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Jerome Seymour BrunerKulturpsychologie
Seminararbeit auf der Grundlage des Buches
„Acts of meaning“ – „Sinn Kultur und Ich-Identität“
Lehrveranstaltung: Neuere psychologische Forschungsliteratur Leitung: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Leidlmaier
Referenten: Christina DaxChristine HechenbergerClaudia Saurer
Jerome Bruner Seite 2
Inhaltsverzeichnis:
1. EINLEITUNG.......................................................................................................... 3
2. DIE KOGNITIVE REVOLUTION............................................................................. 4
3. KULTURPSYCHOLOGIE....................................................................................... 4
3.1 Kultur und Alltagspsychologie.......................................................................................6
3.2. Alltagspsychologie und Erzählungen ............................................................................73.2.1 Merkmale des Erzählens ............................................................................................73.2.2 Die Verwandtschaft zwischen fiktionalen und empirischen Erzählungen....................93.2.3 Die Rolle der Alltagspsychologie in der Organisation von Erfahrungen ...................103.2.4 Die Wiederbelebung der kognitiven Revolution in der Philosophie ..........................10
4. DER EINTRITT IN DAS REICH DER BEDEUTUNG............................................ 12
4.1 Biologie der Bedeutung.................................................................................................12
4.2 Voraussetzungen des Erzählens ...................................................................................14
4.3 Untersuchung von Joan Lucariello ..............................................................................15
4.4 Die narrativen Erzählungen von Emily .......................................................................16
4.5 Wofür verwenden Kinder Erzählungen?.....................................................................18
4.6 Erzählung innerhalb einer Kultur ...............................................................................19
5. KULTURPSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG ..................................................... 20
5.1 Historische Perspektive auf den Begriff des „Ich“ ......................................................20
5.2 Die Untersuchung des Ich.............................................................................................22
5.3 Familie Goodhertz ........................................................................................................23
LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... 25
ABBILDUNGSVERZEICHNIS.................................................................................. 25
Jerome Bruner Seite 3
1. EinleitungJerome Seymour Bruner wurde 1915 in New York geboren. 1937
schloss er die Duke University in Durham mit dem Bachelor ab. 1941
promovierte er an der Harvard University.
Von 1952 bis 1972 lehrte er Psychologie in Harvard. Danach lehrte er
in Oxford und ab 1980 war er Research Professor of Psychology and
Senior Research Fellow in Law an der New York University.
Bruners Interesse gilt nicht ausschließlich der Psychologie sondern auch der Anthropologie,
der Pädagogik und den Rechtswissenschaften. Durch seine Vielseitigkeit ist seine Karriere
durch das Erstreben gekennzeichnet, einen Dialog zwischen verschiedenen Disziplinen
herzustellen. Das Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit ist es, den Sinn und die Bedeutung in
die psychologische Forschung miteinzubeziehen. Aufgrund dessen erfordert sein Ansatz der
„Kulturpsychologie“ vor allem die enge Zusammenarbeit der Psychologie mit deren
„Schwesterdisziplin“ der Anthropologie. http://au.geocities.com/vanunoo/Humannature/bruner.htmlhttp://de.wikipedia.org/wiki/Jerome_Bruner
Ein wichtiges Ergebnis für sein Anliegen stellten Untersuchungen in den 1960er Jahren dar,
die Bruner mit seinen Studenten an den Wolof-Kindern in Senegal und an Eskimos
durchführte. Die Untersuchungen haben bewiesen, dass der kulturelle Kontext in der
Entwicklung des Geistes eine tragende Rolle spielt. Aus dem Grund, dass der kulturelle
Kontext miteinbezogen wurde, war auch naheliegend, dass interdisziplinär geforscht werden
musste – vor allem zusammen mit der Anthropologie.
Zur selben Zeit führte Michael Cole eine kognitive Untersuchung an Kindern in Liberia
durch. Die mathematischen Konzepte dieser Kinder sollten erforscht werden. Er zog
Linguisten und Anthropologen hinzu, um den kulturellen Kontext des Lernens und des
Denkens besser zu verstehen. Wie Bruner hat auch Cole festgestellt, dass interdisziplinäre
Zusammenarbeit unumgänglich ist, weil die Symbolsysteme und die Sprache einer Kultur
einen wichtigen Aspekt in der Entwicklung der geistigen Prozesse und in der
Bedeutungskonstruktion darstellen. (vgl. Mattingly, Lutkehaus und Throop, 2008)
Jerome Bruner Seite 4
Diese Ergebnisse waren unter anderem der Grund dafür, warum der Begriff
„Kulturpsychologie“ entstanden ist. Es gab aber einen weiteren triftigen Grund, warum
Bruner seinen Ansatz mit noch mehr Engagement verfolgte ausarbeitete:
2. Die kognitive RevolutionDie kognitive Revolution war eine Antwort auf den Behaviorismus. Ihr Ziel war es, die
Bedeutungen, die Individuen in Auseinandersetzung mit der Welt kreieren, zu erforschen und
formal zu beschreiben. Diesen neuen Impuls konnte Bruner nur begrüßen, denn für ihn war
dies der einzig sinnvolle Weg, den Menschen zu verstehen.
Die Entwicklung der Kognitionswissenschaften nahm allerdings einen anderen Lauf: Sie
ersetzte Sinn und Bedeutung durch Information. Die Konstruktion von Bedeutung wurde
ersetzt durch Informationsverarbeitung. Auf der einen Seite führte dies zu großer
Begeisterung, weil Information bzw. Informationsverarbeitung berechenbar wurde; somit war
der Weg für ein plausibles theoretisches Modell geebnet. Bedeutung wurde weitgehend
ignoriert, weil sie nicht erfassbar gemacht werden konnte.
Unser Gedächtnis wurde also mit einem Computerprogramm verglichen. Die Wissenschaft
erklärte sich den realen Geist mit der Arbeitsweise eines virtuellen Geistes.
Für Bruner war klar, dass ein Computer nicht in der Lage ist, einen Wunsch oder eine
Intention eines Menschen zu identifizieren. Und will man den Menschen verstehen, so kann
man dies nur, wenn man die Intentionen hinter seinen Handlungen verstehen kann.
Bruner spricht sich klar gegen diese Entwicklung der Kognitionswissenschaft aus. Sein
Anliegen war und ist es, den ursprünglichen Impuls der kognitiven Wende wieder
aufzunehmen und weiter auszuarbeiten.
3. KulturpsychologieBruner argumentiert, dass man den Menschen nur verstehen kann, wenn man die Intentionen
hinter seinen Handlungen versteht. Die Form der intentionalen Zustände kann nur durch das
Teilnehmen an Symbolsystemen der Kultur verwirklicht werden.
Um Sinn- und Bedeutungssuche zu ermöglichen, war es für Bruner unumgänglich,
verschiedene Forschungsdisziplinen zusammenzuführen. Wie die vorgestellten
Untersuchungsergebnisse in der Einleitung zeigen, hat die Kultur einen enormen Einfluss auf
die geistige Entwicklung der Menschen. Somit lag es für Bruner auf der Hand, dass der
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kulturelle Kontext in der Bedeutungskonstruktion zentral war. Nur ein Bündnis mit der
Anthropologie könne Licht ins Dunkel der Bedeutungsfindung und –beschreibung bringen.
Im Laufe der Evolution ergaben sich nicht nur anatomische bzw. physiologische
Veränderungen. Es sind auch gemeinsame Lebensweisen, geteilte Symbolsysteme entstanden,
traditionsbedingte Arten und Weisen des Miteinanderlebens.
