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Eine Veranstaltung des Beziks Oberbayern, des Referates für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München und des Arbeitskreises Migration und Gesundheit des Gesundheitsbeirates der Landeshauptstadt München Interkulturelle Öffnung von Psychiatrischen Einrichtungen Dokumentation des Fachtages vom 2. Juli 2004 in München, Plenarsaal des Bezirks Oberbayern

Interkulturelle Öffnung von Psychiatrischen Einrichtungen · 2020. 3. 16. · Referat für Gesundheit und Umwelt, Abteilung Psychiatrie und Sucht, Abteilungsleitung und Psychiatriekoordinatorin

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  • Eine Veranstaltung des Beziks Oberbayern, des Referates für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München und des Arbeitskreises Migration und Gesundheit des Gesundheitsbeirates der Landeshauptstadt München

    Interkulturelle Öffnungvon Psychiatrischen Einrichtungen

    Dokumentation des Fachtagesvom 2. Juli 2004 in München,Plenarsaal des Bezirks Oberbayern

  • Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................... 3

    Vorwort des Referenten ............................................................................................................. 5

    Einführung .................................................................................................................................. 6

    Dr. Maria Gavranidou Fachstelle Migration und Gesundheit, Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München ............................................................................... 6

    Eröffnung des Fachtages ........................................................................................................... 9

    Hermann Kraus Bezirk Oberbayern, Psychiatriekoordination ............................................... 9

    Theresia Ernst Referat für Gesundheit und Umwelt, Abteilung Psychiatrie und Sucht, Abteilungsleitung und Psychiatriekoordinatorin ..................................................................... 9

    Vortrag: „Psychiatrie ohne MigrantInnen? Oder wie viel Fremde(s) verkraften die Akteure im Versorgungssystem?“.............................................................................................................. 12

    Prof. Dr. Wielant Machleidt Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie ................................................................................. 12

    Fallvignetten zur psychiatrischen Versorgungspraxis von Migrantinnen und Migranten ....... 18

    Karla Baran Beratungsdienste der Arbeiterwohlfahrt (AWO) München, Psychologischer Dienst.................................................................................................................................... 18

    Dr. Ana Rosbund-Zickert Psychologischer Dienst für Ausländer der Caritas München..... 19

    Milka Tišma Sozialpsychiatrischer Dient (SPDi) Giesing in München ................................ 20

    Dr. Waltraut Wirtgen Refugio München ............................................................................... 21

    Polina Hilsenbeck Leitung Psychiatrie&Suchthilfe im Verein FrauenTherapieZentrum FTZ München e.V. ....................................................................................................................... 22

    Diskussion und Zusammenfassung Teil I................................................................................ 24

    Moderation Dr. Thomas Hegemann Bayerisches Zentrum für Transkulturelle Medizin ..... 24

    Statements ............................................................................................................................... 27

    Dr. Herbert Pfeiffer Bezirkskrankenhaus Haar (BKH) in München, Allgemeinpsychiatrie Nord-II................................................................................................................................... 27

    Dr. Josef Bäuml Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Rechts der Isar der TU München Leitender Oberarzt................................................................................... 29

    Dr. Gabriele Schleunig Atriumhaus Psychiatrisches Krisen- und Behandlungszentrum in München............................................................................................................................... 31

    Sabine Frey Innere Mission München ................................................................................. 33

  • 4

    Dr. Heinrich Berger Sozialpsychiatrischer Dienst Giesing .................................................. 35

    Diskussion und Zusammenfassung Teil II............................................................................... 39

    Moderation Claudia Decker Bayerischer Rundfunk............................................................. 39

    Ausblick und Anregungen .................................................................................................... 40

    Evaluation................................................................................................................................. 42

    Anhang ..................................................................................................................................... 46

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    Vorwort des Referenten

    Deutsche Fachkräfte, auch wenn sie mehrsprachig sind, stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn Migrantinnen und Migranten psychiatrische oder psychotherapeutische Unterstützung benötigen. Um hier wirklich Hilfe leisten zu können, bedarf es zusätzlicher Kenntnisse über Kultur und Migration. Psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionsmaßnahmen und Präventionsangebote sind ohne Wissen über den soziokulturellen Hintergrund der Person und die besonderen Anforderungen, die diese Person zu bewältigen hat, selten erfolgreich. Gleichzeitig sind den deutschen Fachkräften die besonderen Ressourcen oder Stärken von Migrantinnen und Migranten kaum bekannt.

    Aber auch wenn Angebote ausreichend vorhanden, angemessen und differenziert wären, kämpfen Migrantinnen und Migranten mit einer weiteren Barriere: dem geringen Bekanntheitsgrad solcher Angebote. Sei es aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, sozialer Isolation, geringem Wissen über das Leben im Gastland oder aufgrund der täglichen Überforderung - viele von ihnen bleiben oft uninformiert bzw. verfügen nur über Halbwissen oder sogar falsches Wissen. Vorhandene Angebote, die existieren, müssen jedoch sowohl der nicht-deutschen Bevölkerung als auch den deutschen und nicht-deutschen Fachkräften, die mit ihnen zu tun haben, bekannt sein.

    Gerade heute sind Maßnahmen erforderlich, die jene auffangen, die die gravierenden Einsparungen und Reformen am härtesten treffen. Die psychiatrisch-psychologische Versorgung von Migrantinnen und Migranten war bereits in der Vergangenheit nicht ausreichend gesichert. Nach den erfolgten und noch zu erwartenden Einsparungen und Reformen im Gesundheitswesen ist zu befürchten, dass die Situation sich weiter verschlechtern wird.

    Das Referat für Gesundheit und Umwelt will allen Münchner Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von der geschlechtsspezifischen und kulturellen Identität den gleichen Zugang zu den Angeboten des Gesundheitswesens ermöglichen.

    Mit dem Fachtag „Interkulturelle Öffnung von Psychiatrischen Einrichtungen“ wurde auf die Unterversorgung der Migrantinnen und Migranten gerade in diesem sensiblen Bereich aufmerksam gemacht. Im Kreis eines kompetenten Publikums wurden Wege zur Veränderung dieser Situation erörtert. Die Ergebnisse des Fachtages sind in dieser Broschüre dokumentiert.

    Ich danke allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben und freue mich, wenn die Erkenntnisse und Anregungen aus dem Fachtag Sie bei der interkulturellen Öffnung Ihrer Einrichtungen unterstützen.

    Joachim Lorenz

    Referent für Gesundheit und Umwelt

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    Einführung

    Dr. Maria Gavranidou Fachstelle Migration und Gesundheit, Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München

    Die Versorgung psychisch kranker Migrantinnen und Migranten, insbesondere der Flüchtlinge, ist auch nach vierzig Jahren Migrationsgeschichte in der BRD unbefriedigend: „Migranten seien seltener in psychiatrischer Behandlung, als ihr Anteil an der Bevölkerung vermuten lasse,.... Dagegen würden sie deutlich häufiger per Zwangsmaßnahme eingewiesen. Nur wenige chronisch kranke Migrantinnen und Migranten würden in gemeinde-psychiatrischen Einrichtungen betreut. ‚Hier besteht eindeutig Unterversorgung’, beklagt Leidinger“ (Bühring, 2002, 1994)1. In einer Befragung des Referats für Gesundheit und Umwelt von Ärztinnen und Ärzten in München gaben 49% der Nervenärzte/innen und Psychiater/innen an, keine ausländische Klientel zu behandeln.2

    Es wäre zu erwarten, dass die Anzahl der Migranten/innen in der Psychiatrie angesichts der vielfältigen Stressoren (Akkulturationsstress, Traumatisierungen auf der Flucht, aktuelle Lebensbedingungen, Diskriminierung und Rassismus, Wertekonflikte etc.), fehlender Ressourcen (Sprache, Wissen und Kenntnisse über die Möglichkeiten in der BRD) und Unterstützungssysteme (Familienverband im Heimatland) sogar höher ist als in den vergleichbaren deutschen Bevölkerungsgruppen. Die in der Migrationsforschung bekannte Annahme, dass nur gesunde Menschen das Abenteuer der Migration und Flucht auf sich nehmen (healthy migrant hypothesis), könnte eine Erklärung dafür sein, dass Migranten/innen in psychiatrischen Einrichtungen unterrepräsentiert sind. Eine andere Erklärung ist die Hypothese einer monokulturellen Ausrichtung der psychiatrischen Einrichtungen. Empirische Studien unterstützen die zweite Annahme und das macht deutlich, dass für eine angemessene psychiatrische Versorgung von Migrantinnen und Migranten eine Interkulturelle Öffnung erforderlich ist. Unter interkultureller Öffnung verstehen die Veranstalter:

    a) Einstellung muttersprachlichen Fachpersonals: Muttersprachliches Personal kann Einrichtungen öffnen - oft fast ohne zusätzliche Anstrengungen -, sofern dies in der Migrationsbevölkerung bekannt ist. So ist nach einer Befragung der Fachstelle Migration und Gesundheit des Referats für Gesundheit und Umwelt die Inanspruchnahme durch Migrantinnen und Migranten bei einem Sozialpsychiatrischen Dienst mit einer Muttersprachlerin mit einem Anteil von ca. 26% achtmal höher als bei Sozialpsychiatrischen Diensten ohne muttersprachliches Personal. In der Ärztebefragung des Referats für Gesundheit und Umwelt zeigte sich auch, dass muttersprachliche Fachärzte/innen zu über 50% ausländische Klientel behandeln.

    b) Muttersprachliches Informationsmaterial für Migrantinnen und Migranten über psychiatrische Einrichtungen: Neben Bekanntmachung der Dienste und Öffentlichkeitsarbeit in den kulturellen subkommunalen Strukturen (Vereine,

    1 In Petra Bühring (2002). Psychisch kranke Migranten. Interkulturelle Kompetenz immer wichtiger. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 99, Heft 30. 26.07.02, 1594-1595. 2 Referat für Gesundheit und Umwelt (in Vorbereitung). Migrationsgesundheitsbericht, Kapitel 3, S. 18-33.

