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INSEL Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki und Gedichte Geschichten deutschen Die besten

insel taschenbuch Die besten deutschen Geschichten · Im insel taschenbuch sind u.a. ebenfalls erschienen: Die hundert besten deutschen Gedichte des Jahrhunderts (it ), Frauen dich-ten

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Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki

und GedichteGeschichten

deutschen

Die besten

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insel taschenbuch

Die besten deutschen Geschichtenund Gedichte

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Dieser Band vereint erstmals die für den Literaturkritiker MarcelReich-Ranicki bedeutendsten deutschen Geschichten und Gedichte.Die Auswahl reicht vom . bis ins . Jahrhundert, vomMittelalterüber dieWeimarer Klassik bis zur Gegenwart.Versammelt sind darinTexte u.a. von Goethe, Rilke, Wilhelm Hauff, Bertolt Brecht, Hein-rich Böll, Paul Celan und Ingeborg Bachmann – literarische Werke,die unvergessen bleiben und noch heute leuchten wie am ersten Tag.

Marcel Reich-Ranicki wurde am . Juni inWłocławek/Polen ge-boren. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt und galt als einer derbedeutendsten Literaturkritiker Deutschlands. Er starb am . Sep-tember in Frankfurt am Main.

Im insel taschenbuch sind u.a. ebenfalls erschienen: Die hundertbesten deutschen Gedichte des Jahrhunderts (it ), Frauen dich-ten anders (it ), Die schönsten Gedichte von Johann WolfgangGoethe (it ), Die schönsten Gedichte von Rainer Maria Rilke(it ).

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Die bestendeutschen Geschichten

und GedichteAusgewählt von Marcel Reich-Ranicki

Insel Verlag

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Erste Auflage insel taschenbuch

© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagfoto: donatas/rfSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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INHALT

Die Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alphabetisches Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . .

Alphabetisches Verzeichnis der Gedichtanfänge und -über-schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DIE GESCHICHTEN

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JOHANN WOLFGANG GOETHEDIE SÄNGERIN ANTONELLI

Als ich mich in Neapel aufhielt, begegnete daselbst eine Ge-schichte, die großes Aufsehen erregte und worüber die Urteile sehrverschieden waren. Die einen behaupteten, sie sei völlig ersonnen,die andern, sie sei wahr, aber es stecke ein Betrug dahinter. DiesePartei war wieder untereinander selbst uneinig; sie stritten, werdabei betrogen haben könnte. Noch andere behaupteten, es seikeinesweges ausgemacht, daß geistige Naturen nicht sollten aufElemente und Körper wirken können, und man müsse nicht jedewunderbare Begebenheit ausschließlich entweder für Lüge oderTrug erklären. Nun zur Geschichte selbst:

Eine Sängerin, Antonelli genannt, war zu meiner Zeit der Lieb-ling des neapolitanischen Publikums. In der Blüte ihrer Jahre, ihrerFigur, ihrer Talente fehlte ihr nichts, wodurch ein FrauenzimmerdieMenge reizt und lockt und eine kleineAnzahl Freunde entzücktund glücklich macht. Sie war nicht unempfindlich gegen Lob undLiebe; allein, vonNatur mäßig und verständig, wußte sie die Freu-den zu genießen, die beide gewähren, ohne dabei aus der Fassungzu kommen, die ihr in ihrer Lage so nötigwar. Alle jungen, vorneh-men, reichen Leute drängten sich zu ihr, nur wenige nahm sie auf;und wenn sie bei derWahl ihrer Liebhaber meist ihren Augen undihrem Herzen folgte, so zeigte sie doch bei allen kleinen Abenteu-ern einen festen, sichern Charakter, der jeden genauen Beobachterfür sie einnehmen mußte. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Zeit zusehen, indem ich mit einem ihrer Begünstigten in nahem Verhält-nisse stand.

