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Leseprobe Ólafsdóttir, Audur Ava Ein Schmetterling im November Roman Aus dem Isländischen von Sabine Leskopf. Mit siebenundvierzig Rezepten und einer Strickanleitung. © Insel Verlag 978-3-458-17581-0 Insel Verlag

Insel Verlag - suhrkamp.de · rab, auf der Brust ist ein wenig Blut zu sehen und ich fürch- te, dass darunter ein zerquetschtes Gänseherz liegt. Bei der Notbremsung sind die Mappen

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Leseprobe

Ólafsdóttir, Audur Ava

Ein Schmetterling im November

Roman

Aus dem Isländischen von Sabine Leskopf. Mit siebenundvierzig Rezepten und einer

Strickanleitung.

© Insel Verlag

978-3-458-17581-0

Insel Verlag

AUÐUR AVA ÓLAFSDÓTTIREin Schmetterling im November

RomanAus dem Isländischen von Sabine Leskopf

Mit siebenundvierzig Rezepten und einer Strickanleitung

Insel Verlag

Die isländische Originalausgabe erschien 2004 unter dem TitelRigning í nóvember. © Auður Ava Ólafsdóttir, 2004.

Erste Auflage 2013© Insel Verlag Berlin 2013Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichenVortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk undFernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durchFotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schrift-liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unterVerwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfäl-tigt oder verbreitet werden.Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Pustet, RegensburgPrinted in GermanyISBN 978-3-458-17581-0

Ein Schmetterling im November

Für Melkorka Sigríður

Wo gibt es Städte, aber keine Häuser,Straßen, aber keine AutosWälder, aber keine Bäume?

Antwort: auf der Landkarte(Rätsel aus der Kinderstunde)

Null

So also sieht das Ganze heute für mich aus, wenn ich zurück-blicke und mich vielleicht nicht mehr der Reihe nach an alleserinnern kann. Jedenfalls stehen wir da eng beisammen in derMitte des Bildes, ich habe meinen Arm um seine Schulterngelegt und auch er hält mich fest umschlungen – weil er soklein ist, natürlich eher irgendwo weiter unten – mir fällteine dunkelbraune Strähne über die blasse Stirn und er lachtvon einem Ohr zum anderen, er hält etwas in seiner fest zu-sammengeballten Faust, die er nach vorn streckt.Ganz unten an dem großen Kopf sitzen die weit abstehendenOhren mit den Hörgeräten, auffallend groß und altmodisch.Sie sehen aus wie Empfänger für Nachrichten aus dem Welt-all. Dazu kommt, dass seine Augen durch die Brille unnatür-lich groß aussehen, sodass sie die Gläser fast ausfüllen, unddadurch wirkt er noch auffälliger. Und tatsächlich drehen sichdie Menschen auf der Straße nach ihm um, zuerst schauensie ihn an, dann mich, dann wieder ihn, und sie schauenihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwindet, zum Bei-spiel, wenn er an meiner Hand zum Spielplatz hinübergehtund ich das gusseiserne Tor hinter uns schließe. Ich weiß, dassman uns von den anderen Autos aus beobachtet, wenn ich ihnin seinem Sitz anschnalle.Hinten im Bild ist mein vier Jahre altes, mit Gangschaltungausgestattetes Auto zu sehen. Die drei Goldfische schwimmenin einer kleinen Pfütze im Kofferraum – doch davon weiß ernoch nichts – und den Boden bedeckt ein vollständig durch-nässter blauer Schlafsack in Doppelgröße. Bald darauf wer-de ich im Dorfladen zwei neue Daunendecken kaufen, denneine Frau von dreiunddreißig Jahren kann nicht ewig den