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    Initiativen, religiöse Zentren), sind leicht verständliche und in diversen Sprachen verfasste Broschüren und Flyer erforderlich.

    c) Fortbildung des Personals zur Erlangung von interkulturellen Kompetenzen: Transkulturelle Konzepte und Modelle existieren zwar in der Medizin und auch in der Psychotherapie, allerdings werden in der BRD – anders als in Nordamerika – diese nicht ausreichend in der Ausbildung integriert und vermittelt. Deshalb sind Aus-, Weiter- und Fortbildungsangebote für das Personal der Einrichtungen dringend notwendig. Hierbei geht es aber nicht nur um die Erweiterung der eigenen Krankheits- und Gesundheitskonzepte. Menschen anderer Kulturen sind in vielfältiger Weise anders und lassen sich nicht in Kategorien in der Form „Das mache ich bei einem türkischen Jugendlichen...“ oder „Das mache ich bei einer koreanischen älteren Frau..“ einordnen. Ein solches „richtiges Detailwissen“ ist nicht hilfreich und seine Existenz würde nur Stereotypebildung fördern. Es gibt stattdessen kultursensible therapeutische und beraterische Haltungen, die nach Steinkopff (2001) im wesentlichen charakterisiert sind durch eine „..bewusste Analyse und Hinterfragung der eigenen Wertvorstellungen...“ (S. 340).3

    d) Interkulturelle Supervisionen für das Fachpersonal: Diese können als ergänzende Fort- und Weiterbildungsangebote dazu verhelfen, das bewusste Analysieren und Hinterfragen der eigenen Wertvorstellungen zu erlernen, und Respekt gegenüber kulturellen Besonderheiten der Klientel vermitteln. In der interkulturellen Supervision können im konkreten Fall die hilfreichen und passenden kulturellen Informationen gegeben und über kulturspezifische Lösungs- und Therapieangebote informiert werden. In der erwähnten Ärztebefragung sehen Ärztinnen und Ärzte ihre ausländische Klientel als grundsätzlich weniger compliant, unzuverlässiger im Hinblick auf die Therapieeinhaltung und fordernder. Solche Patientenwahr-nehmungen sind ein Bereich, in dem Interkulturelle Supervision hilfreich sein kann.

    e) Migranten-spezifische Niederschwelligkeit der Einrichtungen: Ein großer Teil der hier lebenden Migrantinnen und Migranten leben unter sozial nachteiligen Bedingungen. Sie haben den gleichen Respekt wie deutsche Benachteiligte vor Ämtern und öffentlichen Institutionen und scheuen den Kontakt mit diesen bzw. sind eher zögerlich bei deren Inanspruchnahme, insbesondere in der Psychiatrie. Flüchtlinge sind häufig aufgrund von Traumatisierungen nicht in der Lage aus eigener Kraft nach angemessener Hilfe zu suchen.

    f) Gezielter Einsatz von Dolmetscherdiensten in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten: In psychiatrisch-psychotherapeutischen Situationen ist die Behandlung durch eine muttersprachliche Fachperson der beste Weg. Allerdings ist dieser selten realisierbar. In Fällen von fehlenden muttersprachlichen Fachkräften ist aber der Einsatz von geschulten Dolmetschern/innen dringend notwendig. Es ist kaum vorstellbar – aber Tatsache –, dass Anamnesen und Diagnostik bei Migrantinnen und Migranten ohne ausreichende Deutschkenntnisse immer noch ohne die Hinzuziehung und Hilfe eines/r geschulten Dolmetschers/in stattfinden. Nicht selten führt dies zu Fehldiagnosen und demzufolge zu einer falschen Intervention und Behandlung. Dies wird besonders häufig bei Flüchtlingen, die traumatische Ereignisse erlebt haben, berichtet. Die Einbeziehung von verwandten Personen ist unprofessionell, ethisch fragwürdig und oft auch therapeutisch contraindiziert.

    Die Aussagen der Ärzte und Ärztinnen in der Münchner Ärztebefragung unterstützen diese Forderungen, denn auf die Frage nach konkreten Verbesserungsmaßnahmen in der

    3 Steinkopff, B. (2001). Arbeit mit traumatisierten Migrantinnen und Migranten. In Th. Hegemann, R. Salman (Hrsg.), Transkulturelle Psychiatrie (S. 325-340). Bonn: Psychiatrie Verlag.

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    Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund wurde am häufigsten die Verbesserung der Verständigung (30%) genannt. Ärztinnen und Ärzte der Fachrichtungen Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie haben überdurchschnittlich häufig einen Bedarf am Ausbau von Beratungsstellen und Diensten, vor allem im psychologischen und psychotherapeutischen Bereich, genannt (Migrationsgesundheitsbericht, S. 33)

    In einer Stadt wie München, in der schätzungsweise über 300.000 Migrantinnen und Migranten leben, darunter auch viele traumatisierte Flüchtlinge, ist eine interkulturelle Öffnung psychiatrischer Einrichtungen dringend erforderlich. Mit unserer Veranstaltung wollen wir gemeinsam mit Expertinnen und Experten über Realisierungsmöglichkeiten in Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung diskutieren.

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    Eröffnung des Fachtages

    Hermann Kraus Bezirk Oberbayern, Psychiatriekoordination

    Herr Kraus zuständiger Psychiatriekoordinator des Bezirks Oberbayern begrüßte die Teilnehmer im Namen des Bezirkstagspräsidenten Jungwirth.

    Im folgenden erörterte er die Versorgungssituation in München und die finanzielle Lage des Bezirks Oberbayern:

    Die Struktur der Psychiatrie gliedert sich in ambulante, komplementäre und klinische Versorgung. Herr Kraus ist schwerpunktmäßig für die ambulante und komplementäre Versorgung zuständig.

    Für diesen Bereich stehen in Oberbayern derzeit 183 Millionen € zur Verfügung, davon ca. ein Drittel für München.

    Dazu gehören:

    Ø alle Formen des Wohnens, also Wohngemeinschaften, betreutes Einzelwohnen und Langzeiteinrichtungen,

    Ø tages- und beschäftigungsstrukturierende Maßnahmen, also Tagesstätten, Integrations- und Zuverdienstfirmen,

    Ø verschiedenste Beratungsangebote (z.B. Sozialpsychiatrische Dienste, Suchtberatungsstellen)

    Im Bereich der Migrantenversorgung fördert der Bezirk einen Dolmetscherdienst und einen mehrsprachigen Beratungsdienst. Das Geld für zusätzliche, spezialisierte Angebote ist derzeit nicht vorhanden.

    In München ist eine hohe Versorgungsdichte an psycho-sozialen und sozialpsychiatrischen Angeboten gegeben. Das Hauptproblem ist, dass diese Behandlungs-, Beratungs- und Betreuungsstellen von Migranten nicht in ausreichendem Maße in Anspruch genommen werden (können). Es gilt also Integrationskonzepte zu erarbeiten, die eine Inanspruchnahme der Versorgung durch Migranten ermöglicht.

    Dieser Fachtag soll dazu beitragen, Ansätze, Möglichkeiten und Lösungen zur „interkulturellen Öffnung von psychiatrischen Einrichtungen“ zu diskutieren. Die Finanzen könnten dann besser eingesetzt werden, um notwendige Umstrukturierungen der Versorgungseinrichtungen zu ermöglichen.

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    Theresia Ernst Referat für Gesundheit und Umwelt, Abteilung Psychiatrie und Sucht, Abteilungsleitung und Psychiatriekoordinatorin

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    Als Vertreterin des Referats für Gesundheit und Umwelt der LH München begrüße ich Sie herzlich zum heutigen Fachtag „Interkulturelle Öffnung von psychiatrischen Einrichtungen“. Ich stehe eigentlich in doppelter Funktion hier vor Ihnen. Einmal als Psychiatriekoordinatorin der Stadt München, aber auch als Leiterin der PSAG/AK Psychiatrie, die ebenso wie der AK Migration und Gesundheit ein Arbeitskreis des Gesundheitsbeirats der Stadt München ist. Zum Thema interkulturelle Öffnung hat der Gesundheitsbeirat im Rahmen seiner kürzlich vollzogenen Reform einen wichtigen Schritt getan. Er hat bei der Neubesetzung des Vorstands unter anderem mit einer Vertreterin des Querschnittsthemas „Migration“ dafür gesorgt, dass dieses Thema im kommunalen Gesundheitsbereich regelmäßig Beachtung findet. Darüber hinaus haben die Leitungen der Arbeitskreise des Gesundheitsbeirats unter anderem auch den Auftrag, ihre Themenbereiche miteinander zu vernetzen. So werden Psychiatrie und Migration auch über das Tätigwerden dieser beiden Arbeitskreise und ihrer Leiterinnen miteinander in Kontakt gebracht. Eine wichtige Funktion in dieser Vernetzungsarbeit kommt dabei auch dem Unterarbeitskreis Migration und Psychiatrie zu, der ja maßgeblich an der Organisation dieser heutigen Veranstaltung beteiligt war.

    Migration - die Wanderung von Menschen über Grenzen hinweg - ist ein Vorgang, der in verschiedenen Teilaspekten immer wieder sehr kontrovers diskutiert wird und der verschiedene Probleme mit sich bringt – in der Öffentlichkeit, in der Politik und in unterschiedlichen Fachbereichen.

    Wir wollen heute in dieser Veranstaltung über die Situation von Migrantinnen und Migranten mit psychischen und psychiatrischen Erkrankungen und über ihre Versorgung hier in München sprechen.

    Eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung sicherzustellen, ist seit Jahren ein Hauptthema der Sozial- und Gesundheitspolitik. Die bereits bestehenden ambulanten, teilstationären und stationären psychiatrischen Einrichtungen bieten grundsätzlich gute Voraussetzungen, um auch Münchner Bürgerinnen und Bürger nicht-deutscher Herkunft zu betreuen. Die Praxis zeigt aber, dass die Einrichtungen nur wenig oder nur unzureichend von diesen Betroffenen in Anspruch genommen werden. Die Frage ist daher, ob dieses Angebot den individuellen Bedürfnissen dieser Betroffenen gerecht wird, ob das Angebot angemessen ist, ob es differenziert genug ist, und ob es vor allem auch bekannt genug ist bei denen, die es erreichen will?

    Am 18.7.2002 wurde dem Münchner Stadtrat vom Referat für Gesundheit und Umwelt eine Beschlussvorlage zum Thema „Verbesserung der gesundheitlichen Lage von Migrantinnen und Migranten“ vorgelegt. Darin wurde u.a. festgestellt, dass es ein großes Defizit an migrantenspezifischen Gesundheitsinformationen gibt, insbesondere auch über die psychisch und psychiatrisch

  • 11

    Erkrankten. Systematische Untersuchungen, die eindeutige Informationen über die psychotherapeutisch-psychiatrische Versorgung von Migrantinnen und Migranten liefern könnten, wurden bisher nicht erhoben. Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber, dass es deutliche Mängel in der gesundheitlichen Versorgung der Betroffenen gibt. Zur beispielhaften Verdeutlichung ein Zitat aus dieser Stadtratsbeschlussvorlage: „Der vom Bezirk Oberbayern herausgegebene Stadtpsychiatrieführer weist für München unter den fremdsprachlichen, niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater keinen einzigen mit türkischen Sprachkenntnissen auf“, heißt es dort. Und weiter: „Angesichts der Tatsache, dass über 47 000 türkische Mitbürger- und innen in München leben, ist das Fehlen einer solchen Fachperson kaum nachvollziehbar und eindeutig als Mangel in der psychiatrischen Versorgung zu bewerten.“ Auch in der Datenbank der KV zu niedergelassenen PsychiaterInnen und NervenärztInnen wird man mit diesem Bedarf nicht fündig. Vom RGU ist vor etwa 4 Jahren eine Befragung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in München zum Thema „ausländische Patienten/innen“ durchgeführt worden. Hier sei nur ein Beispiel aus dem Datenmaterial genannt: 49% der Nervenärzte/innen und Psychiater/innen gaben an, keine ausländische Klientel zu behandeln.

    Es ist eine anerkannte Tatsache, dass in der Gesundheitsversorgung, auch und besonders im Bereich der Psychotherapie und Psychiatrie zusätzliche Kenntnisse über Kultur und Migration grundlegend notwendig sind, um die Erkrankten effektiv unterstützen zu können. Die Muttersprache und der kulturelle Hintergrund besitzen eine außerordentliche Bedeutung bei der Diagnosestellung und Therapie. Fehlen muttersprachliche Fachkräfte, kann dies zu Fehldiagnosen und unzureichenden Therapien führen. Die Folgen einer solchen inadäquaten Behandlung führen wiederum zu Folgekosten im Gesundheitsbereich und u.U. auch in anderen Bereichen. Diese Kostensteigerungen wären - zumindest zu einem Teil - vermeidbar durch angemessene Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung von psychiatrischen Einrichtungen.

    Solche Maßnahmen könnten z.B. sein: - die Einstellung von muttersprachlichem Fachpersonal, - Fortbildungsangebote zur Erlangung von interkultureller Kompetenz, - ein gezielter Einsatz von Dolmetschern und anderes.

    Auf kurze Sicht verursachen solche Maßnahmen zweifellos Mehrkosten, langfristig führen sie aber eher zu Kostensenkungen, weil die oben genannten Folgen einer inadäquaten Behandlung reduziert werden könnten.

    Für die heutige Diskussion über die Möglichkeiten einer interkulturellen Öffnung von psychiatrischen Einrichtungen und den damit beschrittenen Weg, die Versorgungsqualität psychisch kranker Migrantinnen und Migranten in unserer Bevölkerung zu verbessern, wünsche ich uns allen viel Erfolg.

    Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

  • 12

    Vortrag: „Psychiatrie ohne MigrantInnen? Oder wie viel Fremde(s) verkraften die Akteure im Versorgungssystem?“

    Prof. Dr. Wielant Machleidt Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie

    Einwanderung ist zurzeit ein Reizthema, das in den Medien heftig diskutiert wird. Der Begriff des „Einwanderers“ ist hoch stigmatisierend. Wie kann man diesen Begriff handhabbarer machen? Nach Karl Valentin ist der Fremde nur in der Fremde fremd. In diesem bekannten Schüler-Lehrer-Dialog wird das Eigene mit dem Fremden in Beziehung gesetzt. Letztendlich wird in diesem Dialog deutlich, dass das Fremde auch das Eigene ist. Wenn dies aber der Fall ist, muss einem das Fremde nicht mehr unheimlich sein.

    Wie sieht das bei Migrantinnen und Migranten aus? Man sagt, dass man in der dritten Generation nicht mehr fremd sei. Wenn man in seiner eigenen Familie schaut, findet man mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo einen Migranten oder eine Migrantin. Das heißt, dass die meisten von uns sich deshalb nicht fremd fühlen, weil sie mindestens die dritte Generation sind, die hier lebt.

    Es gibt viele Definitionen für den Begriff „Migrant“. Einigkeit herrscht aber darüber, dass es sich immer um eine Person handelt, die den Wohnsitz in ein anderes Land verlegt.

    Ähnliche Begriffe sind Immigrant, Auswanderer, Aussiedler, (Kontingent-) Flüchtling, Asylant, Einwanderer, Zuwanderer. Besonders bei den beiden letzten Begriffen wird das Distanzbedürfnis sprachlich gut sichtbar.

    Die Statistik besagt, dass es in Deutschland mehr als 15% Migranten, in München ca. 23% gibt. Die Einwanderung nach Deutschland wird ab 01.01.2005 durch ein neues Zuwanderungsgesetz geregelt über das es derzeit heftige politische Debatten gibt. Es wird nicht den Durchbruch bringen, den sich viele von einem modernen liberalen Zuwanderungsgesetz erwartet haben. Als Therapeuten werden wir auch zukünftig wie bisher mit den Schwächen dieses Gesetzes beschäftigt sein, wenn wir mit Migrantinnen und Migranten arbeiten. Viele dieser Patienten haben z.B. sequentielle Traumatisierungen, die durch die gesetzlichen Bedingungen der Asylvergabe nicht gebessert sondern eher verschlechtert werden.

    Für die psychische Gesundheit dieser Menschen wäre es sehr bedeutsam, wenn durch das Gesetz für mehr Klarheit und Sicherheit gesorgt würde.

    Die wichtigsten Punkte wären:

    • Aufhebung von Kettenduldungen

    • Bleiberecht nach drei Jahren

    • Kein Auseinanderreißen von Familien

    • Arbeitserlaubnis

  • 13

    Wie funktioniert der Prozess der Integration?

    Fremdes wird durch Aneignung zu Eigenem. Analog hierzu Freud: Unbewusstes wird durch Bewusstwerdung zum Bewussten, also zur „Inneren Heimat“.

    Die eigentliche Aufgabe der Integration liegt im Erkennen der eigenen Grenzen und der Entwicklung über diese hinweg. Die Integration ist ein emotionaler Prozess. Integration erfolgt über die emotionalen Schritte von Interesse, Angst, Aggression, Trauer und Freude hin zur „Fortentwicklung des Eigenen“ innerhalb der Kultur. Ihr emotionaler Gegenpart ist die „Abwehr des Fremden“. Durch wenig Interesse, Angst vor Überfremdung und Ausländerfeindlichkeit kommt es zu einem Stillstand und evtl. zu einem Erstarren der ständig auf Veränderung beruhenden Kultur zur „Leitkultur“. Der Prozess der Fortentwicklung hat eine Angstschwelle, bei deren Überwindung die dann mögliche Integration eine Weiterentwicklung bahnt.

    Die Neugier und das Interesse, die zum emotionalen Prozess der Integration gehören, sorgen dafür, dass sich vertraute familiäre Beziehungen, für fremde Personen – und somit für neue kulturelle Impulse - öffnen können. Wer gute Erfahrungen innerhalb dieser neuen Beziehungen macht, wird generell ein positives Bild von Fremden und Fremdem haben.

    Jede Kultur entwickelt sich durch die Integration von Fremdeinflüssen, also durch einen positiven Umgang mit dem Fremden. Auch die „Psychiatrie-Kultur“ entwickelt sich auf diese Weise weiter.

    Eine Befragung an Ausbildungsinstituten über die „Bedeutung einer transkulturellen Psychiatrie“ und das „Wissen über Migration in Kliniken“ kann verdeutlichen, wie es um die Weiterentwicklung der Psychiatriekultur steht.

    Von 450 befragten Psychiatrie-Weiterbildungsleitern haben immerhin 31% den Fragebogen ausgefüllt zurückgesandt. Die Befragten, die Migrantinnen und Migranten behandelten, gaben an, dass fast 95% dieser Patienten aus Osteuropa, dem Balkan, der Türkei und Südeuropa kommen. 77% hatten bei der Behandlung Verständigungsprobleme, nur 16% hatten keine Sprachprobleme. 7% machten hierzu keine Angaben.

    Was wurde dagegen unternommen? 40% gaben an mit Dolmetschern zu arbeiten, 74% mit Dolmetscherdiensten. 86,2% hatten Mitarbeiter anderer Kulturkreise, 86% deutsche Mitarbeiter mit weiteren Sprachkenntnissen. 91,1% bezogen Familienangehörige mit ein.

    Wie wird eine fachliche Ausbildung mit kulturspezifischen Inhalten eingeschätzt? Nur 51% haben transkulturelle psychiatrische Themen in die Facharztausbildung integriert. Aber 90% schätzen die Bedeutung und das Interesse an transkulturell psychiatrischem Wissen für die Facharztausbildung und insbesondere den Bedarf daran (96%) durchaus hoch ein.

    Zusammenfassend kann gesagt werden:

    • Schwierigkeiten und Interesse hängen zusammen

    • In 50% der Ausbildungsinstitute sind kulturspezifische Inhalte kein Thema

    • 51% halten kulturspezifische Inhalte für wichtig

    • Der Bedarf an kulturspezifischen Inhalten liegt bei 96%

  • 14

    Diese Daten entsprechen der ambivalenten bundesdeutschen Situation mit einem durchaus lebendigen Interesse an kulturellen Themen aber praktisch fehlenden Handlungsimpulsen.

    Wie sieht die Behandlung von Migrantinnen und Migranten aus?

    Aufgrund von Defiziten im kulturspezifischen Umgang mit Patienten kommt es bei Migrantinnen und Migranten häufig zu Schamgefühlen, Gefühlen der Stigmatisierung, Informationsdefiziten, schlechten Erfahrungen mit Behörden, sprachlichen Missverständnissen und Fehldiagnosen. Es verwundert daher nicht, dass sie ethnische Selbsthilfesysteme wie z.B. traditionelle Heiler den psychiatrischen Einrichtungen gegenüber bevorzugen. Diese Selbsthilfesysteme sollten bei der therapeutischen Arbeit mit Migrantinnen und Migranten berücksichtigt werden.

    Eine Studie unserer Institutsambulanz zeigt, dass es keine großen Unterschiede hinsichtlich Erstkontakt oder Behandlungsdauer gibt. Bei Migrantinnen und Migranten ist die Qualität und die Nachsorgeintensität nicht schlechter als bei Einheimischen. Große Unterschiede gibt es jedoch bei der Medikation. Z.B. ist bei gleicher Neuroleptikadosis bei Migrantinnen und Migranten die Einstellung auf Depotpräparate anfangs fast doppelt so hoch wie bei Einheimischen. Im Laufe von fünf Jahren glich sich in unserem Patientenkollektiv die Depotneuroleptikagabe aufgrund von Supervision und Teamreflexion an das niedrigere Level bei Einheimischen an. Bei Migrantinnen und Migranten liegt also keine geringere Compliance hinsichtlich medikamentöser Behandlung vor. Die Depotgabe könnte nämlich bereits bei Behandlungsbeginn auf dem Niveau von Einheimischen liegen.

    Es gibt noch eine Menge weiterer Probleme und Vorurteile bei der Behandlung von Migrantinnen und Migranten, die es zu hinterfragen gibt. Es herrscht bei weitem keine Einigkeit zwischen Therapeuten und Patienten aus anderen Ländern über die Therapieziele. Die Autonomie der Patientin oder des Patienten muss nicht unbedingt ein besseres Therapieziel sein, als beispielsweise das Zurückfinden in die Familie oder eine Wiederherstellung der gewohnten Rollen.

    Auf jeden Fall ist und bleibt es aber hilfreich und notwendig, für Migrantinnen und Migranten einen Weg zu bahnen, der ihnen eine Integration erleichtert. Als Therapeut sollte man psychische Störungen bei Migrantinnen und Migranten als Hinweis auf eine misslingende Integration verstehen. Zu deren Behandlung ist es wichtig sich zuerst einmal selber dem Fremden zu öffnen, denn nur so öffnen sich langfristig auch die Migranten selber und die Institutionen.

    Dies kann unser Beitrag zu einer gelungenen Integration von Menschen aus anderen Kulturen sein.

    Der Vortrag wurde anhand der zwölf Sonnenberger Leitlinien konzipiert, die im Folgenden abgedruckt sind.

  • 15

    Referat für Transkulturelle Psychiatrie der DGPPN

    Leiter: Prof. Dr. med. W. Machleidt

    Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen

    in Deutschland

    Die „12 Sonnenberger Leitlinien“ bilden die Grundlage für eine nationale Initiative zur Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und zur Integration von Migrantinnen und Migranten mit psychischen Erkrankungen in die bundesdeutsche Gesellschaft. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung zur Migration vom 8.11.2002-10.11.2002 im Internationalen Arbeitskreis Haus Sonnenberg/Oberharz formulierten und verabschiedeten diese Leitlinien, damit sie den Fachgesellschaften auf den Gebieten der Psychiatrie, der Psychotherapie und der Nervenheilkunde und ihren Mitgliedern zur Orientierung und Umsetzung dienen können.

    Die Rahmenbedingungen für die Integration psychisch kranker Migrantinnen und Migranten bilden die europäische Einwanderungspolitik, das deutsche Zuwanderungsgesetz und die Politik der interkulturellen Öffnung im deutschen Gesundheitswesen. In einem Land mit gesetzlich geregelter Zuwanderung wie der Bundesrepublik Deutschland geht es nicht um die einseitige Anpassung der Migrantenpopulation an das Gesundheitssystem, sondern um die Öffnung und Qualifizierung des Systems in allen seinen Bereichen, wie z.B. im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, für die Bedürfnisse und psychohygienischen Erfordernisse der Migrantenpopulation. Es geht dabei um einen wechselseitigen Prozess des Kompetenzzuwachses und der Vertrauensbildung mit dem Ziel, Migrantinnen und Migranten mit denselben hohen Qualitätsstandards und Heilerfolgen zu behandeln wie Einheimische. Dafür bestehen in der deutschen Psychiatrie und Psychotherapie unter historischen und Gegenwartsaspekten gute Voraussetzungen. Emil Kraepelins Untersuchungen zur Frage der kulturübergreifenden Anwendbarkeit psychiatrischer Klassifikationssysteme bildeten den Beginn der transkulturell-psychiatrischen Forschung in Deutschland und waren Ausgangspunkt für die heute weltweit verbreiteten diagnostischen Systeme ICD-10 und DSM IV. Deutschsprachige Ethnopsychoanalytiker wie Parin, Morgenthaler, Erdheim u.a. gaben der kulturübergreifenden analytischen Forschung und Theoriebildung wesentliche Impulse. Deutsche Psychiaterinnen und Psychiater wirkten in Entwicklungsländern am Aufbau der psychiatrischen Versorgung, der studentischen Lehre, in der Aus- und Weiterbildung von Fachärztinnen/-ärzten sowie bei der Gründung psychiatrischer Fachgesellschaften

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    federführend mit. Insbesondere im letzten Jahrzehnt hat es zahlreiche ermutigende Initiativen zur Öffnung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems in Deutschland auf der Ebene der Kommunen, der Länder sowie des Bundes gegeben. Die migrationsbezogenen Spezialdienste kirchlicher und karitativer Organisationen haben dazu hilfreiche Vorarbeit geleistet. Die Bedeutung der Versorgung psychisch kranker Migrantinnen und Migranten ist von den unterzeichnenden und weiteren Fachgesellschaften und Institutionen auf wissenschaftlichen Kongressen und Weiterbildungstagungen zum Thema gemacht worden. Die Migrationsforschung hat sich dadurch intensiviert und qualitativ erheblich verbessert. Zahlreiche deutsche und internationale Publikationen geben dafür eindrucksvolle Beispiele. Als Ergebnis dieser Entwicklung ist die Bedeutung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten zunehmend in das Bewusstsein einer breiteren Fach- und gesellschaftlichen Öffentlichkeit gedrungen. Diese Tatsache ist eine gute Voraussetzung dafür, mit einer nationalen Initiative durch die führenden Fachgesellschaften in Deutschland eine grundlegende Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten mit psychischen Erkrankungen zu erreichen. Die 12 Sonnenberger Leitlinien 1. Erleichterung des Zugangs zur psychiatrisch-psychotherapeutischen und

    allgemeinmedizinischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivität und Kulturkompetenz

    2. Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in der Psychiatrie und Psychotherapie tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz

    3. Organisation und Einsatz psychologisch geschulter Fachdolmetscherinnen und Fachdolmetscher als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren „Face-to-Face“ oder als Telefondolmetscherinnen/-dolmetscher.

    4. Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund und der Allgemeinmediziner mit den Migrations-, Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbänden. Spezielle Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen.

    5. Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen

    6. Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale gemeindepsychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot und über die niedergelassenen Psychiaterinnen/Psychiater und Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten sowie Allgemeinärztinnen/-ärzte

    7. Aus-, Fort- und Weiterbildung für in der Psychiatrie und Psychotherapie und in der Allgemeinmedizin tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Berufsgruppen in transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie unter Einschluss von Sprachfortbildungen

    8. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien

    9. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung

    10. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht

    11. Aufnahme der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts für Studierende an Hochschulen

    12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit von Migrantinnen und Migranten und deren Behandlung

  • 17

    Die auf den Gebieten der Psychiatrie, der Psychotherapie und der Nervenheilkunde tätigen Fachgesellschaften werden aufgerufen, sich die Qualitätsstandards der „12 Sonnenberger Leitlinien“ zur Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten mit psychischen Störungen in Deutschland zu eigen zu machen. Sie werden weiter dazu aufgerufen, ihre Mitglieder zu motivieren, diese in der Krankenversorgung, in der studentischen Lehre, in der Ausbildung von Fachärztinnen/ -ärzten, in der Fortbildung aller in der Psychiatrie und Psychotherapie und der Allgemeinmedizin tätigen Berufsgruppen und in der Forschung zur Verbesserung der seelischen Gesundheit und gesellschaftlichen Integration von Migrantinnen und Migranten durchzusetzen. Referat für Transkulturelle Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover Prof. Dr. Wielant Machleidt (Kontaktadresse) Leiter des Referats für Transkulturelle Psychiatrie der DGPPN Direktor der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover, Tel. +49 511 532 6616, Fax +49 511 532 2408, E-Mail:[email protected] Ethno-Medizinisches Zentrum e.V., Hannover Deutsch-Türkische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit e.V. (DTGPP) Literatur: Machleidt, W., Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland. Der Nervenarzt 2002, 73: 1208-1209 Machleidt, W., Sonnenberger Leitlinien. Zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen. Soziale Psychiatrie 2003, 27 (2): 40-41 Komes, U., Die 12 Sonnenberger Leitlinien. Psychosoziale Umschau 2003, 18 (2): 13-14 Machleidt, W., Salman R., Mit Hilfe von transkultureller Psychiatrie Ethnozentrizität überwinden. Auf dem Wege der Integration von Migranten in Versorgungssysteme sollen Sonnenberger Leitlinien wesentliche Standards in die psychiatrische Arbeit bringen. Die Kerbe 2003, 21 (4): 4-8 Machleidt, W., Calliess I.T., Psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung von Migranten und transkulturelle Psychiatrie. In: Berger M. (Hrsg.): Psychische Erkrankungen, Klinik und Therapie, 2. Auflage, 2004, Urban & Fischer, München

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    Fallvignetten zur psychiatrischen Versorgungspraxis von Migrantinnen und Migranten

    Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Psychiatrie/Psychotherapie des AK Migration und Gesundheit des Gesundheitsbeirats der LH-München gaben einen kurzen Einblick in ihre derzeitigen Arbeitssituationen. Zur Veranschaulichung stellten sie einige Fallvignetten aus ihrem Tätigkeitsbereich vor.

    Karla Baran Beratungsdienste der Arbeiterwohlfahrt (AWO) München, Psychologischer Dienst

    Der Psychologische Dienst für Migrantinnen und Migranten der AWO ist eine psychologische Beratungsstelle, die Beratung und Therapie in der Muttersprache für Migrantinnen und Migranten aus der Türkei und den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens anbietet. Aufgrund unserer Finanzierung gehören Sucht und Psychiatrie zu unseren Ausschlusskriterien. Trotzdem sind etwa 200 der über 600 Anfragen im Jahr aus diesen Bereichen. Es geht um Nachbetreuung bei Entlassung aus der Nervenklinik, Psychosen, Borderline-Störungen und schwere depressive Episoden, die wir bei der jetzigen miserablen Versorgungssituation für Migranten leisten - im Bereich Psychiatrie ist die Möglichkeit der Weiterverweisung sehr beschränkt, bei sehr schlechten Deutschkenntnissen gar nicht möglich.

    Ein Beispiel soll deutlich machen, wie psychisch kranke Patienten trotz des guten Versorgungsnetzes in München sich selbst überlassen werden.

    Eine ca. 50jährige türkische Frau in ziemlich verwahrlostem Zustand und verwirrt sucht Hilfe in den Gängen unserer Beratungsstelle. Sie erzählt eine ziemlich wirre Geschichte, meint sie sei krank. Auf die Frage nach ihrem Nervenarzt meint sie, ihre Ärztin weigere sich, sie zu behandeln. Ein Anruf mit der Ärztin ergibt, dass diese sie tatsächlich nicht mehr behandeln will, sie sei nicht „compliant“, könne nicht genügend deutsch, es fand aber auch keine Weiterverweisung statt. Ein Anruf beim zuständigen Sozialpsychiatrischen Dienst führt auch zu keinem Ergebnis. Ohne Sprachkenntnisse könne man der Frau nicht helfen. Die Patientin scheint allein zu leben, einen Sohn zu haben, der sich nicht kümmert und über den sie keine Angaben machen will, sodass er nicht kontaktiert werden kann. Die Frau wird von einer Mitarbeiterin in die Ambulanz der Nussbaumstrasse begleitet, da sie von akustischen Halluzinationen berichtet und desorientiert ist. Weil sie sich weigert, stationär aufgenommen zu werden, wird sie ambulant versorgt und entlassen, ebenfalls ohne Weiterverweisung.

    Eine Anbindungsmöglichkeit für diese Patientin kann nicht gefunden werden. Es gibt anscheinend keine Stelle in München, die für so einen Fall zuständig ist, oder vielmehr sind die zuständigen Stellen wegen der Sprachdefizite überfordert, sodass sie ihrem Schicksal überlassen wird. Es müsste auch geklärt werden, wieso die Dolmetscherdienste, die in erster Linie für die Psychiatrie eingerichtet worden waren, von keiner dieser Stellen, weder Sozialpsychiatrischer Dienst noch Nervenklinik in Anspruch genommen wurden.

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    Dr. Ana Rosbund-Zickert Psychologischer Dienst für Ausländer der Caritas München

    Der Psychologische Dienst für Ausländer der Caritas ist ein wichtiges Glied in der Versorgung und Begleitung von Migrantinnen und Migranten. Er ist Helfer und Anwalt sowie Vermittler im Integrationsprozess zwischen der deutschen Gesellschaft und den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

    Die Arbeit des Psychologischen Dienstes für Ausländer umfasst viele Bereiche wie Erziehungsberatung, Partner- und Lebensberatung, Sozialpsychiatrische Angebote, u. a.

    Der Psychologische Dienst für Ausländer ist spezialisiert auf Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, Spanien, Portugal und Lateinamerika. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die großteils selber Migrantinnen und Migranten sind, verfügen über fundierte Migrations-, Kultur- und Sprachkompetenzen.

    Da die Problemstellungen der Hilfesuchenden oft sehr komplex sind, ist eine Zusammenarbeit mit anderen Fachstellen unabdingbar. Eine Vielzahl von Einrichtungen ergänzt je nach individuellem Fall unsere Beratungskompetenz.

    Kooperationspartner sind im Bereich der Erziehungsberatung die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sowie Schulen, Kindergärten und Tagesstätten. Bei der Beratung von Erwachsenen wird in erster Linie mit Hausärzten, Nervenärzten und Kliniken zusammen gearbeitet. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen und der Landesversicherungsanstalt sind wichtige Ansprechpartner. Eine gute Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung wird mit den Sozialpsychiatrischen Diensten gepflegt. Für die Behandlung von Kriegsflüchtlingen gibt es intensive Kontakte zum Ausländeramt und der ärztlichen Begutachtungsstelle des Referats für Gesundheit und Umwelt. Weitere Institutionen und Beratungsstellen für eine engere Zusammenarbeit sind die Migrationsdienste der Caritas und anderer Wohlfahrtsverbände, u.v.m.

    Der Psychologische Dienst für Ausländer übernimmt folgende Aufgaben in der Muttersprache des Patienten:

    • Brückenfunktion zu Sozialpädagogen/-innen psychosozialer Einrichtungen der Regeldienste

    • Einzelsitzungen unter Einbeziehung kultureller Ressourcen mit dem Ziel:

    Tagestruktur erstellen

    Stress abbauen

    Selbstwertgefühl steigern

    Depressive Stimmungen reduzieren

    Herr P. wurde vom Hausarzt zum Psychologischen Dienst für Ausländer zur ambulanten „psychosozialen“ Betreuung und Therapie wegen paranoider Schizophrenie überwiesen, da die Verständigung mangels ausreichender deutscher Sprachkenntnisse nicht möglich ist.

  • 20

    Herr P., 51 Jahre alt, ist deutscher Staatsangehöriger, aber in Südamerika geboren, dort hat er auch studiert (Dipl. Ing.). Er ist verheiratet, ohne Kinder. Seit 4 Jahren lebt er in München, wo er immer als Spüler gearbeitet hat. Herr P. leidet seit mehr als 25 Jahren an paranoider Schizophrenie. Diese Krankheit wurde in seinem Herkunftsland diagnostiziert und medikamentös behandelt. Vor 1 ½ Jahren erlitt er eine Krise, da er die Medikamente absetzte und mit homöopathischen Mitteln und Akupunktur weiterbehandelt wurde. Herr P. wurde im Bezirkskrankenhaus Haar erneut stationär behandelt. Seit einem Jahr ist er stabil und wird ambulant psychiatrisch versorgt. Herr P. verlor seine Arbeitsstelle als er die Medikamente absetzte. Er ist immer noch krank geschrieben.

    Die behandelnden Ärzte sehen es als Notwendigkeit an, dass Herr P. auch psychosozial betreut wird, denn obwohl medikamentös gut eingestellt, bleibt er antriebslos und demotiviert. Die Angebote offener Gruppen, Beschäftigungstherapie etc. kann er nicht wahrnehmen, da er nicht genügend Deutschkenntnisse besitzt. Aus diesem Grund wurde der Psychologische Dienst für Ausländer kontaktiert, um die sozialpsychiatrische Versorgung des Patienten in seiner Muttersprache zu gewährleisten.

    Milka Tišma Sozialpsychiatrischer Dient (SPDi) Giesing in München (vorgestellt durch Karla Baran)

    Der Sozialpsychiatrische Dienst München-Giesing begleitet psychisch kranke Mitbürgerinnen und Mitbürger aus den Stadtteilen Au-Haidhausen, Obergiesing und Untergiesing-Harlaching mit dem Ziel, sie psychisch und sozial zu stabilisieren und ihre Lebensqualität zu erhöhen. Das Team des SPDi setzt sich aus einer Diplom-Sozialpädagogin, einer Diplom-Psychologin, einer Ärztin, einer Psychiaterin sowie zwei weiteren Fachkräften zusammen.

    Die Beratung der Hilfesuchenden erfolgt in ihrer gewohnten Umgebung. Wir informieren über therapeutische, soziale und finanzielle Hilfsangebote. Die Hilfesuchenden können wählen ob es bei dieser einen Beratung bleibt, oder ob sie eine langfristige Begleitung durch den Dienst wünschen.

    Eine 35-jährige Flüchtlingsfrau aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne Deutschkenntnisse wirft über mehrere Tage hinweg immer wieder Kleidungsstücke, dann auch kleinere Haushaltsgegenstände in den Innenhof eines Mietshauses. Der Hausbesitzer, der Hausmeister, die Nachbarn und die Mutter sind in heller Aufregung. Die Frau verweigert jedes Gespräch und Kontakt. Zweimal wird die Polizei geholt, der die Frau nicht öffnet. Die Polizei verständigt die Gesundheitsbehörde, diese schaltet den SPDi ein. Auch die Hausärztin bittet den SPDi um Mithilfe. Da es vorrangig zu klären gilt, ob eine psychische Erkrankung vorliegt oder nicht, übernimmt den Fall die Mitarbeiterin des Dienstes, die Ärztin ist. Sie beherrscht die Muttersprache der Frau und kennt ihren soziokulturellen Hintergrund. Ein erster Hausbesuch ist vergeblich. Beim 2. Hausbesuch trifft die Mitarbeiterin des SPDi’s die Frau zufällig im Treppenhaus und kann in einem kurzen Gespräch in der Muttersprache mit ihr in Kontrakt kommen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Es kommt zu regelmäßigem Kontakt und dadurch kann im Verlauf der nächsten Wochen in Zusammenarbeit mit der Hausärztin eine weitere Eskalation bzw. zwangsweise Einweisung zur stationären Behandlung in einer Nervenklinik vermieden und eine ambulante Behandlung eingeleitet werden.

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    Dr. Waltraut Wirtgen Refugio München

    Mit Klientinnen und Klienten von REFUGIO München stelle ich Flüchtlinge und Asylbewerber vor.

    REFUGIO München ist in Bayern das einzige Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer mit einem interdisziplinären, interkulturellen Team - Sozialpädagogen, Psychologen und Ärzten - und durch REFUGIO München fortgebildeten Dolmetschern. Es wird u.a. durch die Stadt München und den Bezirk Oberbayern finanziell unterstützt, u.a. für sozialpsychiatrische Fälle.

    Bei traumatisierten Patientinnen und Patienten und Folterüberlebenden kommt zur erzwungenen Migration und Entwurzelung, die fehlende Sprache, das laufende Asylverfahren und die fehlende Sicherheit des sozialen Umfeldes hinzu. Traumaspezifische Vermeidung, Sprachlosigkeit, Scham und Angst führen zumeist zu einer frühzeitigen Ablehnung des Asylgesuchs, was das Krankheitsgeschehen zusätzlich negativ beeinflusst. Patienten werden zumeist zu einem späten Zeitpunkt an REFUGIO München überwiesen.

    Beide Patienten wurden in REFUGIO München zur Behandlung aufgenommen und begutachtet. Zuvor waren sie mehrfach in psychiatrischen Kliniken behandelt worden.

    Wie auch in diesen Fällen behindern mangelnde sprachliche Verständigung und fehlende Dolmetscher die Diagnostik bzw. machen sie unmöglich. Entsprechend der sequentiellen Traumatisierung nach H. Keilson (1979) ist die 3. traumatische Sequenz (hier, Zeit im Exil) entscheidend für den weiteren Krankheitsprozess.

    Ein 40-jähriger Patient aus einem Land des Mittleren Ostens wurde wegen eines extra-cerebralen raumfordernden Prozesses operiert, bei ihm besteht ein schweres Anfallsleiden. Bei der Exploration und Untersuchung in REFUGIO München mit Hilfe eines Sprachmittlers wurde eine Extremtraumatisierung aufgrund mehrmonatiger Haft, Bedrohungen und schweren Misshandlungen festgestellt. Schläge auf den Kopf können als Ursache des Hirntumors vermutet werden. Erst nach der Sicherung des Aufenthalts durch ein krankheitsbedingtes Abschiebe-Hindernis kann die ausgeprägte Panikstörung und hohe Anfallsneigung besser behandelt werden. Dies war der Fall nach insgesamt 15 Jahren Dauer des Asylverfahrens.

    In einem anderen Fall, bei einer 35-jährigen Frau aus einem islamischen Land, hält der unsichere Aufenthaltsstatus und die frühzeitige Ablehnung des Asylgesuchs und die seitdem drohende zwangsweise Abschiebung eine akute Suizidalität weiterhin aufrecht. Immer wieder muss die Patientin wegen akuter Suizidalität stationär psychiatrisch behandelt werden. Die Patientin ist nach schwerwiegenden traumatischen Gewalterlebnissen in ihrem Herkunftsland extremtraumatisiert.

    Es ergeben sich aus den Krankheitsgeschichten folgende Notwendigkeiten: • Fortbildung zu psychisch reaktiven Traumafolgen, PTSD und komorbiden

    Krankheitsbildern, das sind Depression, Angststörung, psychosomatische und dissoziative Krankheitsbilder und Sucht bei Flüchtlingen,

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    • frühzeitige Erkennung körperlicher Folterfolgen und psychisch reaktiver Traumafolgen bei Flüchtlingen u. standardisierte Untersuchung und Begutachtung,

    • professionelle Sprachmittler für ärztliche / psychotherapeutische Praxen und Kliniken als Voraussetzung für eine fachgerechte Diagnostik und Therapie,

    • ein sicheres soziales Umfeld und adäquate Behandlung und Betreuung, z.B. in einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folterüberlebende,

    • mehr finanzielle Unterstützung für diese Zentren (die Aufnahmekapazitäten sind sehr begrenzt).

    Polina Hilsenbeck Leitung Psychiatrie&Suchthilfe im Verein FrauenTherapieZentrum FTZ München e.V.

    Eine Organisation als Fallvignette.

    Das FTZ existiert seit 26 Jahren und hat zurzeit ca. 70 Mitarbeiterinnen. Der Arbeitsschwerpunkt liegt im Psychiatrie- und Suchtbereich (Betreutes Wohnen einzeln und in Gruppen, 3 Beratungsstellen, Tagesstruktur, Arbeit und Qualifizierung).

    Planungs- und Finanzierungsebene

    Das Konzept der psychiatrischen Beratungsstelle, 2002 gegründet, widmete sich in Absprache mit den entsprechenden Fachausschüssen und Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften der Stadt München sowie des Kostenträgers Bezirk Oberbayern als erste Einrichtung im FTZ explizit u.a. den Bedarfen psychisch kranker Migrantinnen. Im Betreuten Wohnen (mit ca. 150 Plätzen) werden überdurchschnittlich viele Migrantinnen betreut. Für eine effektivere Umsetzung wäre es günstig, zusätzliche Zeitkontingente zur Verfügung zu haben; auch dies konnte in einem Zielvereinbarungsgespräch kürzlich mit dem Kostenträger ausgehandelt werden.

    Personalmanagement und Personalentwicklung

    Bekannt ist, dass Migrantinnen und Migranten die Regeldienste erst entsprechend ihrem Bedarf in Anspruch nehmen, wenn der Zugang erleichtert, vor allem aber wenn muttersprachliches Personal dort arbeitet. Um eine interkulturelle Öffnung der Einrichtungen zu ermöglichen hat sich die Leitung zur Aufgabe gemacht, mehr Migrantinnen und bikulturelle Mitarbeiterinnen mit Sprach- und Kulturkompetenz einzustellen. Vor Einstellung einer muttersprachlichen Kraft wurden in einer spezifischen Fortbildung interkulturelle Stereotypen, Beziehungsmuster und das Verhältnis zum „Deutschsein“ der Mitarbeiterinnen thematisiert. So lange allerdings Einrichtungen mit freien Stellen sich im Aufbau befanden und kaum Ressourcen zur Einarbeitung zur Verfügung standen, mussten Bewerberinnen mit zusätzlicher psychiatrischer Berufserfahrung gefunden werden, was eine nicht ganz leichte Aufgabe darstellte. Seither wird viel Zeit in Einarbeitung investiert, und die Zusammenarbeit in den Teams wird supervidiert.

  • 23

    Qualitätsentwicklung

    Außerdem wird das Instrument eines speziellen einrichtungsübergreifenden Qualitätszirkels im FTZ genutzt, um den interkulturellen Herausforderungen begegnen zu können. Input zu Gesetzen, Grundlagen, konzeptuellen Ansätzen einerseits, die Arbeit mit Rollenspielen, kollegiale Fallberatung und Kleingruppenarbeit andererseits sollen in einer Atmosphäre von „Fehlerfreundlichkeit“ und Neugier verschiedene Ebenen des professionellen Handelns ansprechen. So wurde z.B. ein von Prof. Anita Kalpakka (Ev. Fachhochschule Hannover) entwickelter Leitfaden zur Fallbearbeitung mit seinen verschiedenen Perspektiven genutzt. Ganz wesentlich ist immer wieder die Reflektion der eigenen kulturellen Bedingtheiten und Gegenübertragungen der Mitarbeiterinnen sowie der Bedeutung der professionellen Beziehung und des Machtverhältnisses. Auf diese Weise können „blinde“ Flecken, Fragehemmnisse oder Blockaden aus Befangenheit und Schamgefühlen ebenso wie Exotisierung und Ethnisierung besser erkannt und aufgelöst werden, das Erlernen von Offenheit und Perspektivenwechsel sowie den Austausch zwischen und über Kulturen gestalten sich leichter. Wahrnehmen und Handeln verändern sich: Differenz wird mehr wahrgenommen, Ressourcen werden besser erkannt und genutzt, kulturelle Unterschiede weniger pathologisiert, psychisches Leiden und Hilfebedarfe weniger verkürzt gesehen oder fehl gedeutet. Es wird allmählich selbstverständlicher, Kolleginnen auf Stereotype wie auch auf Ressourcen aufmerksam zu machen.

