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Jaspers - Glaube Und Wissen (2008)

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  • S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 67/2008

    Glaube und Wissen

    Croire et Savoir

    Schwabe www.schwabe.ch

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    Croire et Savoir

    Redaktion: Anton HgliRdaction: Curzio ChiesaGasteditor: Steffen Wagner

    Karl Jaspers hat in seiner Entfaltung des Kantschen Gedankens einer Religion inner-halb der Grenzen der kritischen Vernunft einen Begriff des philosophischen Glaubensentwickelt, der keinen irrationalen Sprung voraussetzt, sondern auf dem nicht abweis-baren Glauben des einzelnen Menschen beruht, der sich in seiner geschichtlichenSituation in seinem Denken zu orientieren sucht und nach dem Umgreifenden fragt,das alles Seiende transzendiert und sich jeder Objektivierung und Fixierung entzieht.Jaspers stellt die Philosophie vor die Frage, wie sie es mit dieser Mglichkeit einesneben Wissenschaft und Offenbarungsreligion dritten Weges auf dem Boden eineruniversalen Vernunft hlt. Dies ist nicht nur eine Schicksalsfrage der Philosophie, son-dern in der heutigen Situation eines angeblich unvershnlichen Kampfes der Kultu-ren letztlich auch eine Schicksalsfrage der Menschheit.

    Anton Hgli, geb. 1939, studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik/Nordistikund Mathematik in Basel und Kopenhagen. Er war von 1981 bis 2001 Direktor desPdagogischen Instituts Basel-Stadt und ab 1981 Privatdozent, dann auerordentlicherProfessor und von 2001 bis 2005 vollamtlicher Professor fr Philosophie und Pd- agogik an der Universitt Basel.

    Curzio Chiesa, geb. 1953, studierte Philosophie in Genf, Paris und Cambridge. Er istseit 1978 Matre denseignement et de recherche fr antike und mittelalterliche Philo-sophie an der Universitt Genf.

    Steffen Wagner, geb. 1966, studierte Philosophie in Neapel, wo er 2003 promovierte.Seit 1997 ist er freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar derUniversitt Neapel.

    Schwabe Verlag Basel

    Zum 125. Geburtstag von Karl Jaspers

    propos du 125e anniversaire de Karl Jaspers

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  • STUDIA PHILOSOPHICAVOL. 67/2008

    JAHRBUCH DER SCHWEIZERISCHEN PHILOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

    ANNUAIRE DE LA SOCIT SUISSE DE PHILOSOPHIE

    SCHWABE VER LAG BASEL

  • GLAUBE UND WISSENZUM 125. GEBURTSTAG VON KARL JASPERS

    CROIRE ET SAVOIR PROPOS DU 125e ANNIVERSAIRE DE KARL JASPERS

    REDAKTION / RDACTIONANTON HGLI / CURZIO CHIESAGASTEDITOR / DITEUR INVIT

    STEFFEN WAGNER

    SCHWABE VER LAG BASEL

  • 2008 by Schwabe AG , Verlag, BaselSatz: post scriptum, www.post-scriptum.biz

    Druck: Schwabe AG , Druckerei, Muttenz / BaselPrinted in Switzerland

    ISBN 978-3-7965-2444-8

    www.schwabe.ch

    Publiziert mit Untersttzung der Schweizerischen Akademieder Geistes- und Sozialwissenschaften

    Publi avec laide de lAcadmie suisse des sciences humaines et sociales

  • Inhalt / Table des matires

    Glaube und WissenZum 125. Geburtstag von Karl Jaspers

    Croire et savoir propos du 125e anniversaire de Karl Jaspers

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Gruworte zum Jaspers-Symposion in NeapelFabrizio Lomonaco, Direttore del Dipartimento di Filosofi a

    A. Aliotta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Anton Hgli, Prsident der Karl-Jaspers-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . 14Giuseppe Cantillo, Direttore del Centro di Ateneo Scuola di Alta

    Formazione Federico II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

    Einleitung

    Reiner Wiehl : Gewissheit und Vertrauen. Zur Kosmo-Anthropologie von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

    Vernunft und Tran szen denzPaola Ricci Sindoni : Gott unter Anklage: Jaspers und der

    Fall Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Thomas Rentsch : Tran szen denz und Vernunft: Wie lsst sich

    ihr Verhltnis heute bestimmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Joachim Ringleben : Sprache und Tran szen denz . . . . . . . . . . . . . . . 69Francesco Miano : Phnomenologie des Gewissens.

    Zur Existenzerhellung bei Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Claudio Fiorillo : Die einende Grenze: Paradoxon,

    Kommunikation, Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

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    Der philosophische Glaube

    Anton Hgli : Von der Subjektivitt des Glaubens und der Objektivitt des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

    Andreas Cesana : Philosophischer Glaube und Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

    Kurt Salamun : Der philosophische Glaube als zentrale Komponente von Karl Jaspers Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . 165

    Bernd Weidmann : Philosophischer Glaube und politisches Engagement. Zivilreligise Motive bei Karl Jaspers . . . . . . . . . 179

    Steffen Wagner : Der philosophische Glaube zwischen Ontologismus und Tran szen dentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

    Philosophischer Glaube und OffenbarungsreligionHans Saner : Karl Jaspers und das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . 221Giuseppe Cantillo : Kierkegaard und die Existenzphilosophie

    von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235Roberto Celada Ballanti : Die Augustin-Deutung von

    Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251Helmut Hhn : Tief langweilige sogenannte Tran szen denz?

    Zur Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Karl Jaspers 265

    Anthropologie, Psychopathologie und Pd ago gik

    Rossella Bonito Oliva : Existenz und Pathologie: Jaspers und Binswanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

    Harald Stelzer : Von Max Webers Gehuse-Metapher zum Gehuse-Begriff bei Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

    Stefania Achella : Das Zeiterleben als Chiffre des Bewusstseins . . . 319Anna Donise : Karl Jaspers als Phnomenologe . . . . . . . . . . . . . . . . 335Angela Giustino Vitolo : Das pd ago gische Planen und das Ziel

    der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

    Vom Ursprung des Wissenwollens

    Jacques Bouveresse : Le besoin de croyance et le besoin de vrit . . 365

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    Buchbesprechungen / Comptes rendus

    Historisches Wrterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter , Karlfried Grnder und Gottfried Gabriel, Basel 1971-2007, Band 13: Register mit Volltext-CD-ROM des Gesamtwerks (Marcel Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

    Pascal Engel : Va Savoir! De la connaissance en gnral, Paris 2007 (Jonas Pfi ster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

    Guillaume dOckham : Intuition et abstraction, textes introduits, traduits et annots par David Pich, Paris 2005 (Jol Lonfat) . . 394

    Diego Marconi : Per la verit. Relativismo e fi losofi a, Torino 2007 (Marcello Ostinelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

    Adressen der Autoren / Adresses des auteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401Redaktion / Rdaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

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    Glaube und WissenCroire et savoir

    Vorwort

    Zwei groe Wege bieten sich dem abendlndischen Menschen an in seinem Bedrfnis nach Orientierung in dieser Welt: der Weg der Wissenschaft, der methodisch geregelten, nie abschliebaren Wahrheitssuche, und der Weg des Offenbarungsglaubens, des riskanten, durch keine Begrndung einhol-baren Sprungs zu der glubigen Hinnahme ewiger Glaubenswahrheiten. Der Philosophie scheint angesichts dieser beiden Wege nur die Rolle einer dienstbaren Magd zu bleiben, sei es der Wissenschaft oder der Theologie oder beider. Dass Philosophie in dieser Rolle nicht aufgehen kann, zeigt sich schon darin, dass sie sich den Geltungsansprchen dieser beiden Mchte nicht blindlings unterwirft, sondern deren Wahrheitsansprche ihrerseits wieder zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung machen und an ihren eigenen Wahrheitsansprchen messen kann. Sie erschliet uns, indem sie dies tut, einen mglichen dritten Weg den Weg hin zu einer philosophisch gegrndeten Existenz. Kant hat uns diesen Weg auf exemplarische Weise erffnet in Form des von ihm postulierten, die Grenzen des Erfahrbaren berschreitenden Vernunftglaubens.

    Karl Jaspers hat diesen Gedanken umfassend entfaltet unter dem Begriff des philosophischen Glaubens, d. h. einem Glauben, der nicht auf einem ir-rationalen Sprung beruht, sondern nicht abweisbarer Glaube jedes einzelnen Menschen sein kann, der sich in seiner geschichtlichen Situa tion in sei-nem Denken zu orientieren sucht und nach dem Umgreifenden fragt, das alles Seiende transzendiert und sich jeder Objektivierung und Fixierung entzieht.

    Das Werk von Jaspers stellt die Philosophie vor die Frage, wie sie es hlt mit der Mglichkeit dieses dritten Weges neben Wissenschaft und Offen-barungsreligion auf dem Boden einer universalen, alle Menschen verbinden-den Vernunft. Diese Frage ist nicht nur eine Schicksalsfrage der Philosophie, sondern in der heutigen Situa tion eines angeblich unvershnlichen Kampfes der Kulturen letztlich auch eine Schicksalsfrage der Menschheit.

    An einer von der Karl-Jaspers-Stiftung in Basel und dem Dipartimento di Filosofi a A. Aliotta der Universit degli Studi di Napoli Federico II

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    10 Vorwort

    organisierten inter natio nalen Tagung an der Universitt Neapel zum Thema Karl Jaspers. Glaube und Wissen im November 2007 haben Philosophen, Theologen und Psychologen aus Italien, Deutschland, sterreich und der Schweiz sich dieser Frage zu stellen versucht: zum einen durch Vergegen-wrtigung des von Jaspers aufgezeigten Weges, zum andern durch Situierung seiner Position in der Tradition der abendlndischen Philosophie und im Kontext des heutigen Philosophierens.

    Aus Anlass des 125. Geburtstages von Karl Jaspers (1883-1969) haben wir die Thematik der Tagung in Neapel in den Mittelpunkt der Studia Philo-sophica 67 gestellt. Dies zum Andenken an einen der wohl grten deutsch-sprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, den die Schweiz falls es so etwas wie natio nale Philosophie berhaupt geben knnte auch fr sich ver-buchen drfte. 1948, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ist Karl Jaspers von Heidelberg an die Universitt Basel berufen worden und hat dort noch 14 Jahre gelehrt und bis zu seinem Tod zuletzt noch als Schweizer Brger gelebt. Die Entwicklung seines tragenden Begriffs eines philoso-phischen Glaubens und seine Auseinandersetzung mit der Offen barungs-religion war eines der Hauptthemen seiner beraus produktiven Basler Zeit. Die Inter natio na litt des Symposions in Neapel zeugt von der Bedeutung, die seinem Werk heute noch weltweit zukommt. Dass dieses Werk eine Brcke zu schlagen vermag zwischen den vllig verschiedenartigen philosophi-schen Kulturen des deutschen und des romanischen Sprachraums, ist fr die Schweizerische Philosophische Gesellschaft ein Grund mehr, ihm auch in ihrem Jahrbuch angemessenen Raum zu geben.

    Die in diesem Band gesammelten Artikel sind aus Vortrgen hervor-gegangen, die an der Tagung in Neapel gehalten worden sind. Alle italie-nischsprachigen Beitrge sind dabei ins Deutsche bersetzt worden, zum einen, um deren Rezeption im deutschsprachigen Sprachraum zu erleichtern, zum andern, weil reziprok auch eine rein italienischsprachige Edition der Symposionsbeitrge geplant ist. Die Redaktion und bersetzung der italie-nischsprachigen Artikel wre nicht mglich gewesen ohne die Mithilfe von Steffen Wagner, der, als Deutscher in Neapel lehrend, sich schon bei der Organisation und Durchfhrung der Tagung als unverzichtbar erwiesen hat. Wir haben ihn, um seine Leistung und seine Verdienste fr diesen Band auch angemessen zu wrdigen, als Gasteditor in unser Redaktionsteam auf-genommen.