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Schlafsack mit einem fremden Kind teilen, und schließlichist das Handschuhfach voll von Geldscheinen, frisch aus derBank. Ein Verbrechen liegt aber nicht vor, es sei denn, es giltals Verbrechen, auf einer Strecke von weniger als dreihundertKilometern auf der Nationalstraße, dort,wo der Streifen Landzwischen Gletscher und Meer am schmalsten ist und es diemeisten einspurigen Brücken gibt, mit drei Männern zu schla-fen.Doch nichts ist, wie es sein soll auf dieser Insel an diesem letz-ten Tag im November, einem stockdunklen Tag, und trotzdemstehen wir nur im Pullover da, ich in einem weißen Rollkra-genpullover, er in einem neuen minzgrünen Strickpullovermit Karomuster und Kapuze, die Temperatur ist etwa diesel-be wie in Lissabon am Tag zuvor, sagt der Nachrichtenspre-cher im Radio, er sagt weitere Niederschläge und weiterhinmilde Temperaturen voraus. Deshalb sollten sich Frauen mitKindern in dieser schwarzen Ödnis möglichst nicht draußenaufhalten und schon gar nicht in der Nähe einspuriger Brü-cken, denn die Straßen können vielerorts überflutet sein.Nun bin ich nicht so eitel, dass ich glaube, dass mir an je-der einspurigen Brücke ein neuer Liebhaber begegnet, dochman weiß ja nie. Bei näherem Hinschauen sehe ich auf demBild ein paar Schritte weiter hinten einen jungen Mann vonvermutlich siebzehn Jahren, eigentlich steht er direkt zwi-schen mir und dem Jungen, aber sein Gesicht wirkt leicht ver-schwommen. Unter der Kappe zeigt er empfindsame Gesichts-züge und vermutlich werden sich seine Hautprobleme baldbessern. Er lehnt mit halb geschlossenen Augen an der Zapf-säule und sieht müde aus.Schaut man noch näher hin, praktisch mit der Lupe, kannman an den Reifen fast ein paar Federreste erkennen, sogarein paar Blutspritzer auf den Felgen, auch wenn jetzt schondrei Wochen vergangen sind seit dem Tag, an dem mein Mann

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die gemeinsame Wohnung mit den orthopädischen Matrat-zen aus dem Ehebett, der Campingausrüstung und zehn Bü-cherkisten verlassen hat. Und doch darf man bei alldemnicht vergessen, dass der Schein trügt, dass die Wirklichkeitmit dem zu Tode erstarrten Bild nur wenig zu tun hat, son-dern viel eher einer Büchse mit umherwuselnden Würmerngleicht.

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Eins

Gott sei Dank war es kein Kind.Ich löse meinen Gurt und stürze aus dem Auto heraus, umnach dem Tier zu sehen, es sieht noch heil aus, nur dass esjetzt auf dem Boden liegt, allein der Hals hängt kraftlos he-rab, auf der Brust ist ein wenig Blut zu sehen und ich fürch-te, dass darunter ein zerquetschtes Gänseherz liegt.Bei der Notbremsung sind die Mappen auf den Boden ge-rutscht, Manuskriptseiten mit Übersetzungen aus mehrerenSprachen breiten sich auf dem Boden aus, irgendwo auf demvollgepackten Rücksitz liegt aber noch ein einigermaßenkompletter Stapel.Das Besondere an meiner Arbeit – etwas, das ich meinenKunden gegenüber gern hervorhebe – besteht wohl darin,dass ich alles persönlich bei ihnen zuhause abgebe, ich lie-fere korrekturgelesene Artikel, Aufsätze und Übersetzungenaus wie thailändische Nudelgerichte und Frühlingsrollen.Das mag altmodisch sein, aber es funktioniert, die Leutefreuen sich, ein Stück Papier in der Hand zu halten und da-bei einen Moment lang einem unbekannten Menschen ge-genüberzustehen, der bis in die Tiefen ihrer Seele geblickthat. Am besten ist es, kurz vor dem Abendessen vorbeizu-kommen,wenn die Nudeln schon gar sind und keine Minutelänger im Wasser bleiben dürfen oder wenn die Zwiebelnschon angebraten sind und der Fisch fertig paniert bereit-liegt. Nach meiner Erfahrung geht es dann am schnellsten,keiner will einen Gast diesem Essensgeruch aussetzen, manwill nicht in Socken oder gar barfuß mit einem Unbekann-ten herumdiskutieren, inmitten all der Schuhe im Flur undden quengelnden Kindern im Hintergrund, nach meiner Er-