    Arbeit mit Dolmetscherinnen

    Das Referat für Gesundheit und Umwelt finanziert zwar den Einsatz von Dolmetscherinnen über eine Stiftung, die Konkretisierung hat sich als recht schwierig herausgestellt; das Problem besteht darin, dass die meisten deutschen Mitarbeiterinnen Hemmschwellen haben oder sich „schon irgendwie“ mit ihren Klientinnen glauben verständigen zu können, obwohl bei Ämterkontakten, gerade in Krisen und Übergangssituationen (Anamnese, Aufnahme, Case Management, Betreuungsvertrag, Unterbringung oder Einleitung einer gesetzlichen Betreuung, Inobhutnahme von Kindern) eine exakte und kulturkompetente Übersetzung dringend angezeigt ist. Hier müssen noch genauere Kriterien in Umlauf und in praktische Umsetzung gebracht werden.

    Öffentlichkeitsarbeit

    Die Produktion und Verteilung von muttersprachlichen Flyern über die Angebote des FTZ in der Psychiatrie war geplant, wurde allerdings von den Leitungen aus Rücksicht auf die türkischen und polnischen Kolleginnen bisher verzögert, da diese bereits durch Mundpropaganda und Kooperation mit einzelnen Diensten und PsychiaterInnen mehr als ausgelastet sind. Vor einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit müssen noch mehr Stellen(anteile) an muttersprachliche Mitarbeiterinnen gehen.

    Kostenfreie Hilfen sind außerdem

    • Humor, Selbstdistanz

    • Vorbilder, z.B. Vorangehen der Leitung mit den eigenen Entwicklungsbedarfen ebenso wie mit entschiedener Steuerung

    • Wissen, dass es sich um einen längeren Prozess handelt, der immer neuer Anstöße bedarf

    • Lust und Neugier auf Begegnung und Selbstveränderung.

  • 24

    Diskussion und Zusammenfassung Teil I

    Moderation Dr. Thomas Hegemann Bayerisches Zentrum für Transkulturelle Medizin

    Folgende Themen und Bereiche wurden in der Diskussion thematisiert und erläutert:

    ÜÖffnung der Universitäten und Fachhochschulen für den Themenkomplex, also Erforschung der Betroffenheit, der Behandlungsmöglichkeiten und des Zugang von Migrantinnen und Migranten in die psychiatrische/psychotherapeutische Grundversorgung. Z.B. Die Verantwortlichen der Uni-Kliniken, der LMU und der TU müssten vor Ort Forschung zum Thema initiieren, indem sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu anregen, auf diesem Gebiet zu forschen.

    ÜVerbesserung der Inanspruchnahme der Dolmetscherdienste in der psychiatrischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten. Hierbei handelt es sich möglicherweise um ein Problem der Finanzierung. Im klinischen Bereich wird die Inanspruchnahme von Dolmetschern/innen bezahlt, jedoch nicht in der ambulanten Versorgung. Auf Grundlage der Rechtsprechung ist aber auch eine ambulante Finanzierung möglich.

    Möglicherweise ist es weniger ein finanzielles Problem, als vielmehr eine Sache der „Aufmerksamkeit“. Die Frauenhäuser nehmen etwa das Dreifache an Übersetzungshilfe in Anspruch, obwohl sie nicht unbedingt über zu viel Geld verfügen. Die Dolmetscherdienste sollten mehr Werbung machen.

    Die ambulante Versorgung nimmt aus finanziellen Gründen nicht genug Dolmetscherdienste in Anspruch. Daher suchen die Patienten/innen erst Hilfe, wenn sie größere Probleme haben und nehmen damit auch eher die stationäre Versorgung in Anspruch.

    Aber auch im stationären Bereich ist eine Kommunikations-Optimierung nötig.

    ÜWarum gibt es in München so wenig muttersprachliche niedergelassene Psychotherapeuten und Ärzte? Ein Grund ist, dass bei der Bedarfsplanung der kassenärztlichen Vereinigung (KV) kein Anspruch auf fremdländische Psychotherapeuten bzw. überhaupt keine Sonderbedarfe vorgesehen sind.

    Ü Die Forderung nach multikultureller Arbeit, die für den Pflegebereich Pflicht ist, wird in der Psychiatrie und Psychotherapie kaum gestellt. Es gibt leider keinen aktuellen Psychiatrieplan, der die multikulturelle Arbeit regelt. Der 3. Bayerische Psychiatrieplan, der gerade im Entstehen ist, kann als neue Richtlinie genutzt werden.

    Ü Wie ist bei einer interkulturellen Öffnung einer Einrichtung vorzugehen? Ein möglicher Weg ist, sich den großen bzw. größten Migrantengruppen zu öffnen, dadurch bleiben aber die kleineren Migrantengruppen unberücksichtigt. Die Integration von Migrantinnen und Migranten in Regelinstitutionen sieht in Hannover folgendermaßen aus:

    • Pflege von Multiethnizität innerhalb der Personalstruktur.

    • Interkulturelle Kommunikation innerhalb des Personals und zwischen Personal und Patienten/innen.

    • Nur in speziellen Fällen z.B. bei seltenen Sprachen Hilfe anfordern.

  • 25

    Die wichtigsten Punkte des ersten Abschnittes des Fachtages waren:

    Aus dem Vortrag von Herrn Prof. Dr. Machleidt:

    • Haltungsänderung

    • Berichterstattung

    • Praxisleitlinien

    • Multikulturelle Teams

    • Reflexionen von Rassismus

    • Informationen zu Zugangswegen

    • Kooperation der Dienste

    • Verbesserung der Information

    • Anpassung der Therapiemethoden und Reflexion der Therapieziele

    Aus den Fallvignetten der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Psychiatrie/Psychotherapie des AK Migration und Gesundheit des Gesundheitsbeirats der LH-München:

    • Psychiatrische Nachbehandlung

    • Regelung der Verantwortlichkeiten

    • Sprachvermittlung, Dolmetschereinsatz

    • Sekundäre Traumaprophylaxe

    • Schaffen von „Sicherheit“

    • Fortbildung

    • Finanzielle Sicherung der Behandlung

    • Aktive Personalpolitik

    • Hausinterne multimodale Trainings

    • Haltung von Fehlerfreundlichkeit

    • Besprechbarkeit von Schwächen und Ängsten

    • Nutzung ökonomischer Nischen

  • 26

    Aus dem Plenum:

    • Lokale Forschung

    • Bessere Nutzung von Dolmetscherdiensten

    • Verhandlung mit Krankenkassen

    • Adäquate Erfassung von Sprachkompetenz (KV)

    • Gezielte Angebote der bestehenden Dienste

    • Konkrete sprachkompetente Einstellungspraxis

    Folgende Hauptdiskussionspunkte lassen sich aus den oben genannten Aspekten herauskristallisieren:

    • Forschung und Bestandserhebung ? als Rechenschaft über die Praxis

    • Personal- und Einstellungspolitik (Effektivität, Kostenfrage)

    • Dolmetscher- und Sprachdienste ? ökonomische Nutzung

    • (interkulturelle) Teamentwicklung

    • Regelung der Verantwortlichkeit

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    Statements

    Kurze Statements von Entscheidungsträgern zur Frage:

    „Wie weit wollen und können sich psychiatrische Versorgungseinrichtungen interkulturell öffnen?“

    Dr. Herbert Pfeiffer Bezirkskrankenhaus Haar (BKH) in München, Allgemeinpsychiatrie Nord-II

    Zur Statistik einige Eckwerte. Im Jahr 2003 wurden im Bezirkskrankenhaus Haar insgesamt 11.948 Patienten-Fälle behandelt, wobei auch Wiederaufnahmen darin enthalten sind. Davon waren 1.667 Fälle Migranten, was einer Prozentzahl von 13,95 entspricht. Den zahlenmäßig größten Anteil stellten Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien mit insgesamt 359 Fällen, an zweiter Stelle lagen türkische Staatsbürger mit 249 Fällen, danach solche aus Italien mit 149, Griechenland mit 99 Fällen. Angefügt sei dass es erfahrungsgemäß mit italienischen Migranten weniger Sprachprobleme gibt als mit den anderen genannten Bevölkerungsgruppen, wahrscheinlich aus geographischen und historischen Gründen. Zum Vergleich sei auch noch angefügt, dass z.B. aus den Staaten der ehemaligen UdSSR 64 Fälle behandelt wurden, aus dem unmittelbaren Nachbarland Frankreich 35 Fälle. Aus aktuellen Krisengebieten wie Irak wurden 23 Fälle behandelt, Iran 36, Afghanistan 28. Diese Zahl ist sicherlich höher als bei anderen in Größe und geographischer Nähe vergleichbaren Ländern wie Marokko mit nur 11 und Algerien mit nur 10 Fällen. Von den afrikanischen Ländern lag das Krisenland Äthiopien mit 28 Fällen an der Spitze, aus zentralafrikanischen Ländern wie Sudan, Kongo, Togo, Sierra Leone etc. waren es 5 bis 7 Fälle.

    In der diagnostischen Aufteilung dominieren überraschend unter den Migranten die schizophrenen Erkrankungen. Aus den Ländern Ex-Jugoslawiens waren dies 25-45% der Patienten, aus der Türkei 34% der Patienten, aus den Krisengebieten Irak und Afghanistan 30 bzw. 50% der Patienten, auch aus zentralafrikanischen Ländern meistens über 40%.Dies könnte darauf hinweisen, dass schwere Erkrankungen eben eher zu einer Inanspruchnahme stationärer Dienste führt, auch wenn dagegen Vorbehalte oder Hindernisse bestehen. Es könnte aber auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse hinweisen, die bei Migranten erhöhte Indizzahlen von Schizophrenie festgestellt haben (Hutchinson G., Haasen C. 2004). Überraschend hoch ist auch der Anteil der Suchtpatienten mit in Ex-Jugoslawien 20-100%, Türkei 29%, Irak und Afghanistan 26% bzw. 18%. Die Vergleichszahlen für deutsche Mitbürger waren 24% schizophrene Patienten und 31,5% Suchtpatienten. Hier muss hinzugefügt werden, dass durch die Patienten der Gerontopsychiatrie, die in den anderen Bevölkerungsgruppen sicher eine andere prozentuale Rolle spielen, natürlich ein Vergleich schwierig ist. Etwas höher als in der deutschen Bevölkerung waren die Anpassungsreaktionen, die auch Traumastörungen beinhalten könnten, in Ex-Jugoslawien beispielsweise 4,2-19,3%, in Krisengebieten eher um die 20%, in Sierra Leone und Nigeria 71,4 bzw. 43%. Unsere Vermutung ist, im Übergangsbereich Anpassungsstörungen bis hin zu affektiven Störungen mit Depression, Angst, Somatisierungsstörungen, Schmerzstörungen etc. gäbe es sicher einen wesentlich höheren Behandlungsbedarf, der

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    aber evtl. gerade aus Gründen der sprachlichen Verständigung bei uns nicht zu einer stationären Behandlung führt.

    Auf unserer Depressionsstation, die fachübergreifend für den ganzen Münchner Einzugsbereich tätig ist, gab es Gelegenheit, zuerst bei einer serbokroatisch sprechenden Assistenzärztin, dann mit einer türkisch sprechenden Assistenzärztin Erfahrungen mit solchen Patienten zu sammeln. Es zeigte sich, dass allein durch Mundpropaganda jeweils ein deutlicher Anstieg der entsprechenden Bevölkerungsgruppen möglich war. Es zeigte sich, dass ein hoher Grad komplexer depressiver Störungen mit der o. g. Comorbidität in der ausländischen Münchner Bevölkerung existiert und dringend der Behandlung bedarf. Als erfreuliches Ergebnis konnten wir sehen, dass in hohem Maße Leidensdruck gemindert werden konnte und psychosoziale Funktionsfähigkeit wieder erreicht werden konnte.

    Aus den o. g. Daten ergaben sich für uns mehrere mögliche Ansatzpunkte, die Versorgung von Migranten bei uns im Bezirkskrankenhaus Haar zu verbessern. Wie schon in den zwölf Sonnenberger Leitlinien von Herrn Prof. Dr. Machleidt im Nervenarzt 2002 veröffentlicht, ist die sprachliche Kompetenz von Mitarbeitern eine wichtige Voraussetzung. Im Bezirkskrankenhaus Haar werden schon lange aus allen möglichen Sprachgruppen Mitarbeiter eingestellt, gerade in Berufszweigen wie Pflegepersonal und Ärzte. Natürlich kann bei einem so weitläufigen Haus dadurch ohne eine Bündelung auf bestimmte Stationen oder Funktionseinheiten eine genügende Abdeckung auch nur von Dolmetscherfunktionen nicht erreicht werden. Dies gilt natürlich besonders für unter Personal und Patienten nicht so oft vorkommende Sprachen wie Russisch oder Albanisch. Die Versorgung mit Broschüren durch Pharmafirmen ist zwar in türkisch und serbokroatisch durchaus in Teilbereichen vorhanden, müsste jedoch intensiviert werden. Dies sollte unserer Meinung nach in Zusammenarbeit mit der Dachorganisation der DGPPN geschehen, da Herstellung und Up-Date solcher Broschüren erheblichen finanziellen und logistischen Aufwand bedeuten. Externe Dolmetscherdienste existieren bei uns im Haus mit Honorarverträgen und können im Einzelfall immer, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung, genutzt werden.

    Viel wichtiger scheint es uns, örtlich in Teilen von Stationen zusammengefasst Kompetenzen aufzubauen wie z.B. die o. g. Spezialstation für komplexe depressive Störungen, die im Laufe der Zeit evtl. durch Erhöhung der Betten von jetzt 21 auf das Doppelte erweitert werden könnte. Kompetentes Personal mit Sprachfähigkeiten in den häufigst vorkommenden Sprachen Serbokroatisch, Türkisch, Griechisch wären leicht zu finden, arbeitet bei uns schon teilweise im Hause. Ab Mitte 2005 sollen auf der jetzt existierenden Depressionsstation 6-7 Plätze für serbokroatisch sprechende Migranten vorgehalten werden. Die Erweiterung müsste dann am ehesten für türkisch und griechisch sprechende Mitbürger geschehen. Dabei sollen diese nicht alle auf einer Station konzentriert werden, um den integrativen Charakter im Zusammenleben mit den deutschen Mitbürgern besser zu ermöglichen.

    Das zweite Projekt beträfe die ambulante Versorgung. Wie schon aus den Zahlen ersichtlich, dient die stationäre Versorgung im Moment eher krisenhaften Zuspitzungen von Psychosen oder auch Anpassungsstörungen und Sucht. Wie für alle Patienten ist der ambulant-komplementäre Bereich eigentlich der Entscheidende. Hierzu gibt es in München zu wenig Angebote. Im Augenblick wäre es mittelfristig, laut Aussage der Leiterin Frau Dr. G. Schleunig möglich, im Atriumhaus freie Räume und Kapazitäten einer Institutsambulanz in München zu nutzen und für die wichtigsten Sprachgruppen stunden- bis tageweise eine Versorgung anzubieten. Hierzu müsste in Zusammenarbeit mit Krankenhausleitung und Controlling das Kontingent ambulanter Fachkräfte erweitert werden und über den zu bezahlenden Minutenwert der Krankenkassen eingearbeitet werden. Im Bezirkskrankenhaus Haar gibt es im Moment eine Anlaufstelle für russisch sprechende Patienten in der Ambulanz. Eine Ausweitung solcher Kapazitäten ist natürlich immer mit der Frage nach der dezentralen Lage von Haar verbunden. Eine Erweiterung der Institutsambulanz im

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    Stadtgebiet München wäre als erstes möglich für den Bereich Sucht, wenn die Krise Sucht im Gelände des Schwabinger Krankenhauses im Herbst d. Jahres eröffnet wird. Ansprechpartner hierzu ist Dr. Dr. Dr. F. Tretter als Leiter der Suchtabteilung und der dortigen Krisenabteilung. Ein Umzug beispielsweise der AP Nord ins Münchner Stadtgebiet ist theoretisch in den nächsten Jahren möglich, auch dann wären Institutsambulanzkapazitäten für Migranten ein wichtiger Programmpunkt.

    Dr. Josef Bäuml Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Rechts der Isar der TU München Schizophrene Erkrankungen auf der geschlossenen Abteilung – Anteil von deutschen und ausländischen Patientinnen und Patienten

    Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar verfügt über 71 Betten, davon befinden sich 18 auf der geschlossenen akut-psychiatrischen Abteilung. Nachfolgend einige Daten, die über einen 11-monatigen Zeitraum 2003 und Anfang 2004 erhoben wurden.

    Der Anteil an ausländischen Patienten in der gesamten Klinik liegt bei etwa 18%, auf der geschlossenen Station beträgt diese Quote 28%. Auf der toxikologischen Abteilung des Klinikums, das von der psychiatrischen Klinik konsiliarpsychiatrisch mitversorgt wird und auf der jährlich ca. 500 Patienten nach Suizidversuchen sowie Drogenerkrankungen und gewerblichen Vergiftungen behandelt werden, liegt dieser Anteil deutlich über 30%.

    Auf der geschlossenen Akutstation werden überwiegend schizophrene Erkrankungen behandelt, dieser Patientenanteil beträgt ca. 50-60%.

    Während dieses 11-monatigen Beobachtungszeitraumes war die Rate an schizophrenen Erkrankungen bei den ausländischen Patienten mit 68% deutlich höher als bei den deutschen Patientinnen und Patienten, dort betrug diese Zahl nur 41%.

    Diese erhöhten Zahlen von Migrantinnen und Migranten spiegeln sich auch entsprechend in den zusätzlichen psychosozialen Hilfsangeboten der Klinik wider.

    So lag z.B. die Zahl der ausländischen Patientinnen und Patienten bei den Psychoedukativen Gruppen für schizophrene Patienten mit 38% deutlich höher als die Rate von 28% ihres Gesamtanteils auf der geschlossenen Station. Die Zahl der deutschen Teilnehmer betrug 62%.

    Auch der Anteil der Angehörigen, die an Psychoedukativen Gruppen teilnahmen, war bei den ausländischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit 26% ähnlich paritätisch verteilt wie bei den deutschen Angehörigen, die 74% ausmachten.

    Allerdings waren im Psychose-Seminar, das von Dr. Berger 1993 in München gegründet wurde und seit 2001 von Hr. Dr. Berger, Hr. Dr. Bäuml, Fr. Dr. Pitschel-Walz und Fr. Dr. Mösch in Kooperation mit den Betroffenen und Angehörigen an der Psychiatrischen Klinik rechts der Isar durchgeführt wird, ausländische Teilnehmer deutlich unterrepräsentiert. Sowohl bei den Patienten als auch den Angehörigen lag deren Quote jeweils unter 5%.

  • 30

    Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Rate an schizophrenen Erkrankungen innerhalb der Akutstation bei ausländischen Patientinnen und Patienten deutlich erhöht ist, ähnliches trifft auch für Vergiftungsfälle zu, die auf der toxikologischen Abteilung behandelt werden. Im gerontopsychiatrischen Bereich sind ausländische Patienten bisher dagegen bekanntermaßen unterrepräsentiert.

    Die Erfahrungen der geschlossenen Station zeigen, dass strukturierte und verbindliche Vereinbarungen, wie sie z.B. in Form der Psychoedukativen Gruppen für Patienten und auch Angehörige durchgeführt werden, sehr viel häufiger in Anspruch genommen werden als die üblichen psychotherapeutischen und psychosozialen Behandlungsangebote, die auf dem „freien Markt“ selbst organisiert werden müssen.

    Wie kann man sich diese Unterschiede erklären? Sie resultieren sicher aus sprachlicher Unbeholfenheit und soziokulturellen Besonderheiten, die es den Betroffenen schwer machen, sich selbständig um psychosoziale Versorgungsangebote zu kümmern. Zusätzlich stellen rechtliche Hürden, Probleme der Finanzierung und ein unklarer Aufenthaltsstatus weitere Stolpersteine dar, um ausländischen Patienten den Zugang zu psychotherapeutischen und psychosozialen Behandlungsmaßnahmen zu ermöglichen.

    Was können die psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen tun, um dieser ungerechten Verteilung der Behandlungsressourcen entgegenzuwirken oder sie zumindest auszugleichen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, sollen nachfolgend einige Punkte aufgeführt werden, die mittel- oder langfristig eine Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen und psychosozialen Behandlungssituation für ausländische Patienten sicherstellen soll:

    1. Sensibilisierung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Schüchternheit und das mangelnde „Know-how“ ausländischer Patienten, sich eine adäquate ambulante psychosoziale Behandlung zu organisieren.

    2. Mehrsprachige Schilder in den Kliniken anbringen.

    3. Fremdsprachiges Informationsmaterial auslegen.

    4. Bereitstellen von Adressen von speziellen Beratungseinrichtungen.

    5. Auslegen fremdsprachiger Journale auf den Stationen und in den Einrichtungen.

    6. Kontakte zu den SPDi knüpfen, um bereits während der stationären Behandlung persönliche Bindungen zwischen Patienten und Mitarbeitern der SPDi aufzubauen.

    7. Anbieten von fremdsprachlichen Kursen auf den Stationen als Therapiemaßnahmen.

    8. Hohes Niveau bei der sozialpädagogischen Unterstützung beibehalten und weiter fördern.

    9. Frühzeitiger und regelmäßiger Einbezug der Angehörigen in den Behandlungsablauf.

    10. Einfordern einer ausländerfreundlichen Politik.

  • 31

    Fazit:

    Leichtere psychosoziale Krisen werden derzeit noch von den häufig intakten Großfamilien bei den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ohne professionelle Hilfe bewältigt. Bei akuten Zuspitzungen kulminieren diese Probleme aber dann offensichtlich häufiger in Form von Suizidversuchen, die einer stationären Entgiftungsbehandlung bedürfen. Bei schweren psychischen Erkrankungen, wie z.B. einer schizophrenen Psychose, werden aber die Laienkräfte auch von Großfamilien überfordert, möglicherweise kommt es hierbei ungewollt durch krankheitsverstärkende emotionale Intensivzuwendung zu einer rascheren Krankheitsdekompensation, was sich in einer erhöhten Behandlungsrate schizophrener Erkrankungen auf der geschlossenen Station widerspiegelt.

