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Universität Freiburg/Juristische Fakultät Wahlfachgruppe 14/Jugendstrafrecht 1 JUGENDSTRAFRECHT 1. ENTWICKLUNG UND GESCHICHTE DES JUGENDSTRAFRECHTS 1.1 Die Entdeckung von Kindheit und Jugend Literatur: Aries, P.: Geschichte der Kindheit. München, Wien 1975; deMause, L.: Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp, Frankfurt 1977; Platt, A.: The Child-Savers. The Invention of Delinquency. 2. Aufl., Chicago 1977; Mitterauer, M.: Sozialgeschichte der Jugend. Frankfurt 1986; Münchmeier, R.: Strukturwandel der Jugendphase - Aufwachsen unter veränderten Bedingungen. DVJJ-Journal 1995, Nr. 1, S. 10-17; Kaiser, G.: Kinder und Jugendliche als Subjekte und Objekte in der Welt der Normen. RdJB 1998, S. 145-155. Kindheit und Jugend als soziale Erscheinungen hat es nicht immer gegeben. Im Mittelalter galten Kinder als "kleine Erwachsene", die keine von Erwachsenen getrennten Lebensbereiche hatten. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen wird dann freilich im 18. Und 19. Jahrhundert immer stärker betont und führt schließlich zu der (sozialen und kulturellen, schliesslich rechtlichen) Entfernung des Kindes aus der Erwachsenengesellschaft. Diese Entwicklung wird unterschiedlich beurteilt. Eine Extremposition betont eine Verschlechterung der Position des Kindes, insbesondere als Folge der „Wegnahme“ von Rechten und der Zuordnung eines sozialen Status in der Gesell- schaft, der einen Ausschluß von als riskant gedeuteten Lebensbereichen mit sich bringt (Aries); eine andere Position vertritt die These einer Besserstellung des Kindes durch die Aufnahme des Gedan- kens an Kinderschutz in die (auch rechtliche) Organisation der Gesellschaft (deMause). Freilich entsteht mit der Herausbildung von Kindheit und Jugend ein besonderes System sozialer Kontrolle, das sich aus jugendspezifischen Normen sowie Institutionen der Erziehung und Sozialisation zu- sammensetzt (Jugendamt, Schule etc.), darüber hinaus natürlich auch in Konzepten der Jugendde- linquenz bzw. von Eingriffstatbeständen zum Ausdruck kommt, die bei Risiken für die Erziehung und Sozialisation Interventionen der Jugendhilfe und des Jugendstrafrechts mit sich bringen. Jugend ist freilich (neben den hierin enthaltenen biologischen, chronologischen, entwicklungspsy- chologischen Konzepten) vor allem eine soziale Kategorie, in der Vorstellungen über eine Status- passage zum Tragen kommen. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben beträchtlichen Wandel im Hinblick auf diese Statuspassage (in die Erwachsenenrollen) mit sich gebracht. Hierzu gehören insbesondere die beträchtliche Verlängerung der Jugendphase und die Veränderungen in der Struk- tur der Familien mit dem Wandel hin zu Klein- bzw. Kernfamilien. Im Strafrecht genossen Kinder und Jugendliche bis in die Neuzeit hinein keine Sonderrolle. Sie un- terfielen den für Erwachsene geltenden Strafen. Die Constitutio Criminalis Carolina (1532) kannte zwar noch keine Festlegung der Strafmündigkeit, doch enthielt sie Sonderregelungen für jugendli- che Straftäter. Art. 164 regelt die strafrechtliche Behandlung von jungen Dieben. Diese sollen le- diglich eine gemilderte Strafe erhalten. Anstelle der Todesstrafe treten Leibesstrafen verbunden mit ewiger Landesverweisung. Art. 179 verweist auf eine Verknüpfung von Jugend und Zurechnungsfä- higkeit insoweit als dort ausgeführt wird, dass „jemandt, der jugent oder anderer gebrechlichkeyt halben, wissentlich seiner synn nit hett“ nach dem Rat sachverständiger Personen abgeurteilt und bestraft werden sollte. Im Strafgesetzbuch für die Preussischen Staaten von 1851 erfolgte eine Orientierung am französi- schen Rechtssystem. Danach wird in §42 erklärt: „Wenn ein Angeschuldigter noch nicht das sech- zehnte Lebensjahr vollendet hat, und festgestellt wird, dass er ohne Unterscheidungsvermögen ge- handelt hat, so soll er freigesprochen, und in dem Urtheile bestimmt werden, ob er seiner Familie überwiesen oder in eine Besserungsanstalt gebracht werden soll“. Mit dem „Unterscheidungsver- mögen wird auf die „discernement“ Bezug genommen. 1.2 Die Abspaltung des Jugendstrafrechts vom Erwachsenenstrafrecht

JUGENDSTRAFRECHT - mpicc.de · das sich aus jugendspezifischen Normen sowie Institutionen der Erziehung und Sozialisation zu- sammensetzt (Jugendamt, Schule etc.), darüber hinaus

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Universität Freiburg/Juristische FakultätWahlfachgruppe 14/Jugendstrafrecht

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JUGENDSTRAFRECHT

1. ENTWICKLUNG UND GESCHICHTE DES JUGENDSTRAFRECHTS1.1 Die Entdeckung von Kindheit und JugendLiteratur: Aries, P.: Geschichte der Kindheit. München, Wien 1975; deMause, L.: Hört ihr die Kinder weinen? Einepsychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp, Frankfurt 1977; Platt, A.: The Child-Savers. The Invention ofDelinquency. 2. Aufl., Chicago 1977; Mitterauer, M.: Sozialgeschichte der Jugend. Frankfurt 1986; Münchmeier, R.:Strukturwandel der Jugendphase - Aufwachsen unter veränderten Bedingungen. DVJJ-Journal 1995, Nr. 1, S. 10-17;Kaiser, G.: Kinder und Jugendliche als Subjekte und Objekte in der Welt der Normen. RdJB 1998, S. 145-155.

Kindheit und Jugend als soziale Erscheinungen hat es nicht immer gegeben. Im Mittelalter galtenKinder als "kleine Erwachsene", die keine von Erwachsenen getrennten Lebensbereiche hatten. DerUnterschied zwischen Kindern und Erwachsenen wird dann freilich im 18. Und 19. Jahrhundertimmer stärker betont und führt schließlich zu der (sozialen und kulturellen, schliesslich rechtlichen)Entfernung des Kindes aus der Erwachsenengesellschaft. Diese Entwicklung wird unterschiedlichbeurteilt. Eine Extremposition betont eine Verschlechterung der Position des Kindes, insbesondereals Folge der „Wegnahme“ von Rechten und der Zuordnung eines sozialen Status in der Gesell-schaft, der einen Ausschluß von als riskant gedeuteten Lebensbereichen mit sich bringt (Aries); eineandere Position vertritt die These einer Besserstellung des Kindes durch die Aufnahme des Gedan-kens an Kinderschutz in die (auch rechtliche) Organisation der Gesellschaft (deMause). Freilichentsteht mit der Herausbildung von Kindheit und Jugend ein besonderes System sozialer Kontrolle,das sich aus jugendspezifischen Normen sowie Institutionen der Erziehung und Sozialisation zu-sammensetzt (Jugendamt, Schule etc.), darüber hinaus natürlich auch in Konzepten der Jugendde-linquenz bzw. von Eingriffstatbeständen zum Ausdruck kommt, die bei Risiken für die Erziehungund Sozialisation Interventionen der Jugendhilfe und des Jugendstrafrechts mit sich bringen.Jugend ist freilich (neben den hierin enthaltenen biologischen, chronologischen, entwicklungspsy-chologischen Konzepten) vor allem eine soziale Kategorie, in der Vorstellungen über eine Status-passage zum Tragen kommen. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben beträchtlichen Wandelim Hinblick auf diese Statuspassage (in die Erwachsenenrollen) mit sich gebracht. Hierzu gehöreninsbesondere die beträchtliche Verlängerung der Jugendphase und die Veränderungen in der Struk-tur der Familien mit dem Wandel hin zu Klein- bzw. Kernfamilien.

Im Strafrecht genossen Kinder und Jugendliche bis in die Neuzeit hinein keine Sonderrolle. Sie un-terfielen den für Erwachsene geltenden Strafen. Die Constitutio Criminalis Carolina (1532) kanntezwar noch keine Festlegung der Strafmündigkeit, doch enthielt sie Sonderregelungen für jugendli-che Straftäter. Art. 164 regelt die strafrechtliche Behandlung von jungen Dieben. Diese sollen le-diglich eine gemilderte Strafe erhalten. Anstelle der Todesstrafe treten Leibesstrafen verbunden mitewiger Landesverweisung. Art. 179 verweist auf eine Verknüpfung von Jugend und Zurechnungsfä-higkeit insoweit als dort ausgeführt wird, dass „jemandt, der jugent oder anderer gebrechlichkeythalben, wissentlich seiner synn nit hett“ nach dem Rat sachverständiger Personen abgeurteilt undbestraft werden sollte.

Im Strafgesetzbuch für die Preussischen Staaten von 1851 erfolgte eine Orientierung am französi-schen Rechtssystem. Danach wird in §42 erklärt: „Wenn ein Angeschuldigter noch nicht das sech-zehnte Lebensjahr vollendet hat, und festgestellt wird, dass er ohne Unterscheidungsvermögen ge-handelt hat, so soll er freigesprochen, und in dem Urtheile bestimmt werden, ob er seiner Familieüberwiesen oder in eine Besserungsanstalt gebracht werden soll“. Mit dem „Unterscheidungsver-mögen wird auf die „discernement“ Bezug genommen.

1.2 Die Abspaltung des Jugendstrafrechts vom Erwachsenenstrafrecht

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Literatur: Schaffstein/Beulke: Jugendstrafrecht, 1991, S.30ff; Kaiser: Jugendstrafrecht. In: Kleines KriminologischesWörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 200.

Entscheidende Impulse zur Schaffung eines selbständigen Jugendstrafrechts kommen aus der sog."modernen Strafrechtsschule" mit ihrer Betonung der Spezialprävention/Resozialisierung (F. v.Liszt) sowie aus der "Jugendgerichtsbewegung". Im Jahre 1923 tritt das Jugendgerichtsgesetz inKraft, im Jahre zuvor (1922) war das Jugendwohlfahrtsgesetz in Kraft getreten. Das Jugendge-richtsgesetz vom 16.2.1923 löste die §§55-57 des Reichsstrafgesetzbuches ab, in denen Sonderre-gelungen für Jugendliche im Rahmen des allgemeinen Strafrechts enthalten waren. Den Beginn derStrafmündigkeit hatte §55 des RStGB auf 12 Jahre festgelegt. Im übrigen war die Jugendlichkeit desTäters lediglich als Strafmilderungsgrund konzipiert; die Erwachsenenstrafen kamen deshalb zurAnwendung.

In der Abspaltung vom allgemeinen Strafrecht kommt es auch zu unterschiedlicher Betonungrechtsstaatlicher Prinzipien im Verhältnis zur Förderung des Kindes- und Jugendwohls. Hierausresultieren Streitfragen, die sich insbesondere darauf beziehen, warum und wann spezifische Ge-sichtspunkte des Kindeswohls eine unterschiedliche Gestaltung des Verfahrens und des materiellenRechts begründen können. Der amerikanische Oberste Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass derStaat nur dann eine unterschiedliche Behandlung von jungen Menschen rechtfertigen könne (Bel-lotti vs. Baird, 443 U.S. 622, 1979), wenn dies durch (1) die besondere Verwundbarkeit von jungenMenschen, (2) die Unfähigkeit eine bedeutsame Entscheidung in kluger und reifer Art und Weise zutreffen und (3) die Bedeutung von Eltern in der kindlichen Sozialisation geboten sei.

1.3 Die Entstehung des Systems des JugendrechtsLiteratur: Walter, Jugendrecht, Jugendhilfe, Jugendschutz. In: Kleines Kriminologisches Wörterbuch 3.Aufl, 1993,S.191ff; Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, Göttingen 1978.Das Jugendgerichtsgesetz und das Jugendwohlfahrtsgesetz (nunmehr Kinder- und Jugendhilfege-setz, KJHG) sind nur Teil des Systems des Jugendrechts, mit dem der Gedanke der Erziehung unddes Jugendschutzes in allen gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt wird. Zum Jugendrecht gehö-ren u.a.: Jugendarbeitsschutzgesetze, Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit, der straf-rechtliche Jugendschutz (Kindesmißhandlung, sexueller Mißbrauch, Pornographieverbreitungsver-bote etc., vgl. insb. §§174ff StGB). Geregelt wird im wesentlichen das Verhältnis zwischen Kin-dern/Jugendlichen und Erwachsenen sowie Rechte und Pflichten von Kindern und Jugendlichen.Das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende System des Jugendrechts kann alsTeil der Wandlung von bürgerlichem Rechtsstaat zum modernen Sozialstaat des Industriezeitaltersverstanden werden.

1.4 Jugendstrafrechtsreformen der NeuzeitLiteratur: Trenczek/Wimmer: Was bringt das neue JGG? DVJJ-Journal 1990, S. 26-29; Kerner, Jugendkriminalrecht als„Vorreiter“ der Strafrechtsreform? Überlegungen zu 40 Jahren Rechtsentwicklung in Rechtsprechung, Lehre und Krimi-nalpolitik. DVJJ-Journal 1990, Nr. 133,S. 68-81.

Das im Jahre 1923 neu geschaffene Jugendgerichtsgesetz wurde in den Jahren 1943 sowie 1953jeweils reformiert. Im Jahre 1990 trat schließlich das 1. Änderungsgesetz zum JGG (1. JGGÄndG)in Kraft. Durch das Jugendgerichtsgesetz 1923 wurden Kinder bis zum Alter von 13 Jahren aus demGeltunsgbereich des Strafrechts ausgenommen. Im übrigen trat neben die Freiheitsstrafe als Sankti-on für 14 bis 17-jährige eine System von Erziehungsmaßregeln, wobei Freiheitsstrafe erst dann ver-hängt werden durfte, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichten. Die Freiheitsstrafe konnte erst-mals zur Bewährung ausgesetzt werden. Eingeführt wurde dann die Jugendgerichtshilfe sowie einbesonderes Strafverfahren, wo Einschränkungen des Legalitätsgrundsatzes sowie der Ausschluß der

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Öffentlichkeit jugendspezifische Bedürfnisse erfüllen sollten. Das Jugendgerichtsgesetz von 1943führte die Dreigliederung der jugendstrafrechtlichen Reaktionsmittel ein. Neben Erziehungsmaßre-geln und Jugendstrafe traten die sog. Zuchtmittel. Mit der Einführung des Jugendarrests als Zucht-mittel wurde die kurze Freiheitsstrafe für Jugendliche abgeschafft. Die Mindeststrafe der Jugend-strafe wurde zunächst auf 3 Monate erhöht, im übrigen wurde die Möglichkeit der Strafaussetzungzur Bewährung wieder abgeschafft. Gleichzeitig mit der Umbenennung der Freiheitsstrafe in Ju-gendstrafe brachte das JGG 1943 auch die Beseitigung der im Erwachsenenstrafrecht geltendenStrafrahmen. Andererseits wurden in der Zeit des Nationalsozialismus Änderungen eingeführt, diees erlaubten in als schwer bezeichneten Fällen auch Kinder ab 12 Jahren zu bestrafen; im übrigenwurde im Verordnungswege die Möglichkeit eingeführt, auf jugendliche „Schwerverbrecher“ Er-wachsenenstrafrecht, insoweit auch die Todesstrafe, anzuwenden. Im JGG 1953 wurde die Strafaus-setzung zur Bewährung wiedereingeführt, gleichzeitig auch Bewährungshilfe und -aufsicht vorgese-hen. Ferner sind seit 1953 die Heranwachsenden (18-20 Jahre) teilweise in das Jugendstrafrechteinbezogen. Die sechziger und siebziger Jahre sind dann durch die Diskussion von Grundsatzrefor-men bestimmt, wobei die Vorschläge für ein erweitertes Jugendhilferecht der Arbeiterwohlfahrt von1970, dann ein Diskussionsentwurf des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheiteine bestimmende Rolle spielten. Freilich haben sich die Vorstellungen, Jugendliche vollständig ausdem Strafrecht herauszunehmen, und dafür ein einheitliches „Jugendkonfliktrecht“ für erziehungs-bedürftige Kinder und Jugendliche wie für straffällige Jugendliche einzusetzen, nicht durchsetzenkönnen. Im Jahre 1990 trat schließlich eine Teilreform in Gestalt des 1. Änderungsgesetzes zumJGG in Kraft. Im 1. JGGÄndG werden insb. Änderungen des §45, der Erziehungsmaßregeln undder Zuchtmittel eingeführt. Im übrigen wird die unbestimmte Jugendstrafe abgeschafft. BesondereBedeutung kam der Einführung der Betreuungsweisung, der sozialen Trainingskurse und des Täter-Opfer-Ausgleichs zu; die Auferlegung von Arbeitsverpflichtungen ist seit 1990 auch als Weisungzulässig. Trotz der erheblichen Kritik am Jugendarrest und an der wegen schädlicher Neigungenverhängten Jugendstrafe reformiert das 1. JGGÄndG hier nur sehr vorsichtig. Schließlich wird dieUntersuchungshaft (§72 JGG) durch die Einführung des §72 II JGG für bis zu 16-Jährige bei demHaftgrund der Fluchtgefahr eingeschränkt und mit §72a JGG als neue Aufgabe der Jugendgerichts-hilfe die sog. Haftentscheidungshilfe eingefügt. Das 1. JGGÄndG bringt auch eine Anpassung andas neue KJHG (insb. im Zusammenhang mit den Erziehungsmaßregeln und hier §12 JGG (Hilfezur Erziehung).