    Ausgespart in allen diesen in erster Linie von der philosophischen Auseinandersetzung mit der Religion geprgten Artikeln bleibt die Frage, woher unser Wille zu wissen und unsere Prferenz fr Wissen statt fr Glau-

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    Vorwort 11

    ben berhaupt entspringt. Der einzige, dafr sehr umfangreiche franzsisch-sprachige Beitrag in diesem Band geht dieser Frage nach und schafft damit auch den Bezug zu der eher analytisch orientierten Philosophie, in der diese Frage zurzeit intensiv diskutiert wird.

    Anton Hgli Curzio Chiesa

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    Gruworte zum Jaspers-Symposion in Neapel

    Ein bedeutenderes wissenschaftliches Zusammenkommen, als dieses Karl Jaspers gewidmete Symposion, htte es in diesen ersten Novembertagen und zu Beginn meiner Leitung des Philosophischen Seminars Antonio Aliotta der Universitt von Neapel Federico II nicht geben knnen. Fr diesen wichtigen und inter natio nalen Moment kulturellen Lebens, fr seine Ideation und Organisation, bin ich meinem Freund und Kollegen Giuseppe Cantillo und seinen Mitarbeitern sehr dankbar.

    Es ist auerdem eine willkommene Gelegenheit, an eine groe Denker-fi gur des 20. Jahrhunderts zu erinnern, und zwar an Pietro Piovani. Viele nea politanische Studierende und Gelehrte, die in ihrem Werdegang von diesem Lehrmeister geprgt wurden, sind heute in dieser Aula Magna an-wesend, die seinen Namen trgt. Piovani feierte 1947 als Rezensent sein Debt zu Anlass der italienischen bersetzung von ber meine Philosophie, und er frderte 1969 die Verffentlichung der bersetzung der Philosophi-schen Auto bio gra phie, in der interessanten Reihe Athenaeum des neapo-litanischen Verlagshauses Morano. Es handelt sich bekanntlich um einen biographischen Text, der in seinem mavollem Ton und seiner besonders strengen sittlichen Wrde gerade deshalb bedeutsam ist, weil er geschickt in das Verstndnis der Jaspersschen Philosophie einleitet. Dies bezeugen die Gedanken zu einem berblick ber das Ganze meiner Schriften, in denen Jaspers in der Erfahrung der Grenz situa tio nen und der Erhellung der Kommunikation die wesentlichen Kennzeichen seines Schaffens aus-macht: Das Wesen des Menschen schreibt er wird sich erst bewut in den Grenz situa tio nen. Daher suchte ich von Jugend an mir das uerste nicht zu verschleiern. Das war eines der Motive, warum ich Medizin und Psych iatrie whlte. In eine andere Richtung seines Gedankens fortschrei-tend fhrt er aus:

    Wir werden wir selbst nur in dem Mae, als der andere er selbst wird, werden frei nur, soweit der andere frei wird. Daher war mir seit der Schlerzeit die Frage der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch zunchst die praktische, dann die philosophisch bedachte Grundfrage unseres Lebens. [] die Wahrheit selbst konnte unter den Mastab gebracht werden: Wahrheit ist, was uns verbindet,

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    14 Gruworte zum Jaspers-Symposion in Neapel

    und unter den Anspruch: den Wert der Wahrheit an der Wahrheit der durch sie mglichen Verbindung zu ermessen. [] In diesen beiden Richtungen [] bin ich an kein Ende gelangt.1

    Mir obliegt es hingegen, an dieser Stelle ein weit empirischeres und weniger bedeutungstrchtiges Ende zu fi nden und mich bei Ihnen allen fr Ihre freundliche Aufmerksamkeit und Teilnahme am heutigen Abend, sowie an den folgenden Tagen dieser Veranstaltung zu bedanken.

    Fabrizio LomonacoDirettore del Dipartimento di Filosofi a A. Aliotta

    ***

    In meiner Funktion als Prsident der Karl-Jaspers-Stiftung will ich mich gerne dem Reigen dieser Begrungsworte anschlieen. Die Karl-Jaspers-Stiftung wurde kurz nach dem Tode von Karl Jaspers von der Genfer Philo-sophin Jeanne Hersch ins Leben gerufen mit dem Ziel, eine In sti tu tion zu schaffen, die sich fr die Frderung des Werks und des Denkens von Karl Jaspers einsetzt. Die Stiftung hat dies in den mehr als 30 Jahren ihres Beste-hens, erst unter dem Prsidium von Jeanne Hersch, dann unter dem unseres Ehrenprsidenten, meines verehrten Kollegen Reiner Wiehl, auf vielfltige Weise zu tun versucht: durch Verffentlichung einer stattlichen Reihe von Nachlassbnden und Briefeditionen, durch Tagungen, Ausstellungen und eigene Pu blika tio nen. Zurzeit steht eine ihrer schwierigsten Aufgaben an: die Edition einer kritischen Gesamtausgabe der Werke und des Nachlasses von Karl Jaspers, die an die 50 Bnde umfassen wird.

    Die Aufgabe der Stiftung ist nicht leichter geworden. Als Folge wohl der Emigration von Karl Jaspers in die Schweiz und seines vernichtenden Ur-teils ber die mentale Verfassung der Bundes republik ist es in Deutschland merkwrdig still geworden um Jaspers. Der Vormarsch der analytischen Philosophie in den deutschen Lndern hat seine Rezeption noch zustzlich erschwert. Umgekehrt proportional dagegen wchst seine inter natio nale Be-deutung: er ist der wohl meist bersetzte deutsche Philosoph des 20. Jahr-hun derts, seine Bcher sind weltweit in mehr als 30 Sprachen verbreitet worden. Es gibt Jaspers-Gesellschaften in den USA ebenso wie in Japan. Wir

    1 Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie (Mnchen: Piper, erw. Neuausgabe

    1977) S. 123f.

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    Gruworte zum Jaspers-Symposion in Neapel 15

    sind darum dankbar fr jedes Echo, das die Stimme von Jaspers in andern Teilen Europas und der Welt gefunden hat.

    Italien ist, unter allen Lndern Europas, dasjenige, aus dem dieses Echo am klarsten und strksten zu uns dringt. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst unsers werten Kollegen Giuseppe Cantillo und all der andern Kollegen, die an unserem Kolloquium hier in Neapel teilnehmen werden. Ihnen auch ist es zu verdanken, dass wir berhaupt hier und heute, in den Rumen der Uni-versit degli Studi di Napoli Federico II tagen knnen. Es ist mir darum ein ganz besonderes Anliegen, den Organisatoren vor Ort, insbesondere Prof. Giuseppe Cantillo, Prof. Francesco Miano, Dr. Steffen Wagner und dem Sekretariat, fr ihre groe Arbeit meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Mein Dank gilt aber ebenso sehr auch dem Rektor, Magnifi zenz Prof. Guido Trombetti, dem Prsidenten der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Fa-kultt, Prof. Massimo Marrelli, und dem Dekan der Geistes wissen schaft-lichen Fakultt, Prof. Eugenio Mazzarella, fr ihre grozgige Untersttzung unseres Unternehmens und ihren warmen Empfang.

    Das Thema Glauben und Wissen, um das es in dieser Tagung geht, verbindet uns alle in besonderer Weise. Ganz allgemein durch seine kaum zu bestreitende Aktualitt in der heutigen Zerrissenheit der Welt zwischen Anhngern traditionaler Kirchlichkeit oder fundamentalistischer, gewalt-bereiter Religiositt auf der einen Seite und den glaubenslosen, positi-vistischer Seichtigkeit verfallenen Massen einer westlichen Wohlstands-gesellschaft auf der anderen Seite. Die uns verbindende Schicksalsfrage ist, ob es einen gemeinsamen Boden der Vernunft geben kann, auf dem wir uns berhaupt noch treffen knnen, und eine Form des Glaubens, der die berlieferten religisen Gehalte auch in einer modernen, von Wissen-schaft und Technik geprgten Welt in transformierter Gestalt zu retten vermag.

    Bemerkenswert und ein Band besonderer Art aber ist, dass unser Ge-sprch hier in Italien stattfi ndet, dem Ursprungsland rmisch-katholischer Kirchlichkeit, und dass es in diesem Gesprch gerade darum geht, der Stimme von Karl Jaspers Gehr zu verschaffen, der als Norddeutscher das nordische protestantische Prinzip der inneren Freiheit des Einzelnen jen-seits des Offenbarungsglaubens zum Grundprinzip seiner Philosophie er-hoben hat. Die Spannung zwischen Katholizitt und Freiheit wird darum eine der groen Klammern sein, die unser Thema umfasst. Uns als Philoso-phierenden aber wird alles daran gelegen sein, nicht alte Positionen neu zu verfestigen, sondern diese Positionen zu verfl ssigen im Zuge der groen Gedankenbewegung, die von Karl Jaspers und seinem Werk ausgeht und die

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    sich als Grundlegung versteht einer weltweiten, alle Menschen umfassenden Kommunikation der Vernunft.

    Diesen Geist der Offenheit unmittelbar im Hier und Jetzt erfahrbar machen zu knnen, dies allein schon, meine ich, drfte unser Symposion rechtfertigen. Ich wnsche mir darum, dass diese bereichernde Erfahrung auch das beste Dankesgeschenk sein wird fr alle, die sich an unserem Ge-sprch beteiligen: fr die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Italien ebenso wie fr meine Kollegen aus Deutschland, sterreich und der Schweiz, die sich in dankenswerter Weise bereit gefunden haben, unserer Einladung nach Neapel zu folgen.

    Anton HgliPrsident der Karl-Jaspers-Stiftung

    ***

    Mein auerordentlicher Dank gilt an dieser Stelle der Karl-Jaspers-Stiftung, in der Person ihres Prsidenten, Prof. Dr. Anton Hgli, fr die Entscheidung, dieses Jaspers-Symposion zusammen mit dem Philosophischen Seminar Antonio Aliotta der Universitt Federico II hier in Neapel durchzufh-ren. Dabei handelt es sich fr uns um eine sehr groe Ehre, aber auch um eine groe Verantwortung, und ich hoffe, dass wir dieses Vertrauen, das die Karl-Jaspers-Stiftung in uns gesetzt hat, verdienen werden.

    Ich mchte mich aber auch bei den Teilnehmern der Tagung fr ihr Kom-men bedanken. Vor allem unsere deutschsprachigen Kollegen darf ich hier in Neapel herzlich willkommen heien und Ihnen allen einen erfreulichen Aufenthalt in unserer Stadt wnschen.

    Mein Dank gilt auerdem Seiner Magnifi zenz, Rektor der Universitt zu Neapel Federico II, Prof. Guido Trombetti, sowie dem Pro-Rektor Prof. Vincenzo Patalano, fr die Untersttzung, die sie unserer Tagung haben zukommen lassen. Danken mchte ich aber auch dem Dekan der Fa kultt, Prof. Eugenio Mazzarella, der uns die Aula Magna, sowie den schnen Kreuz-gang der Fakultt zur Verfgung gestellt hat. Auch an Prof. Fabrizio Lomo-naco, dem Direktor des Philosophischen Seminars Antonio Aliotta geht meine Dankbarkeit, an das gesamte Verwaltungspersonal, sowie auch an Frau Prof. Adele Nunziante Cesaro, der Direktorin des Seminars fr Psychologie.

    Mein besonderer Dank gilt schlielich Prof. Francesco Miano und Dr. Steffen Wagner fr ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit, sowie er-

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    Gruworte zum Jaspers-Symposion in Neapel 17

    neut Dr. Steffen Wagner und Frau Lucia Rizzuti, die zusammen mit Dr. Luca Scafoglio und Frau Lina Ombra die Hauptlast des organisatorischen Teils getragen haben und in diesen Tagen tragen werden. Gleiches gilt fr alle anderen Mitarbeiter meines Lehrstuhls.

    Ein herzliches Dankeschn gilt jedoch auch meinem verehrten Lehrer, Prof. Aldo Masullo, der heute Nachmittag hier unter uns ist.