    Der hohe Ausländeranteil innerhalb der klinikinternen Behandlungsangebote zeigt, dass diese Familien sehr wohl erreichbar sind, wenn sie direkt, unmittelbar und durch Initiative der Klinikmitarbeiter einbezogen werden. Sind sie aber auf sich alleine gestellt und müssen sich selbständig um eine psychosoziale Weiterbehandlung kümmern, kommen sie oft nicht an. Hier liegt die aktuelle Herausforderung für die psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosozialen Einrichtungen, dass intensivere und verbindlichere Kommunikationswege gefunden werden, um das Verlorengehen der ausländischen Patientinnen und Patienten beim Übergang vom stationären in den komplementär-ambulanten Bereich zu verhindern.

    Dr. Gabriele Schleunig Atriumhaus Psychiatrisches Krisen- und Behandlungszentrum in München

    Das Atriumhaus ist eine Krisenambulanz. Zuerst möchte ich ihnen einige Daten über die Inanspruchnahme unserer Ambulanz im Jahr 2003 mitteilen.

    Ambulante Kriseninterventionen: gesamt 657

    MigrantInnen 111 (16,9%)

    Geschlecht: weiblich 71,2%

    männlich 28,8%

    Sprachliche Verständigung: problemlos 73%

    mit Schwierigkeiten 24,3%

    mit Übersetzer 1,8%

    nicht möglich 0,9%

  • 32

    Nationalität: 39 verschiedene Länder.

    Länder %-Anteil bzw. Patientenzahl

    Türkei

    Griechenland

    Kroatien

    Jugoslawien

    Italien

    Frankreich

    15%

    7%

    6%

    5%

    5%

    5%

    Afghanistan, Bosnien, Brasilien, England, Iran, Kosovo, Mazedonien, Polen, Serbien, Ukraine, USA,

    Jeweils 2 bis 5 Patienten

    Algerien, Chile, China, Indien, Jamaika, Kongo, Marokko, Peru, Portugal, Rumänien, Schweden, Senegal, Sierra Leone, Slowenien, Spanien, Thailand, Tschechien, Ungarn

    Jeweils 1 Patient

    Zuweisungen: ärztlich 47,7%

    sonstige 52,3%

    Das Atriumhaus will sich interkulturell öffnen. Es gibt jedoch Defizite bei der Finanzierung, wodurch eine Umsetzung erschwert wird. Neben diesen Schwierigkeiten stellt sich die Frage: Was sind gute Voraussetzungen für eine interkulturelle Öffnung?

    • Niedrigschwelligkeit der Einrichtungen

    • Neugier der Mitarbeiter

    • Verfolgen eines personenzentrierten Ansatzes, durch

    o Zusammenarbeit mit GPV

    o Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen der Patientinnen und Patienten in die Arbeit mit einbeziehen

    • Kein zeitliches Limit setzen, da die Arbeit mit nicht Vertrautem länger dauert

    • Hometreatment, also die Behandlung zu Hause; sie ist besonders wichtig bei Migrantinnen und Migranten

    • Annehmen von im GPV Erprobten und Bewährten

  • 33

    Sabine Frey Innere Mission München

    Die Regeldienste der freien Wohlfahrtspflege wollen sich grundsätzlich interkulturell öffnen und das tun sie auch, indem sie Leistungen für Migrantinnen und Migranten erbringen. Und das ist ganz wichtig: Migrantinnen und Migranten werden nicht ausgegrenzt!

    Ein Beispiel:

    SPDi Neuhausen-Nymphenburg hat einen Anteil von ausländischen Klienten von 19,3% bei einem Ausländeranteil von 23,5% im Einzugsgebiet. Im Betreuten Wohnen liegt der Ausländeranteil sogar bei 50%

    Doch stehen die Regeldienste bei der Leistungserbringung für Migrantinnen und Migranten vor folgenden Herausforderungen:

    1. Die größte Herausforderung stellen die Sprachkenntnisse dar: Von 62 ausländischen Klienten dieses Dienstes beispielsweise waren fünf ohne Deutschkenntnisse.

    Die Fremdsprachenkompetenz der Mitarbeitenden kommt schnell an ihre Grenzen und daher werden in den Diensten zumeist Klientinnen und Klienten versorgt, die der deutschen Sprache mächtig sind. Ein unproblematisches Einschalten eines Dolmetscherdienstes wäre in diesen Fällen notwendig. Dass ein problemloses Einbeziehen des Dolmetscherdienstes nicht so ohne einfaches möglich ist, macht ein Fall des Dienstes deutlich, dem erst kürzlich vom ASD in einem Fall einer Irakerin keine Kostenübernahme für einen Dolmetscher genehmigt worden ist.

    2. Für die Beratung und Begleitung von Migrantinnen und Migranten brauchen die Regeldienste mehr Zeit, als für deutsche Klienten. Diesem wissenschaftlich erwiesenen Sachverhalt wird nicht Rechnung getragen. In der neuen Leistungsbeschreibung für Sozialpsychiatrische Dienste werden beispielsweise die für eine Leistung maximal anrechenbaren Minutenwerte nicht danach differenziert, ob sie für Deutsche oder Ausländer erbracht werden.

    3. Auch wenn ein leichter Zugang zu den Dolmetscherdiensten ermöglicht werden könnte, würde dies keine Öffnung in quantitativer Hinsicht mit sich bringen.

    Vor allem im ambulant-komplementären Bereich des psychiatrischen Versorgungssystems gibt es Kapazitätsprobleme – diese betreffen Deutsche und Migranten gleichermaßen.

    Zum Beispiel mussten alle Sozialpsychiatrischen Dienste zum 1. Januar 2004 Kürzungen hinnehmen, nachdem die Bezirke nach dem Ausstieg der Krankenkassen aus der Finanzierung aus Haushaltsgründen deren Anteile nicht mehr übernehmen konnten. Seither sind jetzt beispielsweise 2,5 Fachkräfte für ein Einzugsgebiet von 182.000 Einwohnern zuständig. Wie schon im Januar in einem Schreiben an den Präsidenten geschildert, werden wir voraussichtlich weniger Klientinnen und Klienten sowie deren Angehörige versorgen können.

  • 34

    Neue Einrichtungen im ambulant-komplementären Bereich (wie Tagesstätten oder Wohngemeinschaften) werden vom Bezirk aus Kostengründen fast nicht mehr genehmigt. Es wird sogar laut über Entgeltabsenkungen und/oder Reduzierung der Qualität auf Bezirksebene nachgedacht.

    Die Freie Wohlfahrtspflege hat in ihrer Trägerschaft auch auf Migrantinnen und Migranten spezialisierte Fachdienste. Doch auch dort gibt es Versorgungsengpässe.

    Der psychologische Dienst für Ausländer der AWO kann beispielsweise keine psychiatrisch erkrankten Migrantinnen und Migranten beraten, da sie über keine entsprechenden Fachkräfte verfügen.

    Im psychologischen Dienst für Ausländer der Caritas in der Landwehrstraße müssen 40% der psychiatrisch Hilfesuchenden 2 Monate warten.

    Manche Nationalitäten sind fast nicht von muttersprachlichem Fachpersonal zu versorgen:

    • Für Türkinnen und Türken steht nur eine Allgemeinärztin zur Verfügung

    • Für Griechinnen und Griechen nur ein Psychiater

    • Auch für Staatsbürger aus Ex-Jugoslawien ist die Versorgung nicht gerade üppig (eine Psychologin in einem Sozialpsychiatrischen Dienst und zwei Niedergelassenen).

    Aufgrund der geschilderten Ist-Situation schlage ich daher folgende Maßnahmen vor:

    • Ausbau (d.h. Ressourcenzuschaltung) der speziell ausgerichteten Fachdienste, denn diese Maßnahme allein würde die aktuelle Situation qualitativ und quantitativ verbessern.

    Angesichts der überall vorhandenen angespannten Finanzlage habe ich zur qualitativen Verbesserung der Situation folgende Vorschläge und Bitten an die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik bei der Stadt München sowie dem Bezirk Oberbayern:

    • Berücksichtigung des höheren Zeitaufwandes für die Versorgung von Migrantinnen und Migranten bei der Berechnung der Stellenschlüssel bzw. Stundenbudgets der Regeldienste.

    • Schulungen für die Regeldienste bezüglich Migrations- und Kulturkompetenz anbieten und finanzieren.

    • Zugangsweisen zum Dolmetscherdienst vereinfachen.

    • Liste mit muttersprachlichen psychologischen Fachkräften erstellen und verteilen.

    • Finanzierung und Bereitstellung von muttersprachlichem Informationsmaterial.

  • 35

    Dr. Heinrich Berger Sozialpsychiatrischer Dienst Giesing

    Als Podiumsleiter durfte ich an dem Fachtag „Interkulturelle Öffnung von psychiatrischen Einrichtungen“ stellvertretend für Frau Milka Tišma teilnehmen, die als Ärztin an unserem Sozialpsychiatrischen Dienst in München-Giesing arbeitet und seit Jahren Vorreiterin in Sachen Interkulturelle Öffnung von Regeldiensten und Mitstreiterin im AK Migration und Psychiatrie bzw. Gesundheit ist. Ihr Engagement erklärt sich auch aus ihrer eigenen Erfahrung als Migrantin. Insofern habe ich, als ich als Diplompsychologe zum SPDi Giesing kam, nicht nur ein multiprofessionelles Team vorgefunden, zu dem noch eine weitere halbtags beschäftigte Ärztin, eine Sozialpädagogin und ans Team angegliederte Kollegen und Kolleginnen mit Spezialaufgaben wie betreutes Einzelwohnen, Case Management und Berufsbegleitender Dienst gehören, sondern auch ein multikulturelles Team: Neben Frau Milka Tišma ist auch unsere Verwaltungskraft Immigrantin.

    Das Beachten von Kulturdifferenzen und ein offener Umgang mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Perspektiven gehörten daher in den 10 Jahren meiner Teammitgliedschaft immer dazu. Transkulturelle Wahrnehmungserweiterung als ein alltägliches On-the-job-training war durch die Besonderheit unserer Teamzusammensetzung immer schon zentraler Faktor unserer Teamentwicklung. Dies betrifft einerseits die Ebene der Al ltagsarbeit und des zur Verfügung stehenden Informationspools. Sozialpsychiatrische Dienste benötigen als zentrale Schalt- und Vermittlungsstellen im ambulant-komplementären Psychiatriebereich für eine effektive Arbeit eine überragende Kenntnis der vorhandenen Dienste und Angebote, die bei uns in Form eines umfassenden Instituts-Karteikastens gesammelt und beständig weitergeführt wird. Das Experten-Wissen von Frau Milka Tišma über Migrationsfragen und –dienste hat dabei nicht nur uns selbst und den Klienten und Klientinnen unseres Versorgungsbereichs unschätzbare Dienste erwiesen, sondern auch vielen ratsuchenden Institutionen und hilfesuchenden Menschen über den Sektor Ost hinaus.

    Eine ganz andere tiefere Dimension ergibt sich – als willkommene Nebenwirkung – im alltäglichen Umgang als Angstabbau und „Veralltäglichung“: Nur wenige Menschen können sich mitunter xenophobischen Gefühlen ganz entziehen; wenn uns aber das vermeintlich Fremde im Gegenüber beim täglichen Miteinander-Handeln begegnet, lösen sich Vorbehalte und Vorurteile weitestgehend auf. Es ergibt sich eine Wahrnehmungsverschiebung von der anfänglichen Fokussierung auf Unterschiedliches hin zu Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten. Ethnische, kulturelle, ja selbst geschlechtsspezifische Differenzen minimieren sich bei der intensiven Teamarbeit, wie sie tragend und unerlässlich bei Sozialpsychiatrischen Diensten ist. Noch so viele Fortbildungen in Sachen transkulturelle Perspektivenerweiterung können nicht leisten, was eine „geöffnete“ Team-Situation im alltäglichen