1.5 JUGENDSTRAFRECHT IM INTERNATIONALEN VERGLEICH

Literatur: Bureau of Justice Statistics: Capital Punishment 1997, Washington 1998, S. 5-9; Wormith, S. et al.: Ontario´ sStrict Discipline Facility is not just another „Boot Camp“. Forum on Corrections Research 11(1999), S. 34-38; Doob,A.N., Sprott, J.B.: Canada Considers New Sentencing Laws for Youth: A Sheep in Wolf´s Clothing? Overcrowded Ti-mes 10(1999), S. 1, 5-11; Sagel-Grande, I.: Jugendkriminalität und Jugend(Straf)Recht in den Niederlanden unter be-sonderer Berücksichtigung des Halt-Projekts und der Aufgabenstrafen. DVJJ-Journal 1/2000, S. 9-19; Graham, J.: Ak-tuelle Entwicklungen in der Jugendjustiz in England und Wales. DVJJ-Journal 4/1998, S. 317-321; Stando-Kawecka,B., Dünkel, F.: Strafverantwortlichkeit Jugendlicher in Polen. DVJJ-Journal 4/1999, S. 409-418; Crofts, Th.: Mit zehnJahren strafmündig. Zur Reform der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Kindern in England. ZsTW 111(1999), S.728-741.

Die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht und vor allem von Erwachsenensanktionen auf schwereStraftaten Jugendlicher hat sich partiell in den USA durchgesetzt. Hier kann die Todesstrafe in ein-zelnen Bundesstaaten bei 14-Jährigen verhängten werden (beispw. Arkansas, Virginia), in anderenist die Todesstrafe bei einem Täteralter von 16 Jahren erlaubt (Alabama, Florida, Nevada etc.). Am31.12. 1997 sassen ingesamt 69 Personen in amerikanischen Todeszellen ein, die die der Verurtei-lung zur Todesstrafe zugrundeliegende Tat im Alter von bis zu 17 Jahren begangen hatten.

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Eine weitere Entwicklung betrifft einen gewissen Trend hin zur Disziplin und Disziplinierung. Be-sonders deutlich wird dies in der Einrichtung von so genannten „Boot Camps“, zunächst in Nord-amerika und nun zunehmend auch in Europa beachtet. In „Boot Camps“ wird auf militärischen Drillund Disziplin sowie einen stark strukturierten Tagesablauf gesetzt. In eben diese Richtung geht trotzgegenteiliger Beteuerungen das, was in Ontario als „strict discipline facility“ bezeichnet wird. Auchhier steht der bis in die letzte Minute strukturierte Tagesablauf im Vordergrund.

Das neue kanadische Jugendstrafrecht sieht insbesondere neue Strafzumessungsgrundlagen vor.Die jugendstrafrechtlichen Sanktionen haben zum Ziel: Schutz der Gesellschaft, indem die Verant-wortlichkeit des jungen Straftäters durch gerechte Strafen, die wiederum bedeutsame Konsequenzenfür den jugendlichen Straftäter haben, verdeutlicht wird; sie sollen auch der Rehabilitation und derWiedereingliederung dienen (Sec. 37). Eine jugendstrafrechtliche Sanktion soll der Schwere der Tatund der Schuld angemessen sein; betont wird der Verhältnismässigkeitsgrundsatz. Eingeführt wer-den neue Sanktionen (attendance order, deferred custudy and supervision order, intensive probati-on); Polizeidiversion wird schliesslich ebenfalls betont. Für relativ schwere Delikte können 14-Jährige nunmehr vom Jugendgericht nach Erwachsenenstrafrecht bestraft werden (vorher bestanddie Möglichkeit der Abgabe des Falls an ein Erwachsenengericht).

Das im Entwurf vorliegende neue Schweizerische Jugendstrafrecht (Schellenberg, B.: Entstehungs-geschichte und Inhalt des Entwurfs zu einem neuen Jugendstrafrecht in der Schweiz. DVJJ-Journal1/2000, S. 3-9) wird den Beginn der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von nunmehr 7 Jahren auf10 Jahre anheben. Freilich sind bestimmte Sanktionen erst ab einem höheren Alter vorgesehen. Sosoll eine Busse (Geldstrafe) erst ab Vollendung des 15. Lebensjahres anwendbar sein. Auch derFreiheitsentzug wird erst ab Vollendung des 15. Lebensjahres verhängt werden dürfen Er ist aufhöchstens 1 Jahr beschränkt. Längere Freiheisstrafen (bis maximal 4 Jahren) sind für jugendlicheStraftäter vorgesehen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben und die wegen Verbrechen verurteiltwerden, für die nach Erwachsenenstrafrecht eine Mindeststrafe von 3 Jahren Freiheitsentzug vorge-sehen ist. Im übrigen trennt der Entwurf zwischen „Schutzmassnahmen“ (Aufsicht, persönlicheBetreuung, Behandlung und Unterbringung) sowie Strafen (Verweis, persönliche Leistungen (zu-gunsten des Opfers oder als gemeinnützige Arbeit), Busse, Freiheitsentzug).

In Holland beginnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit mit 12 Jahren. Für Jugendliche geltendieselben Hauptstrafen wie für Erwachsene, nämlich Geldstrafe (allerdings bei einer Obergrenzevon 5000 Gulden) sowie Freiheitsentzug (bei bis 15-Jährigen bis höchstens 12 Monate; bei 16-18Jährigen bis 24 Monate). Neben den Hauptstrafen exisitieren sogenannte „Aufgabenstrafen“, diezwischen Geldstrafe und Freiheitsstrafe angesiedelt werden, nämlich die Arbeitsstrafe (10-200Studnen), Teilnahme an Lern- und Trainingsprojekten sowie die Kombination zwischen Arbeitsstra-fe und Lernprojekten.

Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in England/Wales ist durch ein Weggehen vom Jugend-wohlfahrtsmodell und durch die Hinwendung zu einem Modell, das die Verantwortlichkeit jungerMenschen für Strafaten betont, gekennzeichnet. Der Crime and Disorder Act 1998 hat die Pflichtzum Nachweis des Doli Incapax abgeschafft. Mit diesem Schritt ist es nunmehr nicht mehr erfor-derlich bei 10-13-Jährigen Beschuldigten den Nachweis zu erbringen, dass der Beschuldigte nichtbloss mit Vorsatz handelte, sondern auch zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte. Inso-weit wird nunmehr unterstellt, dass Kinder ab dem 10. Lebensjahr in vollem Umfang und ohnePflicht zur Nachprüfung (vgl. hierzu auch §3 JGG) strafrechtlich verantwortlich sind. Verstärkt wirdsodann die auch strafrechtliche Verantwortlichkeit der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten für straf-rechtlich relevantes Verhalten der Kinder. Unter bestimmten Bedingungen kann ein Gericht Elterndazu verpflichten, Anordnungen zur besseren Kontrolle der Kinder nachzukommen, deren Verlet-

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zung zu einer Geldstrafe bis zu 3000 DM führen kann. Eingeführt werden dann Elemente einer„Restaurative Justice“ und zwar mit einer Wiedergutmachungsanordnung, die (bei Zustimmung desVerletzten) den jugendlichen Straftäter zu Reparationen an den Verletzten bzw. die Gemeinschaftverpflichtet. Eingeführt werden soll im übrigen eine Rechtsfolge der sog. FamiliengruppenKonfe-renz (Erfunden in NeuSeeland), anlässlich der Familie, Straftäter sowie Opfer zusammen einen Planbzw. Vertrag ausarbeiten, der sicherstellen soll, dass die Bedürfnisse des Opfers erfüllt werden unddass der Täter sich seiner Verantwortung stellt. Ferner setzt die englische Jugendkriminalpolitiknunmehr auf Frühintervention mittels verschiedener Massnahmen. Hierzu gehören:

► Das Programm der letzten Warnung: Die Polizei kann dann, wenn sie davon ausgeht, dass einjugendlicher Tatverdächtiger Gefahr läuft, eine kriminelle Laufbahn zu beginnen, eine so genannte„Letzte Warnung“ aussprechen, an die sich die Einschaltung eines lokalen „Jugendkriminalitäts-teams“ anknüpft, das wiederum die Aufgabe hat, ein individuelles Interventionsprogramm zur Ver-meidung weiterer Straffälligkeit zu entwerfen.

► Ausgangssperren für Kinder unter 10 Jahren können nunmehr von Gemeinde und Polizei nachRücksprache mit den Anwohnern der betroffenen Gebiete angeordnet werden (für zunächst 3 Mo-nate, mit Verlängerungsmöglichkeit).

► Eine Child Safety Order kann durch das Familiengericht angeordnet werden im Falle eines Kin-des unter 10 Jahren, das entweder eine Straftat begangen hat, prä-delinquente Verhaltensweisenzeigt, die Nachbarschaft durch sein Verhalten stark stört oder belästigt oder sich über eine Aus-gangssperre hinweggesetzt hat. Mit einer solchen Anordnung können verschiedene Bedingungengesetzt werden: Schulbesuch, Aufenthalt zuhause, Vermeiden bestimmter Orte etc.

Ferner sieht die neue englische Jugendkriminalpolitik ein Verschieben der Resourcen von der Re-pression zur Prävention vor.

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Jugendlichen, Rechtsfolgen sowie Verfahren sind in Po-len im StGB (1997) sowie im Gesetz über Verfahren in Jugendsachen (1982) geregelt. In Ausnah-mefällen kann ein jugendlicher Straftäter ab 15 Jahren in bestimmten Fällen (Art. 10§2 StGB) nachErwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden. Die Höchststrafe beträgt dann zwei Drittel des für Er-wachsene geltenden Strafrahmens. Im übrigen gelten besondere Bestimmungen für Jugendliche imGesetz über Verfahren in Jugendsachen, das vor den Familiengerichten stattfindet. Jugendliche sind14-17-Jährige. Heranwachsende unterfallen dem StGB. In Jugendsachen werden grundsätzlich Er-ziehungs- und Besserungsmassnahmen angeordnet. Hierunter fallen: Ermahnung, Auferlegungbestimmer Pflichten (beispw. Wiedergutmachung); Aufsicht durch Eltern, Bewährungshelfer, Ar-beitsstelle etc.; Einweisung in ein Bewährungshilfezentrum, Unterbringung in einer Pflegefamilieoder in einem Fürsorgeerziehungsheim, Unterbringung in einer Resozialisierungsanstalt; Unterbrin-gung in einer Besserungsanstalt. Ein Familiengericht kann ausnahmsweise Strafe verhängen, näm-lich dann, wenn die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Besserungsanstalt gegeben sindund wenn der Täter im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts oder vor Vollstreckung der Mass-nahme das 18. Lebensjahr vollendet hat (Streitig, vgl. Stando-Kawecka/Dünkel 1999, S. 411).

2. JUGENDKRIMINALITÄT2.1 Umfang und Entwicklung

Lit.: Villmow/Stephan: Jugendkriminalität in einer Gemeinde. Freiburg 1983; Kreuzer, Jugendkriminalität. In: KleinesKriminologisches Wörterbuch, 3.Aufl., 1993, S.182ff; Schüler-Springorum, Mehrfach Auffällig - Untersuchungen zurJugendkriminalität, 1982; Wolfgang, M., Figlio, R.M., Sellin, T.: Delinquency in a Birth Cohort. Chicago, London1972.; Frehsee, D.: Sozialer Wandel und Jugendkriminalität. DVJJ-Journal 3-4/1995, S. 269-278; Kaiser/Schöch, Kri-

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minologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 4. Aufl. München 1994, S. 170-180; Heinz, W.: Jugendkriminalität uwischenVerharmlsoung und Dramatisierung. DVJJ-Journal 3/1997, S. 270-293; Steffen, W., Elsner, E.: Aktuelle Probleme derJugendkriminalität. In: Bundeskriminalamt (Hrsg.):

Es ist unbestritten, daß sich das Ausmaß bekannt gewordener Jugendkriminalität seit den fünfzigerJahren ganz beträchtlich erhöht hat. Dies gilt praktisch für alle westlichen Industriestaaten. Ebensodeutlich ist auch, daß sich seit Beginn der achtziger Jahre der Umfang der Jugendkriminalität aufhohem Niveau stabilisiert. Zuwächse lassen sich seit anfang der neunziger Jahre wieder beobachten.Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Befund, daß offensichtlich nicht nurim Dunkelfeld bleibende Jugendkriminalität normal oder ubiquitär ist, sondern daß auch die offi-zielle Registrierung als Tatverdächtiger normal zu werden beginnt. Übereinstimmend wird ausEngland, den USA und aus der BRD berichtet, daß mit Abschluß des Jungerwachsenenalters beietwa 24 Jahren etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung wenigstens einmal registriert oder garsanktioniert worden ist. Übereinstimmung herrscht international auch in dem Befund, daß Jugendli-che disproportional häufig an der bekanntgewordenen Kriminalität beteiligt sind. Die Folgerungen,die aus diesen Befunden gezogen werden oder gezogen werden können, müssen allerdings auch inRechnung stellen, daß Jugendkriminalität in der Regel einfache, leichte und wenig überlegte undgeplante Delikte umfasst. So dominieren regelmäßig einfache Formen der Eigentumskriminalität.Es gilt noch immer, daß die besonders schadensträchtigen Bereiche der Eigentums- und Ver-mögenskriminalität, der Umweltdelikte und insbesondere auch der schweren Gewaltdelikte eineDomäne der Erwachsenen darstellen. Ferner sind Jugendliche geständnisfreudiger, von daher beiden Tatverdächtigen überrepräsentiert. Schließlich sorgt die häufige Begehung von Straftaten in derGruppe, daß auf die Jugendlichen durchschnittlich weniger Straftaten entfallen als auf Erwachsene.Jugendkriminalität ist im wesentlichen Einmal- oder Gelegenheitskriminalität. Sie hat episodenhaf-ten Charakter. Zum Standardwissen über Jugendkriminalität gehört auch, daß relativ kleine Gruppenvon sog. chronischen Straftätern bzw. Karrierestraftätern für einen außergewöhnlich großen Anteilder auf Jugendliche entfallenden Straftaten verantwortlich sind. So wurde in einer der größtenLängsschnittuntersuchungen zur Jugendkriminalität festgestellt, daß etwa ein Fünftel der in dieserUntersuchung erfassten Jugendlichen mehr als die Hälfte aller von den in die Untersuchung insge-samt einbezogenen Jugendlichen im Untersuchungszeitraum verübten Straftaten begangen haben,und, noch wichtiger, für fast alle schweren Straftaten verantwortlich waren. Ähnlich liegen dieVerteilungen in anderen Ländern, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Jedoch ist auch für die-se Gruppe der Intensiv- oder chronischen Straftäter bekannt, daß ein wesentlicher Teil mit dem Ü-bergang in das Erwachsenenalter die Karriere abbricht und ein unauffälliges Leben führt. Derartige"Spontanremissionen" werden jedoch in neuerer Zeit offensichtlich durch Arbeitslosigkeitsproblemeerschwert. Diese reduzieren die Gelegenheiten zum Ausstieg aus derartigen Jugendproblemen undzum Einstieg in ein nicht unwesentlich durch Arbeitsplatz, Berufsrolle und hiermit zusammenhän-gende Familiengründung, also soziale Bindungen gekennzeichnetes konformes und konventionellesLeben. Man rechnet jedoch insgesamt damit, daß ca 2-4% aller im Kindheits- und Jugendalter Auf-fälligen auch als Erwachsene weiter auffällig bleiben. Die gegenwärtige Entwicklung der Zusam-mensetzung der jungen Tatverdächtigen ist vor allem durch den Anstieg der jungen ausländischenStraftäter charakterisiert. Sie machen in Großstadtbereichen (der alten Bundesländer) heute schonbis zu 75% der Tatverdächtigen aus. Damit sind Folgeprobleme für die Strafverfolgung wie für dieSozialen Dienste in der Justiz, vor allem auch für die JGH verbunden, die einmal Sprachprobleme,zum anderen kulturelle Differenzen, dann auch die Art der Leistungen etc. betreffen, die auf auslän-dische jugendliche Tatverdächtige zugeschnitten sein sollen.In den neunziger Jahren hat sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob und inwieweit Jugend-kriminalität zunimmt, drastisch verschärft. In der Beantwortung dieser Frage ist die Jugendkrimi-nologie nach wie vor ganz wesentlich auf die Polizeiliche Kriminalstatistik angewiesen, die freilichauf registrierte Jugendkriminalität beschränkt ist und deshalb für Veränderungen der Kontrollstrate-

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gien sowie der Anzeigeneigung in der Bevölkerung anfällig ist. Was sich in der Entwicklung derneunziger Jahre tatsächlich beobachten läßt ist ein teilweise drastischer Anstieg der relativen Be-lastung von Jugendlichen und Heranwachsenden mit bestimmten Formen recht schwerer Straftaten(insbesondere aber Raub und räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung). Dabei spieltim Falle des Raubes der Straßenraub eine besondere Rolle. Im übrigen läßt die Entwicklung derAltersverteilung der Raubopfer erkennen, daß sich Raubstraftaten junger Menschen fast ausschließ-lich innerhalb derselben Altersgruppen abspielen. Jedoch kann andererseits auch nachgewiesenwerden, daß ein entsprechender Anstieg in den Verurteiltenzahlen derselben Altersgruppen nicht zubeobachten ist. Wie dieses Auseinanderklaffen von Polizeistatistik und Verurteiltenstatistik inter-pretiert werden sollte, ist fraglich. Denn einerseits mögen mehr Bagatelldelikte angezeigt werden(worauf die Justiz mit Einstellungen gem. §§45 47 JGG reagiert), andererseits mag sich die Bewer-tung von Straftaten als Bagatellen verändert haben. Ferner mögen justizökonomische Gründe dazuführen, dass

Deutsche jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige bzw. Verurteilte (pro 100.000 der je-weiligen Bevölkerungsgruppe 1984-1999); Alte Bundesländer

Jugendliche HeranwachsendeStraftaten Insg. Raub gefährl. Körper-

verletzungStraftaten insg. Raub gefährl. Körper-

verletzungTVBZ VZ TVBZ VZ TVBZ VZ TVBZ VZ TVBZ VZ TVBZ VZ

1984 3659 1356 82 39 191 60 4201 1812 118 51 330 1021985 3566 1241 85 34 187 58 4249 1685 114 47 321 931986 3484 1143 72 34 186 57 4278 1628 102 46 312 851987 3477 1098 70 29 183 55 4228 1579 98 41 307 811988 3477 1109 71 31 187 54 4094 1592 90 41 299 831989 3756 1000 69 30 206 56 4120 1507 88 40 311 801990 4377 948 91 29 233 61 4366 1410 101 38 327 851991 4325 874 125 37 281 59 4475 1407 121 47 364 891992 4586 873 137 38 312 63 4677 1454 128 47 379 931993 4606 899 131 42 324 69 4815 1574 125 51 368 971994 5150 934 147 44 329 78 5312 1656 124 52 385 971995 5811 1013 197 53 379 79 5788 1706 158 49 405 981996 6238 1097 226 69 425 95 6251 1803 170 59 456 961997 6534 1207 262 88 482 107 6473 2001 183 67 488 1181998 6745 255 534 6831 181 5491999 6648 245 576 6822 184 616

Quelle: Heinz, W.: Jugendkriminalität zwischen Verharmlosung und Dramatisierung. DVJJ-Journal 1997, S. 270-293.TVBZ: Tatverdächtigenbelastungsziffer; VZ: Verurteiltenziffer; Polizeiliche Kriminalstatistik; Strafverfolgungsstatis-tik..

2.2 Erklärung der Jugendkriminalität

Literatur: Stichwörter Kriminalitätstheorien. In: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993.

Die Theoriebildung auf dem Gebiet der Jugendkriminalität ist nach wie vor defizitär. Sie ist kon-zentriert auf Großstadtbereiche und männliche Jugendliche. Es konkurrieren nach wie vor mehreretheoretische Ansätze, die jedoch, was die empirische Relevanz angeht, offensichtlich keine wesent-

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lichen Unterschiede mit sich bringen. Regelmäßig erklären die eingeführten Variablen 20-25% derbeobachteten Varianz in krimineller oder sonstiger Auffälligkeit.- STRESSTHEORIEN, insb. in Form der Anomietheorie haben seit den sechziger Jahren an Attrak-tivität verloren.- SOZIALISATIONSTHEORIEN haben nach wie vor ihren Platz innerhalb akzeptierter Jugendkri-minalitätstheorien.- KONTROLLTHEORIEN sind seit ab 1970 in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Danach ent-scheiden das Vorhandensein und das Ausmass von Bindungen (emotionaler und rationaler Art) anrelevante Andere (insb. Eltern), Institutionen und Normen über das Ausmass von Konformität.Fehlen die Bindungen, ist das Individuum frei, auch zu kriminellem Verhalten. Offensichtlichkommt diese Theorie der allgemeinen Einschätzung des Verlustes an Funktion und Bedeutung ehe-mals zentraler gesellschaftlicher Institutionen (Familie, Schule, Religion, Arbeit) entgegen (die Ak-zeptanz von Theorien ist ja in der Regel nicht nur abhängig von ihrer Güte, sondern insbesondereauch davon, inwieweit sie sich allgemeinen Überzeugungsmustern fügen).- Veränderte GELEGENHEITEN, insb. Erweiterung der Risikosituationen durch drastische Verän-derungen in der Sozialstruktur und Mobilität.

2.3 Extremistische JugendgewaltLiteratur: Kohaus, H., Cladder-Micus, A.: Integrative Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen und ambulantes Anti-Aggressivitätstraining in Nottuln. DVJJ-Journal 3-4/1995, S. 347-353; Möller, K.: Rechtsextremismus und Gewalt.Empirische Befunde und individualisierungstheoretische Erklärungen. In: Lust auf Randale. Jugendliche Gewalt gegenFremde, Breyvogel, W. (Hrsg.), Bonn 1993, S. 35-64. Willems, H: Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter,Konflikteskalation, Opladen 1993; Schumann, K.F., Schutz der Ausländer vor rechtsradikaler Gewalt durch Instrumentedes Strafrechts? Strafverteidiger 1993, S. 324ff (abgedruckt auch in DVJJ-Journal 1993, S. 256ff).

Kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat eine steigende Zahl von polizeilich regist-rierten Vorfällen der Gewalt gegen ethnische Minderheiten dazu beigetragen, die Aufmerksam-keit auf Zusammenhänge zwischen Umbruch, sozialem Wandel, Jugend und Gewalt zu lenken.Insbesondere die Gewalt gegen Minoritäten mag nicht nur verstanden werden als eine Folgeschnellen sozio-politischen Wandels und seiner Auswirkungen in Form sozialer Desintegration.Ein erhöhtes Niveau an Gewalt könnte auch interpretiert werden als Indikator einer kulturellenDesintegration oder der kulturellen Segregation. Darüber hinaus könnten diese Zeichen als In-dikatoren für grundsätzliche Diskriminierung ethnischer Minderheiten dienen. Soziologischeund kriminologische Ansätze, die in dieser Hinsicht über Konzepte wie Xenophobie, rassisti-sche oder diskriminierende Einstellungen bzw. traditionelle Erklärungen von Jugendgewalthinausgehen, sind selten. Der vorherrschende Ansatz in der Erklärung von Jugendgewalt gegen-über Minoritäten bezieht sich auf die traditionelle Frustrations- Aggressionshypothese, vgl. Rom-melspacher, B.: Männliche Jugendliche als Projektionsfiguren gesellschaftlicher Gewaltphantasien.Rassismus im Selbstverständnis der Mehrheitskultur. In: Breyvogel, W. (Hrsg.): Lust auf Randale.Jugendliche Gewalt gegen Fremde. Verlag Dietz, Bonn 1993, S. 65-82, S. 75 und Bliesener, Th.:Psychologische Hintergründe der Gewalt gegen Ausländer. In: DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern(Hrsg.): Ausländer im Jugendstrafrecht. Neue Dimensionen. Erlangen 1992, S. 15-32; der größereTeil der Gewalttaten wird von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen begangen. 70 % der Tatver-dächtigen fallen in die Altersgruppe der14 bis 20jährigen, lediglich 3 % der Tatverdächtigen sind30 Jahre oder älter, Verfassungsschutzbericht 1991, S. 83. Jedoch bemerken wir neuerdings neuessoziologisches Interesse für diese Phänomene, von denen man dachte, daß sie der Vergangen-heit angehören. Es ist offensichtlich, daß sich diese gegen ausländische und ethnische Minori-täten gerichteten Gewaltausbrüche teilweise auf ein „kollektives Bewußtsein“ beziehen, dassich um die Themen der Nation, des Nationalstaats sowie um kulturelle und rassische Unter-schiede seit den achtziger Jahren wieder sichtbar entwickelt. Es wurde bereits bedauert, daß diemoderne soziologische Theorie offensichtlich nicht dazu in der Lage ist, solche Entwicklungen

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wegen der besonderen Betonung, die in der soziologischen Theorie auf die Beschreibung undErklärung der post-industriellen Gesellschaften gelegt worden sei, zu erklären. NationalistischeIdeologien, die man durch strukturelle Veränderungen in modernen Gesellschaften und ihreBindung an Rationalität überwunden glaubte, sind offensichtlich in allen europäischen Ländernwieder auf dem Vormarsch. Ganz offensichtlich liegt diese Veränderung außerhalb der Reich-weite soziologischer Erklärungen. Die auch als „Haßkriminalität“ bezeichnete fremdenfeindli-che Gewalt gewinnt ihre soziale und politische Brisanz daraus, daß sie auf die Beziehungenzwischen Gruppen hinweist. Die herkömmliche Betrachtung von Gewalt als Akte von Einzel-personen gegen Einzelpersonen ist demnach zu verlassen. Vielmehr sind soziale und ethnischeGruppen bzw. die Gruppensolidarität in den Mittelpunkt zu rücken.Die Debatte um die ausländerfeindliche Gewalt war auch verbunden mit Versuchen, die He-ranwachsenden wieder stärker in das Erwachsenenstrafrecht einzubeziehen und deren Behand-lung als Jugendliche bzw. nach Jugendstrafrecht als Ausnahmesachverhalt vorzusehen (vgl.nunmehr BT-Drs. 562/97, Gesetzesantrag des Landes Bayern). Zu einer kurzen Diskussion die-ser Forderungen, die freilich auch ganz allgemein mit steigender Jugendgewalt und ansteigen-der Kriminalität und Sicherheitsproblemen begründet wurden, vgl. Bannberg, B.: Strafe alsReaktion auf gesellschaftliche Forderungen. DVJJ-Journal 1/1995, S. 63ff; Sonnen, B.R.: Ver-schärfungsbestrebungen im Jugendstrafrecht. DVJJ-Journal 1997, S. 222-223).

3. DIE KONZEPTION DES JUGENDSTRAFRECHTS3.1 Kinderkriminalität, Jugendverfehlung und relative Strafmündigkeit

Lit.: Frehsee, D.: „Strafverfolgung“ von strafunmündigen Kindern. ZStW 100(1988), S. 290-328; Lauer, T.: Aus derHand gelesen. Die Zulässigkeit von Röntgenaufnahmen der Hand zum Zwecke der Altersfeststellung bei unbegleitetenminderjährigen Flüchtlingen. DVJJ-Journal 3-4/1995, S. 317-323; Weinschenk, C.: Beginnt die Schuldfähigkeit wirklicherst mit der Vollendung des 14. Lebensjahres? Monatsschrift für Kriminologie 1984, S. 15ff; Walter/Kubink, §3 JGG -§17 StGB: Gleiche Tatbestandsstruktur? DVJJ-Journal 1/1995, S. 113ff.; Walter-Freise, Der vergessene Paragraph -Aktuelle Fragen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit junger Menschen - §3 JGG, DVJJ-Journal 1/1995, S. 137ff;Thomas, K.: Der Kinderdelinquenz Einhalt gebieten – aber wie? ZRP 1999, S. 193-196; Hefendehl, R.: Täter und Opferbei kindlicher Gewaltkriminalität. JZ 2000, S. 600-608.

Das Jugendstrafrecht gilt für Jugendliche (14-17-jährige). Diese werden als „relativ strafmündig“dem Jugendstrafrecht unterstellt. Dabei gilt aber gem. §3 JGG die Bedingung, daß der Jugendlicheentwicklungsmäßig so weit sein muß, daß er das Unrecht seiner Tat einsehen und entsprechend die-ser Einsicht handeln konnte. Obwohl die gesetzgeberische Konzeption des §3 JGG darauf hinweist,daß die Strafmündigkeit in jedem Einzelfall positiv festgestellt werden muß, scheint die Praxis vomBestehen der Strafmündigkeit im Regelfall ohne weitere Untersuchungen auszugehen. Heranwach-sende (18-20-jährige) gelten als strafmündig, können aber gem. §105 JGG als Jugendliche behan-delt und nach Jugendstrafrecht abgeurteilt werden. Im Falle von Straftaten von Kindern gibt es kei-ne Strafverfolgung. Freilich ist im einzelnen umstritten, ob und inwieweit gegenüber straffälligenKindern einzelne Strafverfolgungsmaßnahmen, insb. Zwangsmaßnahmen der StPO zulässig sind(vgl. im einzelnen Frehsee 1988). Jedoch gilt prinzipiell, daß Kinder nicht Beschuldigte im Sinneder StPO sein können. Denn Beschuldigter kann nur derjenige sein, gegen den mit dem Ziel einerAburteilung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden darf. Da Kinder aber als strafunmündiggelten (§19 StGB) kann gegen sie ein Ermittlungsverfahren mit dem genannten Ziel gar nicht ein-geleitet werden.

Kindliche Straftäter unterfallen dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Das Jugendamt hat im Falle derDelinquenz von Kindern gegebenenfalls zu prüfen, ob Erziehungshilfen nach dem KJHG in Be-tracht kommen. Ferner ist grundsätzlich eine familienrechtlich und vormundschaftsrechtlich be-gründete Intervention gegen die Inhaber des Sorgerechts denkbar (§1666 BGB). Ein von Freistaat

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Bayern vorgelegter Gesetzesantrag vom 26.2. 1998 (BR DrS 645/98) schlägt vor, in §1666 BGBeine gesetzliche Vermutung einzuführen, nach der das Familiengericht von einer Gefährdung desKindeswohls bei wiederholten und erheblichen Verstössen gegen Strafgesetze ausgehen könnte.Vorgeschlagen wird auch die Klärung in einem richterlichen „Erziehungsgespräch“, das mit denSorgeberechtigten und dem betroffenen Kind durchgeführt werden soll. Nach den VorstellungenBayerns soll das Familiengericht sowohl den Sorgeberechtigten als auch dem betroffenen Kind (er-zieherische) Weisungen erteilen können. Derartige Weisungen gegenüber den Eltern sollen danngem. §33 FGG zwangsweise durchsetzbar sein (Verhängung von Zwangsgeld). Damit wäre freilichein Teil der jugendstrafrechtlichen Weisungen (Erziehungsmassregeln) auch auf Kinder ausgedehntund die Absenkung des Strafmündigkeitsalters sozusagen durch die „Hintertür“ herbeigeführt (vgl.hierzu insb. Hefendehl 2000 mit Abwägungen zwischen Opferinteressen, Kinderschutz sowie posi-tiver Generalprävention).

3.2 Jugendverfehlung und Straftat

Lit.: Albrecht, P.-A., Jugendstrafrecht, 2.Aufl. 1993, S.91.

§1 JGG spricht von der "Verfehlung". Damit wird zwar der Begriff der Straftat vermieden, was dieunterschiedlichen Orientierungen von Jugend- und Erwachsenenstrafrecht zum Ausdruck bringensoll, doch wird damit auch an die Straftatbestände des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs undan diejenigen des Nebenstrafrechts angeknüpft. Das JGG enthält keine Sonderstraftatbestände fürJugendliche.

3.3 Das Verhältnis zwischen Kinder- und Jugendhilferecht und Jugendkriminalrecht

Das am 1.1.1991 in Kraft getretene Kinder-und Jugendhilfegesetz löste das Jugendwohlfahrtsgesetzab und ordnete das Jugendhilferecht neu. Dabei schoben sich die Gesichtspunkte der Leistung sowieder Freiwilligkeit stärker in den Vordergrund (vgl. insb. §8 KJHG: Kinder und Jugendliche sindentsprechend ihrem Entwicklungsstand in allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichenJugendhilfe zu beteiligen; vgl. auch §9 KJHG), während andererseits stigmatisierende Begriffe, diein der Vergangenheit vor allem auch mit Zwangseingriffen und stationärer Unterbringung verbun-den waren, hier insbesondere die Verwahrlosung sowie die hierdurch ausgelöste Fürsorgeerziehung,abgelöst wurden. Das KJHG regelt die im Falle entsprechender Bedürfnisse an Kinder und Jugend-liche sowie deren Familien anzubietenden Leistungen. Verschränkungen mit dem Jugendstrafrechtwerden sichtbar in der Aufgabe des Jugendamts, Jugendgerichtshilfe zu leisten sowie der als Erzie-hungsmaßregeln in das System der jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen eingegliederten Hilfen zurErziehung (§12 JGG). Das KJHG wendet sich verstärkt der Jugendgerichtshilfe zu, die gem. §52KJHG vom Jugendamt auszuüben ist. Dabei wird die sozialpädagogische Hilfestellung durch dieJugendgerichtshilfe betont. Herausgehoben sind der Angebotscharakter sowie die Betreuungsfunk-tion. Dies markiert verstärkt den Konflikt, dem die JGH im Strafverfahren gegen Jugendliche infol-ge der Kontroll- und Betreuungsverpflichtungen ausgesetzt ist. §12 JGG sieht im übrigen vor, daßder Jugendrichter den jugendlichen Straftäter nur im Einvernehmen mit dem Jugendamt dazu ver-pflichten kann, Hilfe zur Erziehung anzunehmen.

3.3Einspuriges oder zweispuriges Jugendrecht: Wohlfahrtsmodell oder Rechtsstaatsmodell?

Lit.: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V.(Hrsg.), Vorschläge für ein erweitertes Jugendhilferecht. Denkschrift derArbeiterwohlfahrt zur Reform und Vereinheitlichung von Jugendwohlfahrtsgesetz und Jugendstrafgesetz. Schriften derArbeiterwohlfahrt, Nr. 22, 3. Aufl. 1970; Walter, Jugendrecht, Jugendhilfe, Jugendschutz, Kleines KriminologischesWörterbuch. 3. Aufl., 1993, S. 191-199; Hemmens, C., Bennett, K.: Juvenile Curfews and the Courts: Judicial Responseto a Not-So-New Crime Control Strategy. Crime&Delinquency 45(1999), S. 99-121.

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Die Frage, ob für Jugendliche ein einheitliches Jugendrecht (Erziehungsrecht) oder ein zweispurigesSystem der Jugendhilfe einerseits und des Jugendstrafrechts andererseits etabliert werden solle, warseit Entstehung des Jugendrechts umstritten. Auch heute lassen sich international zwei Modelle,nämlich einmal das Wohlfahrtsmodell (mit der Betonung von Jugendproblemen als Anknüpfungs-punkt für staatliche Interventionen sowie eine einheitliche Behandlung von jugendlichen Straftäternund Kindern bzw.Jugendlichen mit anderen Problemen durch Jugendhilfe und Erziehung), zum an-deren das sog. Rechtsstaatsmodell (mit der Betonung der Straftat als Anknüpfungspunkt für ein ju-gendangepasstes System von erzieherisch legimierten Sanktionen und justizförmigem Verfahren beiTrennung von Jugendhilfe und Jugendstrafrecht), beobachten. Der deutsche Gesetzgeber hat sichaber ganz eindeutig für ein zweispuriges System entschieden, in dem Straftaten Jugendlicher nachJugendkriminalrecht (freilich mit ausschließlich spezialpräventiver Zielsetzung) beurteilt werdenund in dem auf Erziehungsprobleme anderer Art nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)reagiert wird.

International bewegt sich die Jugendkriminalpolitik zwischen beiden Modellen. Auch in den USA,wo in den letzten zwei Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts die Aburteilung Jugendlicher nach Er-wachsenenstrafrecht erhebliche Bedeutung bekommen hat, stehen in den Antworten auf (wahrge-nommenen) Anstieg der Jugendkriminalität partiell immer noch besondere auf Kinder und Jugend-liche abgestimmte allgemeine Massnahmen im Vordergrund. So hat sich dort die Anwendung vonallgemeinen Ausgehverboten (curfews) in der Regel zur Nachtzeit in vielen Grossstädten durchge-setzt (Hemmens/Bennett 1999).

3.4 Das Prinzip "Erziehung"Lit.: Bundesministerium der Justiz (Ed.): Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, 1991; Heinz,Abschied von der "Erziehungsideologie" im Jugendstrafrecht? Zur Diskussion über Erziehung und Strafe. Recht derJugend und des Bildungswesens 1992, S.123-143; Streng, F.: Die Öffnung der Grenzen - die Grenzen des Jugendstraf-rechts. DVJJ-Journal 2/1995, S. 163-169; Scholz, Ch.: Reaität der und Erwartungen an die Jugendgerichtsbarkeit inDeutschland. DVJJ-Journal 1999, S. 232-247.

Das Jugendstrafrecht steht ganz unter der Zielvorstellung der Erziehung jugendlicher Straftäter. DasErziehungsprinzip ist aber in neuerer Zeit sehr umstritten. Unklar ist, was Erziehung im Jugendkri-minalrecht bedeuten soll und ob im Rahmen des Jugendkriminalsystems überhaupt erzogen werdenkann. Einerseits wird die Frage gestellt, was als Begründung der Absonderung des Jugendstrafrechtsvom Erwachsenenstrafrecht bleibt, wenn auf das Erziehungsprinzip verzichtet wird. Befürchtet wirddann, daß sich ein Entwicklung ähnlich derjenigen in den USA ergeben könnte, mit der jugendlicheStraftäter der Geltung des Erwachsenenstrafrechts unterworfen werden, mit der Folge der Anwen-dung von Erwachsenenstrafen. Andererseits wird versucht, bei Aufgabe des Erziehungsziels dieAbsonderung des Jugendstrafrechts durch die unterschiedliche allgemeine soziale und rechtlichePosition von Jugendlichen (verringerte Handlungsmöglichkeiten, weniger Rechte etc. im Vergleichzu Erwachsenen) zu legitimieren und das Ziel des Jugendstrafrechts auf die Spezialprävention imSinne der Verhütung zukünftiger Straftaten einzuschränken.

4. DIE BETEILIGTEN AM JUGENDSTRAFVERFAHREN4.1 Der JugendrichterLiteratur: Adam et al., Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte in der Bundesrepublik Deutschland, 1986; Hauser, DerJugendrichter - Idee und Wirklichkeit, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1980, 1ff; Eilsberger, DieHauptverhandlung aus der Sicht jugendlicher und heranwachsender Angeklagter, Monatsschrift für Kriminologie undStrafrechtsreform 1969, S.304ff; Pommerening, Das Selbstbild der deutschen Jugendrichter, Monatsschrift für Krimi-nologie und Strafrechtsreform 1982, S.193ff.

4.1.1 Das Jugendgericht und Gerichtsverfassung

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Für Jugendstrafverfahren sind besondere Gerichte eingeführt worden, die als Jugendrichter, Jugend-schöffengericht (beide auf der Ebene des Amtsgerichts) und Jugendstrafkammer (Landgericht) be-zeichnet werden (§33 Abs. 2 JGG). Auf der Ebene des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichts-hofs existieren aber keine besonderen Gerichte für Jugendliche. Die sachliche Zuständigkeit desJugendrichters ergibt sich aus §39 JGG, die des Jugendschöffengerichts aus §40 JGG und die derJugendstrafkammer aus §41. Danach ist der Jugendrichter im wesentlichen zuständig für solcheVerfehlungen jugendlicher Straftäter, für die nur Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln in Betrachtkommen und wenn der Jugendstaatsanwalt beim Jugendrichter anklagt. Die Rechtsfolgenkompetenzerhöht sich (aus prozeßökonomischen Gründen) nach §39 Abs. 2 auf ein Jahr Jugendstrafe, wenndie Hauptverhandlung eröffnet worden ist und sich dann herausstellt, daß Zuchtmittel und Erzie-hungsmaßregeln nicht ausreichen (die verzögernde Verweisung an das Jugendschöffengericht sollhierdurch vermieden werden). Jugendschöffengerichte sind für alle Jugendstraftaten zuständig, fürdie nicht die Zuständigkeit eines anderen Gerichts begründet ist (§40 JGG). Eine solche besondereZuständigkeit begründet §41 JGG für die Jugendstrafkammer. Diese ist insbesondere zuständig fürsolche Straftaten, für die nach allgemeinem Strafrecht das Schwurgericht zuständig wäre (§74eGVG), also Tötungsdelikte.

4.1.2 Die Theorie des Jugendrichters: „Ersatzvater“ oder Strafrichter

Der Jugendrichter gilt als zentrale Figur des Jugendstrafverfahrens. Seine Aufgaben ergeben sichaus §34 Abs.1 JGG und entsprechen denjenigen eines Richters beim Amtsgericht in Strafsachen.Gem. §34 Abs.2 JGG soll der Jugendrichter gleichzeitig Vormundschaftsrichter sein; mit einer sol-chen Personalunion soll eine einheitliche, aufeinander abgestimmte erzieherische Wirkung von ju-gendrichterlichen und vormundschaftsrichterlichen Maßnahmen gewährleistet werden. §37 JGGbesagt dann, daß Jugendrichter erzieherisch befähigt sein und in der Jugenderziehung Erfahrungenhaben sollen. Nach den Zielvorstellungen des Gesetzes kommt dem Jugendrichter deshalb die Auf-gabe zu, maßgeblich den erzieherischen Anspruch des JGG umzusetzen. Damit soll der Jugend-richter gleichzeitig Richter und Pädagoge sein. Freilich lassen die empirischen Untersuchungen zumJugendrichter den Schluß zu, daß der Anspruch nicht realisiert wird, da offensichtlich die Auswahldes Jugendrichters nicht allein an den Kriterien der Eignung orientiert ist. Heute überwiegt deshalbeine kritische Sicht der pädagogischen Funktion des Jugendrichters. Im übrigen versteht der Bun-desgerichtshof §37 als bloße Ordnungsvorschrift (BGH NJW 1958, S.639). Eine Verletzung des§37 allein (dadurch, daß die Auswahl nicht entlang der in §37 genannten Kriterien getroffen wurde),begründet demnach nicht die Revision. Neben den Berufsrichtern in Jugendsachen sehen Jugend-schöffengerichte und Jugendstrafkammern Laienrichter, die sog. Jugendschöffen, vor (§35 JGG).Anders als die Schöffen in Erwachsenengerichten werden Jugendschöffen auf der Grundlage einesVorschlags des Jugendwohlfahrtsausschusses gewählt (§35 Abs. 1 JGG). Auch Jugendschöffensollen erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein (§35 Abs. 2 JGG).

4.2 Der JugendstaatsanwaltLiteratur: Albrecht, Jugendstrafrecht, 2.Aufl. 1993, S.333ff.

Für den Jugendstaatsanwalt, der als solcher gem. §36 JGG bestellt werden muß, jedoch in die all-gemeine Staatsanwaltschaft bei den Landgerichten eingegliedert ist, gelten gem. §37 dieselben An-sprüche wie an den Jugendrichter. Auch der Jugendstaatsanwalt soll erzieherisch befähigt und in derJugenderziehung erfahren sein. Freilich zeigt die Forschung zum Jugendstaatsanwalt ebenfalls, daßdiese Ansprüche in der Praxis ganz überwiegend nicht durchgesetzt werden. Die Bedeutung desJugendstaatsanwalts hat im übrigen mit der wachsenden Bedeutung der Einstellung des Jugend-strafverfahrens gem. §45 JGG beträchtlich zugenommen (vgl. hierzu auch die Ausführungen zurDiversion).

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4.3 Die Jugendgerichtshilfe

Literatur: Lakies, Das KJHG und das neue JGG und die Arbeit der Jugendgerichtshilfe, Recht der Jugend 1991, S.206ff;Mommsen, Der Einfluß der Jugendgerichtshilfe auf die Entscheidung des Jugendrichters, Monatsschrift für Kriminolo-gie und Strafrechtsreform 1982, S.65ff; Schenker, Die Zusammenarbeit zwischen Jugendgerichtshilfe und Polizei, Zeit-schrift für Jugendrecht 1977, S.247ff; Weyel, Haftentscheidungshilfe durch die Jugendgerichtshilfe, DVJJ-Journal 1990,S.143fff; Wild, Jugendgerichtshilfe in der Praxis, 1989; Johne, R.: Flüchtlinge, Asylbewerber, Durchreisende. Was kanndie Jugendgerichtshilfe tun? DVJJ-Journal 1/1995, S. 41-43; Trenczek, Th.: Datenschutz in der Jugendgerichtshilfe.DVJJ-Journal 1991, S. 251ff; Dölling, D.: Die Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe unter besonderer Berücksichti-gung des Datenschutzes. DVJJ-Journal 1991, S. 242ff.; Laubenthal, Jugendgerichtshilfe im Strafverfahren, Köln u.a.1993; Bex, H.: Beschlagnahme von Akten der Jugendgerichts- und Jugendhilfe. DVJJ-Journal 4/2000, S. 409-412.

Die Jugendgerichtshilfe gilt als wesentliche Stütze des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrechtund als wesentliches „Einfallstor“ für sozialpädagogische und fürsorgerische Elemente in das Ju-gendstrafverfahren.

4.3.1 Organisatorische Zuordnung und konzeptionelle ÜberlegungenLiteratur: Laubenthal, Jugendgerichtshilfe im Strafverfahren, 1993, S. 47-56; Emig, O.: Brauchen wir eine spezialisierteJugendgerichtshilfe? DVJJ-Journal 1997, S. 237-240.

Die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe sind in §38 JGG geregelt. Die Jugendgerichtshilfe ist nach§38 Abs. 1 JGG Aufgabe des Jugendamts (vgl. auch §85 KJHG iV mit §2 III Nr. 8 KJHG). DieJGH ist deshalb nicht Teil der Justiz, sondern von dieser unabhängig. Insoweit unterscheidet sichdie Stellung der JGH von den Positionen der Erwachsenengerichtshilfe und anderer sozialer Dienstein der Justiz, die in die Justizorganisation eingegliedert sind.Zur konzeptuellen Orientierung der Jugendgerichtshilfe liegen verschiedene Auffassungen vor. So-weit die Organisation betroffen ist, variieren die Vorschläge zwischen Selbständigkeit und Speziali-sierung einerseits sowie Eingliederung in den allgemeinen Sozialdienst (des Jugend-und Sozial-amts) andererseits. Hinsichtlich der Tätigkeiten werden die Einbeziehung und Untergliederung inverfahrensbezogene Tätigkeit, Jugendhilfeorientierung/individuelle und systemische Verbesserungder Lebenslagen Jugendlicher und Gemeinwesenarbeit (Stadtteilarbeit) vorgeschlagen. Eine organi-satorische Verselbständigung und Spezialisierung ist allerdings bereits aus Datenschutzgesichts-punkten zu empfehlen. Denn die Vereinigung verschiedener Funktionen in einer Hand (Sozialhilfe,Jugendhilfe, Jugendgerichtshilfe) mag zu Situationen führen, in denen Konflikte und damit Hinder-nisse für die Jugendgerichtshilfefunktion entstehen (vgl. hierzu Vieten-Groß, D.: Die Anforderun-gen der Justiz an die Jugendgerichtshilfe: Kritische Betrachtungen zum Ist-Zustand und Versuch derEinordnung in die aktuelle Debatte. DVJJ-Journal 1997, S. 246-253, S. 250f).Im übrigen wird neuerdings verstärkt auf eine Dienstleistungsorientierung der Jugendhilfe (und da-mit auch der JGH) hingewiesen. Dies entspricht im übrigen der auch gesetzgeberisch gewolltenVerlagerung der Funktion der Jugendhilfe von Intervention auf Angebote (vgl. auch BielefelderErklärung zur Kinder- und Jugendpolitik, DVJJ-Journal 1997, S. 294-297).

4.3.2 Rechte und Pflichten

Die JGH soll die Persönlichkeit des Jugendlichen und die sozialen Umstände der Tat erforschen,einen Jugendgerichtshilfebericht anfertigen und in der Verhandlung den Bericht vortragen (§38 Abs.2 JGG). Darüber hinaus soll die JGH einen Vorschlag zu den Rechtfolgen der Straftat machen. DieJugendgerichtshilfe ist so früh wie möglich von der Einleitung eines Jugendstrafverfahrens zu unter-richten. Der Vertreter der JGH hat in allen Verfahrensphasen ein Äußerungsrecht, er hat ein umfas-sendes Verkehrsrecht mit dem in U-Haft befindlichen Beschuldigten oder Angeklagten (§93 Abs. 3JGG), schließlich ein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung (§50 Abs. 3 JGG) und das Recht

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auf nachgehende Betreuung und Überwachung des jugendlichen Straftäters (§38 Abs. 2 JGG). DieJGH gilt ferner als eine sozialpädagogische "Einbruchsstelle" im Jugendstrafverfahren. Insoweitkommt ihr nach den Vorstellungen des Gesetzgebers neben dem Jugendrichter auch eine Schlüssel-funktion für die Umsetzung des Erziehungsgedankens zu. Da die JGH dem Gericht, aber ebensodem jugendlichen Straftäter Hilfe leisten soll, ist ein Zielkonflikt zu erwarten. Denn letztendlichwird sie im Rahmen strafrechtlicher Sozialkontrolle tätig. Die JGH sollte deshalb dem Jugendlichengegenüber ihre Ermittlungsfunktion nicht verschleiern. Vielmehr muß sie (entsprechend §136 StPO)den Jugendlichen auf das Schweigerecht hinweisen (dieser hat als Beschuldigter keine Pflicht zurSelbstbelastung, sondern darf natürlich schweigen, wenn Fragen gestellt werden, die sich auf denNachweis des Tatvorwurfs und das Strafmaß auswirken können). Die JGH muß im Jugendverfahrenimmer herangezogen werden. Freilich kann sie ihre Tätigkeit selbstverantwortlich bestimmen. Wei-sungen des Jugendgerichts ist sie nicht unterworfen, insbesondere kann die JGH nicht dazu ge-zwungen werden, einen Bericht anzufertigen (Bex 2000). Umstritten ist, ob der JGH die Prozeß-kosten dann auferlegt werden können, wenn sie trotz Aufforderung des Gerichts keinen Berichtvorlegt und wenn deshalb die Hauptverhandlung vertagt werden muß. Während ein Teil der Litera-tur und Rechtsprechung der Auffassung ist, daß dem ordnungsgemäß geladenen Vertreter der JGHbei unentschuldigtem Nichterscheinen entsprechend den Regelungen für Zeugen etc gemäß §§51,77, 145IV, 467 II StPO, §56 GVG Kosten auferlegt werden können, lehnt die wohl herrschendeMeinung die entsprechende Anwendung mit der Begründung ab, weil eine vom Gesetzgeber nichtin Betracht gezogene Gesetzeslücke eben nicht vorliege.Umstritten ist auch, ob und inwieweit die Akten der JGH beschlagnahmt werden dürfen (zustim-mend LG Bonn Neue Zeitschrift für Strafrecht 1986, S.40; LG Trier DVJJ-Journal 2/2000, S.186ff). Freilich ist bei der Frage nach der Beschlagnahmefähigkeit von Akten der JGH auch derSozialdatenschutz einzubeziehen (§61ff KJHG). Für die Übermittlung von Daten aus den Akten desJugendamts an die Strafverfolgungsbehörden gilt folgendes. Für die Übermittlung von Sozialdatengem. §§35 I SGB I, 67 I SGB X bedarf es einer Befugnis. Eine solche Befugnis kann einmal in derEinwilligung des Betroffenen liegen (§§61 I SGB VIII, 67b I SGB X, 35 SGB I). Liegt eine Einwil-ligung nicht vor, dann ist zu prüfen, ob eine Weitergabe im Wege der sog. „einfachen Amtshilfe“möglich ist. Einfache Amtshilfe gem. §68 I SGB X ist dann zulässig, wenn schutzwürdige Belangedes Betroffenen nicht entgegenstehen. Werden schutzwürdige Belange geltend gemacht, so bedarfes für eine Weitergabe einer richterlichen Anordnung (§73 SGB X), mit der die Zulässigkeit und derUmfang der Datenübermittlung festgestellt werden. Das LG Siegen geht für den Fall des Fehlenseines entsprechenden richterlichen Beschlusses von einem Beschlagnahmeverbot aus (LG SiegenDVJJ-Journal 1/1996, S. 84f). Demgegenüber hat das Landgericht Trier ausgeführt, §§38 II, 3, 43 I,4 JGG stellten eine den allgemeinen Datenschutzbestimmungen der §§61 ff KJHG vorgehende be-reichsspezifische Regelung dar (LG Trier DVJJ-Journal 2/2000, S. 188). § 73 SGB X findet danachim Verhältnis JGH und Jugendgericht keine Anwendung. Im übrigen können Akten mit einemSperrvermerk der vorgesetzten Behörde versehen werden, was ihre Beschlagnahme entfallen läßt.Die JGH überwacht dann u.a. Auflagen und vollzieht die Betreuungsweisungen. Das 1. JGGÄndGhat der JGH auch die sog. Haftentscheidungshilfe übertragen.

4.3.3 Der JugendgerichtshilfeberichtNach §38 II JGG bringen die Vertreter der Jugendgerichtshilfe die erzieherischen, sozialen und für-sorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung. Zu diesem Zweckunterstützt die Jugendgerichtshilfe die beteiligten Behörden durch die Erforschung der Persönlich-keit, der Entwicklung und der Umwelt des Beschuldigten und äußert sich zu den Maßnahmen, diezu treffen sind. Damit wird der Jugendgerichtshilfebericht angesprochen, der in der Hauptverhand-lung durch einen Vertreter der JGH (möglichst durch denjenigen, der die Ermittlungen durchgeführtund den Bericht erstellt hat, vgl. §38 II, 4; hierdurch soll die Praxis der sog. „Gerichtsgeher“ einge-schränkt werden) vorgestellt werden und auch Angaben über die geeigneten Rechtsfolgen bzw. ju-

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gendgerichtlichen Sanktionen enthalten soll. Die entscheidende Grundlage des Berichts sollte derpersönliche Kontakt mit dem Jugendlichen sein. Dabei ist die JGH zur Objektivität verpflichtet, hatalso für den Jugendlichen günstige und ungünstige rechtsfolgenrelevante Umstände in den Berichtaufzunehmen.Die Jugendgerichtshilfepraxis ist heute in großstädtischen Bereichen auch geprägt durch Problemedes zunehmenden Anteils von ausländischen Jugendlichen an der JGH-Klientel. Dabei handelt essich nicht nur um die sog. 2. oder 3.Generation, sondern auch um Illegale, Asylbewerber, unbeglei-tete Flüchtlinge etc. (vgl. hierzu Johne, R.: Flüchtlinge - Asylbewerber - Durchreisende. Was kanndie Jugendgerichtshilfe tun? Erfahrungsbericht der JGH Frankfurt. DVJJ 1/1995, S. 41ff).

4.4 Der JugendverteidigerLiteratur: Bundesministerium der Justiz, Verteidigung in Jugendstrafsachen, 1987.

Das Erziehungsprinzip macht die Aufgabe des Strafverteidigers im Jugendstrafverfahren zu einembesonderen Problem. Denn er galt lange Zeit als potentieller "Störenfried", jedenfalls in der Rolleeines Strafverteidigers wie sie im Erwachsenenstrafverfahren unbestritten ist. Freilich sollte derStrafverteidiger nicht "miterziehen". Richtig ist es, wenn auch der jugendliche Angeklagte so wieder Erwachsene verteidigt wird und wenn deshalb der Verteidiger im Jugendstrafverfahren einseitigdie Interessen des Beschuldigten bzw. Angeklagten wahrnimmt. Die Grundsätze der notwendigenVerteidigung gelten auch im JGG (§68 JGG; vgl. hierzu LG Düsseldorf DVJJ-Journal 4/1997, S.440, mit Anm. Schmitz-Justen). Ist ein Verbrechen angeklagt, so ist die Mitwirkung eines Verteidi-gers auch dann notwendig, wenn die Sache im vereinfachten Jugendverfahren verhandelt wird(OLG Düsseldorf NStZ 1999, S. 211f). Darüberhinaus ist ein Verteidiger zu bestellen, wenn denErziehungsberechtigten die prozessualen Rechte entzogen worden sind, wenn Unterbringung drohtund wenn der Jugendliche in Untersuchungshaft genommen worden ist.

4.5 Sonstige: Jugendpolizei, Bewährungshilfe, ErziehungsberechtigteLiteratur: Ostendorf, H.: Jugendsachbearbeitung der Polizei unter besonderer Berücksichtigung der kriminalpolitischenEntwicklungen. DVJJ-Journal 1/1995, S. 103-107; Kuhnath, W.: PDV 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“. DVJJ-Journal 1/1997, S. 24ff.

Eine spezialisierte Jugendpolizei gibt es nicht. Freilich hat sich im Rahmen der Durchsetzung desJugendschutzes eine Spezialisierung innerhalb der Kriminalpolizei ergeben. Besondere Bedeutungfür die Jugendsachbearbeiter der Polizei wird der Zusammenarbeit mit Jugendstaatsanwaltschaftbzw. der Jugendgerichtshilfe auf den Gebieten der Einstellungen gem. §45 I und II (Diversion), derHaftentscheidungshilfe (§72a) sowie der Kinderdelinquenz beigemessen. Erörtert wird ferner eineVerlagerung der Einstellungskompetenz (gem. §45) auf die Polizei. Freilich widerspräche dies derbeherrschenden Stellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und dem Grundsatz, daßnur die Staatsanwaltschaft dazu befugt ist, abschließende Entscheidungen im Ermittlungsverfahren(Anklage oder Einstellung des Verfahrens) vorzunehmen. Auch eine besondere Jugendbewährungs-hilfe ist nicht vorgesehen. Vielmehr übernimmt die allgemeine Bewährungshilfe auch die Bewäh-rungsbetreuungen von Jugendlichen. Eine Besonderheit besteht im Hinblick auf die Erziehungsbe-rechtigten. Diese sind Verfahrensbeteiligte (§67 JGG) und können im Verfahren eigenständigeRechte geltend machen, insbesondere auch Rechtsmittel einlegen.

5. DAS JUGENDSTRAFVERFAHREN5.1 Kinder und StrafverfahrenLiteratur: Walter-Freise, H.: Erkennungsdienstliche Behandlung von Kindern. DVJJ-Journal3-4/1995, S. 314-317; VGFreiburg NJW 1980, S. 901Im Zusammenhang mit von Kindern begangenen Straftaten stellt sich die Frage, ob und inwieweitgegen sie strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, insb. erkennungsdienstliche Maßnahmen, zulässig

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sind. Die Frage ist umstritten. Richtig ist aber die Auffassung, die StPO enthalte keine Eingriffsbe-fugnisse gegen kindliche Straftäter. Denn gem. §152 StPO bestehen Verfolgungspflicht und Verfol-gungsrecht nur dann, wenn es sich um Straftaten handelt, die verfolgt werden können. Straftatenvon Kindern können aber nicht verfolgt werden; eine Hauptverhandlung gegen sie ist nicht möglich,da sie schuldunfähig sind. Insoweit würde ein Ermittlungsverfahren aber ins Leere laufen. §81bStPO ermächtigt zu Zwangseingriffen, darunter die erkennungsdienstliche Behandlung von Be-schuldigten. Auch dies bedeutet, daß gegen Kinder, die nicht Beschuldigte sein können, keine pro-zessualen Zwangsmaßnahmen zulässig sind. Im übrigen läßt auch das Polizeirecht Erkennungs-dienstliche Maßnahmen gegen Kinder nur dann zu, wenn das Ziel die Verhütung weiterer Straftaten,also präventiv ausgerichtet ist.

5.2 Die Politik der Diversion: §§ 45, 47 JGGLiteratur: Heinz/Storz, Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, 1992; Albrecht, P.A.: Ju-gendstrafrecht, 2. Aufl. 1993, S.116ff; Kaiser, G.: Diversion. In: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl., Hei-delberg 1993, S.88ff.; Heinz, W.: Die Jugendstrafrechtspflege im Spiegel der Rechtspflegestatistiken. AusgewählteDaten für den Zeitraum 1955-1988. Monatsschrift für Kriminologie 1990, S. 210ff.; Meyer/Hassemer, 10 Jahre Arbeitder Brücke-Projekte - Standort und Perspektiven. DVJJ-Journal 1990, Nr. 133, S. 36-40; Hering/Sessar, PraktizierteDiversion. Das „Modell Lübeck“ sowie die Diversionsprogramme in Köln, Braunschweig und Hamburg. Pfaffenweiler1990; Heinz, W.: Diversion im Jugendstrafrecht und im Allgemeinen Strafrecht. Teil 3. DVJJ-Journal 2/1999, S. 131-148.

5.2.1 Theoretische Grundlagen der Diversion

Mit Diversion wird eine rechtspolitische Strömung bezeichnet, die danach trachtet, den jugendli-chen Straftäter um ein volles Jugendstrafverfahren "umzuleiten" und damit insb. die Hauptver-handlung zu vermeiden. Die Praxis stützt sich in der Umsetzung von Diversionsbestrebungen pri-mär auf die Norm des §45 JGG. Diese erlaubt es dem JStA, ein Verfahren unter bestimmten Bedin-gungen einzustellen und von der Anklage beim Jugendgericht abzusehen. Von dieser Befugnis wur-de in den letzten Jahren immer stärker Gebrauch gemacht. Die Anwendungsmöglichkeiten wurdendurch das 1. JGÄndG erweitert. Die Diversion begründet sich ganz wesentlichen mit der Erwartung,man könne Stigmatisierung verhindern oder doch reduzieren, wenn ein jugendlicher Straftäter nichtdas volle Strafverfahren durchläuft, sondern möglichst früh und zwar in Form "ambulanter" Maß-nahmen erzieherisch behandelt wird. Insoweit ist ein Bezug der Diversion zum sog. Labeling Ap-proach unverkennbar. Freilich spielen auch Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie eine Rolle.§45 Abs. 1 JGG erlaubt es dem JStA zunächst ein Verfahren gegen einen jugendlichen Beschuldig-ten einzustellen, wenn die Voraussetzungen des §153 StPO (Einstellung eines Strafverfahrens we-gen geringer Schuld (Bagatellfälle) vorliegen. Ferner kann der Jugendstaatsanwalt von der Verfol-gung dann absehen, wenn eine erzieherische Maßnahme bereits durchgeführt oder eingeleitet ist undweder eine Beteiligung des Jugendrichters noch die Erhebung einer Anklage für erforderlich gehal-ten wird. Mit dieser Einstellungsvariante vermag der Jugendstaatsanwalt auch, auf bereits durchge-führte Erziehungsmaßnahmen in Familie und Schule zu reagieren und festzustellen, daß wegen derbereits durchgeführten Erziehung kein weiterer durch das Jugendgericht aufzugreifender Erzie-hungsbedarf besteht. §45 Abs. 2, S. 2 JGG stellt fest, daß einer solchen erzieherischen Maßnahmedas Bemühen des Jugendlichen um einen Ausgleich mit dem Tatopfer gleichsteht. Der besonderenBetonung von Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Ausgleich in neuerer Zeit wurde damit im 1.JGÄndG Rechnung getragen. Insoweit ist §45 auch Ausdruck der Subsidiarität jugendkriminal-rechtlicher Eingriffe: ist das Notwendige bereits im privaten, familiären Bereich veranlaßt, dannwäre es unverhältnismäßig, würden darüber hinaus noch staatliche Maßnahmen eingeleitet. Im übri-gen entspricht dies auch dem Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts gem. Art. 6 Abs. 2 Grundge-setz. Während die in §§45 Abs. 1 und 2 JGG Einstellungsmöglichkeiten dem Jugendstaatsanwaltkeine Befugnis einräumen, selbst eine erzieherische oder andere Maßnahme anzuordnen, erlaubt es

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§45 Abs. 3 JGG, bei dem Jugendrichter die Erteilung einer Ermahnung, von Weisungen oder Aufla-gen anzuregen und, wenn der Jugendliche geständig ist und der Jugendrichter dieser Anregung ent-spricht, von der weiteren Verfolgung abzusehen.Einstellungen des Verfahrens können auch dann noch erfolgen, wenn Anklage erhoben wurde undeine Hauptverhandlung durchgeführt wird. §47 JGG erlaubt es dem Jugendrichter, bei Zustimmungdes Jugendstaatsanwalts, unter im wesentlichen denselben Bedingungen wie in §45 JGG genannt,das Verfahren einzustellen.Die neuere Entwicklung der Diversionspolitik verweist auf eine stärkere Einbeziehung der Polizeiin einer aktiven Rolle (vgl. beispw. die Gemeinsame Anordnung der Senatsverwaltungen für Justiz,für Inneres und für Schule, Jugend und Sport zur vermehrten Anwendung des §45 JGG im Verfah-ren gegen jugendliche und Heranwachsende (Diversionsrichtlinien) vom 22. März 1999; abgedrucktin DVJJ Journal 2/1999, S. 201ff). So traten in Schleswig-Holstein zum 1.7.1998 Richtlinien inKraft, nach denen die Polizei die Einstellungsvoraussetzungen des §45 I JGG dadurch herbeiführenkann, indem sie mit dem Beschuldigten anlässlich der Vernehmung ein „erzieherisches, normver-deutlichendes Gespräch“ führt oder bei Beschuldigten eine sofortige Entschuldigung bzw. eine so-fortige Schadenswiedergutmachung anregt (Bericht über die Erfahrungen im praktischen Umgangmit den neuen Richtlinien zur Förderung der Diversion bei jugendlichen und heranwachsenden Be-schuldigten. DVJJ-Journal 1/2000, S. 78-83). Nach den Berliner Diversionsrichtlinien kommt eineEinstellung nach §45 I in der Regel dann in Betracht, wenn es sich um die „Tat eines erstmals auf-fälligen Jugendlichen sowie um ein jugendtypisches Fehlverhalten mit geringem Schuldgehalt undgeringen Auswirkungen handelt und wenn kein Bedarf für erzieherische Massnahmen vorhandenist. Jugendtypische Straftaten mit geringem Gewicht werden in einem Katalog aufgeführt, wonachhierunter insbesondere fallen: §§242, 246, 259 bei Schadenshöhen bis zu 100 DM (50 Euro); Betrugbis zu 100 DM), Fälle von Verweisungen auf §248a; §248b; §265a; leichte Fälle der Sachbeschädi-gung; Hausfriedensbruch; leichte Fälle der Nötigung und Bedrohung; Beleidigung; fahrlässige Kör-perverletzung; einfache Körperverletzung bei leichtem Angriff und leichten Folgen; Fahren ohneFahrerlaubnis in leichten Fällen sowie leichte Verstöße gegen das PflVG, leichte Fälle des §142;geringfügige ausländerrechtlche Verstösse; geringfügige Verstösse gegen das Urheberrechtsgesetzsowie geringfügige Vergehen gegen das Waffengesetz. Erzieherische Massnahmen sollen dann ent-behrliche sein, wenn Unrechtseinsicht gezeigt wurde oder wenn die Tat länger zurückliegt und derJugendliche in der Zwischenzeit nicht mehr auffällig geworden ist.Eine Einstellung nach §45 II ist insbesondere vorgesehen für wiederholte Begehung solcher Delikte,die gem. §45 I im erstmaligen Fall eingestellt werden, sowie für schwerere Straftaten. Bei der Be-rücksichtigung von bereits durchgeführten oder anzuregenden Erziehungsmassnahmen ist insb. Zudenken an die Erziehungsberechtigten, das Jugendamt, die Schule sowie den Ausbilder. Darüberhinaus sind einzubeziehen alle präventiv wirkenden Massnahmen, die auf Grund der Tat getroffenworden sind und auf tat und Täter individuell abgestimmt worden sind. Zu berücksichtigen sindauch solche Leistungen, die der jugendliche Beschuldigte selbst vorschlägt: hierunter können fallen:Entschuldigung, Schmerzensgeldzahlung, TOA, Arbeitsleistungen, Teilnahme an polizeilichemVerkehrsunterricht; normverdeutlichendes Gespräch mit dem ermittelnden Polizeibeamten; erziehe-risches Gespräch der Jugendhilfe oder des Staatsanwaltes.Sind Einstellungen nach §45 I, II nicht möglich, so ist die Anwendung des §45 III zu prüfen. Diesessetzt voraus: glaubhaftes Geständnis, Einschaltung des Jugendrichters scheint geboten, Erhebungder Anklage scheint nicht geboten. Anwendung soll §45 III in Fällen im Grenzbereich zur mittlerenKriminalität sowie bei Wiederholter leichter bis mittlerer Kriminalität finden.Nach den Richtlinien hat in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Polizei zunächst zu prüfen, ob eineEinstellung gem. §45 I, II in Betracht kommt. Wird dies bejaht, so haben ausser einer verantwortli-chen Vernehmung und einem Kontakt mit den Erziehungsberechtigten weitere Ermittlungen imsozialen Umfeld des Jugendlichen zur Vermeidung unnötiger Stigmatisierung zu unterbleiben. Inder Vernehmung durch einen speziell geschulten Beamten ist den für die Diversionsentscheidung

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relevanten Umständen besondere Beachtung zu schenken. Kommt eine Einstellung nach §45II inbetracht, so führt der vernehmende Beamte mit dem jugendlichen Tatverdächtigen ein „normver-deutlichendes“ Gespräch“. Hält der Vernehmungsbeamte eine Einstellung nach §45 II bei erst nochdurchzuführenden erzieherischen Maßnahmen für angemessen, so klärt der vernehmende Beamt mitder Staatsanwaltschaft telephonisch ab, ob ein sog. „Diversionsmittler“ (Berliner Büro für Diversi-onsvermittlung) eingeschaltet werden soll. Ist die Staatsanwaltschaft einverstanden, so soll der Ju-gendliche über die durch die Diversionsvermittlung ggfs. angeregten Leistungen etc, aufgeklärtwerden, insb. Darüber, dass dies freiwillig ist und ggfs. die Voraussetzung für eine Einstellung nach§45 II schafft. Ist der Jugendliche einverstanden, so wird der Diversionsmittler eingeschaltet, derentsprechende erzieherische Massnahmen einleitet und darüber die Polizei unterrichtet. NachRückmeldung werden die Akten an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die die Durchführung dererzieherischen Massnahme überwachte und die JGH verständigt.

5.2.2 Unbeabsichtigte Nebenfolgen und kritische Erwägungen zur Diversion: Die Ausweitungdes „Netzes“ (Sozialer Kontrolle) und anderes

Die teilweise mit von jugendlichen Tatverdächtigen abverlangten Leistungen versehenen Einstel-lungen des Strafverfahrens bzw. „Umleitungen“ um die Jugendjustiz haben zu der Annahme ge-führt, mit dem Konzept der Diversion könne das „Netz“ Sozialer Kontrolle ausgeweitet wordensein. Diese Kritik wurde insb. in solchen Systemen geäußert, die durch das sog. Opportunitätsprin-zip geprägt sind und in denen die Polizei auf die Einleitung eines Strafverfahrens verzichten kann(vor allem common law Systeme). In Deutschland veranlasst jedoch das Legalitätsprinzip die Poli-zei dazu, Tatverdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, die allein das Nichtverfol-gungsrecht gem §45 JGG (bzw. §§153f StPO) hat. Insoweit ist in Deutschland wohl nicht von einerAusweitung des Netzes in dem Sinne auszugehen, daß nunmehr solche Fälle, die vorher nicht inErmittlungsverfahren aufgenommen worden wären, formell erfasst und dann in Diversionsprojekte„umgeleitet“ würden. Jedoch könnte immerhin dort, wo vorher von einer folgenlosen EinstellungGebrauch gemacht worden ist, nunmehr die Einstellung mit einer zusätzlichen Verpflichtung desJugendlichen ausgestattet werden.Kritisch diskutiert werden dann die Kompetenzerweiterungen in der Jugendstaatsanwaltschaft (unddie Reduzierung der Bedeutung des Jugendgerichts), Probleme des Rechtsstaatsprinzips, möglicheVerletzungen des Schuldgrundsatzes und die Frage der Gleichbehandlung. Gerade im Zusammen-hang mit der Gleichbehandlung jugendlicher Tatverdächtiger sind freilich die in den einzelnen Bun-desländern erstellten „Diversionsrichtlinien“ zu nennen, mit denen die Justizverwaltung versucht,eine Vereinheitlichung der jugendstaatsanwaltschaftlichen Einstellungspraxis zu erzielen. DieRichtlinien beruhen auf der in §§146, 147 GVG verankerten Weisungskompetenz.