    Nun einige kurze Bemerkungen zum Thema unserer Tagung. Es ist eng verbunden mit dem Bewusstsein um den Ausgang des zeitgenssischen Denkens im modernen Nihilismus und mit der Suche in Auseinander-setzung mit Karl Jaspers nach einer mglichen philosophischen Antwort auf ihn.

    In seiner Refl exion ber die Moderne geht Jaspers von der Feststellung aus, dass die Strenge und die Verifi zierbarkeit sowie das enge Band, das Technik und Wissenschaft verbindet dazu beigetragen haben, das wissen-schaftliche Weltbild als das, aus dem Blickpunkt der Vernunft, einzig ver-tretbare zu akkreditieren. Tatschlich aber muss der Bereich der gegenstnd-lichen Erkenntnis rigoros auf die blo empirischen Wissenschaften be-schrnkt werden im Wissen darum, dass ihr Begriff der Wahrheit so sagt Jaspers durchaus nicht die Wahrheit in ihrem Ganzen enthlt, sondern viel-mehr Freiraum auch fr eine andere Wahrheit lsst, die nicht Gegenstnde der ueren oder inneren Erscheinungswelt betrifft, sondern sich in einem Akt der Transzendierung auf das Sein selbst, auf das Umgreifende richtet.

    Gerade in der Anerkennung des kognitiven Wertes der Wissenschaften setzt Jaspers eine Strategie der Rettung der Philosophie um, losgelst von jedem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, indem er sie erneut ihrer ur-sprnglichen Berufung berantwortet: das authentische Sein zu befragen, das als Existenz und Tran szen denz nie vergegenstndlicht und wissen-schaftlich erkannt werden kann. Als Ausbung der in der geschichtlichen Einzelexistenz verkrperten Vernunft ist Philosophie persnliche Meditation, subjektives Denken um den Ausdruck Kierkegaards zu verwenden. In der Einfhrung in die Philosophie beginnt die Philosophie fr Jaspers an den Grenzen des Verstandeswissens und ist daher ein Besinnen und ein Glauben: ein Glaube an das Sein der mglichen Existenz, ein Appell daran, sich selbst zu sein, auf das Sein zurckzugreifen, jene Wahrheit zu suchen, die nach dem Hinweis Platons nicht schriftlich mitgeteilt werden kann, sondern einzig im Denken aufleuchtet, im Akt der Kommunikation zwischen den Existenzen und dem Sich-ffnen der Einzelexistenz gegenber der Tran szen denz.

    Im Konkreten der Situa tion und des Situa tions handelns erfhrt der Exis-tierende die eigene Grenze, versprt aber zugleich die eigene Beziehung

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    zur Tran szen denz, als Quelle seiner Freiheit. Die Tran szen denz kann nicht objektiv erkannt werden, sondern nur Teil eines metaphysischen Aufschwun-ges sein, der seinen Ausdruck in Symbolen und Chiffren hat, den Evokatio-nen seiner Wirklichkeit. Daher kann die Gottesfrage allein in der negativen Theologie eine Antwort fi nden, auf die auch groe Denker der christlichen Tradition von Augustin bis Thomas von Aquin zurckgegriffen haben, in dem Bewusstsein, dass jedes Reden von Gott als unangemessen erscheint, jedoch gerade das Bewusstsein der Unmglichkeit der Gotterkenntnis eine Form darstellt, Gott zu denken, und zwar die einzige, der endlichen Vernunft des Menschen zugngliche Form. Hierin grndet der Unterschied zwischen philosophischem Glauben und Offenbarungsglauben und der Bezug auf den philosophischen Glauben ist Jaspers Antwort auf den Tod Gottes, der die Vollendung der Moderne zu charakterisieren scheint. Zur Refl exion ber den philosophischen Glauben und zur Klrung der Beziehung zwischen Glaube und Wissen werden sicherlich die Vortrge und Diskussionen unserer Tagung einen Beitrag leisten.

    Giuseppe Cantillo Direttore del Centro di Ateneo Scuola

    di Alta Formazione Federico II

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    Studia philosophica 67/2008

    REINER WIEHL

    Gewissheit und Vertrauen Zur Kosmo-Anthropologie von Karl Jaspers

    Trust and certainty are, like belief and knowledge, basic features of Jasperss thought. His Existenz Philosophy unfolds as a new form of metaphysics in the ways of being of human orientation in the world, of the illumination of existence, and in the inter-pretation of the language of ciphers. Also new is the methodical awareness of this metaphysics in the connection of personal and supra-personal, direct and indirect communication. Instead of the traditional foundational ontology, there is a peri-echontologie, a teaching of the complex arrangement of the multiple meanings of the being of being, of human being and the being of truth. In this arrangement trust and certitude fi nd their respective specifi c meanings: the compelling certitude of scientifi c knowledge is thus a different one from the certitude of trust, which emanates from love and faithfulness.

    1. Die Selbstabgrenzung der Philosophie von der Religion

    Hegels berhmter Aufsatz aus dem mit Schelling herausgegebenen Kriti-schen Journal der Philosophie, in dem er sich mit den mageblichen Ge-stalten der Refl exionsphilosophie der Subjektivitt auseinandersetzt, trgt den Titel Glauben und Wissen. Der erste Satz dieser Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Fichte lautet: ber den alten Gegensatz der Vernunft und des Glaubens, von Philosophie und Religion hat die Kultur die letzte Zeit so erhoben, da diese Entgegensetzung von Glauben und Wissen einen ganz anderen Sinn gewonnen hat, und nun innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist. Mit diesen Stzen geht es Hegel in seiner kritischen Ausein-andersetzung mit den sogenannten Refl exionsphilosophien seiner Zeit um die Frage: ob die siegreiche Vernunft nicht eben das Schicksale erfuhr [] dem Geiste nach dem berwundenen zu unterliegen.1 Glaube und Wissen, Religion und Vernunft, dies ist auch, wie kaum ein anderes ein Thema unse-rer heutigen Zeit; und die zitierten Stze Hegels, 200 Jahre vor unserer Zeit

    1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen, in ders.: Smtliche Werke

    (Jubilumsausgabe), Bd. 1 (Stuttgart: Frommann, 1958) S. 279.

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    geschrieben, formulieren eine analoge Fragestellung: Wie steht es mit dem Verhltnis dieser beiden Grundinstanzen, in denen sich die fragliche Bezie-hung zwischen Vernunft und Religion, zwischen Wissenschaft, Philosophie und Theologie ausdrckt. Wem von diesen Instanzen der modernen Kultur soll, welcher muss der Vorrang vor der anderen eingerumt werden? Von wo ist der Mastab zu nehmen, um diese Frage nach dem Primat der einen Instanz vor der anderen zu rechtfertigen, wenn es denn einen solchen Primat gibt.

    Glaube und Wissen: Die Frage nach der Beziehung des einen zum ande-ren, die Frage nach einem mglichen, mglicherweise notwendigen Vorrang des einen vor dem anderen ist auch eine der Grundfragen der Philosophie Karl Jaspers, der dieses Inter natio nale Symposion in Neapel gewidmet ist. Es ist keine bertreibung zu sagen: Diese Frage durchzieht das ganze Den-ken von Jaspers, schon in seiner Psychologie der Weltanschauungen, dann in seiner groen dreibndigen Philosophie und in dem groen Werk Von der Wahrheit, bis in seine spten Arbeiten hin ein. In der Auseinandersetzung mit dieser Frage nach Glaube und Wissen sind es nicht die gleichen Ge-genspieler wie die Hegels, mit denen Jaspers in erster Linie zu tun hat. Im Gegenteil: Es ist fr ihn Kant der Magebliche und Vorbildliche, der Phi-losoph schlechthin, keinem anderen vergleichbar in dem Adel seiner beson-nenen Menschlichkeit, an dem sich sein Denken orientiert: Kant, dessen Menschlichkeit sich offenbart als die Reinheit und Schrfe seines unendlich bewegten Denkens, durch das auf keinen Grund zu stoen ist.2 Und wie er selbst seine geistig-philosophische Nhe zum Autor der Kritik der reinen Vernunft sieht, kommt bereits an eben derselben Stelle zum Ausdruck, wo er schreibt: Philosophie, das Wagnis, in den unbetretbaren Grund mensch-lichen Selbstbewutseins zu dringen, mu als Lehre der fr jedermann ein-

    2 Karl Jaspers: Philosophie, Bd. I: Philosophische Weltorientierung (Berlin: Sprin-

    ger, 1932), Vorwort, S. VIII. Hier zhlt Jaspers auch die der groen Philosophen auf, die ihm zu Wegbegleitern wurden: Plotin, Bruno, Spinoza, Schelling, die groen Metaphysiker als Schpfer zu Wahrheit werdender Trume; Hegel in seinem Reichtum an erblickten Gehalten, die er mit einziger sprachlicher Kraft in konstruktiven Denken zum Ausdruck bringt; Kierkegaard den in der Wurzel erschtterten, dessen Redlichkeit vor dem Nichts aus der Liebe zum Sein als dem Anderen Mglichen philosophiert; W. v. Humboldt, die Verkrperung deutscher Humanitas in der Weite einer groen Welt; Nietzsche, den Psychologen und un-erbittlichen Enthller aller Tuschungen, der in mitten seiner glaubenslosen Welt der Seher geschichtlicher Substanzen wurde; Max Weber, der der Not unserer Zeit ins Auge blickte und sie mit umfassendem Wissen erkannte, in einer zerfal-lenden Welt sich auf sich selbst stellend.

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    sichtigen Wahrheit in die Irre gehen.3 Kant ist fr Jaspers der Vordenker der menschlichen Subjektivitt und der menschlichen Existenz in der Philoso-phie der Moderne, derjenige, der das menschliche Selbstbewusstsein in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt hat. Er ist fr ihn derjenige, der den Weg zum wahren Verstndnis menschlicher Freiheit geffnet hat: fr die mensch-liche Freiheit im ethischen, im rechtlichen und im politischen Sinne. Kant ist fr Jaspers deswegen auch der Orientierungspunkt fr das hier thematische Problem von Glaube und Wissen in Form des fraglichen Zusammenhangs von praktischer und theoretischer Vernunft. Vor allem aber ist Kant hier derjenige, der in seinem Versuch einer neuen Grundlegung der Metaphysik durch die menschliche Vernunft deren Kritik nicht aus dem Auge verliert. Einer der ersten Stze in Jaspers Philosophie lautet: Existenzphilosophie ist Metaphysik.4 Damit bestimmt er einmal den spezifi schen Charakter der von ihm entworfenen Existenzphilosophie im Konzert der existenzphiloso-phischen Strmungen seiner Zeit. Zugleich ist ihm dabei bewusst, dass diese von ihm angestrebte Erneuerung des Kernstcks der klassischen euro pi-schen Philosophie nicht an Hegels spekulativer Philosophie des Absoluten, sondern an Kants Vernunftkritik anschliet.

    Jaspers Bemhung um eine Erneuerung der Metaphysik ist sich bewusst, dass das Herzstck der traditionellen Metaphysik, um dessen Neubegrn-dung es in Hegels Philosophie des Absoluten ging, endgltig verloren war. Ich meine hier die allgemeine Ontologie, in der sich die philosophische Lehre von Gott, Welt und Mensch, aber auch der begriffliche Zusammenhang von Natur und Kultur begrndete. Der Verlust der Gltigkeit einer allgemei-nen Ontologie fi ndet bei Jaspers seinen Ausdruck in seiner Chiffrenlehre. Wenn ich hier im Titel meines Vortrags von Kosmologie und nicht von Welt-orientie rung, von Anthropologie, nicht von Existenzerhellung spreche, so zunchst, um die Frage nach der Metaphysik, nach der Philosophie als Be-dingung der Mglichkeit von Welt- und Bewusstseinserkenntnis zu stellen. Im Thema meines Vortrags sind die Begriffe der Gewissheit und des Ver-trauens benannt. Diese stehen den Begriffen des Wissens und des Glaubens

    3 Ibid., Vorwort, S. VII. Zur Beziehung zwischen Jaspers auf der einen Seite und

    Kant und Hegel auf der anderen Seite, vgl. Karl Jaspers Philosoph unter Philo-sophen, Teil 1, hg. von Richard Wisser und Leonhard H. Ehrlich, insbesondere dort die Beitrge von Andreas Cesana und Alan M. Olson (Wrzburg: Knigs-hausen & Neumann, 1993).

