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43 2. CHRISTENTUM, KIRCHE UND GLAUBE IN DER SPANISCHAMERIKANISCHEN LITERATUR 2.1 DAS VERHÄLTNIS VON LITERATUR UND RELIGION BIS ZUM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS In Anbetracht der engen Verknüpfung von Religion, Kultur und Politik, durch welche die lateinamerikanische "Christenheit" - wie im vorausgegangenen Kapitel dargestellt - charakterisiert war, verwundert es nicht, wenn die spanischamerikanische Literatur in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens ganz selbstverständlich "christlich" ist. Innerhalb des Systems der cristiandad, das ja die kulturelle Situation des europäischen Mittelalters fortführt, ist in gewisser Weise jegliches Schrifttum "religiöse Literatur". Erst im 19. und 20. Jahrhundert kommt es zu einer zweifachen Emanzipation der Künste im allgemeinen und der Literatur im besonderen. In deren Verlauf verlieren christliche Religion bzw. katholischer Glaube für die oft liberal eingestellten Intellektuellen ihre absolute Verbindlichkeit und werden in Frage gestellt; zum anderen wachsen die Bemühungen um Loslösung von der Kultur und Ästhetik spanischen bzw. europäischen Ursprungs. Während die hispanoamerikanische Kolonialliteratur in etwa gleicher Weise religiös war wie die des Mutterlandes, sucht man nun nach Möglichkeiten einer eigenen, spezifisch hispanoamerikanischen Einstellung gegenüber dem christlichen Erbe. Bis ins 19. Jahrhundert - was die im engeren Sinne "religiöse" Literatur betrifft, noch darüber hinaus - ist das Verhältnis von Religion und Literatur in einer Weise festgelegt, die nur wenig Raum für eigenschöpferische Neuansätze läßt. Man könnte sogar die Behauptung aufstellen, daß sich die spanischamerikanische Literatur mit einer eigenen Geschichte und dem Streben nach Autnonomie gegenüber außerliterarischen und außeramerikanischen Normensystemen erst in unserem Jahrhundert konstituiert. Dennoch erscheint es sinnvoll, nach der Christlichkeit der frühen hispanoamerikanischen Literatur zu fragen, denn auch bei modernen, gänzlich "säkularisierten" Autoren wirken die eigenen Traditionen - teilweise kaum bewußt - nach, und sei es als ein eher lästiges, koloniales Erbe, von dem man sich nun endgültig befreien möchte. Wichtig dürfte die hispanische Tradition vor allem insofern sein, als sie in religiös geprägten Sprachformen und zu Gemeinplätzen gewordenen Symbolismen auch dort fortlebt, wo der religiöse Hintergrund verblaßt ist oder sogar bewußt verworfen wird. Gerade bei modernen Autoren und auch Literarkritikern, deren Areligiosität außer Frage steht, überkommt den europäischen Leser großes Erstaunen angesichts der "christlichen" Metaphern und Sprachhülsen: ständig ist die Rede von paraísos und infiernos, von diablos und Cristos. Spanischamerikanische Literaturkritiker haben der wechselseitigen Beziehung von Literatur und Christentum bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Am ehesten dürfte sich dieses Verhältnis noch anhand

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2. CHRISTENTUM, KIRCHE UND GLAUBE IN DER SPANISCHAMERIKANISCHEN

LITERATUR

2.1 DAS VERHÄLTNIS VON LITERATUR UND RELIGION BIS Z UM ENDE DES 19.

JAHRHUNDERTS

In Anbetracht der engen Verknüpfung von Religion, Kultur und Politik, durch welche die lateinamerikanische

"Christenheit" - wie im vorausgegangenen Kapitel dargestellt - charakterisiert war, verwundert es nicht, wenn

die spanischamerikanische Literatur in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens ganz selbstverständlich

"christlich" ist. Innerhalb des Systems der cristiandad, das ja die kulturelle Situation des europäischen

Mittelalters fortführt, ist in gewisser Weise jegliches Schrifttum "religiöse Literatur". Erst im 19. und 20.

Jahrhundert kommt es zu einer zweifachen Emanzipation der Künste im allgemeinen und der Literatur im

besonderen. In deren Verlauf verlieren christliche Religion bzw. katholischer Glaube für die oft liberal

eingestellten Intellektuellen ihre absolute Verbindlichkeit und werden in Frage gestellt; zum anderen wachsen

die Bemühungen um Loslösung von der Kultur und Ästhetik spanischen bzw. europäischen Ursprungs. Während

die hispanoamerikanische Kolonialliteratur in etwa gleicher Weise religiös war wie die des Mutterlandes, sucht

man nun nach Möglichkeiten einer eigenen, spezifisch hispanoamerikanischen Einstellung gegenüber dem

christlichen Erbe.