5.3 Zwangsmittel, insbesondere Untersuchungshaft

Walter, Untersuchungshaft und Erziehung bei jungen Gefangenen, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsre-form 1978, S.337ff; Dünkel/Meyer, Jugendstrafe und Jugendstrafvollzug, Teilband 1, 1985; Albrecht, P.-A., Jugend-strafrecht, 2.Aufl. 1993, S.230ff; Matenaer, H.: Haftentscheidungshilfe im Jugendstrafverfahren in Nordrhein-Westfalen. DVJJ-Journal 3-4/1995, S. 354f.; Bindel-Kögel, G., Heßler, M.: Vermeidung von Untersuchungshaft durchJugendhilfe. DVJJ-Journal 1997, S. 297-307; Will, H.-D.: U-Haftvermeidung in Thüringen. Evaluation einer Vereinba-rung zwischen Jugendhilfe und Justiz. DVJJ-Journal 1999, S. 49-64; Bindel-Kögel, G., Heßler, M.: Vermeidung vonUntersuchungshaft bei Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Justiz. Das Berliner Modell. Pfaffen-weiler 1999.

Die Haftgründe ergeben sich auch für jugendliche Tatverdächtige aus der Strafprozeßordnung. DieStPO gilt insoweit auch für jugendliche Straftäter. Sonderregelungen bestehen in §§71ff JGG, woinsbesondere schädlichen Einflüssen der U-Haft begegnet werden soll. Hierzu gehören auch die

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Alternative der Heimunterbringung und die Haftentscheidungshilfe durch die JGH, durch die Unter-suchungshaft für jugendliche Straftäter vermieden bzw. verkürzt werden soll. Das Jugendgerichts-gesetz schränkt die Anordnung und den Vollzug von Untersuchungshaft gegenüber Jugendlichen imVergleich zur StPO ein. Denn selbst wenn Haftgründe vorliegen darf U-Haft nur dort angeordnetund vollzogen werden, wo der Zweck der Untersuchungshaft (nämlich die Sicherung des Verfah-rens) nicht durch vorläufige Anordnungen zur Erziehung oder anderes erreicht werden kann (§72JGG). Gem. §71 I, II JGG sind vorläufige Anordnungen über die Erziehung entweder Weisungengem. §10 JGG oder erzieherische Hilfen des KJHG bzw. die Unterbringung in einem Jugendhilfe-heim.

Als besonderes Problem ist die in der Praxis teilweise zu beobachtende Funktion der U-Haft alsKrisenintervention oder "Schnupper"-haft zu nennen. Der Vollzug der Untersuchungshaft selbst istbislang noch nicht gesetzlich geregelt. Dies begegnet erheblichen Bedenken. Freilich liegen Entwür-fe vor. Zur Anwendung kommt daher immer noch die Untersuchungshaftvollzugsordnung. Hierinkommt zum Ausdruck, daß auch die Untersuchungshaft bei Jugendlichen erzieherisch gestaltet seinsoll. Soweit aber die Untersuchungshaftvollzugsordnung eine Arbeitspflicht des jugendlichen U-Häftlings vorsieht, begegnet dies erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn die Untersu-chungshaft wird gegen einen Beschuldigten vollstreckt, der bis zu einem rechtskräftigen Urteil alsunschuldig zu gelten hat. Deshalb dürfen in der U-Haft nur solche Beschränkungen und Pflichtenauferlegt werden, die dem Zwecke der U-Haft, nämlich Verfahrenssicherung, dienen.

Zu den Voraussetzungen der Anordnung einer DNA-Analyse bei Jugendlichen und Heranwachsen-den vgl. AG Hamburg Strafverteidiger 1/2001, S. 11-13.

6. DAS SANKTIONENSYSTEM DES JUGENDGERICHTSGESETZES

Literatur: BAG, Ambulante Ambulante sozialpädagogische Maßnahmen für junge Straffällige, 2. Aufl. 1986; Wolf,Strafe und Erziehung nach dem Jugendgerichtsgesetz, 1984; Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren;Bundesministerium der Justiz, Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, 1991; Dünkel, Jugend-strafe und Jugendstrafvollzug, 1990; Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. 4. Aufl. München1994, S. 181-203.

6.1 Das Konzept der Erziehungsmaßregeln

Literatur: Kerner/Kästner, Gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege, Bonn 1986; Schmidt-Strunk/Südhoff, „MeinLebensweg“ als Thema eines sozialen Trainingskurses. DVJJ-Journal 1/1993, S. 75ff; Kaiser/Schöch, Kriminologie,Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 4. Aufl., München 1994, S. 197ff; Winter, F., Gemeindenahe Konfliktregelung: Täter-Opfer-Ausgleich in einem Bürgerhaus. DVJJ-Journal 1993, S. 277ff.; Kirstein, W.: Sozialer Trainingskurs und Betreu-ungsweisung. Ambulante Maßnahmen für mehrfachauffällige Jugendliche und Heranwachsende in Baden-Württemberg- Was wird angeboten? In: Landesgruppe Baden-Württemberg der DVJJ (Hrsg.): Mehrfach Auffällige. Ambulante Hil-fen und Maßnahmen als Alternativen zum Freiheitsentzug. Konstanz 1996, S. 43-62; Bizer, Kostentragungspflicht fürdie jugendrichterliche Weisung, einen sozialen Trainingskurs zu besuchen. Zeitschrift für Jugendrecht 1991, S. 616ff;Meyer, Zur Kostenträgerschaft bei ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz. DVJJ-Journal 1993, S.62ff; Pfeiffer, H.: Ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht - Wer trägt die Kosten? Landesgruppe Baden-Württemberg der DVJJ (Hrsg.: a.a.O. 1996, S. 63ff; Netzig/Wandrey, Was ist drin, wenn TOA draufsteht? Zur Ent-wicklung und Etablierung von Standards für den Täter-Opfer-Ausgleich. DVJJ-Journal 1/1996, S. 6ff; Miehe, O.: ZurAnordnung von Hilfen zur Erziehung nach §§27-35 SGB VIII durch Vormundschafts- und Jugendrichter. Yessiou-Faltsi, P. u.a. (Hrsg.): Recht in Europa. Festschrift für Hilmar Fenge zum 65. Geburtstag. Hamburg 1996, S. 429-460.

Erziehungsmaßregeln sind in §§9ff JGG geregelt. Sie werden angeordnet aus Anlaß einer Straftateines Jugendlichen und sollen die Lebensführung des Jugendlichen erzieherisch wirksam beeinflus-sen. Unzumutbare Anforderungen dürfen nicht gestellt werden. In §9 sind genannt: Weisungen,Erziehungsbeistandschaft, Heimerziehung und Erziehung in einer betreuten Wohnform. Die Vor-

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aussetzungen der Erziehungsmaßregeln sind ansonsten auch in §5 JGG angesprochen. Erziehungs-maßregeln werden „aus Anlaß“ einer Straftat angeordnet. Dies heißt, daß aus einer Straftat das Be-dürfnis nach Einwirkung auf die Lebensführung (zur Vermeidung weiterer Straftaten) ableitbar seinmuß. Im übrigen ist auch darauf zu achten, ob Erziehungsmaßregeln ausreichen (§5 II). Reichen sienicht aus, dann ist an Zuchtmittel oder Jugendstrafe zu denken. Kritik richtet sich auf die Unbe-stimmtheit der Erziehungsmaßregeln und das Problem des Familienschutzes in Art. 6 GG.Die Erziehungsbeistandschaft und die Heimerziehung haben keine quantitative Bedeutung. Im übri-gen entstehen im Zusammenwirken von Jugendgericht, Erziehungsberechtigten sowie Jugendamtinsb. in der Durchführung von Hilfe zur Erziehung erhebliche rechtsdogmatische und praktischeProbleme (Miehe 1996). Der Heimerziehung kommt in der neueren Diskussion um adäquate Reak-tionen auf erheblich straffällige Kinder und Jugendliche wieder mehr Bedeutung zu. Hier geht esinsbesondere um die Frage der Unterbringung in geschlossenen Heimen, die in gestalt der Fürsorge-erziehung in den sechziger und siebziger Jahren heftig kritisiert worden war.Im Zusammenhang mit Weisungen (§10) sind die neuen ambulanten Maßnahmen wie SozialesTraining und Täter-Opfer-Ausgleich, Betreuungsweisung und gemeinnützige Arbeit zu nennen.Untersuchungen zur Verbreitung Sozialer Trainingskurse zeigen beispw. für Baden-Württemberganfang der neunziger Jahre, daß in 38 von 51 Jugendamtsbezirken derartige Kurse ständig angebo-ten werden. Dies bedeutet wiederum, daß in einzelnen Regionen Trainingskurse als Angebot nichtoder jedenfalls nicht regelmäßig zur Verfügung stehen. Die Zielgruppen der Sozialen Trainingskur-se sind offensichtlich recht unterschiedlich. Im Vordergrund stehen: Mehrfachauffällige, Ersttätermit erheblicher Kriminalität, Jugendliche in sozialen Problemlagen, Jugendliche, die Gangs etc.angehören. Die Sozialen Trainingskurse scheinen darüber hinaus von den Richtern und Staatsan-wälten nicht akzeptiert zu werden. Begründet wird dies mit einer mangelnden Sanktionseignung derTrainingskurse. Befürchtet wird, daß dies von den Jugendlichen als eine Art Freizeitangebot miß-verstanden werde. Etwa 600 jugendliche Straftäter haben 1991 in Baden-Württemberg an SozialenTrainingskursen teilgenommen. Für Betreuungsweisungen gilt, daß 1991 etwa 500 Weisungen statt-gefunden haben. 1992 und 1993 ist allerdings von einer gewissen Zunahme des Angebots wie derZahl der einbezogenen Jugendlichen auszugehen (vgl. hierzu Dünkel, F. u.a.: Neue ambulanteMassnahmen nach dem JGG – eine bundesweite Bestandsaufnahme. DVJJ Journal 1999, S. 170-184).Im Zusammenhang mit Sozialen Trainingskursen ist die Kostentragungspflicht umstritten. DieKosten für die Durchführung von Weisungen und Auflagen (§§10, 15) sind nicht als Verfahrens-kosten vom Staat zu tragen bzw. dem Verurteilten aufzuerlegen. Zuden Verfahrenskosten gem.§464a I, 1 StPO gehören diese Aufwendungen nicht. Auch der Begriff der Vollstreckungskostennach §464a I, 2 StPO passt hierauf nicht, da Weisungen nicht vollstreckt (im Sinne von erzwungen)werden können. Die mit der Befolgung einer Weisung entstehenden Kosten sind auch keine not-wendigen Auslagen des Verurteilten gem. §464a II StPO. Als Jugendhilfemaßnahme lösen Weisun-gen keine Kostenpflicht nach §91 KJHG aus (kein Verweis auf §29 KJHG). Insoweit verbliebt aberdie Kostentragungspflicht der Einrichtung, die den Kurs anbietet. Insoweit ist das Angebot aller-dings abhängig von der finanziellen Ausstattung der freien und öffentlichen Jugendhilfeträger. In §27 I KJHG ist der Anspruch auf erzieherische Hilfe geregelt. Nach Absatz 2 richten sich Art undUmfang der Hilfen nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall. Berechtigt und verpflichtet zurPrüfung ist das Jugendamt. Entsprechende Entscheidungen können von den Verwaltungsgerichtenüberprüft werden. Nun wird teilweise vertreten, die Jugendgerichtshilfe sei verpflichtet, sozialeTrainingskurse anzubieten und durchzuführen. Argumentiert wird, dem Jugendrichter obliege es indiesem Fall, über Anordnung, Umfang und Beendigung des Trainingskurses zu entscheiden, unddamit die nach dem KJHG bestehenden Aufgaben der Jugendhilfe zu konkretisieren. Im Ergebniswürde dann der Jugendrichter mit der Weisung feststellen, daß die Voraussetzungen des §27 IKJHG vorliegen. Freilich unterscheidet sich der soziale Trainingskurs von der Betreuungsweisunginsoweit als letztere in §38 II, 7 der JGH zur Durchführung übertragen wird. Für den Sozialen Trai-

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ningskurs bestehen aber keine gesetzlichen Regelungen. Insoweit könnte aber der Standpunktbestritten werden, daß durch eine Weisung gem. §10 I, Nr.6 JGG eine öffentlichrechtliche Leis-tungspflicht der Jugendhilfe ausgelöst wird.Laufzeit und nachträgliche Änderungen der Weisungen sind in §11 geregelt. Aus §11 III ergibt sich,daß bei (schuldhafter) Nichterfüllung von Weisungen Ungehorsamsarrest (bis zu 4 Wochen) ver-hängt werden kann. Die Erzwingbarkeit von Weisungen über den Weg des Ungehorsamsarrests hatim Zusammenhang mit gemeinnütziger Arbeit zur Frage geführt, ob hierin unzulässige Zwangsar-beit gesehen werden kann (die gem. Art 12 III GG nur bei richterlich angeordnetem Freiheitsentzug,oder gem. Art. 12 II GG im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentli-chen Dienstleistungspflicht zulässig ist). In BVerfGE 74, 102ff (NStZ 1987, 502) wird ausgeführt,die gem. §10 angeordnete Arbeitsweisung, die über §11 III erzwingbar ist, berühre den Schutzbe-reich des Art. 12 III GG nicht.

6.2 ZuchtmittelLiteratur: Laue, Ch.: Jugenadarrest in Deutschland. DVJJ-Journal 1/1995, S. 91-95; Hinrichs, K.: Die Durchführung desJugendarrestes in den Alten Bundesländern. Auswertung zweier Befragungen 1986 und 1991. DVJJ-Journal 1/1993, S.58ff.; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 12. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S. 102-113.

Zuchtmittel bestehen aus Auflagen (§15 JGG), Jugendarrest (§16 JGG) und Verwarnung (§14JGG). Eine Ahndung mit Zuchtmitteln hat dann zu erfolgen, wenn Jugendstrafe nicht geboten ist(§13 JGG). Die Zuchtmittel haben disziplinierenden Charakter. Sie sollen dem jugendlichen Straf-täter eindringlich klar machen, daß er Unrecht getan hat (und insoweit natürlich auch erzieherischwirken). Besonders umstritten ist seit langer Zeit der Jugendarrest, der als Freizeitarrest, Kurzarrestund Dauerarrest verhängt werden kann. Der Dauerarrest kann zwischen 1 und 4 Wochen liegen.Eingeführt wurde der Jugendarrest im Jahre 1940, wobei mit diesem Zuchtmittel auf "an sich gutar-tige" Jugendliche gezielt wurde, für die der Jugendstrafvollzug als unangemessen und für die Erzie-hungsmaßnahmen wegen fehlender Sozialisationsdefizite als nicht erforderlich angesehen wurden.Der BGH (BGHSt 18, 207ff) definierte im Jahre 1963 den Jugendarrest als Ahndungsmittel eigenerArt, mit dem sowohl Sühne der Tat als auch Erziehung verfolgt werde. Nach den Richtlinien zumJGG kommt der Jugendarrest in Betracht bei nicht allzu schweren Verfehlungen gutgearteter Ju-gendlicher, die durch eine kurze, strenge Freiheitsentziehung, den damit verbundenen Zwang zurSelbstbesinnung und die Betreuung während des Arrests noch erzieherisch beeinflusst werden kön-nen. Es handelt sich beim Arrest um eine kurze Freiheitsentziehung, deren pädagogischer Nutzenbezweifelt und die wohl allgemein als Vorstufe zur Jugendstrafe betrachtet wird. In der Diskussionum den Jugendarrest lassen sich im wesentlichen zwei Positionen beobachten, deren eine eine voll-ständige Abschaffung des Jugendarrests vorschlägt, deren andere aber eine pädagogisch orientierteReform des Jugendarrests bevorzugt. Freilich wäre mit einer solchen Neuorientierung des Jugendar-rests unklar, wo diese Sanktion dann eingeordnet werden könnte. Denn der disziplinierende Cha-rakter ginge verloren. Als Zuchtmittel könnte der Arrest nicht mehr gelten. Vielmehr würde es sichdann tatsächlich um eine Vorstufe zur Jugendstrafe handeln. Diskutiert wird seit längerem auch dersog. Einstiegsarrest, mit dem in der Kombination von Arrest und zur Bewährung ausgesetzter Ju-gendstrafe ein kurzer Freiheitsentzug („Schnupperhaft“) dem jugendlichen Straftäter der Ernst derLage deutlich gemacht werden soll. Die derzeit herrschende Meinung lässt auf der Basis von §8 II,III JGG freilich zu Recht eine Kombination zwischen Jugendarrest und einer zur Bewährung aus-gestezten Jugendstrafe nicht zu (vgl. Bay ObLG StV 1998, S. 331).Unter den in §11 III genannten Bedingungen kann sog. Ungehorsamsarrest für die Nichterfüllungvon Weisungen und Auflagen angeordnet werden. Der Ungehorsamsarrest tritt dabei nicht an dieStelle der Weisungen und Auflagen (wie beispw. die Ersatzfreiheitsstrafe bei nicht beitreibbarerGeldstrafe), die schuldhaft nicht erfüllt wurden, sondern stellt eine selbständige Sanktion für dieVerletzung der durch den Jugendrichter auferlegten Pflichten dar. Insbesondere bei Weisungen, die

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auf Akzeptanz durch den Jugendlichen angelegt sein sollten, gilt der Ungehorsamsarrest (und derhierin enthaltene Zwang) als systemwidrig. Freilich scheint Ungehorsamsarrest selten angewendetzu werden. So ergab eine Untersuchung der Praxis des Hamburger Jugendgerichts folgende Resul-tate:

1991 1992 1993 1994Verfahrenserledi-gungen insgesamt

3086 2795 2939 2534

Davon: Arbeits-leistungen

417 397 476 388

Geldauflagen 454 312 458 424Betreuungswei-sungen

187 158 231 226

Schadenswieder-gutmachung

86 124 105 123

Kombinationen 214 170 47 26ArrestbewehrteWeisungen undAuflagen

1358 1161 1317 1187

Vollstreckte Un-gehorsamsarreste

7 8 10 12

Ungehorsamsar-rest in %

0,5 0,7 0,8 1,0

Quelle: Hinrichs, K.: Weisungen und Auflagen brauchen keinen Zwang durch Jugendarrest. DVJJ-Journal 1/1996, S.59ff.