    4 Wrtlich heit es: Existenzphilosophie ist im Wesen Metaphysik. Sie glaubt,

    woraus sie entspringt. (Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 27) Vgl. insbesondere auch S. 33ff.

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    nahe. Sie vermgen, hnlich wie diese, auf das bereits erwhnte Problemfeld von Wissenschaft und Religion, von Philosophie und Theologie zu verwei-sen. Dem zuvor sind Gewissheit und Vertrauen ursprngliche Verhaltens-weisen des Menschen in seiner Lebenswelt und ursprngliche Bedrfnisse des menschlichen Daseins. Es gibt einen Hunger und Durst nach Gewissheit, nach Vertrauen, wie es einen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit gibt. Beide hier thematischen Bestimmungen, Gewissheit und Vertrauen, ge hren zu den Grundbegriffen der Jaspersschen Philosophie, wenn innerhalb der-selben berhaupt von Grundbegriffen zu reden erlaubt ist angesichts des historischen Verlustes einer allgemeingltigen Ontologie in universaler Be-grndungsfunktion. Aber auf jeden Fall sind es Grundworte, Schlsselworte und der Jaspersschen Philosophie entsprechend auch Signa und Chiffren. Aber neben diesen Grundworten treffen wir auch auf die ebenso gewichtigen Grund- und Schlsselworte der Schwebe und des Scheiterns, die untrennbar mit der Philosophie der menschlichen Existenz verbunden sind und in denen die vernunftkritische Dimension dieser Philosophie zum Ausdruck kommt. Wir stehen hier schon zu Beginn dieser Betrachtungen vor der Frage, wie dies beides zusammengeht: Auf der einen Seite die unverzichtbare Bedeu-tung von Gewissheit und Vertrauen fr die menschliche Existenz, auf der anderen Seite die untrennbare Bindung dieser Existenz an Unbestimmtheiten allenthalben und an die Konfrontation mit dem Scheitern dieser Existenz als Mglichkeit. Stehen wir hier vor einem ursprnglichen philosophischen Zusammenhang, der bei Hegel den beredten Ausdruck eines sich vollbrin-genden Skeptizismus gefunden hatte?5

    Es ist Jaspers Kantianismus, dem sich die antinomische Struktur seines Denkens verdankt. Die Wahrheitsfunktion der Antinomie begegnet uns schon im Frhwerk, in der Psychologie der Weltanschauungen, wo sie den Aus-gangspunkt fr die Bestimmung der Grenz situa tion bildet. Sie fi ndet sich auch im dritten Band der Philosophie, in dem es um die Grundfragen der Metaphysik geht:

    In den Grenz situa tio nen wird offenbar, da alles nur Positive an das dazuge-hrige Negative gebunden ist. Es gibt kein Gutes ohne mgliches und wirk-liches Bses; keine Wahrheit ohne Falschheit, Leben nicht ohne Tod; Glck ist an Schmerz gebunden, Verwirklichen an Wagen und Verlieren. Die menschliche Tiefe, welche ihre Tran szen denz zum Sprechen bringt, ist real gebunden an das Zerstrende, Kranke oder Extravagante, diese Bindung aber in unbersehbarer

    5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phnomenologie des Geistes, hg. von Johannes

    Hoffmeister (Hamburg: Meiner, 1952), Einleitung, S. 67.

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    Mannig faltigkeit ist nicht eindeutig da. In allem Dasein kann ich die antinomische Struktur sehen.6

    Jaspers war sich der Eigenheit seiner existentiellen Metaphysik wohl be-wusst. Er hat fr den philosophischen Umgang mit derselben einen bewuss-ten Mastab angelegt: Da Philosophie nicht als objektive Gltigkeit besteht, sondern sich nur im Einzelnen als dessen denkendes Dasein verwirklicht, ist das von ihr zu objektivem Ausdruck Gebrachte fr den Hrenden nur die Sprache des Anderen; sie verstehen wrde ihn zu sich selbst bringen.7 In diesen Stzen steckt beides: ein auerordentlicher Wahrheitsanspruch der Philosophie auf der einen Seite; und eine Bescheidung, eine auffllige Zu-rcknahme eines sehr weitgehenden solchen Anspruchs: Das Verstehen der Sprache des Anderen, von dem hier die Rede ist, ist mehr als nur eine her-meneutische Bemhung, mehr als nur die Sache einer methodisch bewussten gelingenden Interpretation dieser Sprache. Philosophie ist fr Jaspers etwas einmalig Persnliches und zugleich etwas einmalig berpersnliches: eine indirekte Mitteilung eines existierenden Menschen an einen anderen: Keine Philosophie ist identisch bertragbar, und doch mu jede zur Mitteilung drngen; denn Philosophie ist Mittel der Kommunikation zwischen Existie-renden, welche das eigentliche Sein des Philosophen sind.8 Derjenige, mit dem ich in dieser Weise philosophisch kommuniziere, kann ein Anderer in persnlicher Begegnung sein, aber auch ein mir ganz und gar Unbekannter, den die philosophische Mitteilung wie eine Art Flaschenpost erreicht. Der Anspruch der Wahrheitsgeltung und die Bescheidung gegenber einem sol-chen Ausdruck dieser Widerspruch in der philosophischen Mitteilung fi nden ihre Entsprechung in der Nhe der Philosophie zur Religion, welche die Unterscheidung zwischen philosophischem Glauben und dem Glauben der Offenbarungsreligion zur philosophischen Aufgabe macht.

    Im Blick auf diese Aufgabe der Philosophie heit es bei Jaspers: Ihr Sichunterscheiden bedeutet bereits, da sie sich unvollendet wei. Ihre Wahr-heit will wohl in ihrer Unbedingtheit alles sein, aber sie erfhrt ihre Begren-zung. Es scheint, da sie in Aufschwngen Einzelner in Augenblicken bis in die Nhe der Religion kommt, aber es ist auch dann ein Sprung brig, den zu

    6 Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 1932) S. 221.

    Vgl. insbesondere Martin Heideggers Wrdigung der Jaspersschen Psychologie der Weltanschauungen hinsichtlich des existentiellen Begriffs der Grenz situa tion in Sein und Zeit (Tbingen: Niemeyer, 81957) S. 301.

    7 Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 298.

    8 Ibid. S. 299.

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    tun sie sich weigert, obgleich sie in Bereitschaft bleibt.9 Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von der erregenden Nhe, welche zwischen Philo-sophie und Religion im Gebet zu fi nden ist, fgt aber zugleich den Hinweis auf einen gebotenen Abstand angesichts einer solchen Nhe hinzu: Philo-sophie verwechselt nicht Andacht, Stimmung, auch nicht die beschwingende Gegenwart eines Lesens der Chiffre mit Gebet als einer realen Beziehung zur Gottheit.10 Die Selbstunterscheidung der Philosophie von der Religion vollzieht sich in verschiedenen Formen: Die Philosophie hat die Aufgabe, die Religion zu bekmpfen, wo diese einem Irrglauben der fanatischen Gewalt-ttig keit das Wort redet. Aber sie wei auch den Wahrheitskern einer Reli-gion aufzuspren, der sie zum Respekt vor dieser Religion ver anlasst. Vor allem aber fordert die Philosophie in ihrer Selbstunterscheidung von der Reli-gion einen Wahrhaftigkeitswillen, der sich bemht, den hier herrschenden Gegensatz zur grtmglichen Klarheit zu bringen.11 Nhe und Di stanz zwischen Philosophie und Religion zeigen sich fr die Philo sophie in dem Bewusstsein, dass in der menschlichen Existenz die Wahrheit zu suchen sei, dass diese Wahrheit der menschlichen Existenz aber immer eine Suche ist und bleibt. So heit es bei Jaspers rtselhaft: Wrde der Theologe einwen-den, man verwechsle sich mit Gott, wenn man in der Existenz die Wahrheit sehe; was der eine Mensch, Christus als Gottes Sohn durfte, das darf kein anderer Mensch, so wren das Worte, die der Philosophierende schlechthin nicht verstnde.12 Er verstnde die Worte nicht, weil die Wahrheit der Exis-tenz, eine immerzu erfragende, eine immer zu suchende ist und bleibt. Jas-pers hat im Blick auf Nietzsche nachdrcklich die Idee einer prophetischen Philosophie zurckgewiesen, aber doch fr die philosophische Mitteilung den Charakter einer verhllten Prophetie in Anspruch genommen. Er hat hier auch immer wieder den Ausdruck des Appellativen verwendet, um das auszudrcken, was ihm als eine solche verhllte Prophetie vorschwebte. Aber gerade weil er fr die philosophische Mitteilung diesen Anspruch erhob, der diese in eine gefhrliche Nhe zur Sprache des Religisen zu rcken droht, fi nden wir in seinen Texten eine auerordentliche Bemhung um Gegensteuerung: Gegensteuerung in Gestalt methodischen Suchens. In dem methodischen Charakter ihrer Wahrheitssuche ist die Philosophie der Idee der Wissenschaft verpfl ichtet, auch wenn sie selbst nicht Wissenschaft

    9 Ibid.

    10 Ibid.

    11 Ibid. S. 300.

    12 Ibid.

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    ist; und die Selbstunterscheidung von dieser, wie die Selbstunterscheidung von der Religion, gehrt zu ihren wichtigsten Aufgaben.

    Wie immer man den methodischen Charakter des Jaspersschen philo-sophischen Denkens umschreibt, immer sticht dabei ein besonders aufflliger Zug hervor, der das Unterscheiden und Sich-Unterscheiden zum wichtigsten Instrument philosophischer Wahrheitssuche macht. Unverkennbar ist in die-sem methodischen Zug des Differenzierens die Nhe zur klassischen philo-sophischen Methode, die wir im Denken von Plato bis Hegel fi nden. Plato erprobt diese Methode in seinen spten Dialogen, so im Sophistes in Gestalt einer fortschreitenden Einteilung eines fraglichen Begriffsganzen, dessen beanspruchte Allgemeinheit sich eine Spezifi kation in Form einer fortschrei-tenden Zweiteilung gefallen lassen muss. Diese fortschreitende Zweiteilung, in der immer jeweils eine Seite zugunsten der Gegenseite verworfen wird, bis die gesuchte Sache gefunden ist, hat in der spekulativen Methode der Hegelschen Dialektik ihre vollkommenste Ausgestaltung gefunden. Wenn wir eine Verwandtschaft des methodischen Vorgehens in Jaspers philosophi-schem Denken mit dieser Tradition philosophischer Methodik konstatieren, so darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass die Jasperssche Methode des Unterscheidens nicht am Beginn einer sich ausbildenden allgemeinen Ontologie steht. Sie hat vielmehr deren Tradition und deren Vollendung in der Hegelschen Wissenschaft der Logik bewusst hinter sich gelassen. Die Allgemeinheit des begrifflichen Seins diese Grundvoraussetzung einer universalgltigen Ontologie ist selbst Gegenstand einer Vernunftkritik ge-worden, die auf der Suche nach der Wahrheit und dabei auf der Suche nach einer neuen philosophischen Logik der Vernunft ist. Jaspers hat an die Stelle der traditionellen allgemeinen Ontologie eine Periechontologie gesetzt, eine Vernunftlogik des Umgreifenden.13 Hier fi nden wir anstelle von Dihai-resis und Dialektik Gliederungen, die jeweils den vorliegenden fraglichen Gegebenheiten sachlich entsprechen. Es sind Gliederungen von jeweiligen Ganzheiten, die als solche immer selbst in Frage stehen dank ihres Zusam-menhangs mit anderen Ganzheiten. Diese Gliederungen sind nicht reduziert auf Unterscheidungen von begrifflichen Bedeutungen, sondern sie erstrecken sich ber solche Bedeutungen hinaus auch auf grundstzliche berlegun-gen, auf Argumente des Fr und Wider einer fraglichen Sache. Die aus der Periechontologie entspringende Methode kommt in einer sachlichen Nch-ternheit zum Ausdruck, deren Sachlichkeit etwas Zwingendes, gelegentliche

    13 Allgemein zur Idee des Umgreifenden bei Karl Jaspers. Vgl. Giuseppe Cantillo:

    Introduzione a Jaspers (Roma, Bari: Laterza, 2001) S. 95.

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    auch etwas Zwanghaftes und Ermdendes an sich hat. Aber diese trockene Sachlichkeit ist gewollt. Sie bildet den methodischen Gegenzug zum Ap-pellativen. Sie ist dasjenige Element, worauf der appellative Zug des Philoso-phierens zielt: Ein Ethos der Sachlichkeit, das sich in methodisch bewussten Gegensatz stellt zur Rhetorik, wie sie in der philosophischen Hermeneutik zum methodischen Prinzip erhoben worden sind. Das Ethos der Sachlichkeit enthlt Imperative einer Vernunftlogik, die besagen: Du sollst differenzieren, du sollst die schrecklichen Vereinfachungen und die falschen Generalisie-rungen vermeiden; du sollst dich vor totalisierenden Ideologien hten.

    2. Die Frage nach dem Sein und die Frage nach der Wahrheit

    Es sind vor allem zwei Grundfragen, die das philosophische Denken von Jaspers in Atem halten; von seinen Anfngen in der groen Allgemeinen Psy-chopathologie ber die erwhnte Psychologie der Weltanschauungen bis hin zu den rein philosophischen Werken, der dreibndigen Philosophie und dem groen Buch Von der Wahrheit, und zu den philosophischen Sptschriften. Diese beiden Fragen sind: die Frage nach dem Sein des Seienden und die Frage nach der Wahrheit. Im Zentrum dieser beiden Fragen steht die Frage, die untrennbar mit ihnen zusammengehrt. Es ist dies die Frage nach dem Menschen, die Frage, die der denkende Mensch als Vernunftwesen niemals aufhren kann zu stellen, die Frage: Wer bin ich? Diese Frage geht der Frage nach dem, was der Mensch ist, aus Jaspers Sicht voraus. Aber diese Frage nach dem menschlichen Selbstbewusstsein gehrt mit den beiden anderen Fragen, den Fragen nach dem Sein und nach der Wahrheit untrennbar zu-sammen. Die Frage nach dem Sein ist die Frage nach dem wahren Sein; und die Frage nach der Wahrheit ist die Frage nach dem Sein der Wahrheit. Dabei ist das Wichtigste: Diese Fragen sind untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Menschen. Denn diese beiden philosophischen Grundfragen, die Fragen nach dem wahren Sein und nach dem Sein der Wahrheit sind Fra-gen des Menschen. Und deswegen schlieen sie die Fragen nach dem Sein des Menschen ein, nach dessen Seinsbestimmung, dann aber auch und vor allem die Frage nach seinem wahren Sein. Und dabei zeigt sich, dass hier eine Unterscheidung eine besondere Bedeutung erlangt, die Unterscheidung zwischen dem wahren Sein und dem Wahr-Sein des Menschen. Diese Un-terscheidung beruht auf der Differenz zwischen den wahren Seinsbestim-mungen des Menschen als Mensch, nmlich Bestimmungen des Bewusst-seins, des Daseins und des Geistes auf der einen Seite und der Bestimmung

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    des Menschen als Existenz auf der anderen Seite. Die Periechontologie, die von Jaspers entworfene Lehre von der Wahrheit, geht ber die klassische, auf Aristoteles zurckgehende Errterung der mannigfachen Bedeutung des Seins des Seienden hinaus, welche den Inhalt der traditionellen Ontologie ausmacht. Sie fgt diese Errterung mit der Untersuchung der mannigfachen Bedeutung des Sinnes der Wahrheit und des Seins des Menschen in einer umgreifenden Betrachtung des Umgreifenden zusammen.

    Aber diese Jasperssche Periechontologie ist keine Lehre einer reinen Wahrheit, keine Lehre des absoluten Seins und keine Lehre vom Menschen als eines endgltig in sich bestimmbaren Wesens. Vor allem: Das Sein der Wahrheit ist nicht vom Sein der Unwahrheit zu trennen, gerade weil es un-trennbar mit dem Sein des Menschen verbunden ist. Wo der Mensch ist, in Form des Bewusstseins und des Daseins, als Geist und als Existenz, da gibt es auch Unwahrheit als Unaufrichtigkeit und Unwahrhaftigkeit des Men-schen sich und dem Anderen gegenber; als ein Zug der Unwahrheit im sozialen und politischen Leben, im Kampf der Meinungen um die Macht der herrschenden und der beherrschenden Meinung. Jaspers hat um die von Kant in seiner Metaphysik der Sitten geforderte Tugendpfl icht der Wahrhaf-tigkeit herum ein rea listi sches Bild von der Rea li tt des Seins der Wahrheit und Unwahrheit im Raum der Errterung der aufgefhrten drei Grundfragen gezeichnet. Aber es ist auch sein Studium der Kantischen Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft gewesen, der klare Blick auf die Seins-wirklichkeit seiner Zeit, die ihn veranlasst hat, der Frage nach dem Bsen in Verbindung mit der Frage nach der Wahrheit Raum zu geben.14 Das Bse ist eine besondere Seinsweise des Unwahren. Zur Frage nach der Wahrheit in Verbindung mit der Frage nach dem Menschen gehrt deswegen nicht zuletzt die Frage nach dem Durchbruch der Wahrheit, die Frage, wie den Neigungen zur Unwahrheit, den Mchten der Verlogenheit entgegengewirkt, der Wahrheit ein Raum erffnet werden kann. Eine angemessene philosophi-sche Errterung der hier thematischen Gegebenheiten der Gewissheit und des Vertrauens bedarf im Grunde der Einbettung derselben in den logischen Raum der methodischen Unterscheidungen zwischen dem Sein des Seienden, dem Sein der Wahrheit und dem Sein des Menschen. Denn Gewissheit und

    14 So in Karl Jaspers: Das Radikal Bse bei Kant. Vortrag im Lesezirkel Hottingen

    (Zrich 1935). Verffentlicht in ders.: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufstze (Mnchen: Piper, 1958) S. 107ff. Vgl. ferner seinen Aufsatz Das Un-bedingte und das Bse, in ders.: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufstze zur Philosophie, hg. von Hans Saner (Mnchen: Piper, 1996) S. 86ff.

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    Vertrauen haben ihren Ort allenthalben im Gefge dieser vielfltigen Un-terscheidungen. Sie sind Seinsweisen der Gegebenheiten des Seienden und Seinsweisen des Menschen und nicht zuletzt Seinsweisen der Wahrheit. Ge-rade an ihnen zeigt sich der Charakterzug der Jaspersschen Philosophie, der in dem zu Beginn genannten groen Essay Hegels ber Glaube und Wissen Gegenstand philosophischer Kritik wurde: Sie ist Refl exionsphilosophie: Die philosophische Methode der Unterscheidungen zielt auf die Gewinnung der Erkenntnis der Wahrheit. Aber die Wahrheit muss selbst Gegenstand me-thodischer Unterscheidungen werden. Unter den mannigfachen Bedeutungen der Wahrheit sind fr die Errterung von Gewissheit und Vertrauen vor allem die folgenden Unterscheidungen bedeutsam: Wahrheit als ein Geschehen; als etwas, das vom Menschen gesucht wird und was einen Ursprung und ein Ziel hat; Wahrheit als eine Seinsweise des Menschen, in der sich diese Seins-weise als Bewusstsein und Dasein, als Geist und als Existenz zur Geltung bringt; Wahrheit als ein Geschehen, in dem etwas klar wird, ein Geschehen der Offenbarung, in dem etwas deutlich, hell und am Ende gewiss wird.15

    Dieses Geschehen der Wahrheit ein Offenbarungsgeschehen ist fr Jaspers keineswegs an die Religion, keineswegs an eine bestimmte Religion gebunden. Diese Seinsweise der Wahrheit als ein Werden ist vorrangig ein Geschehen in der Philosophie, im philosophischen Denken. Helligkeit und Klarheit, Gewissheit und Vertrauen mssen in diesem philosophischen Den-ken den entsprechenden Negationen abgerungen werden. Gewissheit und Vertrauen gibt es nur, wo etwas hell wird, wo Wahrheit in einer bestimmten Weise offenbar geworden ist. Unter den methodischen Unterscheidungen des Seins der Wahrheit ist zum einen die Unterscheidung zwischen Gewissheit und Klarheit, und zum anderen die Unterscheidung zwischen Gewissheit in einem weiteren und einem engeren Sinne besonders zu unterstreichen. Von der letzteren, der Gewissheit im engeren Sinne spricht Jaspers auch als zwingender Gewissheit. Die Jasperssche Refl exionsphilosophie fi ndet ihren beredetsten Ausdruck in einem Grundwort, einer philosophischen Chiffre, die die hier vorgetragenen berlegungen stndig begleitet hat, und die un-trennbar mit der Unterscheidung der mannigfachen Bedeutung des Wahr-seins zusammengehrt. Es ist dies der Begriff der Grenze. Grenzen fi nden sich berall, wo die philosophische Methode den philosophischen Gedan-kengang gliedert. Es sind Grenzziehungen in der Unterscheidung, in der sich ein Gedanke vom anderen abgrenzt. Und es sind philosophische Gedanken,

    15 Vgl. Jaspers entworfene Methodenlehre im Nachla zur Philosophischen Logik,

    hg. von Hans Saner und Marc Hnggi (Mnchen: Piper, 1991) S. 285-371.

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    in denen eine selbstgesetzte Grenze berschritten, transzendiert wird. Dass Transzendierung die Sache der Philosophie ist, wird Jaspers nicht mde zu betonen. Aber Transzendierung setzt immer Begrenzung und Grenzsetzung voraus. Existentielle Vernunftkritik ist beides: Grenzsetzung und Grenzber-schreitung. Und sie ist dabei auch ein Drittes: kritische Befragung der ei-genen Grenzberschreitung. Ich habe zu Beginn dieser Betrachtungen die wichtigste gedankliche Ausgestaltung des Zusammenspiels von Grenzset-zung und Grenzberschreitung genannt. Es ist die der bekannteste unter allen Jaspersschen terminologischen Prgungen der Sprache, die sogar ihren Weg ber die Sprache der Wissenschaft, der Psychologie und Psychiatrie in die Alltags sprache des Deutschen gefunden hat: der Terminus Grenz situa tion.

    Auch Gewissheit und Vertrauen sind, wo sie Sache des philosophischen Denkens werden, an die Wahrheitsbewegung von Grenzsetzung und Grenz-berschreitung gebunden. Wenn ich hier im Ausgang von der Bedeutung der Termini Grenze und Grenz situa tion auf die philosophische Aus-einandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger zu sprechen komme, so wegen ihrer Bedeutsamkeit fr die Philosophie und wegen ihrer besonderen Aktualitt fr das gegenwrtige Bewusstsein, fr die geistige Situa tion der heutigen Zeit. Aktuell ist der von Jaspers gesteckte philosophische Rahmen fr das Verhltnis von Philosophie und Religion, von Wissen und Glaube. Aktuell ist nicht weniger die klare Abgrenzung zwischen einer an der Sache orientierten und auf Sachlichkeit zielenden methodischen Erkenntnis ge-genber Rhetorik und spezifi schen Techniken unsachlicher Beeinfl ussung von Meinungen, gerade in einer Gesellschaft, die das Recht auf eigene freie Meinungsbildung unter die von ihr anerkannten Grundrechte zhlt. Freie eigene Meinungsbildung gibt es nur aufgrund eines erfolgreichen Wider-standes der kritischen Vernunft gegenber den Techniken der Manipulation, der Erzeugung und Lenkung von Meinungen zugunsten von machtwilligen Krften des ffentlichen gesellschaftspolitischen Lebens. Die philosophi-sche Auseinandersetzung zwischen Jaspers und Heidegger nimmt ihren Anfang mit der brillanten Rezension, die Heidegger zu Jaspers Psycholo-gie der Weltanschauungen geschrieben und diesem persnlich zugeschickt hatte. Jaspers hat diese Arbeit des ehrgeizigen jngeren Kollegen durchaus gewr digt, allerdings nicht ohne diesem brieflich verstehen zu geben, dass er den bemngelten kritischen Gesichtspunkt bereits selbst erkannt hatte.16

    16 Brief an Martin Heidegger vom 1. August 1921, in Martin Heidegger, Karl Jas-

    pers: Briefwechsel 1920-1963, hg. von Walter Biemel und Hans Saner (Frankfurt a. M.: Klostermann; Mnchen, Zrich: Piper, 1990) S. 23.

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    Hei deg ger wollte damals in Jaspers vielbeachteten Buch mehr sehen als eine ideale Typik von Weltanschauungen, nmlich den Entwurf einer Philo-sophie der Existenz, die ihren Mittelpunkt in dem neuen Grundbegriff der Grenz situa tion hatte. Gegenstand seiner Kritik war eine Zweideutigkeit, die sich aus der Darstellung ergab: eine Zweideutigkeit resultierend aus einer der Psycho logie und der herrschenden Lebensphilosophie entnommenen Be-griffssprache und der Sache der Philosophie der Existenz. Der Jasperssche Begriff der Grenz situa tion hat dann eine hchst positive Erwhnung in Sein und Zeit gefunden.17 Jaspers hat diese von Heidegger bemerkte ungewollte Ambivalenz selbst gesehen und daraus die selbstkritische Konsequenz ge-zogen. In seiner Philosophie kommt es einerseits zur Auflsung der Zwei-deutigkeit durch die Unterscheidung zwischen einem psychologisch-sozial-wissenschaftlichen Zugang zum menschlichen Dasein und der Erhellung der menschlichen Existenz im Denken der Philosophie. Es wird dort aufgezeigt, unter welchen Bedingungen diese Ambivalenz eine gewisse Unvermeidlich-keit, sozusagen eine tran szen dentale Notwendigkeit gewinnt.

    Jaspers aber hat nicht nur die Berechtigung der Heideggerschen Kritik in dessen Rezension anerkannt, nicht nur selbst gesehen, dass die bemn-gelte Zweideutigkeit im Verhltnis von Psychologie und Philosophie ihren Niederschlag gerade in der Darstellung der Grenz situa tio nen gefunden hatte, die einmal als Extrem situa tio nen menschlicher Belastung erscheinen, die mit psychiatrischer Hilfe berwunden werden knnen, dann wiederum end-gltige Grenzen der menschlichen Existenz sind, zu denen der Mensch in Freiheit aus sich selbst heraus eine Lebenseinstellung gewinnen muss. Es ist gewiss keine bertreibung, wenn man feststellt: Die Philosophie von Jaspers ist sehr viel mehr als die Anerkennung der Heideggerschen Kritik und deren Bercksichtigung im eigenen philosophischen Systementwurf. Es ist dieses Werk vielmehr die kritische Antwort auf Sein und Zeit: ein methodischer Gegenentwurf zu allen Kernstcken von Heideggers aufsehen-erregendem Buch. Dieser Gegenentwurf steht ganz im Zeichen der Frage nach der Wahrheit, verfolgt demzufolge von Beginn an methodisch die Zusammengehrigkeit der Frage nach dem Sein des Seiendem, dem Sein der Wahrheit und dem Sein des Menschen, die ich zuvor als methodischen Schlssel der Jaspersschen Philosophie beschrieben hatte. Jaspers Kritik der existential-hermeneutischen Analytik des Daseins in Sein und Zeit betrifft wiederum in erster Linie die Heideggersche Methode, deren Mischung von phnomenologischer Deskription und Konstruktion. Sie richtet sich gegen

    17 Vgl. Anm. 6.

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    die voreilige Bestimmung des In-der-Welt-Seins des Menschen, in der die Fraglichkeit des Einsseins dieser Welt bersehen wird. Sie richtet sich nach-drcklich gegen den methodischen Ausgang der Errterung der Seinsfrage von einer vermeintlichen Alltglichkeit menschlichen Daseins aus, die eine Explikation des korrespondierenden vorontologischen Seinsverstndnisses erlaube. Gegen diesen methodischen Ausgangspunkt wendet Jaspers ein, dass dabei, Hegels Bestimmung des natrlichen Bewusstseins vergleich-bar, verkannt wird, dass der Mensch als geschichtlich existierendes Wesen durch eine jeweils bestimmte Kultur geprgt ist; und dass diese kulturelle Prgung des Menschen in der Moderne die Prgung durch die neuzeitliche empirische Wissenschaft ist. Die Wissenschaftlichkeit der modernen Welt, dies ist fr Jaspers der methodische Ausgangspunkt seiner Philosophie unter dem Stichwort Weltorientierung.18

    Der schwerwiegendste Einwand, der sich aus Jaspers Philosophie gegen Heideggers Sein und Zeit herauslesen lsst, ist aber der Mangel an kriti-scher Refl exion, dass nmlich in der hermeneutischen Analytik des Daseins vergessen wird, dass diese Analytik sich im Medium eines philosophischen Selbstbewusstseins, im Medium begrifflicher philosophischer Erkenntnis vollzieht. Wenn Jaspers die menschliche Weltorientierung primr an die Er-kenntnis in den Wissenschaften bindet, so steht im Hintergrund gewiss Max Webers These von der okzidentalen Rationalitt. Wichtiger in der Sache aber ist, dass fr Jaspers die philosophische Erkenntnis des Menschen ihre Normen der Gewissheit des Wissens den neuzeitlichen empirischen Wissen-schaften entnimmt. Dabei gilt es vor allem zu bedenken: So fragwrdig fr den Menschen aus philosophischer Sicht die Annahme eines einheitlichen Weltbildes sein muss, so fragwrdig auch die Annahme einer Einheitswis-senschaft. Auch die traditionelle Systematik im Aufbau der Wissenschaften, die von der Antike tradiert, von Hegel noch in einer Enzyklopdie der Wis-senschaften philosophisch begrndet wurde, hat ihre Verbindlichkeit ver-loren. Jaspers verwirft ausdrcklich auch den zu seiner Zeit bereits fi xierten Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften: Alle neuzeitlichen empi-rischen Wissenschaften sind Humanwissenschaften. Sie alle sind Wissen-schaften des Menschen und sie alle sind Wissenschaften vom Menschen. Aber sie unterscheiden sich aus Sicht der Philosophie von einander in dem Mae, in dem sie etwas vom wahren Sein des Menschen in den Blick rcken. Unter diesem Gesichtspunkt spielen Psychologie und Soziologie in Jaspers Philosophie der Wissenschaften eine herausragende Rolle. Gerade weil sie

    18 Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 29.

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    das seelisch-geistige und das gesellschaftspolitische Sein des Menschen zum Gegenstand haben, stellen sie sich in eine gewisse Konkurrenz zur Philo-sophie. Die empirischen Wissenschaften insgesamt und die Wissenschaften der Psychologie und der Soziologie im Besonderen haben fr die philoso-phische Erkenntnis methodische Bedeutung. Diese geht einer erdenklichen methodischen Bedeutung des alltglichen Daseins des Menschen voraus, wie sie in Heideggers Sein und Zeit in Anspruch genommen wird. Diese methodi-sche Bedeutung liegt in der spezifi schen Seinsweise der Wahrheit, die durch die wissenschaftliche Vergegenstndlichung vermittelt wird. Es ist dies die Wahrheit als zwingende Gewissheit. Das Zwingende dieser Gewissheit ist eine spezifi sche Art von Notwendigkeit, eine zwingende Gewissheit, die vor allem den Wahrscheinlichkeitsaussagen einen bestimmten Platz einrumt. Die methodische Bedeutung der wissenschaftlichen Vergegenstndlichung fr die Philosophie liegt in dem Verhltnis, welches die Philosophie zu den neuzeitlichen empirischen Wissenschaften einnimmt.19

    Auch fr dieses Verhltnis, fr die Beziehung der Philosophie zu den Wissenschaften, gilt in Analogie zum Verhltnis gegenber der Religion: Es ist die Aufgabe der Philosophie, sich von diesen Wissenschaften zu un-terscheiden. Diese Selbstunterscheidung besagt: Die Philosophie ist nicht Wissenschaft; sie ist vor allem nicht empirische Wissenschaft. Aber sie weist eine ausgezeichnete Nhe zur Wissenschaft auf. Diese liegt schon in der Bestimmung der Selbstunterscheidung. Was die Nhe betrifft, so besteht diese in der zuvor beschriebenen Methodik der Sachlichkeit, mit der das Denken seine Gedanken in gegliederter Form entfaltet. Die Selbstunterschei-dung hat aber insbesondere die Gestalt der Kritik der Wissenschaften. Es ist die Kritik an einem unverhltnismigen Geltungsanspruch wissenschaft-lichen Wissens. Das Zwingende der wissenschaftlichen Erkenntnis kann nie die ganze Wahrheit sein. Die Schwebe, dieser eigentmliche Ausdruck zur Kennzeichnung der Di stanz, die die philosophische Erkenntnis gegen-ber unangemessenen Wahrheitsansprchen geltend macht, erinnert an die kritische Einstellung der philosophischen Phnomenologie gegenber dem gegenstndlichen Sein und dem Geltungsanspruch des natrlichen Seins-bewusstseins in Form einer methodischen Urteilsenthaltung. Aber Jaspers philosophische Methode ist nicht die der Phnomenologie: weder die der

    19 Zu Jaspers Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft, vgl. Reiner

    Wiehl: Die Philosophie in Karl Jaspers Allgemeiner Psychopathologie, in Karl Jaspers: Philosophie und Psychopathologie, hg. von Knut Eming und Thomas Fuchs (Heidelberg: Winter, 2008) S. 3ff.

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    Phnomenologie Husserls noch die der phnomenologischen Hermeneutik Heideggers. Die Kritik der Philosophie gilt nicht der primren Seinssetzung eines natrlichen Bewusstseins in seinem alltglichen Dasein, sondern den absoluten Geltungsansprchen wissenschaftlichen Wissens. Zwingende Ge-wissheit ist fr die Philosophie niemals das letzte Wort bei ihrer Suche nach der Wahrheit, nicht das Ganze der Wahrheit bei der Suche nach der Wahrheit des menschlichen Seins. Die Kritik der Philosophie an den Wissenschaften richtet sich nicht nur gegen den Psychologismus und Soziologismus, nicht nur gegen den Anspruch, philosophische Anthropologie zu sein. Sie richtet sich grundstzlicher noch gegen jeden Naturalismus in den Wissenschaften, also auch gegen Biologismus und Gehirnmythologie, soweit diese den Anspruch erheben, das wahre Sein des Menschen in den Griff zu bekom-men. Die methodische Kritik der Philosophie an den Wissenschaften rich-tet sich gegen den Ausschlielichkeitsanspruch einer Wahrheitserkenntnis durch Vergegenstndlichung, die den Erkenntnisweg der Wissenschaften leitet. Der Wissenserwerb durch gegenstndliche Erkenntnis ist die unver-zichtbare Voraussetzung einer philosophischen Weltorientierung. Aber diese geht ber eine solche Vergegenstndlichung hinaus. Ihr Zugang zur Welt in dem Bemhen um Weltorientierung entdeckt eine andere Seinsweise der Wahrheit: Diese vermag, so Jaspers, indem sie das Zwingende des wissen-schaftlichen Wissens in einen Schwebezustand versetzt, eine Helligkeit der Sicht zu gewinnen, die eine ausgezeichnete Seinsweise der Wahrheit ist.