Bis ins 19. Jahrhundert - was die im engeren Sinne "religiöse" Literatur betrifft, noch darüber hinaus - ist

das Verhältnis von Religion und Literatur in einer Weise festgelegt, die nur wenig Raum für eigenschöpferische

Neuansätze läßt. Man könnte sogar die Behauptung aufstellen, daß sich die spanischamerikanische Literatur mit

einer eigenen Geschichte und dem Streben nach Autnonomie gegenüber außerliterarischen und

außeramerikanischen Normensystemen erst in unserem Jahrhundert konstituiert. Dennoch erscheint es sinnvoll,

nach der Christlichkeit der frühen hispanoamerikanischen Literatur zu fragen, denn auch bei modernen, gänzlich

"säkularisierten" Autoren wirken die eigenen Traditionen - teilweise kaum bewußt - nach, und sei es als ein eher

lästiges, koloniales Erbe, von dem man sich nun endgültig befreien möchte. Wichtig dürfte die hispanische

Tradition vor allem insofern sein, als sie in religiös geprägten Sprachformen und zu Gemeinplätzen gewordenen

Symbolismen auch dort fortlebt, wo der religiöse Hintergrund verblaßt ist oder sogar bewußt verworfen wird.

Gerade bei modernen Autoren und auch Literarkritikern, deren Areligiosität außer Frage steht, überkommt den

europäischen Leser großes Erstaunen angesichts der "christlichen" Metaphern und Sprachhülsen: ständig ist die

Rede von paraísos und infiernos, von diablos und Cristos.

Spanischamerikanische Literaturkritiker haben der wechselseitigen Beziehung von Literatur und

Christentum bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Am ehesten dürfte sich dieses Verhältnis noch anhand

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des Werks von Rudolf GROSSMANN - Geschichten und Probleme der lateinamerikanischen Literatur1 -

verfolgen lassen. Die in Anbetracht der Stoffülle notgedrungen fragmentarischen Beobachtungen Grossmanns

sollen im folgenden durch - freilich nicht weniger bruchstückhafte - eigene Beobachtungen ergänzt werden.

Die "christliche" Interpretation der Neuen Welt durch spanische Autoren, die zum beträchtlichen Teil selbst eine

Ausbildung als Geistliche genossen hatten, ist das Signum der Literatur des Zeitalters der Entdeckung und

Eroberung. Auch dort, wo es um die Deutung politisch-historischer Ereignisse oder das Verständnis fremdartiger

geographischer oder naturkundlicher Phänomene geht, liefern Bibel und katholische Theologie die Kategorien,

in welchen man das Neue - teils mit größten Schwierigkeiten - zu begreifen sucht. Die Begriffsnot, die viele

Chronisten - etwa Bernal DIAZ del CASTILLO und Juan de CASTELLANOS - bei dem Versuch überkommt,

ihren europäischen Lesern einen Eindruck von der neuen, "wunderbaren Wirklichkeit" zu vermitteln, veranlaßt

sie, auf biblisch-christliche Bildlichkeit als einen "Vergleichscode" zurückzugreifen, der in der Epoche der

Renaissance freilich mit den Mythologien der griechisch-römischen Antike konkurriert. Nicht nur, daß moderne

Romanautoren wie Alejo CARPENTIER und Gabriel GARCIA MARQUEZ die alten Chroniken lesen und

verarbeiten, sondern oft scheinen sie sich auch in der Darstellungsweise an deren Methoden anzulehnen.

Wie im vorigen Kapitel dargestellt wurde, existierte bereits in jener Zeit ein Bewußtsein von dem

Widerspruch zwischen dem angeblich christlichen Unternehmen der Conquista und Kolonialisierung und dem

moralischen Anspruch des Christentums. Chronisten wie LAS CASAS und WAMAN POMA deckten in ihren

Werken die himmelschreiende Diskrepanz zwischen den Forderungen des Evangeliums und der Geschichte der

Eroberung auf.

Hinsichtlich der folgenden Periode hebt Grossmann ausdrücklich den "Primat der christlich-katholischen

Religiosität in der Literatur des Amero-Barock" hervor2. Lyrik, Drama und Epos treten weitgehend in religiöser

Gewandung in Erscheinung. Obwohl diese Literatur, die wie die gesamte Kultur der Epoche im Zeichen der

tridentinischen Gegenreform steht, zum beträchtlichen Teil ein Abklatsch der mutterländischen ist, fehlt ihr die

religiöse Tiefe, die etwa in den Werken der zeitgenössischen spanischen Mystiker spürbar ist. Die große

mexikanische Dichterin Sor JUANA de la CRUZ stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar: sie ist eine der

wenigen Figuren des "Amero-Barock", deren Nachwirkung außer Frage steht. Auch Fray DIEGO de HOJEDA

(1571-1615) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Mit seiner Cristíada (Lima 1611) ist

Spanischamerika - nach Grossmann - "zum Erfinder des christlichen Epos in jener Dimension" geworden, "die

es eines Tages in die europäische Universalität eines Milton oder Klopstock einmünden lassen sollte"3. Wichtig

1 München 1969; sämtliche Kapitel zu den einzelnen Epochen enthalten jeweils einen Abschnitt, der nach dem Stellenwert von "Religion und Transzendenz" in der Literatur der Zeit fragt.

2 Ebd., S. 129 f. 3 Ebd., S. 129; vgl. S. 139.

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und in manchen Aspekten bis ins 20. Jahrhundert hinein relevant ist folgende Beobachtung Grossmanns: "Dank

der Suprematie der kirchlichen Autorität konnte im Barockzeitalter Amerikas das Epos nur dort sein Leben

weiterfristen, wo es zum biblischen oder kirchlichen Stoff hinüberwechselt. Damit verlor es aber vollends seinen

lateinamerikanischen Charakter."4 So tritt bereits im 17. Jahrhundert jenes Dilemma deutlich hervor, dessen

Überwindung den spanischamerikanischen Autoren erst seit wenigen Jahrzehnten ansatzweise gelingt: bis dahin

schien es, als könnte die Literatur der Neuen Welt nur in dem Maße Christliches annehmen bzw. christlich sein,

als sie zugleich ihre amerikanische Identität preisgab.

In der Literaturkritik ist häufig die Rede vom "barocken" Charakter auch der modernen Erzählliteratur,

wobei man an Autoren wie José LEZAMA LIMA, aber auch Carpentier und García Márquez denkt. Auch wenn

dieser Begriff oft allzu leichtfertig und unreflektiert angewandt wird, hat er dort eine gewisse Berechtigung, wo

er auf jenes Streben nach Bedeutungsvielfalt und "Transzendenz" verweist, das auch die neuere Romanliteratur

kennzeichnet. Ein in diesem Sinne "barockes" Stilmittel, das viele Erzähler üppig einsetzen, sind die Metaphern

und verdeckten Anspielungen, die sowohl für die Literatur des hispanischen Barocks als auch für zahlreiche

Nuevas Novelas charakteristisch sind.

Als "la primera novela publicada en América y la primera de un autor posiblemente criollo" bezeichnet

Cedomil GOIC Los sirgueros de la Virgen sin original pecado (1620) des Mexikaners Francisco BRAMON: "si

en el Siglo de Oro de Balbuena era adivinable un simbolismo religioso, en la obra de Bramón estamos en el reino

mismo de la alegoría, del emblema y de las empresas de significación religiosa."5 Selbst wenn Werke wie

dieses in der modernen Literatur nur wenig Spuren hinterlassen haben, ist die metaphernreiche und religiös

getönte Barocklyrik doch unvergessen, und die literarische Sensibilität zahlreicher moderner Romanciers hat

durch sie eine erste Schulung erfahren.

Von Sor Juana abgesehen hat Spanischamerika zwar keine wirklich großen religiösen Autoren

hervorgebracht; dennoch ist seine Literatur im 17. und frühen 18. Jahrhundert möglicherweise "katholischer"

gewesen als die des Mutterlandes. Der Verbreitung allzuweltlicher Literatur - also auch von Romanen wie dem

Don Quijote - waren in der Neuen Welt nämlich durch rigide Einfuhrbestimmungen engere Grenzen gesetzt als

in Spanien6. Sofern man in bezug auf die Kolonialkultur überhaupt von der Existenz eines Lesepublikums

sprechen kann, dürfte - mindestens im gleichen Maße wie im Mutterland - religiöse Erbauungsliteratur, z. B.

gereimte Heiligenlegenden, eine große Rolle gespielt haben.

Für die Literatur des "Amero-Klassizismus" konstatiert Grossmann "aufklärerische Unterwanderung des

christlich-katholischen Gottesbegriffs". Diese Behauptung wird dadurch relativiert, daß das wirklich

4 Ebd., S. 139. 5 Cedomil GOIC, "La novela hispano-americana colonial", in: Luis IÑIGO MADRIGAL [Coordinador],

Historia de la Literatura Hispanoamericana. Tomo I: Época colonial, Madrid 1982, S. 388. 6 Allerdings gab es Möglichkeiten, die Einfuhrbestimmungen zu unterlaufen, die von Literaturbeflissenen

rege genutzt wurden.

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aufklärerische Denken, wie es in Frankreich und England entwickelt wurde und das auch den Keim des

neuzeitlichen Atheismus enthält, in Spanischamerika noch weit weniger Verbreitung finden konnte als in

Spanien. Soweit es zu Kritik und Reformen kam, durchbrachen diese kaum die vom katholischen Glauben und

der Patronatskirche gesetzten Grenzen. El Periquillo Sarniento (erschienen 1816-31) von José Joaquín

FERNANDEZ de LIZARDI - für viele der eigentliche Begründer des spanischamerikanischen Romans - steht

exemplarisch für diese Spielart der "Aufklärung". Der Held fungiert sein Leben lang als recht freidenkerisches

Sprachrohr enzyklopädischer Kritik, verstößt auch selbst ständig gegen die ethisch-sozialen Normen der Zeit;

Reue und Bekehrung setzen aber seinem "Ausbruch" ein Ende: er stirbt im Ruf der Heiligkeit.

Ein noch deutlicheres Beispiel dieser spanischamerikanischen ilustración cristiana ist El Evangelio en

Triunfo o historia de un filósofo desengañado (erschienen 1797/98), eine Art roman larmoyant des Peruaners

José de OLAVIDE: "es la defensa y la alabanza de la religión cristiana en el debate con los filósofos ilustrados,

que conduce a un libertino a la conversión religiosa y a su realización como hombre benéfico"7. Christus und

das Evangelium liefern das Vorbild für die Lebensreform des Protagonisten.

Das Werk leitet bereits zu der romantischen Konzeption des Christentums über, die im Schaffen

CHATEAUBRIANDs ihre Vollendung gefunden hat8. Für die Dichter, die am dogmatischen Gehalt der

christlichen Religion zweifeln, ihn übergehen oder verwerfen, bleibt sie doch die unerschöpfliche Quelle jenes

so poetischen merveilleux chrétien. Christliche Bildlichkeit und die délices de la religion9 gelangten als

Gegengewicht zu einer vom Rationalismus drohenden ästhetischen Austrocknung zu neuem, poetischem

Wert10.

Im 19. Jahrhundert gerät die Einstellung der Schriftsteller zum historischen und geistlichen Erbe, welches

das Christentum auf dem Subkontinent hinterlassen hat, ebenso wie die cristiandad colonial überhaupt, in eine

tiefe Krise. Zwar behalten katholische Tradition und christliches Denken als Inspirationsquellen ihre Kraft, aber

es kommt mehr und mehr zu einer Problematisierung:

En estos escritores el tema del "buen salvaje" está en pugna con el dogma católico. Como los jesuitas, cuyas relaciones misioneras en los siglos XVII y XVIII contribuyeron a propagar la identificación del indio con el hombre natural, estos escritores creían que la civilización corrompe y que los incontaminados indios de las Américas eran por lo tanto potencialmente mejores cristianos que los europeos, que ya habían contraído tantos vicios. Además, como muchos

7 Ebd., S. 396. Mit seinen zahlreichen Auflagen bis weit ins 19. Jahrhundert ist das Werk "un acontecimiento aparentemente sin paralelo en las letras hispánicas" (S. 395).

8 Aurelio FUENTES ROJO, in Kindlers Literatur Lexikon im dtv, Bd. 8, München 1974, S. 3333. 9 So lautete auch der Titel eines französischen Werks, an dem Olavide sich inspirierte. 10 Die Anziehungskraft, die Chateaubriand auf die spanischamerikanischen Intellektuellen der Aufklärung

ausübte, schlägt sich auch in der Gestaltung von Carpentiers Roman El siglo de las luces nieder.

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católicos sinceros, ambos escritores dudaban de la política de colonización y la veían como una fuerza nefasta tanto para el colonizador como para el colonizado.11

In diesem Zusammenhang ist auch der Kolumbianer Jorge ISAACS mit María (1867) zu nennen, dem bis ins 20.

Jahrhundert hinein meistgelesenen spanischamerikanischen Roman. Hier ist es ein ausgeprägter

jüdisch-biblischer Grundton, welcher der Erzählung eine religiöse Dimension verleiht12. Zwar tritt in der

romantischen Literatur Spanischamerikas das dogmatische Christentum mit seinen ethischen Imperativen zurück,

umso stärker verbinden sich aber Gefühl und Religiosität, und ihr bedeutendstes Reservoir ist nun weniger die

Kirche als die Natur: nicht selten scheint sie eine mystische Ausstrahlung zu besitzen.

Das Festhalten am Religiösen verbindet sich in der Epoche der Romantik mit einer nostalgischen Welt-

und Gegenwartsabgewandtheit. Religion wird zur Angelegenheit des subjektiven Gefühls, zur Privatsache13.

Bei manchen Autoren klingt das Ideal eines "retorno a la comunidad primitiva cristiana"14 an, das ja ein

Jahrhundert später zu neuer Aktualität gelangt. Dort wo eine Rückbesinnung auf die Epoche der

Evangelisierung - also der conquista (religiosa) - bzw. auf die präkolumbische Vergangenheit erfolgt, läßt sich

dies als Entsprechung der Wiederentdeckung des Mittelalters durch die europäische Romantik deuten. Nur

wenige Autoren vertreten in Spanischamerika die gesellschaftskritischen Tendenzen, die in Europa eine

wesentliche Strömung innerhalb der romantischen Literatur bestimmen. Eine Ausnahme ist der Argentinier

Esteban ECHEVERRIA (1805-1851). Zwar propagierte er als einer der ersten hispanoamerikanischen

Schriftsteller einen vehementen Antiklerikalismus, in seiner postum erschienenen Erzählung El matadero

verbindet sich die Kritik an der Kirche als Handlanger der politischen Unterdrückung aber mit einer

Christussymbolik, die ihn zum Vorläufer gewisser Tendenzen in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts

macht15.

Bei den meisten der Autoren geht das teilweise unbewußte Festhalten an den katholischen Traditionen

Spanischamerikas mit einer politisch und gesellschaftlich konservativen Haltung einher. Einen scheinbar

endgültigen Einschnitt bringt im Bereich der Literatur erst der Modernismus, jene Strömung, die in

Spanischamerika die moderne Literatur einleitet und mit welcher eigentlich erst eine genuin

hispanoamerikanische Literatur mit einer von Europa weitgehend unabhängigen Geschichte zu entstehen beginnt.

Verschiedene Faktoren, die im vorigen Kapitel Erwähnung fanden, haben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu

11 Jean FRANCO, Historia de la literatura hispanoamericana, Barcelona/Caracas/México 31980, S. 110. Die Autorin bezieht sich hier auf Juan LEON MERA (Ecuador) und Chateaubriand.

12 Fernando ALEGRIA, Nueva historia de la novela hispanoamericana, Hanover 1986, S. 39. S. a. Fuentes Rojo in KLL, 14, S. 6026.

13 Grossmann 1969, S. 213. 14 Franco 1980, S. 115; die Autorin bezieht sich hier auf den Kolumbianer Gregorio GUTIÉRREZ

GONZALEZ (1826-72). 15 Rosa M. CABRERA, "El símbolo de Cristo en la novela hispanoamericana", in: Actas del Cuarto

Congreso Internacional de Hispanistas, Salamanca 1982, Vol. I, S. 225 f.

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einem radikalen Emanzipationsstreben gegenüber der römisch-katholischen Tradition und der Religion

überhaupt geführt16.

Die Autoren des Modernismus nehmen meist ebenso extreme wie zwiespältige Haltungen gegenüber der

Problematik des Christentums und der Religion in der modernen Welt ein17. Ein symptomatischer Vers von

Rubén DARIO wurde bereits zitiert. Ein Teil der Schriftsteller des Fin de siècle bemüht sich in einer fast

verzweifelten Anstrengung um "die Bewältigung der Entzweiung mit der Welt durch den christlichen

Glauben"18. Als Beispiel wären etwa der Kolumbianer José María RIVAS GROOT mit Resurrección (1902)

und Angel de ESTRADA mit Redención (1906) zu nennen. In diesen Romanen geht die Behandlung einer

Glaubensproblematik mit einer teilweise hypertrophen christlich-religiösen Metaphorik und Symbolik einher19.

Biblisch-christliche Symbolismen klingen in den Titeln zahlreicher modernistischer Erzählwerke an; oft geht es

den Autoren dabei lediglich um Ausbeutung des emotiven Potentials, das Symbolfiguren wie "Kain" und dem

"Teufel" innewohnt20.

Die Häufigkeit biblisch-christlicher Symbole im modernistischen Roman ist unübersehbar und bedürfte

einer eigenen Untersuchung. Zum Teil geht sie sicher auf den Einfluß des französischen Symbolismus zurück,

wodurch sich auch ihre primär ästhetische und nur sekundär religiöse Funktion erklärt. Christliche Symbolik

verbindet sich oft mit einer vordergründig antireligiösen Einstellung, die jedoch zugleich gegen eine

eindimensionale positivistische Wirklichkeitsauffassung gerichtet ist. Das Erbe des spanischamerikanischen Fin

de siècle ist auch bei den zu untersuchenden neueren Erzählern noch spürbar. Nicht wenige unter ihnen sind mit

der Literatur jener Epoche aufgewachsen und pflegten in ihren frühen Schaffensperioden einen vom

Modernismus geprägten Stil. Was die Symbolik der Jahrhundertwende ganz entscheidend von derjenigen in

neueren Romanen unterscheidet, ist ihr scheinbar universeller, letztlich aber europäischer Charakter. Wieder sind

es aus Europa importierte literarische Traditionen, die die spanischamerikanische Literatur vor der Erstarrung

bewahren und bereichern sollen. Daß gerade das lateinamerikanische Christentum ein viel lebendigeres, sowohl

literarisches als auch gesellschaftliches und historisches Potential enthält, bleibt den modernistischen Autoren

verborgen. So ist es auch zu erklären, daß nach diesem letzten "Aufbäumen" religiöse und christliche Thematik

und Symbolik vorläufig in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die endgültige Emanzipation der

spanischamerikanischen Autoren von einer als Fessel empfundenen 400jährigen katholischen Tradition scheint

vollzogen.

16 Zum literarisch unbedeutenden "Amero-Realismus" mit seiner oft dogmatischen materialistisch-positivistischen Ausrichtung vgl. Grossmann 1969, bes. S. 268 f.

17 Vgl. ebd., S. 323. 18 Klaus MEYER-MINNEMANN, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, Tübingen 1979,

S. 252 ff. 19 Ebd., S. 261. 20 Vgl. ebd., S. 173, zu Carlos REYLES, La raza de Caín.

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In der Folge beschränkt man sich, nüchtern analysierend, auf das "Reich dieser Welt" und seine in Lateinamerika

von Jahr zu Jahr immer brisantere sozio-ökonomische Problematik. Die neue Sehweise kommt in jenem

sozial-realistischen Erzählstil zum Ausdruck, der in den verschiedenen Kulturbereichen des Subkontinents

unterschiedliche Ausprägungen gefunden hat: in Mexiko und den Andenländern etwa als indigenistischer Roman.

Religiosität und christlicher Glaube, die inzwischen fast nur noch bei Landbevölkerung und Unterschicht zu

finden sind, stehen nach Aussage dieser Werke dem technischen und gesellschaftlichen Fortschritt ebenso im

Wege wie die reaktionären Machenschaften einer Kirche, die sich aus ihrer Bindung an den politischen Status

Quo noch immer nicht befreit hat. Glaube und Kirche werden, ebenso wie der Pfarrer als Träger politischer

Macht, zu distanziert behandelten und beurteilten Themen. Viele der zwischen 1920 und 1960 entstandenen

Romane ähneln soziologischen Untersuchungen zur sozio-ökonomischen und kulturellen Realität

Spanischamerikas. Verständlicherweise ist dies nicht ohne Einfluß auf die Fragestellungen der Literaturkritik

geblieben: der Stellenwert von Christentum und Kirche wurde zum Untersuchungsgegenstand, aber aus einem

ganz anderen Blickwinkel als er hier eingenommen wird21.

Daß das christliche Erbe und insbesondere die biblisch-christliche Symboltradition sich aus einer sozial

engagierten, ja politisch revolutionären Intention heraus neu beleben lassen, wird zunächst möglicherweise gar

nicht in der Literatur, sondern in der modernen Malerei Lateinamerikas - genauer gesagt Mexikos - augenfällig,

wo im Zuge des Säkularisierungsprozesses "christliche Themen und Motive in einen radikal diesseitigen

Zusammenhang gestellt werden und eine Umdeutung erfahren."22

Zum Abschluß dieses Überblicks muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die spanischamerikanischen

Romanciers des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich in der literarischen Tradition ihrer eigenen Kultur gesehen

werden dürfen. Die literarästhetischen Neuerungen, die sich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts in

Hispanoamerika durchsetzen und die Tendenz zu einer symbolischen Schreibweise maßgeblich begünstigen,

gehen auf europäische und nordamerikanische Vorbilder zurück. Die Präsenz christlicher Symbolik und die

Spezifik ihrer Verknüpfung mit dem Romangeschehen steht unter dem Einfluß der großen Neuerer des

"europäischen" Romans, zu dem im weiteren Sinne die russischen Realisten, besonders DOSTOIEVSKI,

gehören, vor allem aber James JOYCE mit Ulysses, Thomas MANN und der Nordamerikaner William

FAULKNER sowie die nicht weniger symbolträchtige existentialistische Erzählliteratur etwa eines Albert

CAMUS. Diese "universelle" Orientierung löst die Determination durch die Literatur des Mutterlandes und

später auch Frankreichs ab, unter der Spanischamerika bis Anfang des 20. Jahrhunderts gestanden hatte.

Vorhandene Querverbindungen werden im Zusammenhang mit den einzelnen Autoren besonders erwähnt

21 Weiteres zu dieser Problematik findet sich in den beiden folgenden Abschnitten. 22 Hans HAUFE, Funktion und Wandel christlicher Themen in der mexikanischen Malerei des 20.

Jahrhunderts, Berlin 1978, S. 8; vgl. S. 162. Zahlreiche Beobachtungen Haufes haben auch für die Literatur volle Gültigkeit. Zu einem großen Teil decken sich die ikonographischen Symbole mit denjenigen, die in den hier untersuchten Romanen Bedeutung erlangen.

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werden. Auf den Gesamtkomplex der "europäischen Filiation" der christlichen Symbolik im

spanischamerikanischen Roman kann und soll hier nicht eingegangen werden. Es sei lediglich erwähnt, daß die

Beziehungen von Christentum und Literatur in Europa gerade auch im 19. und 20. Jahrhundert um ein

Vielfaches unproblematischer und auffälliger zu sein scheinen und dementsprechend auch in größerem Maße

erforscht worden sind23. Die vorliegende Untersuchung richtet sich im wesentlichen auf das spezifisch

Lateinamerikanische in der Gestaltung der biblisch-christlichen Symbolik und des Christentums im Roman und

konzentriert sich daher auf die kulturelle Tradition des Subkontinents, d. h. auf die für das Verständnis der unter-

suchten Romane relevanten literarischen und außerliterarischen Kontexte. In diesem Sinne soll im

folgenden - nach Möglichkeit unter Berücksichtigung der hierzu vorliegenden Forschungsergebnisse - nach dem

Stellenwert gefragt werden, der dem Christentum bzw. der christlichen Symbolik in den verschiedenen

Gattungen der spanischamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, den Roman vorläufig ausgenommen,

zukommt.

2.2 DER LITERARISCHE KONTEXT IM 20. JAHRHUNDERT: DE R STELLENWERT

DES CHRISTLICHEN IN ESSAY, LYRIK, DRAMA UND CUENTO

2.21 Essay

Fast alle bedeutenden spanischamerikanischen Essayisten haben sich bei dem gemeinsamen, mehr oder weniger

expliziten Bemühen um eine Wesensbestimmung der americanidad die Frage nach dem Stellenwert des

Christlichen in ihrer eigenen Kultur gestellt. Da die Bedeutung des Christentums und der Kirche für die eigene

Vergangenheit mit allen negativen und positiven Aspekten außer Frage steht, sind ihre Überlegungen dort am

interessantesten, wo sie über die Möglichkeiten spekulieren, die das christliche Erbe in Lateinamerika angesichts

23 Vgl. z. B. folgende Untersuchungen: Charles MOELLER, Littérature du XXe siècle et christianisme, 5 vols., Paris 1954-1975; Gisbert KRANZ, Europas christliche Literatur von 1500 bis heute, Mün-chen/Paderborn/Wien 1968; Otto MANN [Hg.], Christliche Dichter im 20. Jahrhundert. Beiträge zur europäischen Literatur, München ²1968; Amos N. WILDER, Theology and Modern Literature, Cambridge 1958; Dorothee SÖLLE, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt/Neuwied 1973. - In den letzten Jahren ist das gegenseitige Interesse von Literaturwissenschaft und Theologie in bemerkenswerter Weise gewachsen, nicht zuletzt, weil man die symbolische bzw. "mythische" Dimension der Literatur als Residuum der Transzendenz stärker zur Kenntnis nimmt. Belegt wird diese Tendenz durch Veröffentlichungen wie: Ernst Josef KRZYWON, "Literaturwissenschaft und Theologie. Elemente einer hypothetischen Literaturtheologie", in: Stimmen der Zeit, 99 (1974), S. 108-116, oder einen Sammelband, in dem sich verschiedene deutschsprachige Erzähler über ihr Verhältnis zum Christentum äußern: Karl-Josef KUSCHEL [Hg.], Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, München/Zürich 1985. Ein weiteres Indiz sind interdisziplinäre Veranstaltungen wie das 1984 in Tübingen abgehaltene Symposion "Theologie und Literatur".

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der brennenden soziokulturellen Probleme eröffnet. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Überlegungen

"liberaler", also dem traditionellen Kirchenkatholizismus skeptisch gegenüberstehender Autoren, weil gerade sie

einen auf Erneuerung und aggiornamento zielenden Dialog "zwischen den Lagern" initiieren bzw.

vorwegnehmen.

Einer dieser Essayisten ist der Uruguayer José Enrique RODO (1871-1917). Bekannt ist er vor allem

durch sein Werk Ariel, in dem er von einem materialistischen Positivismus angelsächsischer Prägung abrückt. In

seinem weniger bekannten Mirador de Próspero (1918) meditiert er über Jesus Christus als Niño-Dios, als "Dios

inmanente, en formación, Dios débil e imperfecto que se va desenvolviendo en el mundo y en la conciencia

hacia un porvenir mejor."24 In Liberalismo y Jacobinismo (1906) bezog er bereits energisch Position gegen die

Eliminierung der christlichen Symbole aus einer zugegebenermaßen säkularisierten modernen Kultur und

Gesellschaft. Auch der Freidenker Rodó sah - im Gefolge des von ihm hochverehrten Ernest RENAN - in einem

ganz und gar menschgewordenen Jesus vor allem den einzigartigen Erneuerer: er ist der absolut originelle und

kreative Begründer des abendländischen Ethos25.

Ein weiterer liberaler Denker, für den nicht nur der Beitrag des christlichen Erbes zur Kultur der Neuen

Welt außer Frage steht, sondern der auch auf eine kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung Lateinamerikas

auf der Basis eines reinterpretierten Christentums setzt, ist der Mexikaner José VASCONCELOS (1881-1959).

In Indología (1925) stellt auch er den Positivismus als dem lateinamerikanischen Wesen unangemessen und

bereits überwunden dar. Er hofft auf einen "cristianismo libre y fervoroso"26, der endlich auf die Erfordernisse

und Nöte dieser Welt antworten möge. Als Zielvorstellung für die lateinamerikanische Kultur sieht er die

Verwirklichung des "Gesetzes Christi" an:

En el mismo concepto religioso de la vida, juzgo yo que es aquí en nuestra América donde las condiciones sociales y espirituales se han ido combinando de tal modo que por primera vez va a ser posible hacer un ensayo de la ley de Cristo en su interpretación fuerte y sincera. El sincretismo que aquí han operado las circunstancias, la eugenesia y la confusión de los credos, nos va a permitir poner en obra una interpretación de la doctrina cristiana, totalmente distinta de las que se han hecho ley hasta hoy, una interpretación más profunda, por lo mismo que no va a estar alejada de la realidad. ¡Como intento audaz de consumar el reino del Padre en la tierra, así veo yo en ocasiones, la tarea de este ciclo iberoamericano de la civilización! Si trabajamos la realidad con fe, quizás llegaremos a comprobar que el cristianismo no es la teoría de los dos mundos opuestos: el

24 Enrique ANDERSON IMBERT, Historia de la literatura hispanoamericana. I: La Colonia, Cien años de República, México 21970, S. 475.

25 Vgl. José E. RODO, "Liberalismo y Jacobinismo", in: id., Ariel, