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Leseprobe Schopenhauer, Arthur Die hohe Kunst der Kränkung Ausgewählt von Michael Fleiter © Insel Verlag insel taschenbuch 3486 978-3-458-35186-3 Insel Verlag

Insel Verlag · Arthur Schopenhauer Die hohe Kunst der Krnkung Ausgewhlt und mit einem Vorwort versehen von Michael Fleiter Insel Verlag. Umschlagabbildung: Zeichnung (o.J.) Wilhelm

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Page 1: Insel Verlag · Arthur Schopenhauer Die hohe Kunst der Krnkung Ausgewhlt und mit einem Vorwort versehen von Michael Fleiter Insel Verlag. Umschlagabbildung: Zeichnung (o.J.) Wilhelm

Leseprobe

Schopenhauer, Arthur

Die hohe Kunst der Kränkung

Ausgewählt von Michael Fleiter

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3486

978-3-458-35186-3

Insel Verlag

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»Soll ich das etwa sein?« mag sich mancher Leser fragen, der von Scho-

penhauer Auskunft zum Thema Mensch erh�lt.

Die Herkunft des Menschen vom Affen legt f�r den Philosophen die

Vermutung nahe, daß es sich bei den Tierkreisen in Wahrheit um Fami-

lienwappen handelt: Der vielgepriesene Intellekt �bernimmt die Funk-

tion tierischer Klauen, und die freie Entscheidung wird vom bewußtlo-

sen Willen entmachtet und durch die nat�rlichen Gesetzm�ßigkeiten

des Leibes geleitet.

Auch im Hinblick auf Demokratie, historischen und technischen Fort-

schritt, Frauen, Nationalstolz und anderes mehr treibt der Philosoph da-

malige und heutige Zeitgenossen mit philosophischer Florettkunst in die

Enge und l�ßt dabei auch manchen Sauhieb nicht aus. Dabei verbl�fft

am meisten, daß er auch die attackiert, die ihm zustimmen und das er-

n�chternde Menschenbild f�r ein letztes Wort nehmen: Ihnen gegen�ber

verficht er vehement die Mçglichkeit individueller Vervollkommnung.

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insel taschenbuch 3486Arthur Schopenhauer

Die hohe Kunst der Kr�nkung

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Arthur SchopenhauerDie hohe Kunst der Kr�nkung

Ausgew�hlt und mit einem Vorwort versehenvon Michael Fleiter

Insel Verlag

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Umschlagabbildung: Zeichnung (o. J.) Wilhelm Busch. � bpk

insel taschenbuch 3486OriginalausgabeErste Auflage 2010

� Insel Verlag Berlin 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung, des çffentlichenVortrags sowie der �bertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch ein-

zelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilmoder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reprodu-

ziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielf�ltigtoder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagSatz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyISBN 978-3-458-35186-3

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Inhalt

Vorwort 9

Dominanz des Willens 21

Der D�mon Egoismus 26

Unheilvolle Analogie 31

Menschentier 35

Getrieben 49

Hinter dem Ich 61

Zwischen Dummheit und Stolz 72

Hçlle im Diesseits 86

Feine Gesellschaft 97

Durchkreuzte Pl�ne 119

Den Pessimisten zum Trotz 128

Zitatnachweise 140

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Vorwort

Wie kaum ein anderer Philosoph ruft Arthur Schopenhauermit seinem Werk bei den Lesern widerspr�chliche Reaktionenhervor. Neugier und Aufnahmebereitschaft werden nicht – wieh�ufig der Fall bei philosophischen Texten – durch kompli-zierte Fachbegriffe und schwer nachvollziehbare Abstraktionenauf die Probe gestellt, im Gegenteil: Anschauliche Darstellun-gen, Bilder und Gleichnisse machen den Gedankengang auchf�r den philosophischen Laien leicht verstehbar und die Lek-t�re zu einem Genuß. Einzelne Sentenzen von faszinierenderTreffsicherheit und �berraschender Doppelbçdigkeit tragendazu bei, daß der Philosoph unter Menschenbeobachtern undAphoristikern aller L�nder und Zeiten einen Ehrenplatz ein-nimmt. W�hrend die Form begeistert, lçst jedoch die Gesamt-aussage des Werks in den meisten F�llen eine gegenteilige Wir-kung aus. Nicht ohne Grund, denn was Schopenhauer denLesern an verstçrenden Einsichten zumutet, ist schwer zu ver-kraften: die konsequente Demontage eines gef�lligen und derEigenliebe schmeichelnden Wertekanons; die Zerstçrung be-ruhigender Sicherheiten, die einen guten Schlaf garantieren.Es sind S�tze, die jeden, der sich Schopenhauers Anschauun-gen çffnet, ins Mark treffen. Diese Widerspr�chlichkeit hatJean Paul, einer der fr�hesten Bewunderer des Philosophen,in ein schçnes Bild gefaßt, das der Zustimmung die Verweige-rung auf dem Fuße folgen l�ßt: »Schopenhauers Werk als Vor-stellung und Wille, – ein genial-philosophisches, k�hnes, viel-seitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn, aber oft mit einertrostlosen, bodenlosen Tiefe – vergleichbar dem melancholi-schen See in Norwegen, auf dem man in seinen finstern Ring-

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mauern von steilen Felsen nie die Sonne, sondern in der Tiefenur den gestirnten Taghimmel erblickt, �ber welchen kein Vo-gel und keine Wolke zieht. Zum Gl�ck kann ich das Werk nurloben, nicht unterschreiben.«1 So ist es kein Wunder, daß esf�r die B�cher Schopenhauers im vernunft- und fortschritts-gl�ubigen 19. Jahrhundert – zumindest bis zur gescheiterten48er Revolution – so gut wie keine Nachfrage gab und derPhilosoph von sich sagte, er sei den Zeitgenossen fremd wieder »Mann im Mond«.Die vorliegende Zitatauswahl konzentriert sich auf die fa-cettenreiche Anthropologie Schopenhauers, die im Zentrumseines Denkens steht. Da der »Wille zum Leben« dem Men-schen ausschließlich in eigener, innerer Erfahrung zug�nglichist, bildet dieser den Mittelpunkt eines weitverzweigten Ge-dankengeb�udes. Ausgehend vom metaphysisch aufgefaßtenMenschen f�hrt die Philosophie in die Bereiche Natur und Ge-schichte, Staat und Gesellschaft, Kunst und Ethik. Die Scho-penhauersche Anthropologie çffnet so das Tor zum Verst�nd-nis eines breit angelegten Werks, das auch den heutigen Lesermit seinen anschaulichen Beobachtungen und nachvollzieh-baren R�ckschl�ssen erschrecken l�ßt – und �berrascht.

Dominanz des WillensDer Reigen der Zumutungen beginnt mit einer Revolutiondes tradierten menschlichen Selbstbildes. Schopenhauer brichtradikal mit der abendl�ndischen Auffassung, der zufolge dieSeele oder die Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht.Er etabliert den Willen als die den Menschen bestimmende

1 Kleine B�cherschau, Nachschule zur �sthetischen Vorschule: Jubilate-

Vorlesung; Bd. 2, S. 203, 1. Ausgabe 1825

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Grçße. Hier ist eine begriffliche Klarstellung nçtig: »Wille« istnicht mit bewußtem Wollen gleichzusetzen, sondern ist als»blinder Wille« zu verstehen, als vorbewußtes Streben nachLeben und Selbsterhaltung. Schopenhauer belegt diese f�r sei-ne Philosophie zentrale Aussage mit einer F�lle anschaulicherBeispiele, u. a. mit dem der Todesfurcht. Sie bringt zum Aus-druck, was den Menschen im Innersten bewegt; wenig sp�rbarim normalen Leben, daf�r aber um so heftiger – und aufschluß-reich – in Extremsituationen. Hinsichtlich der Herabsetzungder Vernunft sieht Schopenhauer sich von der medizinischenNaturwissenschaft seiner Zeit best�tigt, die den Intellekt alsTeil der somatischen T�tigkeit des Gehirns auffaßt. Denkenist organisch bestimmt und dient dem Willen als Instrument.Hieraus ergibt sich eine Neudefinition des Menschen, die auchdie moderne neurophysiologische Hirnforschung besch�ftigt.

D�mon EgoismusHaupts�chliches Merkmal des Willens ist der Egoismus. Erstellt keine Abirrung von einer an sich guten menschlichen Na-tur dar, sondern ist mit dem individuellen Willen zum Lebenessentiell verkn�pft. Dadurch wird der Unterschied zwischen»Guten« und »Bçsen« geringer, als man wahrhaben mçchte.Wer sich �ber letztere ausschließlich moralisch empçrt, �ber-sieht naiv, daß es �hnlichkeiten gibt zwischen der eigenenPerson und der personifizierten Unmoral: �bereinstimmun-gen, die man nur ungern dem Selbstbild hinzuf�gen mçchte.Wegen des dominierenden Egoismus ist Schopenhauer der�berzeugung, daß ein starker Staat die Menschen im Zaumhalten muß. Doch Bef�rworter einer reaktion�ren Staatsideo-logie, die in ihm einen philosophischen Gew�hrsmann sehenmçchten, werden entt�uscht. Der Staat ist selbst nur eine In-

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stitution des »aufsummierten Egoismus« und gilt Schopen-hauer angesichts der berechtigten Furcht vor einem die Macht�bernommen habenden und außer Kontrolle geratenen Pçbellediglich als notwendiges �bel.

Unheilvolle AnalogieIn einem Analogieschluß �bertr�gt Schopenhauer den im In-neren wahrnehmbaren »Willen zum Leben« auf die gesamte,auch die anorganische Natur und verleiht ihr dadurch dyna-misch-vitalistische Z�ge. Mit dem Willen zum Leben passiertauch der Egoismus als dessen hervorstechendes Merkmal dieGrenze zur außermenschlichen Natur. Seine Wirksamkeit er-streckt sich auf alles Seiende, vom Konkurrenzkampf der klein-sten Lebewesen auf Erden bis hin zum Kr�ftespiel der Sonnenund Planeten im Universum. Harmonie und Friede als Cha-rakteristika der Natur sind aus dem Kanon mçglicher Zuschrei-bungen verbannt. Vorherrschend ist die Macht des egoistischenWillens, dessen vereinzelte Gestalten sich auf Kosten der an-deren mçrderisch zu erhalten suchen. Das DeutungsmusterMensch verwandelt das Geschehen der Natur in einen Prozeßsinnloser Selbstzerfleischung des einen Willens, der allem zu-grunde liegt.

MenschentierNoch vor Darwin leitet Schopenhauer die Herkunft des Men-schen vom Tier her. Die N�he von Mensch und Tier ist einNovum in der Geschichte der abendl�ndischen Philosophieund f�r viele Menschen damals wie heute mit Ablehnung undFurcht besetzt. Die nahe Verwandtschaft resultiert nicht nuraus der bloßen genealogischen Verbindung, sondern sie kommtauch durch eine Aufwertung der Tiere zustande. Schopen-

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hauer, Tierfreund und -beobachter sowie ausgezeichneter Ken-ner der wissenschaftlichen Tierstudien seiner Zeit, begreiftTiere als Verstandeswesen, die mit dem Menschen emotionaleGrundeigenschaften gemein haben. Dieser Umstand wird –wie abwertende Bezeichnungen f�r T�tigkeiten und Verhal-tensweisen von Tieren verraten – allzu gern geleugnet. WennSchopenhauer andererseits die Vernunft als das den Menschenvom Tier unterscheidende Merkmal hervorhebt, ist damit imHinblick auf eine Sonderstellung des Menschen in der Naturnicht nur Positives gewonnen. Begriffliches Denken gestattetdem instinktarmen Menschen zwar weitsichtiges Planen undHandeln, es bef�higt ihn aber auch – dank der Abstraktheit –zu Vorstellungen und Taten maßloser Vernichtung. Tiere sindhierzu nicht in der Lage.

GetriebenDie Aktivit�t des Willens zum Leben kulminiert im Ge-schlechtstrieb. Die Heftigkeit, mit der er waltet, die Verwirrun-gen, die er stiftet, die Zielstrebigkeit, mit der er vorgeht unddie ihm hilft, tausend Hindernisse zu �berwinden, lassen ihnzu einem unerschçpflichen Thema werden, im Leben wie inder Literatur. Romane, die Not und Wahn ungl�cklich Lieben-der schildern, enth�llen sein wahres Wesen. Die Zeit, die ihmgewidmet wird, selbst unter den schlimmsten Bedingungen,verr�t seine �berpersçnliche Bedeutung als Gattungstrieb. Al-lerdings wird diese von den Betroffenen – in Selbstt�uschung –in der Regel als allerpersçnlichstes Anliegen wahrgenommen.�berhaupt ist die T�uschung �ber sich selbst und das Objektder Begierde wesentlicher Antrieb zur Fortpflanzung. Auchwenn die Verliebtheit sich noch so subtil und durchgeistigt �u-ßert – wegen ihres metaphysischen Grundes scheut Schopen-

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hauer nicht davor zur�ck, sie mit groben Ausdr�cken abzu-werten. Dabei l�ßt der Philosoph, der als Weiberhasser be-kannt ist, auch die M�nner nicht ungeschoren davonkommen.

Hinter dem IchSchopenhauer war der Interessenpsychologie der franzçsischenMoralisten des 18. Jahrhunderts verbunden, La Rochefoucauldgehçrt zu den psychologischen Menschenbeobachtern, die ermit Vorliebe zitiert. Der Mensch, der sich selbst als gut undgerecht beurteilt, wird im Grunde von Herrsch- und Hab-sucht sowie Aberglauben geleitet, ohne sich jedoch dieser Mo-tive bewußt zu sein. Liebe und Haß verf�lschen sein Urteil,das eitle Selbstbild verdeckt vor ihm selbst und anderen dieegozentrische Ausrichtung des Denkens und Handelns. Zwarbesitzt das Unbewußte positive kreative Potenz, es �ußert sichaber auch in psychischer Erkrankung. Der Philosoph besuch-te in seiner Berliner Zeit h�ufig die psychiatrische Einrich-tung der Charit� und erforschte dort die Ursachen von Gei-steskrankheiten. Noch vor Freud beobachtete er an Patientendas Ph�nomen der Verdr�ngung, die er als Hilfsmittel der trau-matisierten Natur interpretierte. So f�gt seine Philosophie, inwelcher die Macht des Unbewußten die menschliche Iden-tit�t als br�chig und hçchst gef�hrdet erscheinen l�ßt, demSelbstbewußtsein eine weitere Kr�nkung hinzu.

Zwischen Dummheit und StolzZu den verletzenden Definitionen des Menschen gehçrt Scho-penhauers Diktum vom Menschen als »Fabrikware der Natur«.Hiermit ist gemeint, daß der Mensch ausschließlich auf seinpersçnliches Interesse fixiert ist; eine Festlegung, die sich durchDenkfaulheit sowie durch die �bernahme geeigneter, frem-

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der Meinungen verst�rkt. Dies ist um so verf�nglicher, alsSchopenhauers Ansicht nach von den Meinungsgebern, denJournalisten, wenig zu halten ist; auch die Spezialisten auf die-sem Gebiet, die viel wissenden Gelehrten, haben ihm zufolgeso wenig eigene Gedanken im Kopf wie echte Haare auf dem-selben. Ihre çkonomische Armut und die hierdurch bedingteHçrigkeit lassen sie, die um der Karriere willen jeder Ausein-andersetzung mit der Obrigkeit aus dem Wege zu gehen pfle-gen, zu »r�cksichtsvollen Lumpen« werden. Menschen neigenim allgemeinen dazu, innere Leere mit Verehrungs- und Ab-richtungsbereitschaft zu kompensieren; die Geschichte lieferthierf�r gen�gend traurige Beispiele. In j�ngerer Zeit spielte da-bei in Deutschland der Nationalstolz eine unselige Rolle, wieSchopenhauer vorausschauend andeutet.