    Wie grundlegend die methodische Bedeutung der Psychologie und der Soziologie fr die philosophische Erkenntnis ist, kann man daran ablesen, dass alle wichtigen berlegungen zum wahren Sein des Menschen sich im Medium der Selbstunterscheidung der Philosophie von der Psychologie und Soziologie vollziehen.20 Dies gilt nicht nur fr die Bestimmung der Grenz-situa tion, sondern vor allem fr die Grundidee der Jaspersschen Philosophie: die Freiheit des Menschen. Freiheit ist zunchst und vor allem Willensfrei-heit. Ein angemessener Zugang zur Bestimmung dieser Freiheit verlangt, dass beides in seiner Zusammengehrigkeit gesehen wird: die Freiheit des Willens und der Wille zur Freiheit. Aber nicht nur die Freiheit des Willens, sondern auch der Wille zur Freiheit hat seine psychologische und sozio-logische Seite. Und die Wissenschaften der Psychologie und der Soziologie, nicht zuletzt auch die der Psychopathologie, liefern wichtige Beitrge zur Einsicht in die mannigfachen Beschrnkungen und Hemmnisse, denen die Entfaltung des menschlichen Willens und die menschliche Freiheit unterwor-

    20 Jaspers: Philosophie, Bd. I, op. cit. S. 200ff.

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    fen sind. Aber die philosophische Einsicht ist auch hier in ihrer Selbstunter-scheidung ttig. Sie macht gegenber der wissenschaftlichen Vergegenstnd-lichung des Seienden und vor allem gegenber der Vergegenstndlichung des Menschen eine grundstzlich andere Mglichkeit der Einstellung sichtbar: die einzigartige Beziehung des menschlichen Bewusstseins zu sich und zum Anderen, in der ich nicht Gegenstand bin, sondern der mir und dem Anderen Begegnende. Eine solche Begegnung ist aus der Sicht wissenschaftlicher Er-kenntnis unverstndlich und unerklrbar. Aber es gibt diese Mglichkeit der Begegnung, durch die etwas in mir, in meiner Begegnung mit dem Anderen auf unverwechselbare und unmissverstndliche Weise Helligkeit gewinnt. Diese Mglichkeit ist die der Existenzerhellung und der existentiellen Kom-munikation. Hier ist der Ort, an dem die Wahrheit des Seins und die Wahrheit des Menschen in direkte Verbindung zueinander treten. Jaspers Kantianismus ist ein Dualismus: zunchst der Dualismus von empirischer Wissenschaft und Philosophie, und als solcher ein Dualismus der Wahrheiten. Nicht sel-ten gebraucht Jaspers fr diesen Dualismus die Zweiheit der Kantischen Vernunftkritik: Erscheinung und Ansich-Sein. Aber dieser Dualismus bildet im Grunde nur den Ausgangspunkt seiner existentiellen Metaphysik. Es ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins, in der das wahre Sein des Menschen seine Mglichkeiten fi ndet: die Mglichkeiten seiner Wahrheit und die Mglichkeiten seiner wahren Freiheit.

    Fr Jaspers gehren Wahrheit und Freiheit untrennbar zusammen. Diese Zusammengehrigkeit ist die ausgezeichnete Mglichkeit wahren mensch-lichen Seins. Es ist diese Zusammengehrigkeit eine Idee, das Ideal, welches im Denken der Philosophie gebildet wird. Jaspers spricht vom appellativen Charakter des philosophischen Denkens in diesem Sinne. Der Appell richtet sich an den Menschen, an jeden Menschen. Er zeigt ihm diese ausgezeich-nete Mglichkeit als Mglichkeit des je eigenen Seins. Diese Mglichkeit ist die Mglichkeit der Philosophie in jedem Menschen. Ich habe in meinen Be-trachtungen zur Metaphysik von Karl Jaspers kein Wort ber das Vertrauen gesagt. Auch ber das Vertrauen kann dualistisch verhandelt werden. Aber Vertrauen gehrt zum Wichtigsten. Ihm geht die Treue voraus als ein Grund-wert in der Bestimmung des geschichtlichen Seins des Menschen, in seinem Selbstsein und in seiner Kommunikation mit anderen. Treue und Vertrauen gehren mit dem Geheimnis wahrer Liebe zusammen. Und das Scheitern, das Nicht-Wissen und das Unverstndliche? Es gibt kein letztes Wort. Auch das Scheitern ist nicht das letzte Wort. Die wahre Zeit ist nicht die knftige Zeit, sondern der Augenblick, der Augenblick der erfllten Zeit. Und auch dies ist nicht das letzte Wort.

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    PAOLA RICCI SINDONI

    Gott unter Anklage: Jaspers und der Fall Hiob

    Jasperss reading of Job intends to overcome both the Kantian interpretation that is bound only to an ethical stance and the theological interpretation that is willing to contest theodicy. On the level of existential clarifi cation, the German philosopher considers Job an emblematic fi gure of the transcendental movement, able to estab-lish a relationship with transcendence via a ciphered reading of Being. In a similar vein to Kierkegaard and Pascal, Jaspers sees in the revolt of the innocent man, who is hurt by undeserved evil, the highest challenge of existential freedom. The latter is addressed to transcendence, without confessional and dogmatic solutions. Jasperss Job is an expression of the unstable balance between existential fi niteness and Being, which is only realized in the language of ciphers.

    Es ist genug, da Sein ist.Karl Jaspers

    Das gesamte Buch Hiobist der gttliche Name.

    Philippe Nemo

    1. Hiob und die Philosophie

    Das gesamte Buch Hiob ist der gttliche Name.1 Philippe Nemo rckt das bi blische Buch, das zuvor Gegenstand zahlreicher irrefhrender Interpreta-tionen gewesen war, erneut in den Mittelpunkt.

    Sein Schwerpunkt liegt dabei nicht auf der Lsung einer dramatischen menschlichen Fragestellung, die das Vordringen des Bsen betrifft, sondern vielmehr darin, Gott mit meinem Auge zu schauen und smtliche Erkl-rungen zweiter Hand, jegliches Hrensagen zurckzuweisen (vgl. Hiob 42, 2). Gewiss, die Botschaft des Buches entwickelt sich aus der Verfl echtung

    1 Philippe Nemo: Job et lExcs du mal (Paris: Grasset, 1978), zitiert nach ders.:

    Giobbe e leccesso del male, ital. bers. von Antonio Maria Baggio (Roma: Citt Nuova, 1981) S. 5.

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    des Menschen mit dem Drama des Negativen, aus den Wirren der mensch-lichen Beziehungen und vor allem der Beziehung Hiob-Gott. Als Prot ago-nist von Anbeginn und Ende steht Gott fr die brennende Sehnsucht nach einem Wort, das als schmerzlich notwendig erlebt wird und doch auf sich warten lsst. Den Abschluss bildet kontemplatives Staunen angesichts der mchtigen Theophanie.

    Als Inbegriff von religio und ursprnglicher Bindung ertrgt das Buch Hiob keine peripheren Lesarten, wie man sie beispielsweise bei Jung2 fi ndet, der darin den Archetyp des Ganges in das Reich der Mtter sieht. Dies gilt auch fr Simone Weil,3 die das universelle malheur als das groe Rtsel des Menschen nher betrachtet. Oder Ren Girard, fr den Hiob der Sndenbock auf der antiken Strae der verderbten Menschen ist.4

    Gewiss hnelt das Buch Hiob dem im Talmud beschriebenen Zelt Abrahams insofern, als es nach allen Seiten offen ist, um den Philosophen Zutritt zu gewhren: Man denke nur an Kant, Kierkegaard, Bloch und Jas-pers, aber auch an Schriftsteller wie Baudelaire, Dostojewski, Heschel, Wiesel und viele andere.5 Verwiesen sei auerdem auf die umfangreiche theo logische Literatur, von den Talmudschriften bis hin zur Literatur der christlichen Exegese.

    Wie ein Strom mit zahllosen Nebenfl ssen, der sonnenversengte Land-striche fruchtbar macht, fhrt die Geschichte Hiobs gewissermaen auf das einzige Meer zu, auf jenes notwendige Eine Plotins, unergrndlich, dunkel und geheimnisvoll, das keine sprachlichen oder metaphysischen Einengun-gen toleriert.

    2 Vgl. Carl Gustav Jung: Antwort auf Hiob (Zrich: Rascher, 1952).

    3 Vgl. Simone Weil: Attente de Dieu (1950) (Paris: ditions Fayard, 1966); dt.:

    Das Unglck und die Gottesliebe, bers. von Friedhelm Kemp (Mnchen: Ksel, 1953).

    4 Vgl. Ren Girard: Le bouc missaire (Paris: Grasset & Fasquelle, 1982); dt.: Der

    Sndenbock, bers. von Elisabeth Mainberger-Ruh (Zrich: Benziger, 1988). Vgl. ders.: La route antique des hommes pervers (Paris: Grasset & Fasquelle, 1985); dt.: Hiob ein Weg aus der Gewalt, bers. von Elisabeth Mainberger-Ruh (Z-rich: Benziger, 1990).

    5 Eine interessante Sammlung philosophischer und narrativer Texte zum Buch

    Hiob fi ndet sich in Domande a Giobbe. Modernit e dolore, hg. von Maurizio Ciampa (Milano: Mondadori, 2005), sowie in Le provocazioni di Giobbe. Una fi gura biblica nellorizzonte letterario, hg. von Benedetto Calati u. a. (Genova: Marietti, 1992).

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    Es ist genug, da Sein ist, schreibt Jaspers zur Gottesvorstellung in der abendlndischen Kultur, die eine zweifache Wurzel hat und aus der grie-chischen Philosophie wie der Heiligen Schrift schpft.6 Im Verlust von allem bleibt allein: Gott ist. Wenn ein Leben in der Welt auch unter geglaub-ter Fhrung Gottes das Beste versuchte und doch scheiterte, so bleibt die eine ungeheure Wirklichkeit: Gott ist.7 Diese einzige Wahrheit, die die von Wechselfllen und Scheitern geprgte Geschichte der bi blischen Propheten durchzieht, mndet schlielich glaubwrdig in den endlosen Schrei Hiobs. Dies wird auch, wie Jaspers anmerkt, durch die berlegungen des Jeremias gesttzt, der sich im Zuge der Deportation seiner Glaubensgenossen, die JHWH im Namen des Isiskultes verleugnen, smtlicher prophetischer Ge-wissheiten beraubt mit folgenden Worten an seinen untrstlichen Anhnger Baruch wendet: So spricht Jahwe: Frwahr, was ich aufgebaut habe, reie ich nieder, und was ich eingepfl anzt habe, reie ich aus, und da verlangst du fr dich Groes? Verlange nicht!8 Auch dies ist bekanntlich der Epilog des Buches Hiob, in dem die beeindruckende Theophanie, die die Erhabenheit der Schpfung zelebriert, dem Menschen keinen Raum lsst. Auch Hiob nicht, der sich durch ber 40 Kapitel hindurch am Rande des Abgrunds seine Fassungslosigkeit ber das zu Unrecht erlittene Leid und seine Qual angesichts des Schweigens Gottes von der Seele schreit.

    Das gesamte Buch Hiob verdeutlicht somit, was Jaspers in Der philo-sophische Glaube angesichts der Offenbarung in seinen Ausfhrungen zum Manne im Lande Uz schreibt: Kategorien von Recht und Unrecht, von Sinn und Unsinn hren auf, wo Gott selbst befragt wird.9

    Es ist daher schwierig, die Jaspersschen berlegungen zu Hiob in jenem moralischen Rahmen zu betrachten, den Kant in ber das Milingen aller Versuche in der Theodicee10 entwirft: Das fromme Aufbegehren des leiden-den Gerechten, seine gerade Freimthigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt, seine Ehrlichkeit und pietas scheinen darin auf einem unumgnglichen moralischen Apriori zu grnden, nmlich auf der Gewissheit, dass Gott auf jeden Fall gut ist.