Die Kultur stellt eine konstitutive Rolle für den Menschen dar. Er kritisiert in diesem Zuge
auch die Individualpsychologie. Es erscheint ihm aufgrund der Entwicklung der gemeinsamen
Lebensweisen innerhalb einer Kultur nicht möglich, eine vom Individuum ausgehende
Psychologie aufzubauen. Jedes Individuum ist eingebettet in die Kultur und nimmt an den
Gemeinsamkeiten der Kultur teil und zieht aus diesen Gemeinsamkeiten Bedeutung.
Bedeutung wird so zu etwas Öffentlichem, gemeinschaftlich Geteiltem. Unsere Lebensweise
hängt somit von diesem öffentlich Geteilten ab. Auch wenn es um die Klärung von
Unterschieden geht, bedienen wir uns geteilten Gesprächsweisen und Begriffen. Die
Psychologie beschäftigt sich mit dem Menschen und muss sich somit auch mit der Kultur
auseinandersetzen.
Clifford Geertz war ein bedeutender US-amerikanischer Ethnologe und wird auch von Bruner
des Öfteren zitiert. Geertz sieht den Menschen, ebenso wie Bruner, als ein Wesen, das mit
Kultur verwoben ist. Die Ethnologie ist für ihn keine experimentelle Wissenschaft, deren Ziel
es ist, nach Gesetzen zu suchen. In seinem Sinne ist die Ethnologie eine interpretierende
Wissenschaft, die nach Bedeutung sucht. Verhaltensweisen müssen gedeutet werden. Um
Verhaltensweisen richtig zu deuten können, muss man den „öffentlichen Code“ kennen. Z.B.
die schnelle Lidbewegung: Erst wenn diese Bewegung gedeutet wird, wird sie zu einem
Zwinkern oder einfach nur zu einer Zuckung. Um dies nun richtig deuten zu können muss
man die Kultur – den „öffentlichen Code“ - kennen. Dadurch kann der schnellen
Augenbewegung Bedeutung zukommen.
Verschiedene Themen werden in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise
repräsentiert. Dadurch erfahren wir etwas über ihre Bedeutung. (http://www.hfg-karlsruhe.de/~hklinke/archiv/texte/sa/GEERTZ.htm)
Jerome Bruner Seite 6
3.1 Kultur und AlltagspsychologieDie Alltagspsychologie nimmt in Bruners Ansatz eine zentrale Position ein. Die
Alltagspsychologie reflektiert mit ihren subjektiven Erklärungen die Kultur. Die
Alltagspsychologie stellt das Instrument der Kultur dar.
Bruner schreibt in „Sinn, Kultur und Ich-Identität“: „Wenn wir in das menschliche Leben
eintreten, dann ist das so, als ob wir auf eine Bühne gingen, mitten hinein in ein Stück, dessen
Aufführung bereits läuft, in ein Stück, dessen in so mancher Hinsicht offene
Handlungsstruktur vorgibt, welche Rollen wir spielen und in Richtung welcher Ziele und
Lösungen wir uns bewegen können.“ Bruner meint hier die Kultur in die wir hineingeboren
werden. Weiter schreibt er: „Die anderen Menschen auf der Bühne wissen schon etwas besser,
wovon das Stück handelt, jedenfalls genug, um Verhandlungen mit einem Neuankömmling
möglich zu machen. (Bruner 1997 S. 51, 52)“ Dieser letzte Satz zeigt noch Wesentliches auf,
das später beschrieben wird.
Die Alltagspsychologie geht von der Grundannahme aus, dass Menschen Überzeugungen und
Wünsche haben. Wir gehen davon aus, dass die Welt in einer ganz bestimmten Weise
organisiert ist. Wir haben die Überzeugung, dass manche Dinge wichtiger als andere sind.
Wenn Überzeugungen und Wünsche der Menschen kohärent sind, dann erwachsen daraus
Lebensweisen und Verpflichtungen.
Überzeugungen, Wünsche – das betrifft unsere innere Welt. Die Alltagspsychologie betrifft
aber auch eine äußere Welt. Es herrschen äußere Gegebenheiten vor, an die wir unsere
Überzeugungen anpassen. Die Alltagspsychologie stellt fest, wie die Dinge sind bzw. wie die
Dinge sein sollten.
Wenn wir von jemandem erfahren, dass er nächste Woche die Sahara zu Fuß durchqueren
wird, dann werden wir im ersten Moment nicht verstehen können, warum jemand auf so eine
verrückte Idee kommen kann. Gemäß der Alltagspsychologie sollten so die Dinge nicht sein.
Und genau hier kommt etwas zum Tragen, dass Bruner auf seiner Bühne mit „Verhandlungen
möglich machen“ gemeint hat. Der Saharafußgänger hat etwas Außergewöhnliches vor. Er
weicht von den Normen ab. Ein Instrument, um diesen Abweichungen einen Sinn zu
verleihen, ist die Erzählung.
Die Alltagspsychologie braucht Erzählungen, um Sinn herzustellen. Jede Geschichte enthält
Teile von kulturellen Konventionen und von Abweichungen dieser Konventionen. Diese
Abweichungen werden durch individuelle intentionale Zustände erklärt.
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3.2. Alltagspsychologie und ErzählungenDas Erzählen spielt, wie schon erwähnt, eine wichtige Rolle in der Alltagspsychologie, nicht
nur, weil es in Erzählungen um menschliche Handlungen, Überzeugungen, Wünsche, etc.
geht, sondern auch durch ihre Funktion zwischen den kulturellen Normen und den Intentionen
einer Person zu vermittelt,
3.2.1 Merkmale des Erzählens
1. inhärente Sequentialität:
Eine Erzählung enthält eine Reihe von Ereignissen, mentalen Zuständen und
Geschehnissen mit Akteuren. Diese Akteure sind ihre Konstituenten, also eine Einheit, die
Teil einer größeren Einheit ist. Die Bedeutung dieser Konstituenten erschließt sich jedoch
erst durch ihre Einordnung in die gesamte Handlungsstruktur der Geschichte. Dies
bedeutet, dass das Handeln einer Person erst durch die Gesamtkonfiguration seine
Bedeutung erhält. Jedoch muss man aber auch umgekehrt das Handeln der Akteure auf die
Handlungskonfiguration beziehen.
2. Indifferenz gegenüber Fakten
Eine Erzählung kann real oder imaginär sein. Die Geschichte bzw. Erzählung ist daher
von der außersprachlichen Realität unabhängig. Dies bedeutet, dass die Erzählung selbst
eine Struktur besitzt, welche die Handlungsstruktur der Geschichte festlegt. Bruner
beschreibt dies nun folgendermaßen: „Es ist die Sequenz ihrer Sätze und nicht die
Wahrheit oder Falschheit der Bedeutung irgendeines einzelnen Satzes, was die
Gesamtkonfiguration oder Handlungsstruktur der Geschichte festlegt.“ (Bruner 1997
S. 61) Konvention und Tradition spielen eine wichtige Rolle für die Form des Erzählens.
Doch geht Bruner davon aus, dass es auch eine menschliche Bereitschaft für Erzählungen
geben muss, die für die Tradition des Erzählens verantwortlich ist. (siehe 3.1 Biologie der
Bedeutung)
3. Bearbeitung der Abweichung vom Gewöhnlichen
Die Erzählung schafft eine Verbindung zwischen dem Außergewöhnlichen und dem
Gewöhnlichen. Die Alltagspsychologie geht vom Erwartbaren bzw. vom Normativen aus.
