21
Leseprobe Dickens, Charles Die Weihnachten des Mr. Scrooge © Insel Verlag insel taschenbuch 4062 978-3-458-35762-9 Insel Verlag

Insel Verlag - bücher.de · 978-3-458-35762-9 Insel Verlag. Ebenezer Scrooge ist ein Geizkragen. Er behandelt seine Mitarbeiter ... sonst ist’s aus mit unserem Land. Man wird mir

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Leseprobe

    Dickens, CharlesDie Weihnachten des Mr. Scrooge

    © Insel Verlaginsel taschenbuch 4062

    978-3-458-35762-9

    Insel Verlag

  • Ebenezer Scrooge ist ein Geizkragen. Er behandelt seine Mitarbeiterschlecht, ist hartherzig gegen�ber seinen Schuldnern und hat f�r seine Mit-menschen außer Mißtrauen nichts �brig. Auch an Weihnachten – f�r ihnein wahrlich �berfl�ssiges Fest – sitzt er am liebsten in seinem B�ro undz�hlt Geld. Doch eines Heiligabends wird er von den Geistern der ver-gangenen, gegenw�rtigen und zuk�nftigen Weihnachtsfeste heimgesucht.Sie zeigen ihm das Gl�ck, das er durch seine Habgier und Selbstsucht ver-s�umt hat, aber auch das j�mmerliche Dasein und die Einsamkeit, dieer fristen wird, falls er sein Leben nicht �ndert. Schlechte Aussichten f�rMr. Scrooge . . . oder?

    Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport, England, als zwei-tes von acht Kindern geboren. Er wuchs in �rmlichen Familienverh�ltnis-sen auf und lernte schon fr�h Hunger und Not kennen. Er arbeitete alsSchreiber bei einem Rechtsanwalt und als Zeitungsjournalist. Mit seinerSkizzensammlung Sketches by Boz (1836) und The Pickwick Papers (1837)wurde Dickens zu einem der bekanntesten Autoren Englands. Seine erstenRomane erschienen als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen, so auch ei-nes seiner bekanntesten Werke, Oliver Twist (1837). Charles Dickens starbam 9. Juni 1870 in Kent.

    Im insel taschenbuch sind erschienen: Bleak House (it 1110), David Cop-perfield (it 468), Eine Geschichte aus zwei St�dten (it 4079), Große Erwar-tungen (it 4078), Nikolaus Nickleby (it 1304), Oliver Twist (it 4077), DerRarit�tenladen (it 4080) und Weihnachtserz�hlungen (it 358).

  • insel taschenbuch 4062Charles Dickens

    Die Weihnachten des Mr. Scrooge

  • Charles DickensDIE WEIHNACHTEN DES

    MR. SCROOGE

    Aus dem Englischen von Carl KolbINSEL VERLAG

  • Umschlagfotos: Neil Denham/Trevillion Images;gremlin/Getty Images

    insel taschenbuch 4062Erste Auflage 2011

    � Insel Verlag Berlin 2011Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

    des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

    Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag: b�ros�d, M�nchen

    Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    Printed in GermanyISBN 978-3-458-35762-9

    1 2 3 4 5 6 – 16 15 14 13 12 11

  • DIE WEIHNACHTEN DES MR. SCROOGE

  • ERSTE STROPHEMarleys Geist

    Marley war tot; damit wollen wir anfangen. Dar�ber gibt’snicht den leisesten Zweifel. Sein Totenschein war vom Geist-lichen, vom Notar, vom Leichenbestatter und vom Hauptleid-tragenden unterzeichnet. Scrooge hatte unterschrieben, undScrooges Name war an der Bçrse gut f�r alles, wozu er ihn her-gab.

    Der alte Marley war so tot wie ein T�rnagel.Wohlgemerkt, ich will damit nicht behaupten, daß ich aus

    eigener Erfahrung w�ßte, was an einem T�rnagel so ganz be-sonders tot ist. Ich f�r meine Person w�re eher geneigt, einenSargnagel als das toteste St�ck Eisen zu betrachten, das imHandel ist. Allein das Gleichnis bewahrt die Weisheit unse-rer Ahnen auf, und meine unheilige Hand soll nicht daran r�t-teln, sonst ist’s aus mit unserem Land. Man wird mir dahererlauben, mit Nachdruck zu wiederholen, daß Marley so totwar wie ein T�rnagel.

    Wußte Scrooge, daß er tot war? Nat�rlich wußte er’s. Wiekonnte es anders sein? Scrooge und er waren ja – ich weißnicht, wie viele Jahre lang – Gesch�ftspartner gewesen. Scroogewar Marleys einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Nach-laßverwalter, sein einziger Rechtsnachfolger, sein einziger Haupt-erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender.Und selbst Scrooge war von diesem traurigen Ereignis nichtso furchtbar ersch�ttert, daß er vers�umt h�tte, sich selbstam Begr�bnistag als geschickter Gesch�ftsmann zu erweisenund ihn mit einem guten Schnitt zu begehen.

    Die Erw�hnung von Marleys Begr�bnis bringt mich auf denPunkt zur�ck, von dem ich ausgegangen bin. Es besteht kein

    9

  • Zweifel, daß Marley tot war. Dies muß man begriffen haben,sonst ist nichts Wunderbares an der Geschichte, die ich erz�h-len will. Wenn wir nicht vollkommen �berzeugt w�ren, daßHamlets Vater vor Beginn des St�cks gestorben ist, so w�re seinn�chtliches Umherwandeln im Ostwind auf dem Wall seinesSchlosses um nichts merkw�rdiger, als wenn irgendein an-derer Herr in mittlerem Alter nach Einbruch der Dunkelheitan irgendeinem windigen Ort – sagen wir zum Beispiel aufdem St. Pauls-Kirchhof – plçtzlich hervortr�te, um die m�deSeele seines Sohnes wachzur�tteln.

    Scrooge ließ den Namen des alten Marley nie �bermalen.Jahre nachher stand noch �ber der T�r des Warenhauses zu le-sen »Scrooge & Marley«. Die Firma war als Scrooge & Marleybekannt. Leute, die im Gesch�ftsleben Neulinge waren, nann-ten Scrooge manchmal Scrooge, manchmal Marley; er hçrteauf beide Namen. F�r ihn war beides dasselbe.

    Aber er mahlte geizig alles aus bis aufs letzte, dieser Scrooge!Ein erpresserischer, blutsaugerischer, sch�biger Filz, ein raffgie-rig zupackender alter S�nder war er! Hart und scharf wie einKiesel, aus dem der Stahl nie einen edlen Funken geschlagenhat, versteckt, verschlossen und einsam wie eine Auster. Seineinnere K�lte ließ seine alten Gesichtsz�ge einfrieren, seine spit-ze Nase absterben, machte seine Wangen runzelig, seinen Gangsteif, seine Augen rot und seine d�nnen Lippen blau, ja siebrach h�misch in seiner schnarrenden Stimme durch. Rauhreiflag auf seinem Haupt, seinen Augenbrauen und seinem Stop-pelkinn. Er trug seine Eisluft �berall mit sich herum, durch-k�ltete damit selbst in den Hundstagen sein Kontor und ließes auch am Christfest um keinen Grad auftauen.

    �ußere Hitze oder K�lte ber�hrten Scrooge wenig. KeineHitze konnte ihn erw�rmen, kein Winterwetter ihn erk�lten.Kein Wind war schneidender als er, kein Schneefall unbarm-

    10

  • herziger, kein Platzregen unaufhaltsamer. Schlimmes Wetterwußte nicht wie ihm beikommen. Der heftigste Regen, Schnee,Hagel und Schloßen konnten sich nur in einer Hinsicht einesVorteils �ber ihn r�hmen: sie zeigten sich oft sehr freigebig,er nie.

    Niemand hielt ihn je auf der Straße an, um ihn mit freudi-gem Blick zu fragen: »Lieber Scrooge, wie geht es Ihnen? Wannwerden Sie mich besuchen?« Kein Bettler bat ihn um eine Klei-nigkeit, kein Kind fragte ihn, wieviel Uhr es sei, kein Mannoder Weib erkundigte sich je im Leben bei Scrooge nach demWeg zu diesem oder jenem Ort. Selbst die Blindenhunde schie-nen ihn zu kennen, denn sobald sie ihn kommen sahen, zogensie lieber ihre Herren in Torwege und Hçfe hinein und we-delten mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: Blinder Mann,kein Auge ist immer noch besser als ein bçses!

    Aber was k�mmerte das Scrooge? Gerade so hatte er’s gern.Die volkreichen Pfade des Lebens zu meiden und jedem mensch-lichen Mitgef�hl warnend zuzurufen, es solle fernbleiben, daswar f�r ihn, wie man so sagt, ein »gefundenes Fressen«.

    Einmal – von allen schçnen Tagen im Jahr gerade am Hei-ligen Abend – saß der alte Scrooge gesch�ftig in seiner Schreib-stube. Das Wetter draußen war schneidend kalt, unfreundlichund obendrein neblig, und er konnte hçren, wie im Hof drau-ßen die Leute keuchend auf und ab gingen, mit den H�ndengegen die Brust schlugen und mit den F�ßen auf die Pflaster-steine stampften, um sich zu erw�rmen. Die Glocken der Cityhatten eben erst drei Uhr geschlagen, aber es war schon ganzdunkel – es war den ganzen Tag �ber nicht hell gewesen –,und die Lichter flackerten hinter den Fenstern der benach-barten Kontore wie rote Schmutzflecken auf der zum Greifendicken braunen Luft. Der Nebel drang durch jede Ritze undjedes Schl�sselloch und war draußen so dicht, daß die H�user

    11

  • gegen�ber wie ein Spuk wirkten, obwohl der Hof zu den be-sonders schmalen gehçrte. Wenn man sah, wie sich die tr�beWolke langsam senkte und alles verd�sterte, so h�tte man glau-ben kçnnen, Mutter Natur wohne nebenan und braue jetzteben in großem Stil.

    Die T�r zu Scrooges Kontor stand offen, damit er ein Augeauf seinen Schreiber haben kçnne, der in einer j�mmerlichengen Zelle nebenan, einer Art Schacht, Briefe kopierte. BeiScrooge brannte nur ein k�mmerliches Feuer, aber das desSchreibers war noch viel kleiner, so daß es wie eine einzigeKohle aussah. Doch konnte er nicht nachlegen, denn die Koh-lenkiste stand in Scrooges eigener Stube, und jedesmal, wennder Schreiber mit der Schaufel hereinkam, k�ndigte ihm seinHerr an, daß sie sich wohl bald trennen m�ßten. Dann zogder Schreiber sein weißes Halstuch in die Hçhe und versuch-te, sich an der Kerze zu erw�rmen; da er jedoch nur �ber we-nig Einbildungskraft verf�gte, mißlang ihm stets dieser Ver-such.

    »Frçhliche Weihnachten, Oheim! Gott segne Sie!« rief einemuntere Stimme. Sie gehçrte Scrooges Neffen, der so rasch aufihn zukam, daß dies das erste Zeichen seiner Anwesenheit war.

    »Pah!« rief Scrooge, »Possen!«Sein Neffe hatte sich durch das rasche Gehen in Nebel

    und Frost so erhitzt, daß er fçrmlich gl�hte; sein Gesicht warh�bsch in seiner Rçte, seine Augen gl�nzten, und sein Atemdampfte noch.

    »Wie, Oheim, Weihnachten ein Possen?« rief Scrooges Nef-fe; »das ist doch sicherlich nicht Ihr Ernst?«

    »Ganz mein Ernst«, versetzte Scrooge. »Frçhliche Weihnach-ten! Was f�r ein Recht hast du, frçhlich zu sein? Was f�r einenGrund hast du, zufrieden zu sein? Du bist doch arm genug.«

    »Ei, Oheim!« versetzte der Neffe munter, »was f�r ein Recht

    12

  • haben Sie, verdrossen zu sein? Was f�r einen Grund haben Sie,m�rrisch zu sein? Sie sind doch reich genug!«

    Da Scrooge in der Eile keine bessere Antwort zur Handhatte, gab er wiederum ein »Pah!« zur�ck und ließ »Possen!«darauf folgen.

    »Nicht �rgern, Oheim!« rief der Neffe.»Was soll ich denn tun«, entgegnete der Oheim, »solange ich

    in einer solchen Welt voll Narren lebe? Frçhliche Weihnachten!Zum Henker mit den frçhlichen Weihnachten! Was ist Weih-nachten denn schon anderes als eine Zeit, da man ohne Geldin der Tasche Rechnungen bezahlen soll? Eine Zeit, da mansich um ein Jahr �lter und um keine Stunde reicher f�hlt? EineZeit, da du in deinen B�chern Bilanz machen mußt und je-den Posten in allen zwçlf Monaten des Jahres als Soll zu sp�-ren bekommst? Wenn es nach mir ginge«, setzte er entr�stethinzu, »m�ßte jeder Dummkopf, der mit ›Frçhliche Weihnach-ten‹ im Munde heruml�uft, mit seinem eigenen Pudding ge-kocht und mit einem Stechpalmenzweig durchs Herz begra-ben werden. Ja, das sollte er!«

    »Oheim!« hielt ihm der Neffe vor.»Neffe!« erwiderte der Oheim bçse, »feiere Weihnachten

    auf deine Weise und laß mich’s auf meine feiern.«»So feiern Sie’s!« wiederholte der Neffe. »Aber Sie tun’s ja

    doch nicht.«»Das �berlaß nur mir!« meinte der Alte. »Wohl bekomm’s

    dir! Es hat dir stets viel Gutes gebracht!«»Es gibt viele Dinge, kann ich wohl sagen, aus denen ich

    Nutzen h�tte ziehen kçnnen und doch nicht gezogen habe«,versetzte der Neffe; »Weihnachten gehçrt auch dazu. Aber ichhabe die Weihnachtszeit, wenn sie herankam, ganz abgesehen –soweit das bei einem Wesensbestandteil mçglich ist – von derVerehrung, die wir ihrem geheiligten Namen und Ursprung

    13

  • schulden, sicherlich stets als gute Zeit angesehen, als eine men-schenfreundliche, angenehme Zeit voll Wohlwollen und Ver-gebung, als die einzige Zeit im Kalenderjahr, die ich kenne,in der M�nner und Frauen gleichm�ßig bereit scheinen, ihreverschlossenen Herzen frei zu çffnen und an �rmere Menschenzu denken, als ob sie wirklich Reisegef�hrten zum Grab hinw�ren und nicht Geschçpfe anderer Art mit anderer Wegrich-tung. Und deshalb, Oheim, glaube ich, obwohl mir die Weih-nachtszeit nie einen Schatz von Gold oder Silber in die Ta-sche gebracht hat, daß sie mir Gutes getan hat und Gutes tunwird, und sage: Gott segne sie!«

    Der Schreiber im Kasten nebenan gab unwillk�rlich seinenBeifall zu erkennen. Da ihm aber sogleich das Ungehçrige sei-nes Betragens bewußt wurde, sch�rte er rasch das Feuer understickte dabei den letzten schwachen Funken f�r immer.

    »Noch ein Ton von Euch«, knurrte Scrooge, »und Ihr kçnntWeihnachten damit feiern, daß Ihr Euren Posten los seid!«Und wieder zu seinem Neffen gewandt, f�gte er hinzu: »Dubist ja ein unwiderstehlicher Redner; ich wundere mich, daßdu nicht ins Parlament eintrittst.«

    »Z�rnen Sie nicht, Oheim! Bitte, speisen Sie morgen beiuns.«

    Scrooge sagte, ihn solle eher . . . ja, so sagte er. Er sprach denSatz in seiner ganzen L�nge zu Ende: erst wolle er dieses letzteerlebt haben.

    »Aber warum nur«, rief Scrooges Neffe. »Warum?«»Warum hast du geheiratet?« fragte Scrooge.»Weil ich liebte.«»Weil du liebtest!« brummte Scrooge, als ob dies das einzige

    sei, was ihm noch l�cherlicher vorkomme als frçhliche Weih-nachten. »Guten Abend!«

    »Nein, Oheim! Sie haben mich ja auch nie besucht, ehe sich

    14

  • das zutrug. Warum geben Sie es als Grund daf�r an, daß Siejetzt nicht kommen?«

    »Guten Abend!« rief Scrooge.»Ich brauche nichts von Ihnen; ich fordere nichts von Ih-

    nen, warum kçnnen wir nicht gute Freunde sein?«»Guten Abend!« rief Scrooge.»Es tut mir von Herzen leid, Sie so hartn�ckig zu finden.

    Wir haben nie einen Zwist gehabt, zu dem ich Veranlassunggegeben h�tte. Aber ich habe dem Weihnachtsfest zu Ehrendiesen Versuch unternommen und will an meiner Weihnachts-stimmung auch festhalten. Darum: frçhliche Weihnachten,Oheim!«

    »Guten Abend!« rief Scrooge.»Und ein gl�ckliches Neujahr!«»Guten Abend!« rief Scrooge.Trotzdem verließ der Neffe das Zimmer ohne ein zorniges

    Wort. Bei der �ußeren T�r blieb er stehen, um dem Schreiberseinen Weihnachtsgruß zu sagen, der, sosehr ihn auch fror, dochw�rmer war als Scrooge, denn er gab ihn herzlich zur�ck.

    »Da ist noch so ein Narr«, murmelte Scrooge, der zugehçrthatte, »mein Schreiber, der f�nfzehn Schilling wçchentlich be-kommt, Weib und Kind hat und von frçhlichen Weihnachtenschwatzt. Da mçchte man wirklich ins Tollhaus verschwin-den.«

    W�hrend der Verr�ckte den Neffen hinausbegleitete, hat-te er zwei andre Leute hereingelassen. Es waren stattliche Her-ren von gutem Aussehen, die nun, ihre H�te abgenommen, inScrooges Kontor standen; sie trugen B�cher und Papiere inH�nden und machten ihm eine Verbeugung.

    »Scrooge und Marley, wenn ich nicht irre?« sagte einer derHerren mit einem Blick in seine Listen; »habe ich die Ehremit Mr. Scrooge oder mit Mr. Marley?«

    15

  • »Mr. Marley ist schon seit sieben Jahren tot«, antworteteScrooge; »gerade heute nacht vor sieben Jahren ist er gestorben.«

    »Wir zweifeln nicht, daß seine Freigebigkeit von seinem�berlebenden Partner w�rdig weitergef�hrt wird«, sagte derHerr, indem er seine Vollmacht vorwies.

    Seine Behauptung traf wirklich zu, denn sie waren zwei ver-wandte Geister gewesen. Bei dem unheilk�ndenden Wort »Frei-gebigkeit« schauderte Scrooge zusammen, sch�ttelte den Kopfund gab die Vollmacht zur�ck.

    »In dieser festlichen Zeit des Jahres, Mr. Scrooge«, hub derHerr an, indem er eine Feder zur Hand nahm, »ist es nochw�nschenswerter als sonst, daß wir, so gut es geht, f�r die Ar-men und Verwahrlosten sorgen; sie haben gerade in dieser Jah-reszeit schwer zu leiden. Vielen Tausenden fehlt es am gewçhn-lichsten Lebensbedarf, Hunderttausende vermissen auch diegeringste Behaglichkeit, Sir!«

    »Gibt’s keine Gef�ngnisse?« fragte Scrooge.»Gef�ngnisse genug!« versetzte der Herr und legte die Fe-

    der wieder weg.»Und die Arbeitsh�user?« fuhr Scrooge fort; »bestehen sie

    wohl noch?«»Ja, noch immer!« entgegnete der Herr; »ich w�nschte, ich

    kçnnte nein sagen.«»Die Tretm�hle und das Armengesetz sind also noch in

    Kraft?« fragte Scrooge weiter.»Beide in voller Wirksamkeit, Sir.«»Oh«, meinte Scrooge, »nach dem, was Sie zuerst sagten,

    f�rchtete ich, es sei etwas vorgefallen, das ihren n�tzlichenGang hemme; ich bin froh, das Gegenteil zu hçren.«

    »In der �berzeugung«, erwiderte der Herr, »daß diese Ein-richtungen den Menschen schwerlich christliche Freude an Leibund Seele vermitteln kçnnen, sind einige von uns bem�ht,

    16

  • einen Geldbetrag aufzubringen, mit dem wir den Armen Spei-se und Trank und Mittel zur Erw�rmung verschaffen wollen.Wir haben diesen Zeitpunkt gew�hlt, weil gerade jetzt Man-gel schmerzlich und �berfluß freudig empfunden wird. Wasdarf ich f�r Sie zeichnen?«

    »Nichts!« versetzte Scrooge.»Sie w�nschen ungenannt zu bleiben?«»Ich w�nsche allein gelassen zu werden!« sagte Scrooge.