    6 Vgl. Karl Jaspers: Einfhrung in die Philosophie (Mnchen: Piper, 1971) S. 32.

    7 Ibid.

    8 Ibid.

    9 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (Mnchen:

    Piper, 1962) S. 342.10

    Immanuel Kant: ber das Milingen aller philosophischen Versuche in der Theo-dicee, in Kants gesammelte Schriften, AA 8, S. 266.

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    Obwohl die Autoren das Ausma der Auflehnung betrachten, beruht Kants Hiob und mancher meint, auch der Jasperssche Hiob11 auf einer ethisch unumstlichen Instanz, deren Religiositt aus der Sittlichkeit heraus erkennbar wird. Um bei Kant zu bleiben: Die notwendige Differenzierung zwischen der ethischen und der religisen Ebene, die sich mitunter ver-mischen und doch grundverschieden sind, zwingt dazu, den Glauben Hiobs an den belohnenden Gott, dem er sich ausliefert, als eine auf Moralitt grn-dende berzeugung zu begreifen. Dabei ist allerdings dahingehend zu dif-ferenzieren, dass er nicht seine Moralitt auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralitt12 grndet.

    Unternimmt man dagegen den Versuch, den Jaspersschen Hiob im Kon-text der philosophischen, das Transzendieren ermglichenden Bewegung zu betrachten, die der Existenzerhellung in der Dynamik der Freiheit zueigen ist, bemerkt man Folgendes: Jaspers stellt im Rahmen seiner Gedankengnge das Buch Hiob auf die Probe. Dabei nhert er sich weniger Kant als viel-mehr Kierkegaard, Pascal, ja Plotin. Bezglich Hiobs ungerechten Leidens unterstellt er jene theoretische Dimension des Jenseitigen, die stets zur antinomischen und niemals vershnlichen berwindung der Refl exion ber Wahrheit und Gerechtigkeit drngt.

    2. Hiob zwischen Grenzsituation und Tran szen denz

    Im Hintergrund des Jaspersschen Kommentars zum bi blischen Buch steht de facto nicht die explizite ethische Prfung der Fragen des Guten und der Gerechtigkeit, die das moralische Gewissen des Mannes im Lande Uz belas-ten, sondern vielmehr eine ausfhrliche philosophische Refl exion, gleichsam als Widerhall seiner noch weiter ausholenden Betrachtung in Band II und III von Philosophie: Existenzerhellung13 und Metaphysik.14 Darin unter sucht er das Verhltnis von Existenz und Tran szen denz (wobei letztere oftmals

    11 Die These einer substantiellen ethischen Interpretation (nach Kants Manier) der

    Jaspersschen Hiob-Lektre wird vertreten von Roberto Celada Ballanti: Fede fi losofi ca e libert religiosa. Karl Jaspers nel pensiero religioso liberale (Brescia: Morcelliana, 1998) S. 168-179. Siehe auch Giovanni Moretto: Giustifi cazione e interrogazione. Giobbe nella fi losofi a (Napoli: Guida, 1991).

    12 Kant: ber das Milingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee,

    op. cit. S. 267.13

    Karl Jaspers: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung (Berlin: Springer, 31956).14

    Karl Jaspers: Philosophie, Bd. III: Metaphysik (Berlin: Springer, 31956).

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    mit Gott gleichgesetzt wird)15 mit Bezugnahme auf die existentielle, das Tran szendieren ermglichende Bewegung, deren Ausgangspunkt der Sprung in das Risiko der eigenen Freiheit und die Verwurzelung im Sein selbst ist.

    Auch und gerade angesichts der Ausweglosigkeit, die ja den Grundzug des Scheiterns darstellt, gelingt es dem Menschen nicht, von sich aus zur Freiheit zu fi nden und er selbst zu sein: Das eigentliche Selbstsein kann sich nicht durch sich selbst allein halten; es kann sich ausbleiben und vermag sich nicht herbeizuzwingen.16 Fr die Selbstwerdung bentigt der Mensch etwas, das ihm das Selbstseinknnen ermglicht: Dort, wo ich wirklich ich selbst bin, bin ich nicht nur ich selbst.17

    Das bedeutet, dass der Mensch seine Freiheit und sein Selbstseinknnen als ihm geschenkte Wirklichkeiten erlebt: Ich bin nicht durch mich allein in meinem Entschluss, sondern das Existieren ist mir ein Geschenktsein in meiner Freiheit. Im unbegreiflichen Aufgefangenwerden,18 in dem die Existenz wie von ueren Krften zermalmt scheint, in den Engpssen der Grenz situa tio nen, erfhrt die Existenz Tran szen denz, indem sie sich als der Freiheit geschenkt gewahrt. Freiheit und Selbstsein enthllen sich fr Jaspers als der Weg, auf dem sich der Mensch seines Verwurzelt-Seins in der Tran szen denz bewusst wird. Freiheit ist ein Sichgegebenwerden aus der Tran szen denz,19 sowie an anderer Stelle: Indem ich frei bin, erfahre ich in der Freiheit [] die Tran szen denz.20

    In diesem Zusammenhang defi niert der deutsche Philosoph in aller Klar-heit das Wesen der religio als essentieller Verbindung zwischen Existenz und Tran szen denz: Sie ist Freiheit nicht ohne die Tran szen denz, durch die sie sich geschenkt wei.21 Existenz ist nur in bezug auf Tran szen denz oder gar nicht.22

    Dieser Gedanke liee sich weiterfhren: Jaspers legt in seinem umfang-reichen philosophischen Werk vielerorts diesen roten Faden aus, der seinen

    15 Zu den Unterschieden und hnlichkeiten zwischen den Begriffen Gott und Tran-

    szen denz siehe Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus (Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft, 31975, Sonderausgabe 1998).

    16 Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 221.

    17 Ibid. S. 356.

    18 Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 184.

    19 Jaspers: Der philosophische Glaube (Mnchen: Piper, 1948) S. 114.

    20 Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 198.

    21 Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 118.

    22 Jaspers: Philosophie, Bd. III, op. cit. S. 94.

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    Gedankengngen Kohrenz verleiht: Auch in der Analyse des Falles Hiob stellt Jaspers mehrmals einen Bezug zwischen der traumatischen Erfahrung des Mannes von Uz und der existentiellen Prfung her, die im Grunde der menschlichen Mglichkeiten liegt.23

    Hiob steht somit als Chiffre fr die Existenz, die in ihrem dumpfen, unverdienten Schmerz ein Einbrechen in die Beziehung zur Tran szen denz fordert und erreicht, wobei sie sich die Freiheit aus dem Leibe schreit, sich smtlichen trostspendenden Lsungen zu verweigern, die Glaube und Dog-matismus auf unauthentische Weise miteinander vermengen.

    Der Kampf Hiobs ist somit der Kampf zwischen Dogma und Freiheit, denn ohne berlieferung der Lehre, aus Eigenem will Hiob Gott begreifen.24 Er will nicht Menschenweisheit, sondern Gott selber,25 getreu der hart-nckigen Forderung, der ursprngliche Wert seiner Erfahrung, die er mit-nichten der Theologie, sondern Gott allein anvertraut, mge ernst genommen werden. Unertrglich fr den Mann von Uz ist, dass die erdrckende Last seiner Fragen von den Theologen-Freunden in Lehre verwandelt wird, was einer Verfhrung zum Selbstmiverstndnis gleichkommt.26

    Das Schlimmste an Hiobs Unglck ist somit die Isolation. Hiob wnscht sich zutiefst den Dialog mit den ihn aufsuchenden Freunden, aber seine Worte zielen auf Gott.27 Zu Gott steigt sein fragender Schrei auf, zu dem-jenigen, dessen Existenz Hiob keinen Augenblick lang in Frage stellt: Nur eins will er: seinen Wandel vor Gott darlegen.28 Ihn klagt Hiob an: Warum verbirgst du dein Antlitz und hltst mich fr deinen Feind? (Hiob 13, 24).

    Er lehnt sich gegen Gott auf, um ihn neu zu fi nden und ihm entgegen zu treten. Er erhebt sich gegen ihn, um auf ihn zuzugehen. Fr Hiob heit es: Gott gegen Gott. Gott, der der Wahrheit ihr Recht werden lt, der Eides-helfer, der Zeuger, der Verteidiger gegen Gott den Despoten, vor dem ihn Angst und Grauen erfat.29 Besser ein grausamer und ungerechter Gott als ein gleichgltiger Gott, taub gegenber Fragen und Bitten und der Welt des Bsen fremd, die den leidenden Gerechten umgibt.

    23 Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, op. cit. S. 349.

    24 Ibid. S. 348.

    25 Ibid.

    26 Ibid.

    27 Ibid. S. 338.

    28 Ibid.

    29 Ibid. S. 340.

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    Der dramatische Aufprall der gegen Gott gerichteten Schreie erhellt Jas-pers zufolge lediglich die den Worten Hiobs innewohnende Konsequenz. Dies gilt auch dann, als Gott schlielich antwortet und jene Schreie wieder in den endlichen Umfang der Existenz zurckfhrt. Dieses von Jaspers ins Spiel gebrachte entscheidende Element darf nicht unbeachtet bleiben, denn der Philosoph liest die Intentionalitt, die dem bi blischen Buch innewohnt, auch aus dem letzten Teil des Buches heraus (der hchstwahrscheinlich spter hinzugefgt wurde):30 nmlich als Hiob seinen Standpunkt aufzugeben und sich der mysterisen Macht des Schpfers zu beugen scheint.

    Jaspers kann und will darin nicht zwei unterschiedliche und in mehr-facher Hinsicht widersprchliche Haltungen des leidenden Gerechten sehen. Dessen Aufbegehren und Kapitulation sind eng miteinander verbunden: Der Kampf mit Gott wird durch Hiobs Vertrauen in Gott gerechtfertigt; das Auf-begehren ist bereits ein Sich-Anheimgeben, geprgt vom grundlegenden Wert des vergeblichen Austauschs mit den befreundeten Schriftgelehrten.

    Dies ist einer der Hhepunkte der Jaspersschen Interpretation des bi bli-schen Texts, auf den nun nher eingegangen werden soll.

    3. Zwischen Theologie und Philosophie

    Der zentrale Teil des Buchs, in dem Hiob und die Schriftgelehrten ihre Dia-loge fhren, stellt zweifellos ein tragendes Element der theoretischen Inten-tionalitt der gesamten Erzhlung dar. Die Dialoge fhren zum Mittelpunkt, zum generierenden Kern. Dieser wird zu Beginn und Ende des Textes vorge-stellt; er wohnt der kommunikativen, unterbrochenen, erfl ehten und gesuch-ten Verbindung Hiobs zu Gott inne. Interessant ist diesbezglich die Feststel-lung, dass Leser des Buches Hiob dazu tendieren, ihre Interpretation auf die Grenze und das offenkundige Scheitern dieser Dialoge und Versuche der Kon-taktaufnahme auszurichten; Jaspers dagegen zeigt sich fr den existentiellen Wert der Kommunikation sensibel und tendiert dazu, die phnomenologische Handlung in ihrer gesamten Tragweite auszuleuchten. Er tut dies in der ber-zeugung, dass die authentischen Formen des Zwiegesprchs sorgfltig zu ana-lysieren sind, was er ja ausfhrlich in Band II der Philo sophie 31 getan hatte, ohne jedoch von vornherein das Scheitern des Dialogs verknden zu wollen.

    30 Zu diesen nicht nur in philologischer und exegetischer Hinsicht interessanten

    Themen siehe Gianfranco Ravasi: Il libro di Giobbe (Bologna: EDB, 2003).31

    Vgl. Jaspers: Philosophie, Bd. II, op. cit. S. 50-117.

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    Es versteht sich von selbst, dass die Argumente der drei Freunde Hiobs wegen ihrer khlen Di stanz und orthodoxen Haltung berhren: Elifas will mit seinen Worten auf die unweigerliche Schuld Hiobs hinaus und bekrf-tigt diese durch die traditionelle Lehre vom gerechten Loh