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fahrung geht so die Abrechnung am schnellsten über dieBühne und die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß, dass dieLeute versuchen, um die Mehrwertsteuer zu feilschen. Sieziehen die Sache dann auch nicht unnötig in die Länge,wennich sage, dass ich keine Scheck- oder Kreditkarten nehme,sondern schreiben stattdessen in aller Eile einen Scheck ausund nehmen die Blätter kommentarlos entgegen.Wenn die Leute dagegen zu mir in meine kleine Arbeitswoh-nung kommen, die ich unten am Hafen gemietet habe, las-sen sie sich eher Zeit, um meine Anmerkungen zu kommen-tieren, mich von ihrem guten Willen zu überzeugen, ihreFachkenntnisse zu erläutern, warum sie die Dinge so aus-gedrückt haben und nicht anders. Es sei nun wirklich nichtmeine Aufgabe, den Artikel komplett umzuschreiben – ineinem Absatz hätte ich gar ganze neun Wörter gestrichen –,sondern nur die Tippfehler zu korrigieren, die im Eifer desGefechts hineingeraten seien, wie ein Kunde das einmalausdrückte, während er gleichzeitig Brille und Krawatte zu-rechtrückte und sich vor dem Spiegel im Flur die Barthaareglättete.Dabei ginge es ihm nicht darum, komplizierte Gedankenunverhältnismäßig zu vereinfachen, der Artikel sei schließ-lich für Leute gedacht, die etwas von der Sache verstehen.Und doch hatte ich keinerlei Kritik an seinem Dativ beiden Geothermalkraftwerksbauplänen geübt, ich hatte ledig-lich darüber nachgedacht, ob man nicht ab und zu den Be-griff ertragreich, der ganze 14 Mal auf einer Seite vorkam,gegen ein altmodisches, volkstümliches und selten verwen-detes Adjektiv wie zum Beispiel geburtenreich, also reich anGeburten, austauschen könnte. Das hatte ich jedoch nichtlaut gesagt, sondern nur so bei mir gedacht und mich da-rüber amüsiert. Wenn man sich dann am Ende einig gewor-den ist, fangen manche Männer an, ein wenig von sich selbst

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zu erzählen und mir Fragen zu stellen, zum Beispiel, ob ichverheiratet bin. Zwei- oder dreimal habe ich einem ein Brotgeschmiert. Ich möchte jedoch betonen, dass nicht ich dieAnzeige verfasst habe, das war meine Freundin Auður ineinem offensichtlich manischen Anfall. Mir liegt es näm-lich nicht, die Dinge so auf die leichte Schulter zu nehmen.

Übernehme Korrekturlesen, überarbeite Diplomarbei-ten, auch Artikel für Fachzeitschriften und Tageszei-tungen zu Themen jeder Art. Überarbeite auch Redenvon Politikern, unabhängig davon, welcher Partei sieangehören, korrigiere individuelle Eigenarten in ano-nymen Beschwerde- oder Fanbriefen, entferne Schnit-zer und peinliche Zitate von Philosophen und Dich-tern in Festreden, hebe das Niveau von Nachrufen aufnahezu himmlische Ebene an, verfüge über eine großeAuswahl von Zitaten verstorbener Nationaldichter.Außerdem Übersetzungen aus elf Fremdsprachen insIsländische und aus dem Isländischen in andere Spra-chen, darunter Russisch, Polnisch und Ungarisch.Schnelle und sorgfältige Arbeit. Lieferservice. Sämtli-che Unterlagen werden vertraulich behandelt.

Ich nehme den noch warmen Vogel auf und vermute, dassich einen Gänserich überfahren habe, und da ich ironischer-weise gerade erst einen Artikel über das Paarungsverhaltenvon Gänsen korrekturgelesen habe, in dem von der lebenslan-gen Treue zu ein und demselben Partner die Rede ist, sucheich in der Gänseschar nach der Lebensgefährtin des Verstor-benen. Immer noch überqueren ein paar Tiere watschelnddie spiegelglatte Straße und springen hinauf auf den Bürger-steig auf der anderen Seite, die großen orangefarbenen Gän-sefüße leuchten auf dem Asphalt. Soweit ich sehen kann,