    »Wenn Sie wissen wollen, was ich w�nsche, meine Herren, soist dies meine Antwort. Ich selbst mache mir zu Weihnachtenauch keine guten Tage und kann nichts dazu beitragen, sieM�ßigg�ngern zu verschaffen. Ich helfe bereits, die vorerw�hn-ten Anstalten zu unterhalten – sie kosten genug, und wem esschlimm geht, der mag sich dorthin wenden.«

    »Viele kçnnen nicht dorthin gehen; und viele w�rden lie-ber sterben.«

    »Wenn sie lieber sterben«, versetzte Scrooge, »so sollen siees nur tun und so die �berfl�ssige Bevçlkerung vermindern.Außerdem – Sie entschuldigen – verstehe ich davon nichts.«

    »Aber Sie kçnnten es verstehen«, bemerkte der Herr.»Das ist nicht meine Sache«, erwiderte Scrooge. »Es gen�gt,

    wenn ein Mann seine eigene Sache versteht; er braucht sichnicht mit denen anderer zu befassen. Die meinen nehmen michganz in Anspruch. Guten Abend, meine Herren!«

    Da die Fremden einsahen, daß es nutzlos sei, ihr Vorhabenweiterzuverfolgen, entfernten sie sich. Scrooge ging mit geho-bener Meinung von sich selbst und in besserer Laune als ge-wçhnlich wieder an die Arbeit.

    Inzwischen hatten Nebel und Dunkelheit so zugenommen,daß Leute mit brennenden Fackeln umherliefen und sich an-boten, vor den Wagenpferden herzugehen und sie ihren Wegzu f�hren. Der alte Turm einer Kirche, deren brummende

    17

  • Glocke sonst schlau aus einem gotischen Fenster in der Mauerauf Scrooge herunterguckte, wurde unsichtbar, und sie schlugdie Stunden und Viertelstunden nun in den Wolken mit ei-nem zitternden Nachklang, als ob ihr die Z�hne im erfrore-nen Kopf klapperten. Die K�lte nahm immer mehr zu. Aufder Hauptstraße an der Ecke des Hofes hatten einige Arbei-ter, die die Gasrçhren ausbesserten, in einem Kohlenbeckenein großes Feuer angez�ndet, um das sich ein Haufen zerlump-ter M�nner und Jungen dr�ngte, die ihre H�nde w�rmten undvor der Glut begl�ckt mit den Augen blinzelten. Am Pump-brunnen, der verlassen stand, froren die Tropfen rasch und ver-wandelten sich in menschenfeindliches Eis. Der Lichtscheinaus den L�den, in denen Stechpalmenzweige und -beeren inder Lampenhitze der Schaufenster knisterten, rçtete die blei-chen Gesichter der Vor�bergehenden. Der Gefl�gel- und derSpezereienhandel wurden zum hellen Vergn�gen: eine pr�chti-ge Veranstaltung, von der man schier unmçglich glauben konn-te, daß so langweilige Dinge wie Kauf und Verkauf etwas mitihr zu tun haben sollten. Der Oberb�rgermeister in der m�ch-tigen Mansionhouse-Feste gab seinen f�nfzig Kçchen und Kell-nern Befehl, ein Weihnachtsmahl zu r�sten, wie es eines Ober-b�rgermeisters w�rdig ist; und selbst der armselige Schneider,den er am vorigen Montag wegen Trunkenheit und Rauflustauf der Straße um f�nf Schilling bestraft hatte, r�hrte in sei-ner Dachstube den Pudding f�r morgen, w�hrend sein hage-res Weib mit dem S�ugling ausging, um Fleisch zu kaufen.

    Noch nebliger und noch k�lter wurde es. Durchdringend,beißend, bohrend kalt! Wenn der gute heilige Dunstan die Nasedes Teufels nur mit einem Hauch solchen Wetters ber�hrth�tte, statt seine gewçhnlichen Waffen zu gebrauchen, dannh�tte dieser erst kr�ftig aufgeheult! Der Eigent�mer einer win-zigen jungen Nase, die von der gierigen K�lte so benagt und

    18

  • angeknabbert war wie Knochen von Hunden, beugte sich ge-rade zu Scrooges Schl�sselloch, um ihn mit einem Weihnachts-lied zu erfreuen; allein beim ersten Vers:

    Gott sei mit Euch, mein edler Herr,Mçg Euch kein Tr�bsal treffen

    griff Scrooge so heftig nach seinem Lineal, daß der S�nger be-st�rzt entwich und das Schl�sselloch dem Nebel und der demHausherrn noch verwandteren K�lte �berließ.