Hçlle im DiesseitsDer junge Schopenhauer, der nach dem Wunsch des Vaters imBuch der Welt lesen sollte, begleitete seine Eltern auf langenReisen durch Europa. Der entsetzliche Anblick, den die Ge-f�ngnis-Galeeren-Sklaven von Toulon boten, n�hrte seine schonfr�h vorhandene pessimistische Weltsicht. Die Literatur machteihn mit weiteren Orten des Schreckens bekannt. Sein Blickschweift durch soziale Schichten und unterschiedliche Zeiten,�berall trifft er auf Arme, die unter unmenschlichen Entbeh-rungen f�r den Reichtum Weniger zu sorgen haben. Leibeige-ne und Proletarier kennzeichnet zwar eine ver�nderte histori-sche Situation, in ihrem persçnlichen Befinden aber sind sienicht weit voneinander entfernt. Und wer der Not entkom-men ist, wird von der Langeweile heimgesucht. Schopenhau-ers Visionen erinnern an moderne Fotoreportagen, die Ein-dr�cke von Orten des Grauens wiedergeben, oder auch Bilder

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eines Lebens im Wohlstand zeigen, vor deren offensichtlicherSinnlosigkeit einem graust. Sein unbestechlicher Wirklichkeits-sinn ist einer der Gr�nde f�r die Ablehnung des Glaubens aneinen g�tigen Gott, der die Geschicke der Welt lenkt. Scho-penhauers praktisches Res�mee, sich das Leben als Hort desUngl�cks vorzustellen und ihm nicht mit Gl�ckserwartungenzu begegnen, um wenigstens die hieraus entspringenden Ent-t�uschungen zu vermeiden, ist dermaßen ern�chternd, daß essicherlich zu den wohlgemeinten Ratschl�gen gehçrt, die mannur ungern annimmt.

Feine GesellschaftDie zivilisierte Welt gleicht in Schopenhauers Augen einemMaskenball. Wie auch Marx, doch ohne dessen historisch-çko-nomisches Geschichtsmodell zu teilen, beschreibt er die Mit-glieder der Gesellschaft nicht als Individuen, sondern als Ab-straktionen der Rolle, die sie in der Gesellschaft zu spielenhaben. Der Glanz, mit dem sie sich umgeben, vermag jungeMenschen zu t�uschen. Doch bald m�ssen sie die Erfahrungmachen, daß wirklicher Glanz, wie zum Beispiel in einemgeistvollen Gespr�ch zu finden, eher unbeliebt macht, als daßer der Akzeptanz und Anerkennung fçrderlich ist. Grund hier-f�r ist das stets vorhandene Bed�rfnis nach �berlegenheit. Istdiese nicht gegeben, entstehen automatisch Mißgunst undNeid, f�r welche das Ungleichgewicht der Klassenverh�ltnis-se in �berreichem Maße sorgt. Daß Schopenhauer Gesellig-keit als eine herabziehende und deshalb verderbliche Neigungbetrachtet, erkl�rt mancher Interpret mit dem ungeselligen We-sen des Philosophen. Aber hat ihm nicht gerade dies die Au-gen geçffnet f�r Mechanismen, die das gesellschaftliche Le-ben bestimmen?

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Durchkreuzte Pl�neWie die Seele abhanden gekommen ist, die den Menschen mitGott verbindet, so ist auch kein Gott mehr zur Stelle, der sichder armen Seele annimmt. Als zum Scheitern verurteilt erach-tet Schopenhauer deshalb die Haltung eines Menschen, derdas Leben als Vollzug seiner Gl�ckserwartungen betrachtet.Der Leser wird an Bertolt Brechts doppelsinniges Wortspiel:»Der Mensch denkt: Gott lenkt« erinnert, wenn er Schopen-hauers spçttische Bemerkungen zur Kenntnis nimmt. Nichtnur das Fehlen einer solchen Macht, heiße sie nun Gott oder»Vernunft in der Geschichte«, l�ßt den Entwurf eines optimi-stisch strukturierten Lebensplans als wenig aussichtsreich er-scheinen, hierf�r sorgen auch die im Menschen vorhandenen,ihm selbst unbekannten und ihn unbewußt leitenden Grund-s�tze. Wo der Wille vorherrscht, ist es unwahrscheinlich, daßdie Vernunft das Szepter ergreift und – unabh�ngig vom Wil-len – die Richtung bestimmt. Der Wille bleibt eine unbekann-te, bestimmende Grçße