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blickt sich keine aus der Schar nach ihrem Gefährten um,keine scheint eine besondere Ähnlichkeit mit der Gans inmeiner Hand aufzuweisen, wie man sie oft zwischen lang-jährigen Partnern feststellt. Wo es mir doch in letzter Zeitsogar gelungen ist, einige der schwarzen Katzen in der Stra-ße auseinanderzuhalten, allein dadurch, wie sie auf meineZärtlichkeiten reagieren. Immer noch stehe ich mitten aufder Straße und halte dieses ziemlich fette Tier am Hals undbin überrascht, dass ich weder Abscheu noch Schuldgefühlein mir verspüre. Wo ich doch im Grunde meines Herzensein eher mitfühlender Mensch bin, das heißt, Streit zu ver-meiden versuche. Es fällt mir schwer, einen Antrag abzu-lehnen, der männlicher Sentimentalität entspricht, und ichkaufe alle Lose von Wohlfahrtsorganisationen, deren Postin meinem Briefkasten landet. Jetzt stellt sich bei mir eineVorfreude ein, wie man sie vielleicht sonst nur an der Fleisch-theke kurz vor Weihnachten empfindet, und ich denke überGewürze und Beilagen nach und darüber, ob das Musterdes Good-Year-Reifens unter einer dickflüssigen Wildsoßenoch zu erkennen sein wird.»Ja, also dann – ein frohes neues Jahr im Voraus«, sage ichzu meinen Freunden, die ich an einem dunklen November-abend überraschend zum Essen eingeladen habe. Mehr sageich nicht.Ich schnappe mir ein paar Seiten aus einem unglaublichlangweiligen Artikel über Wärmeleiter und lege den Vogelim Kofferraum vorsichtig darauf ab. Es ist eine Ewigkeither, dass ich den Kofferraum zuletzt geöffnet habe, und ichstelle fest, dass er bis oben hin voll ist mit den Küchenrollen,die ich bereits vor Monaten gekauft habe, um einen Sport-ausflug behinderter Jugendlicher zu unterstützen. Im Nach-hinein bin ich froh, dass ich nicht die gefrorenen Krabbengenommen habe.

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Doch die Gans wird nicht das gleiche Schicksal erleiden,denn ich werde meinem Ehemann, der selbst ein Meisterder Kochkunst ist, eine freudige Überraschung bereiten. Zu-erst muss ich aber noch in diesem Mehrfamilienhaus imNachbarviertel vorbeischauen, um noch ein einziges Maldas zu tun, was ich eigentlich nie wieder hatte tun wollen.

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Zwei

Ich parke den Wagen vor dem mehrstöckigen Haus, dannlaufe ich die mit einem robusten Läufer ausgelegte Treppebis in den zweiten Stock hinauf, nehme zwei Stufen auf ein-mal in dem lila gestrichenen Treppenhaus, sodass man mei-ne Absätze klappern hört. Es interessiert mich nicht, dasssich auf dem Weg nach oben zwei oder drei Türen einenSpalt weit öffnen und der Geruch von jahrelangem Wohnendaraus hervorquillt, es würde mich auch nicht interessieren,ob jemand hinter mir her spioniert, denn das, was ich dazum dritten Mal in drei Wochen tue, tue ich normalerweisenicht, ist ehrlich gesagt eine absolute Ausnahme, denn ichbin eine verheiratete Frau.Wenn ich dieses Haus nachher wieder verlasse, weiß ich ge-nau, dass ich nie wieder hierher zurückkehren werde, unddeshalb sind mir die geöffneten Türen egal, deshalb ver-schwende ich keinen Gedanken an die Gaffer. Denn ich ha-be es eilig, meinem Liebhaber die blutigen Hände um denHals zu legen, auf dem neu verlegten Parkett zu liegen undmit meinen Fingern seinen Nacken hinabzugleiten und da-bei eine rote Spur zu hinterlassen, das Ganze dann rasch hin-ter mich zu bringen, um noch die Beilagen für die Gans zubesorgen, bevor die Geschäfte zumachen. Es dauert ewig,bis er mich aus den Stiefeln herausgezerrt hat, er beugt sichim Türrahmen nach vorne, und ich strecke ihm mein Beinentgegen, er lässt mich währenddessen nicht aus den Au-gen, hat seine Brille schon abgenommen. Er hat die Jalousienfast ganz heruntergezogen und die tief stehende November-sonne, die über der Halbinsel von Seltjarnarnes unterzuge-hen beginnt, überzieht unsere Körper mit Streifen, sodass