Doch da es in einer Kultur auch immer wieder zu Abweichungen vom Gewöhnlichen
kommt – wie beim Saharafußgänger – muss es interpretative Verfahren geben, um diesen
Abweichungen einen Sinn zu geben. Die Funktion der Erzählung und der narrativen
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Interpretationen besteht eben auch darin, dem Außergewöhnlichen einen Sinn zu
verleihen. Barkers Prinzip der Situiertheit geht von bestimmten Regeln aus, die festlegen,
was in einer konkreten Situation als angemessen und gewöhnlich angesehen wird. Doch
auch beim Sprechen gibt es solche Gesprächsmaxime, die von Paul Grice formuliert
wurden. Wenn sich eine Person gemäß diesen „Situationsregeln“ oder den
Konversationsmaximen verhält, erscheint ihr Verhalten selbstverständlich und es wird
nicht nach dem „Warum“ gefragt. Wenn die Gesprächspartner aber dennoch um eine
Erklärung gebeten werden, dann reagieren sie entweder mit einem Quantor (z.B. „Jeder
Mensch tut das.“) bzw. mit einem deontischen Modalausdruck (z.B. „So soll man sich
eben verhalten“). Somit ergibt sich die Angemessenheit des Verhaltens durch den Kontext
in dem es ausgeführt wurde. (vgl. Bruner 1997 S. 66)
Verhält sich eine Person allerdings nicht den Normen entsprechend, also ungewöhnlich,
dann wird auf die Frage, warum sie sich so verhalten hat, eine Erzählung folgen. Diese
Geschichte enthält nun die Gründe dafür, warum sie sich so verhalten hat. Sie verleiht
den abweichenden Handlungen also einen Sinn bzw. eine Bedeutung indem sie entweder
auf einen intentionalen Zustand der Person, oder auf ein kulturelles Element verweist.
4. dramatische Qualität der Erzählung
Nach Kenneth Burke bestehen Geschichten aus fünf Elementen:
1) aus einem Akteur
2) aus einer Handlung
3) aus einem Ziel
4) aus einem Schauplatz
5) aus einem Instrument
Zu Schwierigkeiten kommt es nun durch ein Ungleichgewicht zwischen jedem der fünf
Elemente. Zum Beispiel kann eine Handlung zur Erreichung eines bestimmten Zieles
unangemessen sein.
Daher ist das Zentrale des „Dramatismus“ von Burke die Abweichung vom
Gewöhnlichen, welche moralische Folgen hat. Geschichten sollten sich also im legitimen
Bereich bewegen und moralische Verpflichtungen und Werte sollten eingehalten werden.
Wenn man eine Geschichte erzählt, vertritt man daher immer auch einen moralischen
Standpunkt. Werden Störungen jedoch moralisch erklärt, dann erweist sich die Geschichte
ebenfalls als lebensnah.
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5. „zweifache Landschaft“ der Erzählung
Ereignisse oder Handlungen finden nun in der realen Welt statt, gleichzeitig werden aber
auch mentale Handlungen im Bewusstsein ablaufen. Wenn diese Handlungen nun nicht
übereinstimmen, dann wird die Erzählung angetrieben.
3.2.2 Die Verwandtschaft zwischen fiktionalen und empirischen Erzählungen
Durch Untersuchungen von Formen des autobiographischen Schreibens wurde deutlich, dass
die Formen der erzählenden Literatur oft die Struktur für reale Lebensläufe liefern.
Häufig ist für den Zuhörer einer Geschichte nicht klar erkennbar, welche Elemente einer
Geschichte als wirklich angesehen werden können und welche aus der Phantasie des
Erzählers stammen.
Nach Ricœur führt eine Geschichte dazu, dass rekonstruiert wird was möglicherweise
wirklich geschehen ist. Bruner hat nun in seinem Buch „Actual Minds, Possible Worlds“
aufgezeigt, dass sich die Sprache einer kunstfertigen Erzählung von der Sprache einer
Sachdarstellung unterscheidet, nämlich durch die Verwendung von „konjunktivierenden
Transformationen“. Hierbei wurden Personen gebeten zwei exemplarisch ausgewählte
Geschichten zu lesen und dann darüber zu berichten. Dabei zeigte sich, dass die kunstfertige
Erzählung vom Leser viel stärker „konjunktivistisch“ in Erinnerung geblieben war, als die
Sachdarstellung, deren grammatische Form der Erinnerung eher dem Original entsprach. Über
die Funktion einer Geschichte, die dem Leser einen Spielraum für verschiede Interpretationen
lässt und somit das Wechseln verschiedener Intentionen zulässt, gibt Bruner nun verschiedene
spekulative Thesen an.
These 1: Es sei leichter sich mit der Figur einer „konjunktivistischen“ Geschichte zu
identifizieren, wodurch man Ersatzerfahrungen sammeln kann.
These 2: Jede kunstfertige Erzählung ist aus der Perspektive eines Erzählers geschrieben.
Daher unterscheidet sich die Sachdarstellung dadurch, dass sie die Dinge darstellt,
wie sie sind. Nun werde aber eine Geschichten als gut empfunden, wenn ein
Aushandeln der Bedeutung möglich ist.
These 3: Es sei einfacher mit alternativen Interpretationen einer Geschichte umzugehen, als
mit alternativen Prämissen einer Sachdarstellung. Da jede Person durch das Erzählen
von Geschichten über sich selbst weiß, dass dabei immer Sinn geschaffen wird, kann
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auch eine andere, abweichende Interpretation akzeptiert werden.
3.2.3 Die Rolle der Alltagspsychologie in der Organisation von Erfahrungen
Für Bruner sind hier vor allem zwei Dinge von großem Interesse, die Rahmenbildung
(framing) und die Affektregulierung.
Durch das Schaffen einer Rahmung wird eine Welt konstruiert und die Erfahrungen innerhalb
dieser Welt werden strukturiert. Nun gehört die Erzählung zu einer der typischen Formen
dieser Rahmung. Mandler und Barlett untersuchten die Verbindung zwischen framing und
dem menschlichen Gedächtnis:
Jean Mandler belegte, dass nur all das im Gedächtnis behalten wird, was narrativ strukturiert
wird.
Wichtig sind jedoch auch die Erkenntnisse Bartletts, dass Erfahrungen in unserem Gedächtnis
auch systematisch so verändert werden, dass sie zum Gewohnten, zum Erwarteten passen
(durch die Kultur geprägt). Können die Erfahrungen jedoch nicht angepasst werden, so
werden sie entweder vergessen, oder aber als außergewöhnlich im Gedächtnis behalten. Die
Gedächtnisschemata werden durch eine affektive Einstellung kontrolliert. Beim Erinnern wird
somit zuerst ein Affekt bewusst und dann versucht die Person diesen Affekt durch die
Rekonstruktion der Vergangenheit zu rechtfertigen. Durch diesen Vorgang wird sogar die
Form der Rekonstruktion bestimmt.
Bruner erweitert nun Bartletts Ausführungen um eine interpersonale oder kulturelle
Dimension, da uns Rahmenbildung ermöglicht, unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen. Er
führt an, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit auch eine dialogische Funktion aufweist.
Da im Dialog ein subtiler Druck auf die sich erinnernde Person ausgeübt wird, entsteht durch
die Rechtfertigung der affektiven Einstellung auch beim Gesprächspartner ein „Klima des
Mitgefühls“. Nun richten sich aber die Form und der Inhalt dieser Rechtfertigung nach der
Situation. Das bedeutet, dass sie anders ausfallen wird, je nachdem vor wem wir uns
rechtfertigen müssen.