    Endlich kam die Stunde des Gesch�ftsschlusses. Widerwil-lig stieg Scrooge von seinem Schreibstuhl und teilte dadurchdiese Tatsache wortlos dem in seinem Schacht harrenden Schrei-ber mit. Dieser blies sogleich seine Kerze aus und setzte seinenHut auf.

    »Sie werden vermutlich morgen den ganzen Tag frei habenwollen?« fragte Scrooge.

    »Wenn’s Ihnen recht ist, Sir!«»Ist mir nicht recht«, antwortete Scrooge, »und gehçrt sich

    nicht. Wenn ich Ihnen daf�r eine halbe Krone abzçge, so wet-te ich, f�hlten Sie sich schlecht behandelt.«

    Der Schreiber l�chelte matt.»Und doch«, fuhr Scrooge fort, »halten Sie mich nicht f�r

    schlecht behandelt, wenn ich Ihnen f�r einen ganzen Tag Geldohne Arbeit verabreiche.«

    Der Schreiber bemerkte, daß dies ja nur einmal im Jahrvorkomme.

    »Eine schlechte Ausrede, um einem an jedem 25. Dezem-ber das Geld aus der Tasche zu stehlen!« murrte Scrooge undknçpfte seinen �berrock bis zum Kinn zu. »Aber ich nehmean, daß Sie den ganzen Tag haben m�ssen. Seien Sie daf�r �ber-morgen um so zeitiger hier.«

    19

  • Der Schreiber versprach das, und Scrooge zog grollend ab.Das Kontor war im Nu geschlossen. Der Schreiber, dem dielangen Enden seines weißen Schals um die Beine baumelten,da er sich mit keinem �berrock br�sten konnte, lief Cornhillhinunter, wobei er am Ende einer Kette von Knaben zu Ehrendes Weihnachtsabends wohl zwanzigmal schlitterte, und eiltedann, so schnell er konnte, nach Camden-Town nach Hause,um mit den Seinen Blindekuh zu spielen.

    Scrooge nahm sein melancholisches Mahl in dem gewohn-ten d�steren Wirtshaus ein und ging endlich, nachdem er alleZeitungen gelesen und den Rest des Abends �ber seinem Ab-rechnungsbuch gebr�tet hatte, zum Schlafen nach Hause. Erwohnte in den R�umen, die einst seinem verstorbenen Partnergehçrt hatten. Es war eine d�stere Zimmerreihe in einem fin-steren Bauwerk auf einem Hinterhof. In diesem Hof schiendas Geb�ude so wenig zu suchen zu haben, daß man sich derVorstellung kaum erwehren konnte, es habe sich als jungesH�uschen beim Versteckspiel mit andern H�usern dort hin-einverkrochen und nicht mehr herausgefunden. Nun war esalt und tr�bselig genug, denn niemand als Scrooge bewohn-te es, und alle anderen Zimmer waren als Kontore vermietet.Der Hof war so finster, daß Scrooge, dem jeder Stein darin be-kannt war, den Weg fast mit den H�nden suchen mußte. Ne-bel und Frost lasteten so dick und schwer auf dem alten schwar-zen Torweg, daß es schien, als ob der Genius des Wetters intraurigem Nachdenken auf der Schwelle sitze.

    Sicher ist, daß an dem T�rklopfer außer seiner Grçße nichtsbemerkenswert war. Ebenso sicher ist, daß ihn Scrooge, seit erdas Haus bewohnte, jeden Morgen und Abend gesehen hatte;daß Scrooge von dem, was man Phantasie nennt, ebensowenigbesaß wie sonstwer in der City von London, selbst – was vielheißen will – den Gemeinderat nebst Aldermen und Z�nften

    20

    DIE WEIHNACHTEN DES MR.•SCROOGEErste StropheMarleys Geist