringlichkeiten.

Weshalb sammelt sich die radikale Linke nicht in antikapitalistischen Projekten wie Antarsya?

Dies würde die kämpferischen Sektoren eher zusammen-bringen und vor allem stärken, von Syriza den Schleier der Radikalität, einer radikalen, antikapitalistischen Alter-native nehmen und, in meiner Einschätzung, den Klas-senkampf vom lähmenden Ein�uss der führenden Synas-pismos-Führung und ihrer Nachahmer lösen. Die linke Plattform im Syriza RProjekt hat anlässlich des Kongresses vom Juni in allen wichtigen Fragen zumindest keine Fort-schritte erzielt. Auf dem Terrain mögen die beiden antika-pitalistischen Strömungen – RProjekt und Antarsya – eng zusammenarbeiten; es scheint aber eher unwahrscheinlich, dass dies zu einer organisatorisch-politischen Stärkung der kämpferischen Sektoren der Arbeiterklasse führen wird. Die Plattform RProjekt hat in der entscheidenden Frage der Au�ösung der bisherigen Organisationen eine fatale Niederlage erlitten, die weitreichende Konsequenzen ha-ben wird. Angesichts des Übergewichts der Synaspismos-Strukturen wird sie eine schwierige Zukunft haben, sofern sie in Syriza verbleiben wird. Man denke an das Beispiel von Linksruck, SAV, ISL in Deutschland! Viele von deren Mitgliedern suchen nun im NaO-Projekt Rettung, nach-dem die ursprünglich euphorischen Erwartungen an Die Linke nicht erfüllt worden sind.

Die Arbeiterbewegung muss neu aufgebaut werden. Es ist höchste Zeit dazu! Dies ist die richtige Einsicht, die sich im Verschmelzungsprojekt der NaO und anderen nieder-schlägt. Aber der vorgeschlagene Weg scheint mir weniger von Einsichten in die Lehren aus der Geschichte gezeich-net zu sein, als impressionistisch den längst diskreditierten Wagenfurchen des Zentrismus nachzufahren. Und so die politische Führungskrise der Arbeiterklasse nur noch weiter zuzuspitzen.

Willi Eberle ist Mitglied der Antikapi-talistischen Linken in der Schweiz und lebt in Zürich.

1 http://www.nao-prozess.de/blog/ 2 http://www.youtube.com/watch?v=S49rrA9tSjc 3 BastA!: Basels starke Alternative; PdA: Partei der Arbeit, Schweizer KP; AL: Alternative Liste