Somit sind diese Schemata „zutiefst in den alltagspsychologischen Vorstellungen unserer
Welt verankert“ (Bruner 1997 S. 75).
3.2.4 Die Wiederbelebung der kognitiven Revolution in der Philosophie
Zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es zu einer starken Trennung zwischen dem Prozess des
Denkens und dem reinen Denken. Letzteres wurde nun von der Philosophie zu erkunden
Jerome Bruner Seite 11
versucht, während sie den sog. Psychologismus ablehnte. Der Grund für diese Ablehnung
bestand nun darin, dass der Prozess des Denkens abhängig vom Kontext, von der jeweiligen
Person und privat ist. Im Gegensatz dazu werden reine Gedanken von allen geteilt und sind
somit einer genaueren Analyse zugänglich. Durch diese Entwicklung wurden die Probleme
des reinen Denkens mit Hilfe der formalen Logik zu ergründen versucht. Als Grundlage
dienten hierbei niedergeschriebene Sätze, deren Bedeutung durch die Wahrheit des Satzes und
durch die Möglichkeit ihrer Verknüpfung mit anderen Sätzen bestimmt werden sollte. Es
wurde also die Aussage einer Person im positivistischen Sinne entweder als „wahr“, oder als
„falsch“ bezeichnet, bezogen auf ihren referenziellen Gehalt. Der Sinn eines Satzes wurde
also als vollkommen unabhängig von einzelnen Personen gesehen.
In den letzten dreißig Jahren kam es jedoch zu einem Umdenken. Es wurde wieder begonnen,
den kommunikativen Zusammenhang bei der Frage nach der Bedeutung mit einzubeziehen.
Eine Äußerung wurde nicht länger als von ihrem Kontext unabhängig gesehen, sondern es
wurden auch die Intentionen des Sprechers berücksichtigt. Die Bedeutung einer Aussage
hängt also nach kulturpsychologischer Sicht nicht nur von der formalen Logik, sondern auch
von den so genannten „Glückensbedingungen“ ab (vgl. Bruner 1997 S. 79). Daher kam es zu
einer Wiederbelebung der kognitiven Revolution und die bedeutungsschaffenden Prozesse,
als zentrale Prozesse der Kulturpsychologie, rückten wieder in den Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit.
Jerome Bruner Seite 12
4. Der Eintritt in das Reich der BedeutungNun werden wir darauf eingehen, wie Kinder lernen, zu erzählen und wozu sie die Technik
des Erzählens gebrauchen.
4.1 Biologie der BedeutungWir nehmen an, dass Bedeutung ein kulturell vermitteltes Phänomen ist, das von der Existenz
eines geteilten Symbolsystems abhängt. Wie kann es daher eine „Biologie“ der Bedeutung
geben? Man könnte sich vorstellen, dass es eine Art „Vorläufersystem“ gibt, dass also
Menschen eine angeborene Fähigkeit zur Sprache haben.
Diese Idee wurde nicht von Bruner neu entwickelt, sondern es haben sich schon Forscher vor
ihm mit dieser Ererbtheit der Sprache beschäftigt.
Einer dieser Vorreiter war Noam Chomsky. Er nahm an, dass das Kind die Struktur der
Sprache mithilfe einer Fähigkeit erwirbt. Diese Fähigkeit nennt er LAD – Language
Acquisition Device – und er nimmt an, dass der Kern des LADs ein angeborenes Wissen
bezüglich einer universellen Grammatik oder „linguistischen Tiefenstruktur“ ausmacht.
Chomsky nimmt an, dass zwischen dieser dem Menschen angeborenen universellen
Grammatik und der Grammatik jeder beliebigen natürlichen Sprache eine Verwandtschaft
besteht. (vgl. Bruner 2002)
Chomskys Begriff der Tiefenstruktur war ausschließlich syntaktischer Art und hatte mit
„Bedeutung“ oder auch mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch überhaupt nichts zu tun. Es
handelte sich um eine ausschließlich sprachliche Fähigkeit, eine Kompetenz für Sprache.
Bruner (2002) erweiterte die Theorie um ein Hilfssystem zum Spracherwerb (LASS –
Language Acquisition Support System). Dieses „Unterstützungssystem“ wird den Kindern
von Erwachsenen in Form eines Interaktionsrahmens bereitgestellt. Die Kommunikation in
diesem Rahmen ist die „Lernmatrix“, durch die das Kind zum Hinweisen und Meinen, zur
kommunikativen Verwirklichung seiner Absichten und zu grammatischen Formen gelangt.
Nach Bruner (1997) löste Chomskys Theorie eine Masse an empirischen Untersuchungen aus
und aus der Forschungsliteratur schälten sich drei Thesen zum frühen Spracherwerb heraus,
die die Suche nach der Biologie der Bedeutung leiten können:
Jerome Bruner Seite 13
1. These:
Der kindliche Spracherwerb erfordert weitaus mehr Unterstützung von Pflegepersonen und
weitaus mehr an Interaktionen mit diesen als Chomsky (und viele andere) vermutet hatte(n).
Die Sprache wird nicht in der Rolle des Zuschauers erworben, sondern durch aktiven
Gebrauch. Das Kind lernt ja nicht einfach, was es sagen soll, sondern gleichzeitig, wie, wo, zu
wem und unter welchen Umständen es was sagen soll.
2. These:
Gewisse kommunikative Funktionen oder Intentionen sind bereits verankert bevor das Kind
die formalen Sprachregeln gemeistert hat, um sie auch sprachlich auszudrücken. Dazu
gehören zum Beispiel Zeigen, Benennen, Bitten und Irreführen. Das Kind scheint also die
Sprache auch deshalb lernen zu wollen, weil es eben diese Funktionen praktisch besser
beherrschen will.
3. These:
Der Erwerb der ersten Sprache ist sehr kontextsensitiv, und das bedeutet, dass er wesentlich
besser vorankommt, wenn das Kind bereits auf eine bestimmte vorsprachliche Weise erfasst,
worüber oder in welchen Situationen gesprochen wird. Mit einer solchen Einschätzung des
Kontextes scheint das Kind besser in der Lage, nicht nur den Wortschatz, sondern auch die
notwendigen grammatischen Aspekte einer Sprache zu erfassen.
Bruner (1997; 2002) nimmt an, dass Kinder bereits ein funktionierendes Wissen über ihre
Welt besitzen, bevor sie die Sprache erwerben können, also dass wir bereits mit einer
primitiven Form der Alltagspsychologie ausgestattet sind, wenn wir in diese Welt eintreten.
Nun wollen wir anhand einer von Bruner und Goodman durchgeführten Untersuchung
(http://psychclassics.yorku.ca/Bruner/Value/) zeigen, welchen Einfluss die Umwelt bzw.
Umgebung auf die Bedeutung hat, die ein Kind einem Gegenstand beimisst.
An diesem Experiment nahmen 30 Kinder im Alter von 10 Jahren teil.
Diese wurden in drei gleich große Gruppen eingeteilt, wobei es 2 Experimentalgruppen und
eine Kontrollgruppe gab.
Die Kinder saßen vor einer Box, auf der ein Lichtpunkt zu sehen war. Die Größe dieses
Lichtpunkts konnte mit Hilfe eines Knopfes verstellt werden.
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Das erste Experiment bestand aus 2 Phasen. In der ersten Phase sollten sich die Kinder an die
Größe von Münzen erinnern und dann den Lichtpunkt einstellen. Hierbei wurde der
Lichtpunkt zu Beginn einmal in seiner maximalen Größe und einmal in seiner minimalen
Größe präsentiert. In der zweiten Phase dienten dann die Münzen als Vorlage und es
herrschten sonst dieselben Bedingungen vor.
Der Kontrollgruppe wurden anstelle der Münzen graue Pappmünzen vorgelegt.
Das zweite Experiment war gleich aufgebaut, wie das erste. Doch wurden hier die Kinder in
zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe umfasste die „armen“ Kinder und die andere Gruppe
die „reichen“ Kinder.
Ergebnisse:
1. Experiment: Die Geldmünzen wurden signifikant größer eingeschätzt, als die
Pappscheiben.
Je mehr eine Münze wert war, desto mehr wurde ihre Größe überschätzt.
2. Experiment: Die „arme“ Gruppe schätzte die Münzen signifikant größer ein, als die
„reiche“ Gruppe.
4.2 Voraussetzungen des Erzählens Eine der am weitesten verbreiteten und mächtigsten Formen der menschlichen
Kommunikation ist das Erzählen. Bruner (1997) stellte die These auf, dass es einen „Zwang“
gibt, Erzählungen zu konstruieren, und dass eben dieser Zwang die Rangordnung festlegt,
nach der das kleine Kind seine grammatischen Formen lernt.
Eine Erzählung benötigt laut Bruner vier entscheidende grammatische Konstituenten, wenn
sie wirksam durchgeführt werden soll:
1. Menschen und ihre Handlungen dominieren das Interesse und die Aufmerksamkeit der
Kinder. Das heißt, das sprachliche Hauptinteresse kleiner Kinder liegt auf menschlichem
Handeln und seinen Ergebnissen, besonders auf menschlichen Interaktionen.
2. Es muss eine sequentielle Ordnung hergestellt und aufrechterhalten werden, also die
Ereignisabfolge muss auf standardisierte Art „linearisiert“ werden. Diese
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Linearisierungsaufgabe wird durch die Grammatik erleichtert, weil die Indikativsätze mit
der Struktur SVO (Subjekt-Verb-Objekt: „Jemand tut etwas“) die natürliche Ordnung der
Erscheinungen bewahren. Außerdem werden die SVO-Formen einer Sprache fast immer
als erste gelernt. Früh lernen Kinder auch die grammatikalischen und lexikalischen
Formen, die notwendig sind, um die von ihnen erzählten Sequenzen zu „binden“, etwa
mit Hilfe von Temporalausdrücken wie „dann“ und „später“ und schließlich auch mit
Hilfe von Kausalverknüpfungen.
3. Zu einer Erzählung gehört die Bereitschaft, das Ungewöhnliche zu erkennen und die
Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
Gibt es etwas Ungewöhnliches, werden Kinder immer besonders lebendig: Sie schauen
gebannter, hören auf zu saugen, ihr Herzschlag wird langsamer usw.
Auch ihre ersten sprachlichen Anstrengungen sind meistens auf etwas gerichtet, was in
ihrer Welt ungewöhnlich ist. Sie werden nicht nur besonders lebendig, wenn es etwas
Ungewöhnliches gibt, sie gestikulieren auch in seine Richtung, sie vokalisieren, und
schließlich reden sie darüber.
4. Zuletzt benötigt eine Erzählung auch eine „Stimme“ oder Perspektive. Bruner vermutet,
dass die Stimme oder „Perspektive“ in erster Linie durch Weinen und andere
Gefühlsausdrücke, aber auch durch die Betonung hergestellt wird, nicht so sehr durch
lexikalische oder grammatikalische Mittel.
Diese vier Merkmale sind sehr früh zu beobachten und bieten dem Kind eine reichhaltige
Ausstattung an narrativen Werkzeugen.
Bruner denkt, dass wir zwar eine „eingeborene“ und primitive Prädisposition für narrative
Organisation besitzen, die uns erlaubt, diese sehr rasch und sehr leicht zu begreifen und zu
benutzen, dass wir aber von unserer Kultur bald mit neuen Werkzeugen des Erzählens
versorgt werden.
Im Folgenden werden wir nun zwei Untersuchungen vorstellen, die diese vier
Voraussetzungen bestätigen.
4.3 Untersuchung von Joan LucarielloBruner beschreibt in seinen Buch „Sinn, Kultur und Ich-Identität“ (1997) die Ergebnisse eines
Experimentes mit Kindergartenkindern, das von Joan Lucariello durchgeführt wurde. Das Ziel
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war es, festzustellen, welche Arten von Dingen erzählerische Aktivität bei kleinen Kindern
zwischen vier und fünf Jahren auslösen.
Lucariello erzählte den Kindern Geschichten über die Geburtstagsparty eines Kindes mit
Geschenken und Kerzen. Einige dieser Geschichten verletzten den kanonischen Rahmen – zB
war das Geburtstagskind unglücklich, oder es schüttete Wasser auf die Kerzen, anstatt sie
auszublasen. Nach der Geschichte stellte die Versuchsleiterin den Kindern Fragen über das,
was in der erzählten Geschichte geschehen war.
Die Untersuchung brachte folgendes Ergebnis:
Die antikanonischen Geschichten riefen etwa zehnmal mehr narrative Erfindungen hervor als
die kanonischen. Ein Kind erklärte etwa, dass Geburtstagsmädchen sei wahrscheinlich
unglücklich, weil sie den Tag völlig vergessen und daher kein passendes Kleid zum Anziehen
habe, ein anderes redete über einen Streit mit seiner Mutter usw.
Diese erfundenen Erzählungen beriefen sich auf einen intentionalen Zustand (zB das
Geburtstagskind hatte das Datum vergessen) und gleichzeitig auf eine kulturelle Gegebenheit
(zB die Notwendigkeit, für eine Party ein schönes Kleid anzuziehen).
Diese Untersuchung zeigte, dass vier Jahre alte Kinder bereits wissen, was kanonisch ist und
höchst begierig sind, Geschichten zu liefern, um das Nichtkanonische zu erklären.
Sie bestätigt also Bruners Annahme über die 3. Voraussetzung des Erzählens, dass sich
Kinder in ihren Erzählungen besonders auf Ungewöhnliches konzentrieren.
4.4 Die narrativen Erzählungen von EmilyNun möchten wir noch eine weitere Untersuchung beschreiben, die Bruners Annahmen über
die Voraussetzungen des Erzählens bestätigen.
Veröffentlicht wurde diese Untersuchung von Katherine Nelson in ihrem Buch „Narratives
from the Crib“. (vgl. Bruner 1997)
Dabei handelt es sich um die aufgezeichneten Selbstgespräche der kleinen Emily. Ihre
Selbstgespräche, ihre Gespräche mit ihren Stofftieren und ihre erzählten unterschiedlichen
Varianten ihrer Lieblingsbücher oder -lieder wurden zwischen ihrem achtzehnten
Lebensmonat und ihrem dritten Lebensjahr aufgezeichnet.
Zuerst eine kurze Erzählung darüber, was in Emilys Leben zu dieser Zeit alles passierte:
Ein Bruder, Steven, kam zur Welt und nahm ihr nicht nur die Solistenrolle in der Familie,
sondern verdrängte sie auch aus ihrem Zimmer und aus ihrem Kinderbett. Kurz nach der
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Ankunft ihres Bruders kam sie in die Vorschule. Beide Eltern arbeiteten, also gab es auch
noch Babysitter.
Während dieser Zeit konnte beobachtet werden, wie Emily Sprache nicht nur als
kommunikatives Instrument immer besser beherrschte, sondern ebenso als ein Mittel, laut
über all das nachzudenken, was an ihren so ereignisreichen Tagen geschehen war.
Etwa ein Viertel ihrer Selbstgespräche waren autobiographische Erzählungen über das, was
sie getan hatte oder das, was sie am nächsten Tag tun würde. Dies deckt sich mit der von
Bruner angegebenen ersten Voraussetzung, nämlich dass Menschen und ihre Handlungen das
Interesse und die Aufmerksamkeit der Kinder dominieren.
Aber Emily berichtete nicht einfach, sondern sie versuchte, ihrem alltäglichen Leben durch
die Erzählungen Sinn zu geben. Sie schien nach einer Gesamtstruktur zu tasten, in die sie das,
was sie getan hatte, zusammen mit dem, was sie fühlte, und dem, was sie glaubte, einordnen
konnte.
Die drei bemerkenswertesten und frühesten Leistungen der narrativen Selbstgespräche von
Emily entsprechen den oben angeführten Voraussetzungen und Merkmalen von Erzählungen.
1. Emily konnte immer besser eine lineare und sequentielle Ordnung ihrer Berichte über
das, „was geschehen war“, erstellen. Zuerst durch einfache Konjunktionen, dann durch
Temporalausdrücke (zB und dann) und später kamen noch Kausalkonjunktionen (zB
weil) dazu.
2. Ihr Interesse an der Abgrenzung des Kanonischen oder Gewöhnlichen vom
Ungewöhnlichen und die Beherrschung der entsprechenden Formen zeigte rasche
Fortschritte. Dies zeigte sich zuerst durch den Gebrauch der Wörter manchmal und
immer. Nach einiger Zeit machte Emily auch Bemerkungen über die Notwendigkeit (man
muss) und später benutzte sie für ihre Erzählungen das zeitlose Präsens.
3. Zuletzt führte Emily ihre persönliche Perspektive und Bewertung in ihre narrativen
Darstellungen ein. Sie konnte nun zwischen ihren eigenen Zweifeln (zB ich glaube
vielleicht) und Zuständen der Ungewissheit in der Welt (zB manchmal kommt Karl
spielen) unterscheiden.
Jerome Bruner Seite 18
Emily führte auch problemlösende Selbstgespräche, in denen sie sich mit Rätseln,
Überlegungen und Lösungen beschäftigte.
ZB versuchte Emily zu erklären, warum ihr Vater bei einem Marathon nicht mitlaufen darf:
„Heute ging Papi und versuchte in das Rennen zu kommen, aber die Leute sagten
nein, so muss er es im Fernsehen anschauen. Ich weiß nicht, warum das so ist,
vielleicht sind dort zu viele Leute. Ich glaube, das ist der Grund, warum er nicht
mitlaufen konnte ... Ich möchte ihn gerne sehen. Ich möchte ihn so gerne laufen
sehen. Aber sie sagten nein, nein, nein, Papi, Papi, Papi. Nein, nein, nein. Er
muss, er muss es im Fernsehen sehen.“
(vgl. Bruner 1997. S. 104)
4.5 Wofür verwenden Kinder Erzählungen?Bruner (1997) zitiert Judy Dunns Aussagen, dass soziales Verstehen immer zuerst in der
Praxis beginnt. Und zwar in konkreten Kontexten, in denen das Kind Protagonist, Akteur,
Opfer oder Komplize ist. Das Kind lernt in den alltäglichen Familien-„Dramen“ eine Rolle zu
spielen, noch bevor es notwendig ist, davon zu erzählen, etwas zu rechtfertigen oder zu
entschuldigen. Das Kind lernt durch die Handlung, was erlaubt ist und was nicht, und was zu
welchen Ergebnissen führt. Erst später wird dieses Handlungswissen in Sprache transformiert.
Eine weitere wichtige Aussage von Dunn ist, dass kleine Kinder oft Berichte über ihre
Interaktionen von älteren Geschwistern oder ihren Eltern hören. Oft wird der Bericht aber in
einer Form gegeben, die ihrer eigenen Interpretation und den eigenen Interessen des Kindes
zuwiderläuft. Durch diesen familiären Konflikt wird das Erzählen zu einem Instrument, nicht
nur um mitzuteilen, was geschehen ist, sondern auch um zu rechtfertigen, warum es
geschehen ist.
Das Kind hat oft seine eigenen Wünsche, die aber mit den Wünschen der Familie nicht immer
übereinstimmen. Es lernt recht schnell, dass zur Befriedigung der eigenen Wünsche Handeln
alleine nicht immer ausreicht. Oft aber hilft es, die richtige Geschichte zu erzählen, um das zu
bekommen, was man will.
Dadurch lernen die Kinder, dass das „alltägliche“ Erzählen nicht nur eine Form des
Berichtens, sondern auch eine Form der Rhetorik ist: sie lernen im Alter von drei bis vier
Jahren, wie man mit Erzählungen Menschen beschwatzt, täuscht, wie man ihnen schmeichelt,
Jerome Bruner Seite 19
sein Handeln rechtfertigt, das erreicht, was man erreichen will, ohne mit den Menschen, die
man liebt, in Konfrontation zu geraten.
4.6 Erzählung innerhalb einer KulturBruner (1997) schreibt, dass Erzählung eine der wesentlichsten Formen der Friedenserhaltung
ist. Das Ziel der Erzählungen besteht nicht in einer Versöhnung oder in der Legitimierung
oder Entschuldigung der Ereignisse, sondern vielmehr in ihrer Erklärung.
Gibt es einen Zusammenbruch in einer Kultur (oder in einer Mikrokultur wie einer Familie)
kann er gewöhnlich auf einen dieser Gründe zurückgeführt werden:
1. Eine tiefgreifende Uneinigkeit über das, was das Gewöhnliche und Kanonische im Leben
bestimmt und was das Außergewöhnliche oder Divergente.
Oft sind sich zum Beispiel Eltern und ihre Kinder nicht einig darüber, was nun „normal“
ist und was nicht. (= „Kampf der Lebensstile“).
2. Rhetorische Überspezialisierung des Erzählens, wenn Geschichten so ideologisch oder
selbstbezüglich motiviert werden, dass Misstrauen das Verstehen verdrängt und das,
„was geschah“, als bloße Fabrikation verworfen wird.
Dies erlebt man heutzutage oft in der modernen Bürokratie. Nach einem Skandal werden
alle Geschichten der Ereignisse außer der offiziellen Version unterdrückt.
3. Verarmung der narrativen Mittel (zB in den von Hunger geplagten Dörfern der
afrikanischen Gebiete südlich der Sahara) – Natürlich geht die Fähigkeit, Erfahrungen in
Geschichtenform zu bringen, nicht vollständig verloren, aber die Geschichte mit dem
„schlimmsten“ Szenario hat das Leben in so eisernem Griff, dass Variationen gar nicht
mehr denkbar erscheinen.
Bruner zeigt damit, dass unsere Fähigkeit, Erfahrungen durch Erzählen zu vermitteln, nicht
nur ein bloßes Kinderspiel ist, sondern vielmehr ein Instrument für das Schaffen von
Bedeutung und Sinn, das einen Großteil unseres Lebens in der Kultur dominiert.
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5. Kulturpsychologische ForschungJerome Bruner (1997) versucht nun ein Beispiel dafür zu geben, wie er sich
kulturpsychologische Forschung vorstellen könnte. Exemplarisch versucht er dies an einer der
zentralsten Kategorien der Psychologie zu veranschaulichen, nämlich der des „Ich“.
5.1 Historische Perspektive auf den Begriff des „Ich“Lange Zeit herrschte in der Psychologie der Essentialismus vor, also die Idee eines direkt
beobachtbaren Ichs. Eine Alternative dazu bot die Vorstellung eines begrifflichen Ichs, das
durch Reflexion entsteht. Jedoch dauerte somit der „Ich – Realismus“ weiter fort. Als Beispiel
kann hier die Psychoanalyse mit ihrer Topographie von Es, Ich und Überich angeführt
werden.
Es gab innerhalb der Psychologie aber auch Tendenzen weg von der Frage nach dem Wesen
des Ich und hin zum Prozess und Gegenstand der Ich-Bildung. Beispielsweise wäre hier
William James mit seiner Idee eines „extensiven“ Ichs, d. h. eines Ichs, das auch die Familie,
Freunde, etc. mit einschließt, zu nennen. Doch dieser Tendenzen wurde lange Zeit keine
Beachtung geschenkt.
Aufgrund der Veränderung des intellektuellen Klimas wurde nun das essentielle Ich durch das
Konzeptuelle ersetzt. Durch diesen Vorgang wurde das Ich nun als dialogabhängig gesehen.
Das Ich wurde also nicht nur als intrapsychisch notwendig gesehen, sonder man beachtet auch
seine Bedeutung in den Erzählungen gegenüber einem Rezipienten. Dies waren nun die
Anzeichen für eine mögliche Kulturpsychologie. Jedoch fand die Bewegung des
transaktionalen Kontextualismus nur wenig Beachtung innerhalb der Psychologie. Ein Grund
dafür könnte in der antiphilosophischen Einstellung der Psychologie und ihren
standardisierten Forschungsparadigmen liegen. Nach Bruner wurden also die Arbeiten durch
ihr eigenes Forschungsparadigma versklavt.
Nach dem transaktionalen Kontextualismus ist nun „menschliches Handeln nicht
ausschließlich […] von innen her erklärbar“, (Bruner 1997 S. 114) sondern auch eine äußere
Konstruktion. Das bedeutet, dass Handeln immer situiert ist, also auch von der kulturellen
Umwelt beeinflusst wird. Beim Versuch das Handeln zu erklären muss man somit auch die
Situation mit einbeziehen, da die soziale Welt durch menschliches Aushandeln konstruiert
wird. Auch das Ich ist ein Teil unserer sozialen Umwelt. Der Kontextualismus ist also
schließlich in die Theorien des Ich eingegangen. Das Ich wird nun auch in der
kulturhistorischen Situation lokalisiert.
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Somit kam es nun zu jener Wende, die Bruner als kontextuelle Revolution in der Psychologie
bezeichnet.
Der Sozialpsychologe Kenneth Gergen untersuchte, wie sich Selbstachtung und Ich-Begriff
verändern, abhängig von den Menschen mit denen man zusammentrifft. Eine solche
Veränderung findet nun ebenfalls bei einer positiven oder negativen Bemerkung der anderen
Menschen statt. Auch wenn Personen eine öffentliche Rolle nur spielen sollten, veränderte
sich deren Selbstbild oft in Richtung der gespielten Rolle. Daher kann man das Ich als
distribuiert, d.h. als die Gesamtheit an Situationen sehen, in welchen das Ich beschrieben
wird. Allerdings sind diese Ergebnisse nicht transhistorisch. Doch laut Gergen gibt es zwei
Verallgemeinerungen, die universal sind:
1. die Reflexivität:
Dies bedeutet, dass wir unsere Vergangenheit durch das Wissen über unsere Gegenwart
verändern können und auch umgekehrt. Daher sind weder unsere Gegenwart noch unsere
Vergangenheit fixiert.
2. die Fähigkeit Alternativen auszumahlen:
Bruner erklärt diese Universalie indem er darauf verweist, dass wir auf der einen Seite
von der Geschichte determiniert werden, auf der anderen Seite aber auch autonome
Akteure sind. (Bruner 1997 S. 118)
In den späten siebziger Jahren wurde schließlich das Ich als Geschichtenerzähler gesehen,
wodurch die Erforschung des Erzählens in den Mittelpunkt rückte. Das Ich enthält somit auch
einen erheblichen Teil an Selbst-Darstellung. Bruner spricht hier von der narrativen Wende.
Spencer befasste sich nun mit Patienten im Prozess der Psychoanalyse. Er kam zu der
Erkenntnis, dass das Ich die Rolle eines Konstrukteurs von Erzählungen übernimmt, die zu
den gegebenen Umständen passen soll, wobei es aber gleichgültig ist, ob sie die historische
Wahrheit widerspiegelt.
Polonoff griff diese Gedanken wieder auf und sah das „Ich eines Lebens“ als Produkt unseres
Erzählens und nicht als irgendein fixiertes, aber verborgenes „Ding“. (Bruner 1997 S. 121)
Ziel der Ich-Erzählung ist nach Polonoff das Herstellen von „externer und interner Kohärenz,
Lebbarkeit und Adäquatheit“. (zitiert nach Bruner 1997 S. 121)
Für Schäfer war nun nicht nur der Inhalt einer Erzählung wichtig, sondern auch ihre Form. Er
bezeichnete diese als „Handlung der Erzählung“ (zitiert nach Bruner 1997 S. 122).
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Der soziale Konstruktivismus brachte in weiterer Folge die Idee hervor, dass auch die
Mitmenschen bei der Ich-Konstruktion als Komplizen fungieren. Da nun von einer Person
viele unterschiedliche Geschichten erzählt werden, muss die Frage nach der Funktionalität
von Geschichten gestellt werden. So wurde beispielsweise erkannt, dass bestimmte Ich-
Konstruktionen benützt werden können, um sich gegenüber einer anderen Gruppe
durchzusetzen. Man kam also zur Erkenntnis, dass Geschichten, die von einer Person erzählt
werden, ihre Erfahrung der Welt und ihre Rolle in dieser Welt widerspiegeln.
5.2 Die Untersuchung des Ich Eine kulturpsychologische Untersuchung des Ichs muss nach Bruner zwei Bedingungen
erfüllen:
Erstens ist die Bedeutung zentral, welche das Ich des Individuums und das Ich der
Gesellschaft definiert. Bei der Definition der Ich-Identität einer Kultur gibt es nun auch eine
historische Komponente. So ist die Auffassung des Ich in der westlichen Kultur geprägt durch
die jüdisch-christliche Tradition, den Humanismus, unsere Wirtschaft und unsere Sprache.
Zweitens müssen auch die Praktiken der Herstellung dieser Bedeutung untersucht werden.
Bei dieser Erzeugung von Bedeutung geht es um ein Ich, das in Handlungen, in Projekten und
im praktischen Leben verteilt ist. Dabei müssen die Handlungen, der Ausdruck und der
Kontext interpretiert werden, wobei es aber nie eine endgültige Interpretation geben wird.
Bruner sieht in der Autobiographie eine viel versprechende Möglichkeit das Ich zu
erforschen. Es geht hierbei um das Ich einer Lebenspraxis, das man nur durch dessen Nutzung
in verschiedenen kulturellen Kontexten erforschen kann. Unter Autobiographie versteht er
nun „eine Darstellung, was man in welcher Situation auf welche Weise und aus welchen
bewussten Gründen zu tun glaubte“ (Bruner 1997 S. 127). Aufschlussreich ist dabei aber nicht
nur der Inhalt dieser Erzählung, sondern auch deren Form.
Bruner berichtet nun in seinem Buch „Sinn, Kultur und Ich-Identiät“ von seinen
Erkenntnissen aufgrund spontaner Autobiographien:
Die Personen konstruieren ihr Ich aktiv, während sie erzählen.
Die Auswahl der erzählten Ereignisse wird bestimmt durch die Art der Geschichte, die
vermittelt werden soll.
Die einzelnen kleinen Geschichten erlangen nun dadurch ihre Bedeutung, dass sie sich zu
einer rahmenden Entwicklungsgeschichte zusammenfügen.
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Diese großen Erzählungen wiesen in ihrer Form Gattungsmerkmale auf, wie zum
Beispiel Merkmale von Opfergeschichten, von Bildungsromanen etc.
„Die narrativen Episoden […] bilden eine strenge zeitliche Abfolge und rechtfertigen
sich durch Außergewöhnlichkeit.“ (Bruner 1997 S. 129)
In der umfassenden Geschichte wurden Rechtfertigungen vorgefunden.
Ein Großteil der wichtigsten Propositionen steht im Präsens.
„Warum etwas berücksichtigt wird, bleibt meist implizit“ (Bruner 1997 S. 130).http://www.fu-psychos.de/tiki-download_file.php?fileId=24
5.3 Familie GoodhertzIn weiterer Folge stellt Bruner Autobiographien von allen Mitgliedern der Familie Goodhertz
dar. Eine Familie kann als Mikrokosmos und Vertreter einer Kultur gesehen werden.
Bruner beschreibt, dass die Mitglieder der Familie Goodhertz ein sehr inniges Verhältnis
zueinander haben. Diese „beruht nach eigenen Einschätzungen darauf, dass sie sich so oft wie
möglich zum Essen trafen“ (Bruner 1997 S. 138). Auch konnten die Kinder immer nach
Hause kommen und in ihrem alten Zimmer wohnen, wenn sie in Not waren.
Nun zu den einzelnen Personen:
Georg Goodhertz ist der Vater der vier Kinder und arbeitet als selbständiger
Heizungsbauer. Er besuchte eine Pfarrschule und ist sich auch heute noch sehr stark den
moralischen Verpflichtungen bewusst, die er in der Schule gelernt hat, obwohl er angibt
nicht mehr gläubig zu sein.
Rose Goodhertz ist eine Italoamerikanerin und ist sehr familienorientiert. Beide Elternteile
sind sich nun darüber einig, dass sie ihren Kindern ein besseres Leben bieten wollen.
Carl Goodhertz ist der älteste Sohn. Er promovierte in Sinnesphysiologie, ist unverheiratet
und wohnt etwas weiter von der Familie entfernt. Dennoch hält er aber engen Kontakt zu
seiner Familie.
Nina Goodhertz heiratete früh, ließ sich bald wieder scheiden und hat aus Ehe eine
Tochter.
Harry Goodhertz ist ebenfalls geschieden und hat ein Kind aus dieser Ehe. Doch hat er
kein Besuchsrecht und wurde auch von seinem Arbeitgeber suspendiert.
Debby Goodhertz, die jüngste der Geschwister, schätzt am meisten persönliche
Beziehungen zu anderen. Sie besucht eine Schauspielschule und wirkt sehr lebendig.
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Als Beispiel für die „Gestaltung und Verteilung des Ich in den Praktiken einer Familie“
(Bruner 1997 S. 138) führt Bruner die in der Familie Goodhertz vorherrschende
Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen an. Dieses Thema ist sowohl in
den Autobiographien, als auch in der Familiensitzung das dominanteste. Die Unterscheidung
zwischen öffentlich und privat ist natürlich auch eine kulturelle Unterscheidung. Sie ist auch
aus soziologischer Sicht nachvollziehbar, denn die Einwohner New Yorks sehen ihre Stadt
ebenfalls als gefährlich, ausbeuterisch etc. Auch historischer gesehen kann man anmerken,
dass der öffentliche Bereich bis in das 18. Jahrhundert einen deutlich höheren Stellenwert
besaß, als der private Bereich. Doch ist diese Unterscheidung von der externen Gesellschaft
über die Ideologie der Familie in die Ich-Identitäten der einzelnen Familienmitglieder gelangt.
Die persönliche Geschichte der Familie enthält nun ebenso die Einwanderung nach Amerika,
wie die Kindheit von Rose und Georg Goodhertz. Beide Elternteile hatten das starke Anliegen
ihren Kindern eine bessere Kindheit zu bieten, als ihre eigene gewesen war. Ihre Kindheit war
von Armut geprägt. Daher übertrieben sie unbeabsichtigt die Unterscheidung zwischen dem
Privaten und dem Öffentlichen so stark, dass für Kinder daraus Spannungen resultierten.
„Jedes Familienmitglied hat seine eigene narrative Version des Konflikts“ (Bruner 1997 S.
141). Bruner führt nun exemplarisch einige Geschichten an, die diesen Konflikt beinhalten.
Das Private symbolisiert für die Familie Goodhertz Vertrauen, Wärme, Sicherheit und
Unterstützung. Im Gegensatz dazu wird nun die „wirkliche Welt“ als „Gerissen“ angesehen
(vgl. Bruner 1997 S. 141). Dennoch besteht bei den Familienmitgliedern der Ehrgeiz auch
außerhalb ihrer Familie Erfolg zu haben. Die Identifikation mit der Familie und die
Unterstützung der Familienmitglieder sind aber von größerer Bedeutung.
Bruner beschreibt dies folgendermaßen: „Die Grundstruktur des Ich jeder Goodhertz –
Familienmitglieder besteht eben in dieser Trennung zwischen dem legitimierenden
„wirklichen Ich“ und dem bloßen instrumentellen „gerissenen Ich“, die sie vor der
„wirklichen Welt“ beschützt.“ (Bruner 1997 S. 142)
Lebensgeschichten und Ich-Identität sind zum Teil durch intrapsychische Kräfte geformt.
Aber es wirken auch historische und soziale Kräfte auf das Ich ein.
Gerade diese verschiedenen Prozesse werden nun als Arbeitsbereich der Kulturpsychologie
gesehen. Nun sieht man an diesen Ausführungen deutlich, dass die einzige Möglichkeit dies
zu erfassen die Interpretation ist.
Jerome Bruner Seite 25
Literaturverzeichnis Bruner, J. (1997). Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.
Bruner, J. (2002). Wie das Kind sprechen lernt. Zweite ergänzte Auflage. Bern: Verlag Hans Huber.
Mattingly, C. Lutkehaus, N.C. Throop C. J. (2008). Bruner’s Search for Meaning: A Conversation between Psychology and Anthropology. [On-line]. Verfügbar unter: http://www.blackwell-synergy.com/doi/abs/10.1111/j.1548-1352.2008.00001.x [05.05.2008]
http://au.geocities.com/vanunoo/Humannature/bruner.html [05.06.2008]
http://de.wikipedia.org/wiki/Jerome_Bruner [05.06.2008]
http://psychclassics.yorku.ca/Bruner/Value/ [18.06.2008]
http://www.hfg-karlsruhe.de/~hklinke/archiv/texte/sa/GEERTZ.htm [20.06.2008]
http://www.fu-psychos.de/tiki-download_file.php?fileId=24 [18.06.2008]
Abbildungsverzeichnishttp://www.tc.columbia.edu/i/media/medallist_bruner.jpg [05.06.2008]
http://www.kulturcineclub.co.uk/images/kultur_home.jpg [23.06.2008]