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wir wie zwei Zebras aussehen, die an der Wasserstelle kurzaufeinandertreffen. Am Waschmittelgeruch merke ich, dasser das Bett frisch bezogen hat, alles ist überaus ordentlich,eine solche Wohnung könnte ich bei einem Brand oder beiKriegsausbruch verlassen, ohne etwas mitnehmen zu müs-sen, ohne etwas daraus zu vermissen. Das Einzige, was nichthierher passt, sind die gerüschten, gemusterten Volants überden Jalousien.»Meine Mutter hat sie genäht und mir nach der Scheidunggeschenkt«, sagt er und räuspert sich.Natürlich verändert sich die Umgebung je nach Stimmungund Gefühlen, obwohl ich mir ausgerechnet jetzt und indieser Situation nicht wirklich zutraue, über die Bedeutungvon Schönheit oder Wohlbefinden zu philosophieren. Ichhabe es auch nicht von langer Hand geplant, dass ich jetzthier nackt am äußersten Rand eines fremden Bettes sitze;das sind nur eben die Umstände, in denen ich mich geradebefinde. Es ist mir gleichgültig, dass hier jede Farbe fehlt, ja,dass die ganze Wohnung vielleicht sogar hässlich ist, es istmir auch gleichgültig, dass er so gut wie keine Kommas setztund alles in einem so »kompackten« Stil schreibt, seine Spra-che mitunter sogar ein wenig grob ist, auch dort, wo es soüberhaupt nicht angemessen ist, denn dafür kann er ordent-lich zupacken, wenn es darauf ankommt. Auch wenn ichauf diesem Gebiet nicht viel Erfahrung haben mag, weißich, dass es keinen Zusammenhang zwischen Sex und Sprach-gefühl gibt, so viel habe ich gelernt.Auf der ersten Seite klebt eine kleine Feder mitten in einemBlutfleck, doch ich spekuliere nicht länger darüber, ob ichihm den Artikel vorher oder nachher geben soll, die Erfah-rung hat mich gelehrt, dass es besser ist, wenn ich es hinter-her tue, denn man soll Berufliches und Privates nicht mit-einander vermischen. Als wir das erste Mal miteinander ge-

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schlafen hatten, schien es ihn zu wundern, dass ich ihmanschließend die Rechnung samt gesondert ausgewiesenerMehrwertsteuer überreichte.Anschließend helfe ich ihm dabei, das Laken wieder glattzu-ziehen, und während er den blau gestreiften Bettbezug, derzusammengeknäult auf dem Boden liegt, wieder über dieDaunendecke zieht, gibt er sich ganz offen und vertrautmir Dinge an, die keine Frau je weitererzählen dürfte. Dabemerke ich zum ersten Mal eine sonderbare Tätowierungauf dem unteren Rücken, nicht unähnlich einem Spinnen-netz, was an und für sich schon ungewöhnlich ist für einenMann in seiner Position. Als ich die Stelle berühre, nehmeich darunter eine wulstige Narbe wahr. Ich frage ihn danachund er sagt mir, das sei ein Versehen gewesen, und ich binmir nicht sicher, ob er damit die Narbe oder die Tätowie-rung meint.Er streckt die Hand aus.»Ist das nicht deins?«, fragt er und hält ein weißes Spitzen-höschen zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Als obnoch andere dafür infrage kämen.Jetzt habe ich es eilig, nach Hause zu kommen, doch als ichmir die Hände mit seiner rosafarbenen parfümierten Seifen-lotion gewaschen habe und wieder aus dem Bad herauskom-me, hat er bereits den Tisch gedeckt, Eier gekocht, zwei Schei-ben Brot für mich mit Lachs belegt und Tee gemacht. Wäh-rend ich esse, steht er mit nacktem Oberkörper barfuß nebenmir und schaut mir dabei zu,während er sein Hemd anzieht.»Vor ein paar Tagen habe ich dein Auto in der Stadt gesehenund direkt neben dir geparkt«, sagt er. »Ist dir das nicht auf-gefallen?«»Nein, ist es nicht.«»Ist dir noch nicht einmal aufgefallen, dass jemand deineWindschutzscheibe freigekratzt hat?«