Verschiedene Jahrewarenhingegangen, siehatteMänner genugkennengelernt und unter ihnen viele Gecken, schwache und unzu-verlässige Menschen. Sie glaubte bemerkt zu haben, daß ein Lieb-haber, der in einem gewissen Sinne dem Weibe alles ist, geradeda, wo sie eines Beistandes am nötigsten bedürfte, bei Vorfällendes Lebens, häuslichen Angelegenheiten, bei augenblicklichen Ent-

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schließungen, meistenteils zu nichts wird, wenn er nicht gar sei-ner Geliebten, indem er nur an sich selbst denkt, schadet und ausEigenliebe ihr das Schlimmste zu raten und sie zu den gefährlich-sten Schritten zu verleiten sich gedrungen fühlt.

Bei ihren bisherigen Verbindungen war ihr Geist meistenteilsunbeschäftigt geblieben; auch dieser verlangte Nahrung. Sie wollteendlich einen Freund haben, und kaum hatte sie dieses Bedürfnisgefühlt, so fand sich unter denen, die sich ihr zu nähern suchten,ein junger Mann, auf den sie ihr Zutrauen warf und der es in je-dem Sinne zu verdienen schien.

Es war ein Genueser, der sich um diese Zeit, einiger wichtigerGeschäfte seines Hauses wegen, in Neapel aufhielt. Bei einem sehrglücklichen Naturell hatte er die sorgfältigste Erziehung genos-sen. Seine Kenntnisse waren ausgebreitet, sein Geist wie sein Kör-per vollkommen ausgebildet, sein Betragen konnte für ein Mustergelten, wie einer, der sich keinen Augenblick vergißt, sich dochimmer in andern zu vergessen scheint. Der Handelsgeist seiner Ge-burtsstadt ruhete auf ihm; er sah das, was zu tun war, im großenan. Doch war seine Lage nicht die glücklichste; sein Haus hattesich in einige höchst mißliche Spekulationen eingelassen und warin gefährliche Prozesse verwickelt. Die Angelegenheiten verwirr-ten sich mit der Zeit noch mehr, und die Sorge, die er darüberempfand, gab ihm einen Anstrich von Traurigkeit, der ihm sehrwohl anstand und der unserm jungen Frauenzimmer noch mehrMut machte, seine Freundschaft zu suchen, weil sie zu fühlenglaubte, daß er selbst einer Freundin bedürfe.

Er hatte sie bisher nur anöffentlichenOrtenundbeiGelegenheitgesehen; sie vergönnte ihm nunmehr auf seine erste Anfrage denZutritt in ihrem Hause, ja sie lud ihn recht dringend ein, und erverfehlte nicht zu kommen.

Sie versäumte keineZeit, ihm ihrZutrauen und ihrenWunsch zuentdecken. Er war verwundert und erfreut über ihren Antrag. Siebat ihn inständig, ihr Freund zu bleiben und keine Anforderun-gen eines Liebhabers zu machen. Sie eröffnete ihm eine Verlegen-heit, in der sie sich eben befand und worüber er bei seinen man-

Johann Wolfgang Goethe

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cherlei Verhältnissen den besten Rat geben und die schleunigsteEinleitung zu ihrem Vorteil machen konnte. Er vertraute ihr dage-gen seine Lage, und indem sie ihn zu erheitern und zu tröstenwußte, indem sich in ihrer Gegenwart manches entwickelte, wassonst bei ihm nicht so früh erwacht wäre, schien sie auch seineRatgeberin zu sein, und eine wechselseitige, auf die edelste Ach-tung, auf das schönste Bedürfnis gegründete Freundschaft hattesich in kurzem zwischen ihnen befestigt.

Nur leider überlegt man bei Bedingungen, die man eingeht,nicht immer, ob siemöglich sind. Er hatte versprochen, nur Freundzu sein, keine Ansprüche auf die Stelle eines Liebhabers zumachen,und doch konnte er sich nicht leugnen, daß ihm die von ihr begün-stigtenLiebhaberüberall imWege, höchst zuwider, ja ganzundgarunerträglich waren. Besonders fiel es ihm höchst schmerzlich auf,wenn ihn seine Freundin von den guten und bösen Eigenschafteneines solchen Mannes oft launig unterhielt, alle Fehler des Begün-stigten genau zu kennen schien und doch noch vielleicht selbigenAbend, gleichsam zum Spott des wertgeschätzten Freundes, inden Armen eines Unwürdigen ausruhte.