6.3 JugendstrafeLiteratur: Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 12. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S. 114-147; Kaiser/Schöch, Kriminologie,Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 4. Aufl., München 1994, Fälle 15, 16.

Die Jugendstrafe (§§17, 18 JGG) wird dann angeordnet, wenn in der Straftat eines Jugendlichen"schädliche Neigungen hervorgetreten sind oder wenn die Schwere der Schuld Jugendstrafe fordert(Generalprävention!). Sie beträgt mindestens 6 Monate und höchstens 5 Jahre. Droht das Erwachse-nenstrafrecht aber Freiheitsstrafe von mehr als 10 Jahren an (Kapitaldelikte), dann erweitert sich derRahmen der Jugendstrafe auf bis zu 10 Jahre. Die Unter- und Obergrenzen der Jugendstrafe werdenbegründet mit erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten.Auch die Jugendstrafe ist (vor allem als nicht zur Bewährung ausgesetzte Strafe) sehr umstritten.Dies hängt wesentlich mit den derzeitigen Bedingungen im Jugendstrafvollzug zusammen, der wohlkaum als effizientes erzieherisches Mittel eingestuft werden kann. Insoweit wäre aber danach zufrgen, ob und inwieweit mit der Verhängung einer Jugendstrafe das Ziel einer erzieherisch wirksa-men Beeinflussung der „schädlichen“ Neigungen und damit der Zukunft eines Jugendlichen über-haupt erreicht werden kann. Angesprochen ist damit die Frage der Geeignetheit (vgl. dazu auchOLG Schleswig Strafverteidiger 1985, S. 420). Die hiermit entstehenden, auch verfassungsrechtli-chen Implikationen werden in der Regel mit dem Argument übergangen, daß eine gesetzgeberischeEntscheidung für diese Erziehungsstrafe vorliege (Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz. Kommentar.1991, §17 Rdnr. 10). Mit der Voraussetzung der "schädlichen Neigungen" soll auf Persönlichkeits-mängel des jugendlichen Straftäters reagiert werden, die ohne eine "Gesamterziehungsanstrengung"nicht beseitigt werden können und ohne eine solche Einwirkung zu weiteren (und zwar erheblichen,LG Gera StV 1999, S. 660) Straftaten führen werden. Schädliche Neigungen müssen zum Zeitpunktdes Urteils festgestellt werden. Deshalb ist in der Beurteilung auch das Nachtatverhalten zu berück-

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sichtigen (BGH StV 1998, S. 331). Das gängige Verständnis der schädlichen Neigungen beziehtsich auf eine Entwicklungsstörung oder Entwicklungsgefährdung eines Ausmaßes, das die Bege-hung weiterer nicht unerheblicher Straftaten befürchten läßt. Insoweit enthält die Definition nebeneiner Zustandsbeschreibung auch ein prognostisches Element (nicht unerhebliche Straftaten in derZukunft). Die Definition "schädlicher Neigungen" kann freilich präzise und nachvollziehbar nichtgelingen. Deshalb wird zurecht die Abschaffung dieser Voraussetzung vorgeschlagen. Fraglich istdann aber, was anstelle dieser Voraussetzung treten könnte. Die Verhängung wegen Schwere derSchuld verweist auf den Strafzweck der Generalprävention. In der Bestimmung der Schwere derSchuld soll dem äusserlich erkennbaren Unrechtsgehalt der Straftat nach Auffassung des BGH nureine indirekte Wirkung zukommen, nämlich soweit er als Ausdruck der Persönlichkeit des Tätersgelten kann (BGH StV 1998, S. 336).

Die Bemessung der Jugendstrafe soll insbesondere nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts-hofs allein erzieherischen Erwägungen folgen (§18 JGG). Dabei gelten die allgemeinen Strafrahmendes Erwachsenenstrafrechts zwar nicht, doch sollen wegen der auch im Jugendstrafrecht zu berück-sichtigenden Limitierungsfunktion des Tatunrechts der im gesetzlichen Strafrahmen typisierte Un-rechtgehalt allgemein berücksichtigt werden (BGH Strafverteidiger 1987, S. 306). Zur Limitierungs-funktion vgl. ferner BGH NStZ 1990, S. 389: die Jugendstrafe darf die nach oben noch schuldan-gemessene Strafe aus erzieherischen Gründen nicht übersteigen. Andererseits ist zu fragen, ob demErziehungsprinzip beispw. bei schwersten Straftaten, insb. Tötungsdelikten, eine Limitierungsfunk-tion in solchen Fällen zukommt, wo Erziehungsbedürfnisse (beispw. Konflikttat) nicht oder nur ingeringem Umfang vorhanden sind. Die Rechtsprechung hierzu ist unklar, freilich wird die Berück-sichtigung von Schuld und Vergeltung partiell zugelassen (BGH Strafverteidiger 1982, S. 121, S.473). Mit der in §18 I, 2 JGG eröffneten Möglichkeit, eine Jugendstrafe zwischen 5 und 10 Jahrenzu verhängen, ergibt sich ein Problem der Begründung. Denn die Setzung eines Jugendstraferah-mens von 6 Monaten bis zu 5 Jahren war vom historischen Gesetzgeber deshalb erfolgt, weil eine 4-5 Jahre übersteigende Aufenthaltsdauer in einer geschlossenen Einrichtung unter Erziehungsge-sichtspunkten als unbrauchbar oder gar kontraproduktiv betrachtet wurde. Freilich betrachtet es derBGH als richtig, wenn eine Jugendstrafe im Bereich zwischen 5 und 10 Jahren neben Schulderwä-gungen auch mit erzieherischen Bedürfnissen begründet wird (BGH StV 1998, S. 336). Gerechtfer-tigt wird diese Meinung mit dem Hinweis auf §18 II JGG, der auch bei der Bemessung der Jugend-strafe von mehr als 5 Jahren die Anpassung an erzieherische Bedürfnisse verlange. Gegen dieseAuffassung (der Zulassung erzieherischer Erwägungen) spricht, daß die Erweiterung des Strafrah-mens auf 5 bis 10 Jahre im Gesetz alleine an das Vorliegen einer Straftat gebunden wird, die nachErwachsenenstrafrecht einen Strafrahmen von mehr als 10 Jahren eröffnen würde. Damit ist freilichdie Begründung ausschließlich an die Schuldschwere gebunden.Die Jugendstrafe kann (übersteigt sie nicht 2 Jahre) unter den Voraussetzungen des §21 zur Bewäh-rung ausgesetzt werden. Möglich ist dann die Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung (§§88,89 JGG), wobei ein Drittel der Jugendstrafe verbüßt sein muß. Die Voraussetzung der Strafausset-zung zur Bewährung sind im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht erleichtert. So sind generalprä-ventive Erwägungen nicht zugelassen. Schließlich kann der Jugendrichter, vermag er nicht sicherdie schädlichen Neigungen festzustellen, die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung auszu-setzen (§27 JGG). In der Praxis hat sich (außerhalb des Gesetzes) die sogenannte „Vorbewährung“entwickelt. Sie beruht auf der Regelung des §57 JGG, nach der (Absatz 2) eine Strafaussetzung zurBewährung, die im Urteil abgelehnt wurde, nachträglich angeordnet werden kann, dann nämlich,wenn sich zwischen Urteil und der Vollstreckung der Jugendstrafe Veränderungen nachweisen las-sen. Insoweit hat die Praxis teilweise eine Vorbewährung entwickelt, mit der einerseits zwar eineJugendstrafe ausgesprochen, andererseits aber mit der Anordnung der Vollstreckung der Jugendstra-fe eine Zeitlang zugewartet wird (bis zu 4-5 Monate). Diese Zeit wird wie eine Strafaussetzung zurBewährung ausgestaltet. Verhält sich der Verurteilte entsprechend den Weisungen des Jugendrich-

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ters, dann kann behauptet werden, daß nunmehr eine neue Sachlage eingetreten ist. Der Verurteiltehat nachgewiesen, daß er sich bewähren kann. Der Jugendrichter kann nunmehr gem. §57 nachträg-lich und durch Beschluß die Strafaussetzung zur Bewährung anordnen.

6.4 Das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und JugendstrafeLiteratur: Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 4. Aufl., München 1994, Fall 16.Das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe ist in §5 JGG gere-gelt. Danach stehen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe in einem Stufenverhältnis,das allein durch den erzieherischen Bedarf und die erzieherische Kapazität der verschiedenen Reak-tionsformen festgelegt ist. Erziehungsmaßregeln werden verhängt, wenn diese als erzieherischeMaßnahmen ausreichen. Reichen sie nicht aus, dann erfolgt der Übergang zu Zuchtmitteln, reichenZuchtmittel nicht aus (sei es wegen schädlicher Neigungen, sei es wegen der Schwere der Schuld),dann erfolgt der Übergang zur Jugendstrafe. Freilich steht das gesetzlich geformte Stufenverhältniszwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe unter bestimmten Annahmen zu denerzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten durch diese verschiedenen Maßnahmen. Diese sind aberin hohem Maße zweifelhaft. Jedenfalls kommt in diesem Verhältnis auch der Gedanke an die Sub-sidiarität zum Ausdruck. Dort, wo weniger einschneidende Maßnahmen ausreichen, darf nicht zuden schwereren Maßnahmen gegriffen werden. In diese Stufenfolge sind auch die Diversionsmaß-nahmen des §45 JGG einzubeziehen. Die erste Entscheidung bezieht sich demnach immer auf dieFrage, ob nicht eine Einstellung des Jugendstrafverfahrens, ggfs. unter Anordnung jugendrichterli-cher Weisungen etc., ausreichend sind.

6.5 Maßregeln der Besserung und Sicherung im JugendstrafrechtLiteratur: Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S. 65-67.Maßregeln der Besserung und Sicherung dienen im Erwachsenenstrafrecht grundsätzlich dem Ge-sellschaftsschutz vor gefährlichen Straftätern, sei es durch Behandlung, sei es durch Sicherung. Sietreten entweder neben die Strafe oder anstelle einer Strafe dann, wenn der Täter schuldunfähig ist.Maßregeln bestimmen sich nicht nach Schuldgrundsätzen, sondern allein am präventiven Bedarf.Sie unterliegen freilich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zu den Maßregeln gehören die in §§61ff StGB genannten Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt (zeitlich unbegrenzt) §63 StGB,Unterbringung in einer Entiehungsanstalt (bis maximal 2 Jahre) §64 StGB, die Sicherungsverwah-rung (1 Unterbringung maximal 10 Jahre, 2. Unterbringung zeitlich unbegrenzt) §66 StGB, die Füh-rungsaufsicht (§§68ff StGB), der Entzug der Fahrerlaubnis §69ff StGB, das Berufsverbot §70 StGB.Im Jugendstrafrecht sind die Maßregeln der Sicherungsverwahrung und des Berufsverbots ausge-schlossen. Sie dürfen nicht angeordnet werden (§7 JGG). Im übrigen setzt die BGH-Rechtsprechungdeutliche Beschränkungen für die Anordnung einer Unterbringung in der psychiatrischen Anstalt(BGHSt 37, S. 373ff). Hierzu gehören die besonders gründliche Prüfung der tatsächlichen Voraus-setzungen der gem. §63 erforderlichen Prognose sowie, über den allgemeinen Verhältnismäßig-keitsgedanken hinausgehend, die eingehende Untersuchung der Frage, ob nicht andere, wenigereingreifende Maßnahmen ausreichen. Diese besonders ausgeprägten Prüfungspflichten sollen sichaus dem allgemeinen Ziel der Förderung und der Reintegration eines jugendlichen Straftäters erge-ben. Zusammengefasst ist der BGH, wie auch die Lehre, der Auffassung, daß eine Unterbringungnur in seltenen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein könne. Mit dem Gedanken der „Einspurigkeit“freiheitsentziehender Massnahmen (BGH StV 1998, S. 341.verträgt es sich in der Regel wohl nicht,wenn neben der Unterbringung in der Psychiatrie noch Jugendstrafe angeordnet wird (BGH NStZ1998, 86). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist gem. §93a JGG in einer besonderen,für die Suchtbehandlung von Jugendlichen geeigneten Einrichtung zu vollziehen.Nach §5 III JGG ist von der Verhängung von Zuchtmitteln oder Jugendstrafe dann abzusehen, wenninfolge der Anordnung einer Unterbringung die Ahndung durch den Richter entbehrlich ist.

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6.5 Reformüberlegungen zum System jugendstrafrechtlicher Sanktionen: Differenzierungoder Vereinfachung

Genannt werden als Alternativen zu stationären Maßnahmen des Jugendstrafrechts insb. die im1.JGGÄnderG eingeführten Möglichkeiten der Wiedergutmachung bzw. des Täter-Opfer-Ausgleichs, das soziale Training. International ist die sog. Bewährungstrafe bekannt, die der Aus-setzung zur Bewährung nach §27 JGG ähnlich, aber in anderen Rechtskreisen selbständige Sanktionist. Freilich ist auch in die Überlegungen einzubeziehen, ob nicht eine Vereinfachung des Systemsder jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen angezeigt sein könnte. Denn offensichtlich entstehen Prob-leme der Auswahl und der Begründung der Auswahl unter dem weitgefächerten Angebot an Sankti-onen. Im übrigen verfährt die Praxis wohl auch in Form einer Reduktion dieser Vielfalt auf einigewenige Weisungen und Zuchtmittel, die, wie die gemeinnützige Arbeit, die Geldauflage und derArrest auch leicht abgestuft (und damit in ein Verhältnis zu unterschiedlichen Unrechtsgraden ge-bracht werden können.

7. DIE HAUPTVERHANDLUNG IM JUGENDSTRAFVERFAHREN

7.1 Das vereinfachte Verfahren

Im JGG gelten die Vereinfachungsmöglichkeiten des allgemeinen Strafverfahrens, insb. das sog.(schriftliche) Strafbefehlsverfahren nicht. Das JGG kennt aber das sog. vereinfachte Jugendverfah-ren, das von verschiedenen Formvorschriften befreit. Hiermit soll nicht primär Kosteneinsparung,sondern vor allem eine erzieherische Ausgestaltung der Hauptverhandlung (Informalität) erleichtertwerden.

7.2 Grundsätze der HauptverhandlungLiteratur: Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 12. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S. 197-202.Das Jugendstrafverfahren unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten vom Erwachsenen-strafverfahren. Die Hauptverhandlung ist nicht öffentlich (§48 JGG). Der Eideszwang ist gem. §49JGG eingeschränkt. Schließlich sind die Opferrechte insoweit eingeschränkt, als Privat- und Neben-klage nicht zulässig sind. Insbesondere gegen den Ausschluß der Nebenklage wird aus der Opfer-perspektive neuerdings Kritik geübt. Als Reformansatz wird vor allem die Verhandlung am „Run-den Tisch“ diskutiert, jedoch wird auch die Zweiteilung der Hauptverhandlung in einen Schuldfest-stellungsteil sowie eine hierauf sich anschließende Hauptverhandlung, in der nur mehr Strafzumes-sungsfragen erörtert werden, behandelt.

8. DAS SYSTEM DER RECHTSMITTELLiteratur: Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 4. Aufl., München 1994, Fall 14.Dem Jugendlichen steht gegen Urteile des Jugendrichters oder des Jugendschöffengerichts nur einRechtsmittel zu (entweder Revision oder Berufung). Insoweit ist er im Vergleich zu erwachsenenVerurteilten benachteiligt. Die Beschränkung der Rechtsmittel wird erzieherisch begründet.

9. DIE STRAFVOLLSTRECKUNG IM JUGENDSTRAFRECHT (INSBESONDEREJUGENDSTRAFVOLLZUG)Literatur: Rössner, D.: Jugendstrafvollzug bei 14-18Jährigen. Problemanzeige und Perspektiven. In: Kerner/Kaiser:Kriminalität. Berlin, Heidelberg 1990, S. 523ff; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 12. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S.224-237.

9.1 ZuständigkeitenDie Strafvollstreckung in Jugendsachen obliegt dem Jugendrichter. Er ist Vollstreckungsleiter undhat damit eine Doppelfunktion als Richter und Verwaltungsbeamter.

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9.2 Der Jugendstrafvollzug9.2.1 Rechtsgrundlagen des JugendstrafvollzugsDer Jugendstrafvollzug ist grundsätzlich vom Erwachsenenstrafvollzug getrennt. Ein spezielles Ju-gendstrafvollzugsgesetz existiert noch nicht. Andererseits ist das Strafvollzugsgesetz nicht auf denVollzug von Jugendstrafe anzuwenden. Verschiedene Entwürfe zu einem Jugendstrafvollzugsgesetzliegen vor, so beispw. Der Arbeitsentwurf des Bundesministeriums der Justiz von 1984, der Ent-wurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes von Baumann (1985) sowie der Entwurf der Arbeitsgemein-schaft der Leiter der Jugendstrafanstalten in der DVJJ (1988). Seit 1991 liegt wiederum ein Refe-rentenentwurf des Bundesjustizministeriums vor. Im übrigen betreffen nur wenige Vorschriften imJGG den Vollzug der Jugendstrafe (§§91, 92, 85 II JGG). Danach muß der Vollzug erzieherischgestaltet sein. Sodann basiert der Jugendstrafvollzug auf den „Bundeseinheitlichen Verwaltungsvor-schriften zum Jugendstrafvollzug“, einer Verordnung, die für den Richter aber nicht bindend ist.Insoweit wird teilweise angenommen, daß der gegenwärtige Rechtszustand des Jugendstrafvollzugsden Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips nicht genüge (vgl. hierzu den Vorlagebeschluß des AGHerford NStZ 1991, S. 255).Die vorzeitige Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug regelt §88. Sie ist flexibler als die Regelungdes §57 StGB, denn bei Jugendstrafe von mehr als einem Jahr ist die Strafrestaussetzung bereitsnach Vollstreckung eines Drittels möglich, soweit die Prognose des künftigen Verhaltens dies er-laubt (§88 II, 2). Freilich wird die vorzeitige Entlassung gerade bei langer Jugendstrafe, die wegender Schwere der Schuld verhängt worden ist (im wesentlichen Totschlag und Mord), in Anlehnungan die Entscheidungskriterien des §57 von Sühne- und Schuldvergeltungserwägungen abhängiggemacht (LG Berlin NStZ 1999, S. 102f). Jedoch ist dies mit Wortlaut und Ziel des Gesetzes nichtzu vereinbaren (vgl. hierzu auch Schönberger, G.: Anmerkung zu LG Berlin NStZ 1999, S. 102ff).