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»Nein, ist es nicht, aber trotzdem danke.«»Dabei habe ich auch gesehen, dass du bald zum TÜVmusst mit dem Wagen.«Nachdem ich beide Brote aufgegessen habe, will ich michbei ihm für alles bedanken und ihn küssen, weil ich nie mehrwiederkommen werde, aber jetzt fragt er mich, ob ich oft anihn denke.»So alle drei bis vier Tage«, sage ich.»Das macht dann fünf Komma sechs Mal in drei Wochen«,so der frisch geschiedene Fachmann, an dessen über derHose hängendem Hemd inzwischen ein Knopf geschlossenwurde. »Ich denke also offensichtlich öfter an dich als duan mich, nämlich etwa sechzig Mal am Tag. Auch wenn ichnachts aufwache, denke ich darüber nach, was du wohl ge-rade so machst, in Gedanken schaue ich dir zu, wie du dichnach dem Baden eincremst, ich überlege, wie es wäre, indeiner Haut zu stecken, und abends stelle ich mir vor, dassdu erst ins Bett gehst, wenn dein Mann eingeschlafen ist.«»Er ist dieser Tage abends ziemlich selten daheim«, sage ich.Da fragt er, ob ich vorhabe, mich scheiden zu lassen.»Nein, das habe ich eigentlich nicht vor«, antworte ich.Denn ich liebe meinen Mann wohl. Das sage ich aber nicht.Und dann teilt er mir, ohne zu zögern, mit, dass dies dasletzte Mal war.»Das letzte Mal wofür?«»Dass wir miteinander schlafen. Es ist eine zu große Qualfür mich, mich danach von dir verabschieden zu müssen,ich habe das Gefühl, als würde ich am Rande eines hohenFelsens stehen, und dabei habe ich so große Höhenangst.«Als ich die Treppe in seinem Haus zum dritten Mal in ge-nau so vielen Wochen hinuntergelaufen bin, sehe ich, dasses draußen unglaublich düster geworden ist. Aber jetzt binich weg und jetzt ist Schluss und ich tue das, was ich da ge-

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rade getan habe, nie wieder, denn ich habe es eilig heim-zukommen. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass da je-mand auf mich wartet. Unterwegs im Auto läuft im Radiodas Frühlingslied von Mendelssohn, die Platte ist schon altund verkratzt, aber der Radiomoderator scheint das über-haupt nicht zu merken. Ich hingegen weiß es, auch wennich wohl kaum behaupten könnte, dass ich zuhöre.

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Drei

Auch wenn keine Frau ihr Leben ganz im Griff haben kann,ist es doch zu neunundneunzig Komma neun Prozent sicher,dass ich diesen Tag zu Hause im Bett mit meinem Mannbeenden werde. Aber jetzt merke ich, dass ich meinen vierJahre alten, mit Gangschaltung ausgestatteten Wagen um-ständlich vor meiner alten Wohnung einparke, in der Stra-ße, in der ich vor zwei Jahren einmal gelebt habe. Dabei hat-te ich es doch so eilig, nach Hause zu kommen. Und dannerkenne ich die Gardinen nicht wieder und mir fällt ein, dassich keinen Schlüssel mehr für diese Haustür besitze unddass ich seither schon zwei Mal umgezogen bin, wenn auchnie weit weg. Beim Wegfahren sehe ich, dass jemand in demZimmer, in dem einmal mein Computer stand, ein Baby-mobile aufgehängt hat; um ganz sicherzugehen, warte ichnoch einen Moment, bis ich schließlich einen Mann sehe,der mit einem Baby an der Schulter am Fenster vorbeigeht.Immerhin weiß ich, dass das nicht mein Mann ist, dass dasnicht mein Kind ist. Denn ich habe kein Kind.Ich sitze immer noch im Auto, als mein Handy klingelt, esist die Musiklehrerin, die Klavierspielerin, meine Freundin.Auður ist alleinerziehend, hat einen vier Jahre alten gehör-losen Sohn und ist im 7. Monat schwanger. Abends sitzt sieim Bett und spielt Akkordeon und normalerweise ist sie ei-nem guten Schluck Cognac nicht abgeneigt.Sie sagt, sie kann nicht lange sprechen, sie ist eigentlich ge-rade beschäftigt mit einem schwierigen Schüler und dessennoch schwierigerer Mutter, und ausgerechnet jetzt – nunflüstert sie fast – hat sie einen Termin bei einer Wahrsage-rin, vielleicht nicht direkt einer Wahrsagerin, eher könnte

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