Glücklicher- oder unglücklicherweise geschah es bald, daß dasHerz der Schönen frei wurde. Ihr Freund bemerkte es mit Ver-gnügen und suchte ihr vorzustellen, daß der erledigte Platz ihmvor allen andern gebühre. Nicht ohne Widerstand und Widerwil-len gab sie seinen Wünschen Gehör. »Ich fürchte«, sagte sie, »daßich über diese Nachgiebigkeit das Schätzbarste auf derWelt, einenFreund, verliere.« Sie hatte richtig geweissagt; denn kaum hatteer eine Zeitlang in seiner doppelten Eigenschaft bei ihr gegolten,so fingen seine Launen an, beschwerlicher zu werden; als Freundforderte er ihre ganze Achtung, als Liebhaber ihre ganze Neigungund als ein verständiger und angenehmerMann unausgesetzte Un-terhaltung. Dies aber war keinesweges nach dem Sinne des lebhaf-ten Mädchens; sie konnte sich in keine Aufopferung finden undhatte nicht Lust, irgend jemand ausschließliche Rechte zuzugeste-hen. Sie suchte daher auf eine zarte Weise seine Besuche nach undnach zu verringern, ihn seltner zu sehen und ihn fühlen zu lassen,daß sie um keinen Preis der Welt ihre Freiheit weggebe.

Die Sängerin Antonelli

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Sobald er es merkte, fühlte er sich vom größten Unglück betrof-fen, und leider befiel ihn dieses Unheil nicht allein: seine häuslichenAngelegenheiten fingen an, äußerst schlimm zu werden. Er hattesich dabei den Vorwurf zu machen, daß er von früher Jugend ansein Vermögen als eine unerschöpfliche Quelle angesehen, daß erseine Handelsangelegenheiten versäumt, um auf Reisen und in dergroßenWelt eine vornehmere und reichere Figur zu spielen, als ihmseine Geburt und sein Einkommen gestatteten. Die Prozesse, aufdie er seine Hoffnung setzte, gingen langsam und waren kostspie-lig. Ermußte deshalb einigemal nach Palermo, undwährend seinerletzten Reise machte das klugeMädchen verschiedene Einrichtun-gen, um ihrer Haushaltung eine andere Wendung zu geben undihn nach und nach von sich zu entfernen. Er kam zurück und fandsie in einer andern Wohnung, entfernt von der seinigen, und sahden Marchese von S., der damals auf die öffentlichen Lustbarkei-ten und Schauspiele großen Einfluß hatte, vertraulich bei ihr ausund eingehen. Dies überwältigte ihn, und er fiel in eine schwereKrankheit. Als die Nachricht davon zu seiner Freundin gelangte,eilte sie zu ihm, sorgte für ihn, richtete seine Aufwartung ein, undals ihr nicht verborgen blieb, daß seine Kasse nicht zum bestenbestellt war, ließ sie eine ansehnliche Summe zurück, die hinrei-chend war, ihn auf einige Zeit zu beruhigen.

Durch die Anmaßung, ihre Freiheit einzuschränken, hatte derFreund schon viel in ihren Augen verloren; wie ihre Neigung zuihm abnahm, hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn zugenommen;endlich hatte die Entdeckung, daß er in seinen eigenen Angelegen-heiten so unklug gehandelt habe, ihr nicht die günstigsten Begriffevon seinem Verstande und seinem Charakter gegeben. Indessenbemerkte er die große Veränderung nicht, die in ihr vorgegangenwar; vielmehr schien ihre Sorgfalt für seine Genesung, die Treue,womit sie halbe Tage lang an seinem Lager aushielt, mehr ein Zei-chen ihrer Freundschaft und Liebe als ihres Mitleids zu sein, under hoffte, nach seiner Genesung in alle Rechte wieder eingesetzt zuwerden.