9.2.2 Praktischer Jugendstrafvollzug

Das Durchschnittsalter bei Zugang zum baden-württembergischen Jugendstrafvollzug lag 1994 beietwa 20 Jahren. Die Deliktsstruktur der Zugänge ist bestimmt durch Diebstahl (36%) Betäubungs-mitteldelikte (21%) und Raub (16%). Weniger bedeutsam sind Körperverletzungsdelikte (9%), Be-trug (5%), Verkehrsdelikte (4%), Tötungsdelikte (3%) und Sexualdelikte (2%). Die wesentlichenVeränderungen in der Struktur der Einweisungsdelikte spielten sich in den achtziger und neunzigerJahren im Bereich der Diebstahls- (Anteil 1984: 47%) und Betäubungsmitteldelikte (Anteil 1984:9%) ab. Die Wohnungssituation vor der letzten Verhaftung: bei den leiblichen Eltern, 34%, beiStiefeltern, Mutter oder Vater 23%, in Heim oder ähnlichem 12%, ohne festen Wohnsitz 20%, Ver-wandte oder Pflegeeltern 4%, Freunde 6%. Die durchschnittliche, zu verbüßende Jugendstrafe be-trug 1994 etwa 19 Monate, von diesen 19 Monaten wurden durchschnittlich 10 Monate verbüßt.Damit wird eine durchschnittliche Jugendstrafe durch (angerechnete) Untersuchungshaft und Straf-restaussetzung zur Bewährung etwa auf die Hälfte reduziert. Etwa 70% der Jugendstrafgefangenenbleiben dabei weniger als ein Jahr in der Jugendstrafvollzugsanstalt. In der zentralen Jugendstraf-vollzugsanstalt Adelsheim wurden im Jahre 1993 1616 Verfehlungen disziplinarrechtlich gem. Nr.86, 87 der VVJug sanktioniert. Davon betrafen 670 oder 41% Arbeitsverweigerung, 200 oder 12%Fehlverhalten gegen andere Gefangene, 151 oder 9% das Nichtbefolgen von Anweisungen, 135oder 8% Fehlverhalten bei der Arbeit, 104 oder 6% Fehlverhalten gegenüber Bediensteten, 85 oder5% Ruhestörung, 58 oder 4% Betäubungsmittelmißbrauch, 34 oder 2% Alkoholkonsum, 22 oder1% Ausbruchsversuche, 22 oder 1% Diebstahl oder Sachbeschädigung, 29 oder 2% Lockerungsver-sagen, 13 oder 1% Tätowieren, 24 oder 1% Schmuggel, 5 oder 0% Unsauberer Haftraum. Hierfürwurden verhängt: 778 1Tag Freizeitsperre (48%), 292 2 Tage Freizeitsperre (18%), 148 oder 9% 3Tage Freizeitsperre, 169 oder 10% 4-7 Tage Freizeitsperre, 32 oder 2% 1-3 Wochen Freizeitsperre,Ermahnung 13 (1%), Putzdienste 29 (2%), Hausgeldsperre (< 30 DM) 109 (7%), Hausgeldsperre >

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30 DM 42 (3%). 1992 befanden sich in Adelsheim 29% der Insassen in beruflicher, 15% in schuli-scher Ausbildung. 16% arbeiteten in Unternehmerbetrieben.An Überbrückungsgeld hatten die Insassen 1993 durchschnittlich 659 DM (ohne Freigänger) ange-sammelt (bei einem Soll von 1025 DM).

Die Altersstruktur (verurteilter) ausländischer Strafvollzugsinsassen (in % aller Strafgefan-genen)

14-17 18-20 21-24 25-30 31-40 41-50 51-60 >601971 2,3 3,2 4,3 3,2 2,9 5,3 4,6 3,01972 3,8 3,3 5,5 4,3 3,4 4,9 5,5 3,41973 3,9 4,3 6,3 5,1 3,8 5,2 6,6 2,21974 3,3 4,6 6,1 6,4 4,6 5,7 7,8 3,41975 4,9 4,3 6,3 7,3 4,7 5,5 8,4 2,7197619771978 6,3 4,1 4,9 7,0 6,5 5,6 8,8 4,6197919801981 11,9 6,9 7,0 8,1 9,6 6,9 8,9 5,519821983 19,2 8,9 7,7 10,4 11,0 8,3 8,3 7,319841985 17,9 10,0 8,7 10,0 11,1 8,0 7,6 7,1198619871988 28,6 16,6 11,9 10,5 10,9 8,5 8,1 6,81989 34,9 17,9 13,4 12,3 11,6 9,0 8,4 9,61990 35,5 22,5 14,4 13,5 13,0 9,9 8,4 10,219911992 43,4 30,9 18,9 17,4 14,1 12,5 9,0 11,21993 34,7 34,6 25,7 19,5 15,8 13,5 10,3 11,51994 35,1 35,4 31,3 22,9 18,0 15,2 11,5 9,41995 31,9 33 33,6 25,3 20,2 15,2 10,5 10,21997 30,6 30,2 39,3 29,6 22,6 16,7 10,4 10,5Ratio1971/1997

1:13 1:9 1:9 1:9 1:8 1:3 1:2 1:3

9.3 Registerrechtliche Folgen und Beseitigung des StrafmakelsLiteratur: Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 12. Aufl., Stuttgart u.a. 1995, S. 237-241.

Verurteilungen zu Strafe (und anderes) werden in das zentrale Strafregister (geführt beim General-bundesanwalt, Berlin) eingetragen. Grundsätzlich werden auch jugendstrafrechtliche Entscheidun-gen registriert. Freilich ist für diese Eintragungen ein besonderes Register vorgesehen, nämlich dassog. Erziehungsregister. Die registerrechtlichen Regelungen sind in Bundeszentralregistergesetzenthalten. Dort finden sich Vorschriften darüber, wielange derartige Eintragungen erhalten bleiben,unter welchen Bedingungen die Eintragungen gelöscht werden, wer Auskunft über Eintragungenverlangen kann und welche Eintragungen in das Polizeiliche Führungszeugnis aufgenommen wer-

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den. Der Erziehungszweck des Jugendstrafrechts und das Ziel der Vermeidung stigmatisierenderWirkungen bzw. benachteiligender Folgen für den Einstieg in das Berufsleben haben den Gesetzge-ber dazu geführt, im Bundeszentralregistergesetz für das Erziehungsregister besonders restriktiveBedingungen für die Auskunft zu setzen. Ferner werden in das Führungszeugnis prinzipiell nur Ju-gendstrafen aufgenommen, die andererseits auch in das zentrale Strafregister eingetragen werden.Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln werden weder in das Strafregister übernommen noch in dasFührungszeugnis eingetragen. Auch Jugendstrafen werden nur in beschränktem Umfang in ein poli-zeiliches Führungszeugnis eingetragen (§32 II BZRG). Für die Beseitigung des Strafmakels enthältdas JGG besondere Vorschriften, die kürzere Fristen als das Erwachsenenstrafrecht für die Tilgunganordnen (§§97ff JGG).

10. DIE BEHANDLUNG DER HERANWACHSENDEN: WANN WIRD EINHERANWACHSENDER ALS JUGENDLICHER ABGEURTEILT?

Literatur: Esser, G.: Sind die Kriterien der sittlichen Reife des §105 JGG tatsächlich reifungsabhängig? DVJJ-Journal1/1999, S. 37-40; Toker, M.: Die Beurteilung der Reife gemäss §105 JGG in der interkulturellen Begutachtung. DVJJ-Jornal 1/1999, S. 41-44.

Heranwachsende gelten als voll strafmündig. Sie werden aber unter den Voraussetzungen des §105JGG (jugendtypische Verfehlung oder Reifeverzögerung) als Jugendliche behandelt (Verfahrengem. §§107ff JGG). Damit ist auch die Konsequenz verbunden, daß die Rechtsfolgen des Erwach-senenstrafrechts nicht anwendbar sind (§105 III). Wird ein Heranwachsender freilich nach Erwach-senenstrafrecht abgeurteilt, so ist anstelle einer lebenslangen Freiheitsstrafe auf eine zeitige Frei-heitsstrafe zwischen 10 und 15 Jahren zu erkennen (§106 JGG). Für Heranwachsende gilt, werdensie als Jugendliche abgeurteilt, eine allgemeine Obergrenze der Jugendstrafe von 10 Jahren. Erzie-hungsbeistandschaft und Erziehungshilfen (also insbesondere Heimunterbringung) können gegen sienicht angeordnet werden. Maßgeblich für die Beurteilung ist die Tatzeit. Die Praxis zeigt, daß imFalle schwerer Kriminalität (Tötungsdelikte, Raub etc.) die Gerichte fast ausschließlich Jugendstraf-recht auf Heranwachsende anwenden. Im Falle leichterer Delikte, die im Erwachsenenstrafrecht imsummarischen Verfahren per Strafbefehl (und damit im wesentlichen mit Geldstrafen) abgehandeltwerden, überwiegt dagegen die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts.

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Die kriminalpolitischen Debatten der neunziger Jahre haben den Anstieg der Kriminalität jungerMenschen hervorgehoben und haben sich neben der Frage der Absenkung des Strafmündigkeitsal-ters auf 12 Jahre insbesondere mit der strafrechtlichen Antwort auf Heranwachsendenkriminalitätbefasst. Ein Gesetzesantrag von Bayern vom 5.8.1997 schlägt insoweit eine Neugestaltung des §195JGG vor (BR-Drs 562/97). Auf Heranwachsende wäre danach grundsätzlich Erwachsenenstrafrechtanzuwenden. Lediglich als Ausnahme und für den Fall einer „erheblichen Reifeverzögerung“ undhieraus resultierendem erzieherischen Bedarf soll Jugendstrafrecht anwendbar sein. Während dieHerabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze fast einhellig abgelehnt wird, besteht bei der Forderungnach einer neuen Einordnung der Heranwachsenden in das System von Erwachsenen- und Jugend-strafrecht offensichtlich eine offene Situation, in der, sicher auch wegen der derzeitigen Betonungvon Innerer Sicherheit, Kriminalitätsangst und Jugendgewalt, der Ausgang kaum vorhergesagt wer-den kann.

10.1 Jugendtypische Verfehlung

Nach Jugendstrafrecht verurteilte Heranwachsende (in%)

0

20

40

60

80

100

120

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Die jugendtypische Verfehlung hat (im Verhältnis zur Reifeverzögerung) selbständigen Charakterund soll für den Richter eine Beweiserleichterung im Vergleich zur aufwendigen Persönlichkeitsbe-urteilung schaffen. Eine Straftat ist dann jugendtypisch, wenn sie nach den äußeren Umständen, derArt der Begehung oder der Motivation für das Jugendalter besonders charakteristisch ist.

10.2 ReifeverzögerungDer Reifezustand ist auf Grund einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit festzustellen. Dabei wirddas Heranwachsendenalter als Übergangszeit zwischen Jugend und Erwachsensein begriffen, wasdazu führt, daß die Frage danach gestellt werden muß, welche Bezüge den Heranwachsenden amstärksten charakterisieren. Vgl. zur Frage auch die sog. „Marburger Richtlinien“ (behandelt inSchaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht 1995, S. 52).

Zur Untersuchung der „Reife“ können Instrumente eingesetzt werden, die, wie das „MannheimerErwachsenen-Interview“, eine Operationalisierung der „Marburger Richtlinien“ versuchen. Diehieraus resultierende Reifeskala (Esser 1999, S. 38) stützt sich auf: 1. Realistische Lebensplanung(Berufsplan: aktive zukubftsorientierte Entscheidung, Berücksichtigung eigener Fähigkeiten undInteressen, der Realisierbarkeit, Kompentenz zur Veränderung bei Fehlentscheidung; Planung vonPartnerschaft und Familie: Erfahrungen mit Freund- und Partnerschaft, Fähigkeit zeitliche Perspek-tiven zu entwickeln, Planung unter Berücksichtigung interner und externer Voraussetzungen); 2.Eigenständigkeit im Verhältnis zu den Eltern (Ablösung von den Eltern, Aufbau eines eigenenWertesystems, Unabhängigkeit vom Urteil der Eltern); 3. Eigenständigkeit im Verhältnis zu Gleich-altrigen/Partner (Streben nach perrsönlicher Autonomie, Erwerb eines eigenen Wertesystems), 4.Ernsthafte Einstellung zur Arbeit (Stabilität, Einbindung von Arbeit/Beruf in persönlichen Sinnzu-sammenhang); 5. Äusserer Eindruck; 6. Realistische Alltagsbewältigung (aktive Strukturierung desAlltags unter Berücksichtigung eigener Interessen und objektiver Anforderungen); 7. Alter derFreunde 8. Bindungsfähigkeit (Aufrechterhaltung von Bindungen über längeren Zeitraum, Vorherr-schen von Offenheit, Vertrauen, Gleichberechtigung in Beziehung); 9. Integration von Eros undSexus (Aufrechterhaltung intimer Bindungen über längeren Zeitraum, Identität von Leibes- undSexualpartner); 10. Konsistente berechenbare Stimmungslage (ausgeglichene Stimmung, keine hef-tigen Stimmungswechsel). Die empirische Überprüfung der Skala erbrachte eine gute Trennungs-schärfe zwischen Jugendlichen/Heranwachsenden und Jungerwachsenen (Esser 1999, S. 39).

Besondere Problemeergeben sich bei der Reifebeurteilung ausländischer Heranwachsender (vgl.Toker 1999). Denn die gängigen in Deutschland verwendeten Testverfahren lassen sich – da inEichstichproben die ethnische Herkunft und damit kulturelle Differenzen bislang kaum berücksich-tigt werden – nur mit Einschränkungen anwenden. Ferner unterscheiden sich bei einzelnen Testsoffensichtlich die Normwerte beträchtlich. So würden beispw. in den USA oder in der Türkei alsknapp durchschnittlich intelligent eingestufte Jugendliche in Deutschland als geistig behindert ein-georndet (Toker 1999, S. 43).

11. INTERNATIONALE GRUNDSÄTZE ZUR BEHANDLUNG JUGENDLICHERSTRAFTÄTER

Literatur: Schüler-Springorum, H: Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit. ZStW99(1987), S. 809ff.; Dünkel, F.: Zur Entwicklung von Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen zum Schutze inhaf-tierter Jugendlicher. ZStW 100(1988), S. 361-384; Schüler-Springorum, H.: Die Richtlinien der Vereinten Nationen fürdie Prävention von Jugendkriminalität. ZStW 104(1992), S. 169ff; Jung, H.: Jugendgerichtsbarkeit und Menschenrechte.DVJJ-Journal 1994, S. 220ff.; Gerstein, H.: UN-Kinderrechte und Jugendkriminalrecht. DVJJ-Journal 1/1996, S. 13ff.

Am 29. 11. 1985 wurden von den Vereinten Nationen Mindestgrundsätze für die Jugendgerichts-barkeit beschlossen (Bejing Rules). Sie werden ergänzt durch Mindestgrundsätze für den Jugend-

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strafvollzug (2.4. 1991) sowie für die Prävention von Jugendkriminalität (Riyadh Guidelines,28.3.1991). Die Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit (United Nations Minimum Rulesfor the Administration of Juvenile Justice) haben nicht den Charakter internationalen Rechts, son-dern dienen eher als unverbindliche Empfehlungen für die Ausgestaltung des Jugendkriminalrechts(insoweit vergleichbar den Europäischen Mindeststandards für die Behandlung von Gefangenen).Diese sind sehr allgemein gehalten, geben aber insb. auch Einblick in die Schwierigkeiten, zu kon-sentierten internationalen Standards zu kommen. So legt Nr. 4 fest, daß das Alter der relativenStrafmündigkeit nicht zu niedrig festgesetzt werden sollte, und daß bei der Definition der Jugenddie Entwicklung der emotionalen, seelischen und geistigen Reife zu berücksichtigen sei. Feste Al-tersgrenzen konnten offensichtlich nicht vereinbart werden. Jugendgerichtsbarkeit wird dann ver-standen als wesentlicher Bestandteil eines Systems der sozialen Gerechtigkeit für Jugendliche, dasfreilich auch zur Wahrung einer friedlichen Ordnung der Gesellschaft beitragen soll. In der Rege-lung der zuständigen Behörden werden einmal Gerichte bzw. Jugendgerichte, zum anderen Jugend-verwaltung angesprochen. Damit wird der international sehr unterschiedlichen Kompetenzvertei-lung im Hinblick auf die Zuständigkeit für Reaktionen auf die Straftaten Jugendlicher Rechnunggetragen. Aufgegriffen werden dann die Grundsätze der Subsidiarität und der Proportionalität bzw.Verhältnismäßigkeit, im übrigen die Verfahrensgrundsätze der Fairness und des gerechten Verfah-rens. Betont wird dann der Grundsatz der Diversion, wobei für mit Auflagen versehene Diversions-maßnahmen eine zweitinstanzliche Kontrolle vorgesehen ist. Insoweit entspricht aber das deutscheVerfahren gem §45 JGG den Mindeststandards nicht. Gewicht wird schließlich auf die sozialarbei-terische Komponente der Jugendgerichtsbarkeit gelegt. Hier wird die Bedeutung von Qualifikationund Ausbildung, Spezialisierung und Fortbildung betont, was einerseits in die Richtung der Ent-wicklung eines spezialisierten Jugendgerichtshelfers (im Gegensatz zum Vertreter der JGH, §38 IIJGG) geht, andererseits auch in eine Richtung weist, die sich mit der Praxis des §37 JGG nicht mehrverträgt.