Den Pessimisten zum TrotzSchopenhauer widerspricht nicht nur Optimisten. Daß derPhilosoph sein Gedankengeb�ude auf einer naturalistischenMetaphysik aufbaut, in welcher der vernunftlose Wille domi-niert, mag zwar die Zustimmung von eingefleischten Pessi-misten finden und Zyniker frohlocken lassen. Doch auch siekçnnen ihrer Sache nicht sicher sein. Schopenhauer ist n�m-lich nicht dazu bereit, den Gang der Dinge dem Willen zu�berlassen, vehement h�lt er an der Mçglichkeit eines Besse-ren fest.Der Philosoph singt ein Loblied auf das Alter. Im Widerspruchzum Jugendkult unserer Tage ist es unter den Lebensaltern sein

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Favorit. Dies ist mit den Erkenntnismçglichkeiten begr�ndet,die es bietet und die mancher alte Mensch nutzt, um sich Klar-heit hinsichtlich des Sinns seines Lebens und des Lebens �ber-haupt zu verschaffen. Schopenhauer hebt die Besonnenheitdes eben noch geschm�hten Gelehrten hervor, besonders diedes Poeten und Philosophen. Sie kann dazu bef�higen, denegozentrisch eingeengten Interessenhorizont zu �berschreitenund eine Ansicht vom Leben im ganzen zu erlangen. Schopen-hauers Geniephilosophie erinnert an Platon und das Hçhlen-gleichnis. In ihm wird die wahre Schau der Ideen dem zuteil,der die Hçhle der Welt hinter sich gelassen hat und dem sichdie Dinge in reinem Sonnenlicht pr�sentieren. In der Moral-philosophie schließlich findet die �berwindung des egoisti-schen Interesses ihren praktischen Ausdruck. Die Macht desEgoismus kann, worauf Schopenhauer mit Nachdruck insi-stiert, von Mitempfinden abgelçst werden. Schopenhauers Phi-losophie m�ndet in das Lob des »Guten und Gerechten«, der,ungeachtet der Schm�hungen und Schmerzen, die ihm zuge-f�gt werden, bereit ist, sich f�r Fremde zu opfern und Fein-den zu verzeihen. Inmitten der Moralphilosophie des Athei-sten Schopenhauer wird man an Christus erinnert, der sichf�r die Menschen opfert.Sicherlich erscheinen dem pessimistisch eingestellten Leserangesichts des vom Willen dominierten Menschenbilds Scho-penhauers ethische Ansichten als inkonsequent. Doch ist dieWillensmetaphysik vom Philosophen nicht dogmatisch, alsgrunds�tzliche Negation von Moral und Freiheit gedacht, son-dern als deren Pr�fstein. Ob Ethik, und nicht nur die Scho-penhauers, sondern Ethik �berhaupt, diesem standh�lt, isteine aktuelle, noch immer offene Frage.

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Hinweis zur AusgabeDie Zitatzusammenstellung des vorliegenden Buchs stammtaus Schopenhauers Gesamtwerk, d. h. aus »Die Welt als Willeund Vorstellung« und »Parerga und Paralipomena«, »Hand-schriftlicher Nachlaß«, dem Briefwechsel und den Reisetage-b�chern. Ihr liegt die werkgetreue Ausgabe Paul Deussens zu-grunde (1911-1932) sowie die Ausgabe des HandschriftlichenNachlasses von Arthur H�bscher (1966-1975).

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