Wie sehr irrte er sich! In demMaße, wie seine Gesundheit wie-

Johann Wolfgang Goethe

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derkam und seine Kräfte sich erneuerten, verschwand bei ihr jedeArt von Neigung und Zutrauen, ja er schien ihr so lästig, als er ihrsonst angenehm gewesen war. Auch war seine Laune, ohne daßer es selbst bemerkte, während dieser Begebenheiten höchst bitterund verdrießlich geworden; alle Schuld, die er an seinem Schicksalhaben konnte, warf er auf andere und wußte sich in allem völligzu rechtfertigen. Er sah in sich nur einen unschuldig verfolgten,gekränkten, betrübten Mann und hoffte völlige Entschädigungalles Übels und aller Leiden von einer vollkommenen Ergebenheitseiner Geliebten.

Mit diesen Anforderungen trat er gleich in den ersten Tagenhervor, als er wieder ausgehen und sie besuchen konnte. Er ver-langte nichts weniger, als daß sie sich ihm ganz ergeben, ihreübrigen Freunde und Bekannten verabschieden, das Theater ver-lassen und ganz allein mit ihm und für ihn leben sollte. Sie zeigteihm die Unmöglichkeit, seine Forderungen zu bewilligen, erst aufeine scherzhafte, dann auf eine ernsthafte Weise und war leiderendlich genötigt, ihm die traurige Wahrheit, daß ihr Verhältnisgänzlich vernichtet sei, zu gestehen. Er verließ sie und sah sie nichtwieder.

Er lebte noch einige Jahre in einem sehr eingeschränkten Kreiseoder vielmehr bloß in der Gesellschaft einer alten, frommen Dame,die mit ihm in einemHause wohnte und sich von wenigen Rentenerhielt. In dieser Zeit gewann er den einen Prozeß und bald dar-auf den andern; allein seine Gesundheit war untergraben und dasGlück seines Lebens verloren. Bei einem geringen Anlaß fiel erabermals in eine schwere Krankheit; der Arzt kündigte ihm denTod an. Er vernahm sein Urteil ohneWiderwillen, nurwünschte erseine schöne Freundin noch einmal zu sehen. Er schickte seinenBedienten zu ihr, der sonst in glücklichern Zeiten manche gün-stige Antwort gebracht hatte. Er ließ sie bitten; sie schlug es ab. Erschickte zum zweitenmal und ließ sie beschwören; sie beharrteauf ihrem Sinne. Endlich, es war schon tief in derNacht, sendete erzum drittenmal; sie ward bewegt und vertraute mir ihre Verlegen-heit, denn ich war eben mit dem Marchese und einigen andern

Die Sängerin Antonelli

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Freunden bei ihr zum Abendessen. Ich riet ihr und bat sie, demFreunde den letzten Liebesdienst zu erzeigen; sie schien unent-schlossen, aber nach einigem Nachdenken nahm sie sich zusam-men. Sie schickte den Bedienten mit einer abschläglichen Antwortweg, und er kam nicht wieder.

Wir saßen nachTische in einemvertrautenGespräch undwarenalle heiter und gutes Muts. Es war gegen Mitternacht, als sich aufeinmal eine klägliche, durchdringende, ängstliche und lange nach-tönende Stimme hören ließ.Wir fuhren zusammen, sahen einanderan und sahen uns um, was aus diesem Abenteuer werden sollte.Die Stimme schien an den Wänden zu verklingen, wie sie aus derMitte des Zimmers hervorgedrungenwar. DerMarchese stand aufund sprang ans Fenster, und wir andern bemühten uns um dieSchöne, welche ohnmächtig dalag. Sie kam erst langsam zu sichselbst. Der eifersüchtige und heftige Italiener sah kaum ihre wie-der aufgeschlagenen Augen, als er ihr bittre Vorwürfe machte.»Wenn Sie mit Ihren Freunden Zeichen verabreden«, sagte er, »solassen Sie doch solche weniger auffallend und heftig sein.« Sie ant-wortete ihm mit ihrer gewöhnlichen Gegenwart des Geistes, daß,da sie jedermann und zu jeder Zeit bei sich zu sehen das Rechthabe, sie wohl schwerlich solche traurige und schreckliche Tönezur Vorbereitung angenehmer Stunden wählen würde.

Und gewiß, der Ton hatte etwas unglaublich Schreckhaftes.Seine langen nachdröhnenden Schwingungen waren uns allen indenOhren, ja in denGliedern geblieben. Siewar blaß, entstellt undimmer der Ohnmacht nahe; wir mußten die halbe Nacht bei ihrbleiben. Es ließ sich nichts weiter hören. Die andre Nacht dieselbeGesellschaft, nicht so heiter als tags vorher, aber doch gefaßt ge-nug, und – um dieselbige Zeit derselbe gewaltsame, fürchterlicheTon.

Wir hatten indessen über die Art des Schreies und wo er her-kommen möchte unzählige Urteile gefällt und unsre Vermutungenerschöpft.Was soll ich weitläuftig sein? Sooft sie zuHause aß, ließer sich um dieselbige Zeit vernehmen, und zwar, wie man bemer-ken wollte, manchmal stärker, manchmal schwächer. Ganz Nea-

Johann Wolfgang Goethe

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pel sprach von diesemVorfall. Alle Leute des Hauses, alle Freundeund Bekannten nahmen den lebhaftesten Teil daran, ja die Polizeiward aufgerufen. Man stellte Spione und Beobachter aus. Denenauf der Gasse schien der Klang aus der freien Luft zu entspringen,und in dem Zimmer hörte man ihn gleichfalls ganz in unmittelba-rer Nähe. Sooft sie auswärts aß, vernahm man nichts; sooft sie zuHause war, ließ sich der Ton hören.

Aber auch außer dem Hause blieb sie nicht ganz von diesembösen Begleiter verschont. Ihre Anmut hatte ihr den Zutritt in dieersten Häuser geöffnet. Sie war als eine gute Gesellschafterin über-all willkommen, und sie hatte sich, um dem bösen Gaste zu entge-hen, angewöhnt, die Abende außer dem Hause zu sein.

EinMann, durch seinAlter und seine Stelle ehrwürdig, führte sieeines Abends in seinemWagen nach Hause. Als sie vor ihrer Türevon ihm Abschied nimmt, entsteht der Klang zwischen ihnen bei-den, undman hebt diesenMann, der so gutwie tausend andere dieGeschichte wußte, mehr tot als lebendig in seinen Wagen.

Ein andermal fährt ein jungerTenor, den siewohl leidenkonnte,mit ihr abends durch die Stadt, eine Freundin zu besuchen. Er hattevon diesem seltsamen Phänomenon reden hören und zweifelte alsein muntrer Knabe an einem solchen Wunder. Sie sprachen vonder Begebenheit. »Ich wünschte doch auch«, sagte er, »die StimmeIhres unsichtbaren Begleiters zu hören: rufen Sie ihn doch auf,wir sind ja zu Zweien und werden uns nicht fürchten!« Leichtsinnoder Kühnheit, ich weiß nicht, was sie vermochte, genug, sie ruftdem Geiste, und in dem Augenblicke entsteht mitten im Wagender schmetternde Ton, läßt sich dreimal schnell hinter einandergewaltsam hören und verschwindet mit einem bänglichen Nach-klang.Vor demHause ihrer Freundin fandman beide ohnmächtigim Wagen, nur mit Mühe brachte man sie wieder zu sich und ver-nahm, was ihnen begegnet sei.

Die Schöne brauchte einige Zeit, sich zu erholen. Dieser immererneuerte Schrecken griff ihre Gesundheit an, und das klingendeGespenst schien ihr einige Frist zu verstatten, ja sie hoffte sogar,weil es sich lange nicht wieder hören ließ, endlich völlig davonbefreit zu sein. Allein diese Hoffnung war zu frühzeitig.

Die Sängerin Antonelli

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Nach geendigtem Karneval unternahm sie mit einer Freundinund einem Kammermädchen eine kleine Lustreise. Sie wollte einenBesuch auf dem Lande machen; es war Nacht, ehe sie ihren Wegvollenden konnten, und da noch am Fuhrwerke etwas zerbrach,mußten sie in einem schlechten Wirtshaus übernachten und sichso gut als möglich einrichten.

Schon hatte die Freundin sich niedergelegt, und das Kammer-mädchen, nachdem sie das Nachtlicht angezündet hatte, wollteeben zu ihrer Gebieterin ins andre Bette steigen, als diese scherzendzu ihr sagte: »Wir sind hier am Ende der Welt, und das Wetter istabscheulich; sollte er uns wohl hier finden können?« Im Augen-blick ließ er sich hören, stärker und fürchterlicher als jemals. DieFreundin glaubte nicht anders, als dieHölle sei imZimmer, sprangaus dem Bette, lief, wie sie war, die Treppe hinunter und rief dasganze Haus zusammen. Niemand tat diese Nacht ein Auge zu. Al-lein es war auch das letztemal, daß sich der Ton hören ließ, nurhatte leider der ungebetene Gast bald eine andere, lästigere Weise,seine Gegenwart anzuzeigen.

Einige Zeit hatte er Ruhe gehalten, als auf einmal abends zurgewöhnlichen Stunde, da sie mit ihrer Gesellschaft zu Tische saß,ein Schuß, wie aus einer Flinte oder stark geladenen Pistole, zumFenster herein fiel. Alle hörten den Knall, alle sahen das Feuer,aber bei näherer Untersuchung fand man die Scheibe ohne diemindeste Verletzung. Demohngeachtet nahm die Gesellschaft denVorfall sehr ernsthaft, und alle glaubten, daß man der Schönennach dem Leben stehe. Man eilt nach der Polizei, man untersuchtdie benachbarten Häuser, und da man nichts Verdächtiges findet,stellt man darin den andern Tag Schildwachen von oben bis unten.Man durchsucht genau das Haus, worin sie wohnt, man verteiltSpione auf der Straße.

Alle diese Vorsicht war vergebens. DreiMonate hintereinanderfiel in demselbigen Augenblicke der Schuß durch dieselbe Fenster-scheibe, ohne das Glas zu verletzen und, was merkwürdig war,immer genau eine Stunde vorMitternacht, da doch gewöhnlich inNeapel nach der italienischen Uhr gezählt wird und Mitternachtdaselbst eigentlich keine Epoche macht.

Johann Wolfgang Goethe

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Man gewöhnte sich endlich an diese Erscheinung wie an die vo-rige und rechnete demGeiste seine unschädliche Tücke nicht hochan.Der Schuß fiel manchmal, ohne dieGesellschaft zu erschreckenoder sie in ihrem Gespräch zu unterbrechen.

Eines Abends, nach einem sehr warmen Tage, öffnete dieSchöne, ohne an die Stunde zu denken, das bewußte Fenster undtrat mit dem Marchese auf den Balkon. Kaum standen sie einigeMinuten draußen, als der Schuß zwischen ihnen beiden durch fielund sie mit Gewalt rückwärts in das Zimmer schleuderte, wosie ohnmächtig auf den Boden taumelten. Als sie sich wieder erholthatten, fühlte er auf der linken, sie aber auf der rechtenWange denSchmerz einer tüchtigen Ohrfeige, und da man sich weiter nichtverletzt fand, gab der Vorfall zu mancherlei scherzhaften Bemer-kungen Anlaß.

Von der Zeit an ließ sich dieser Schall im Hause nicht wiederhören, und sie glaubte nun endlich ganz von ihrem unsichtbarenVerfolger befreit zu sein, als auf einemWege, den sie des Abends zueiner Freundin machte, ein unvermutetes Abenteuer sie nochmalsauf das gewaltsamste erschreckte. Ihr Weg ging durch die Chiaia,wo ehemals der geliebte genuesische Freund gewohnt hatte. Eswar heller Mondschein. Eine Dame, die bei ihr saß, fragte: »Istdas nicht das Haus, in welchem der Herr* gestorben ist?« – »Esist eins von diesen beiden, so viel ich weiß«, sagte die Schöne, undin demAugenblicke fiel aus einem dieser beidenHäuser der Schußund drang durch denWagen durch. Der Kutscher glaubt angegrif-fen zu sein, und fuhrmit aller möglichenGeschwindigkeit fort. AndemOrte ihrer Bestimmung hubman die beiden Frauen für tot ausdem Wagen.

Aber dieser Schrecken war auch der letzte. Der unsichtbare Be-gleiter änderte seine Methode, und nach einigen Abenden erklangvor ihren Fenstern ein lautes Händeklatschen. Sie war als beliebteSängerin und Schauspielerin diesen Schall schon mehr gewohnt.Er hatte an sich nichts Schreckliches, und man konnte ihn ehereinem ihrer Bewunderer zuschreiben. Sie gab wenig darauf acht.Ihre Freunde waren aufmerksamer und stellten wie das vorigemal

Die Sängerin Antonelli

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Posten aus. Sie hörten den Schall, sahen aber vor wie nach nie-mand, und die meisten hofften nun bald auf ein völliges Endedieser Erscheinungen.

Nach einiger Zeit verlor sich auch dieser Klang und verwan-delte sich in angenehmere Töne. Sie waren zwar nicht eigentlichmelodisch, aber unglaublich angenehm und lieblich. Sie schienenden genauesten Beobachtern von der Ecke einer Querstraße her zukommen, im leeren Luftraume bis unter das Fenster hinzuschwe-ben und dann dort auf das Sanfteste zu verklingen. Es war, alswenn ein himmlischer Geist durch ein schönes Präludium auf-merksam auf eineMelodiemachenwollte, die er eben vorzutragenim Begriff sei. Auch dieser Ton verschwand endlich und ließ sichnicht mehr hören, nachdem die ganze wunderbare Geschichteetwa anderthalb Jahre gedauert hatte.

Als der Erzähler einen Augenblick innehielt, fing die Gesellschaftan, ihre Gedanken und Zweifel über diese Geschichte zu äußern,ob sie wahr sei, ob sie auch wahr sein könne?

Der Alte behauptete, sie müsse wahr sein, wenn sie interessantsein solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Ver-dienst. Jemand bemerkte darauf, es scheine sonderbar, daß mansich nicht nach dem abgeschiedenen Freunde und nach den Um-ständen seines Todes erkundigt, weil doch daraus vielleicht einigeszur Aufklärung der Geschichte hätte genommen werden können.

»Auch dieses ist geschehen«, versetzte der Alte: »ich war selbstneugierig genug, sogleich nach der ersten Erscheinung in seinHaus zu gehen und unter einem Vorwand die Dame zu besuchen,welche zuletzt recht mütterlich für ihn gesorgt hatte. Sie erzähltemir, daß ihr Freund eine unglaubliche Leidenschaft für das Frauen-zimmer gehegt habe, daß er die letzte Zeit seines Lebens fast alleinvon ihr gesprochen und sie bald als einen Engel, bald als einenTeufel vorgestellt habe.

Als seine Krankheit überhand genommen, habe er nichts ge-wünscht, als sie vor seinem Ende noch einmal zu sehen, wahr-scheinlich in der Hoffnung, nur noch eine zärtliche Äußerung,

Johann Wolfgang Goethe

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eine Reue oder sonst irgendein Zeichen der Liebe und Freund-schaft von ihr zu erzwingen. Desto schrecklicher sei ihm ihreanhaltende Weigerung gewesen, und sichtbar habe die letzte, ent-scheidende abschlägliche Antwort sein Ende beschleunigt. Ver-zweiflend habe er ausgerufen: ›Nein, es soll ihr nichts helfen! Sievermeidet mich; aber auch nach meinem Tode soll sie keine Ruhevormir haben.‹Mit dieser Heftigkeit verschied er, und nur zu sehrmußten wir erfahren, daß man auch jenseits des Grabes Worthalten könne.«

Die Sängerin Antonelli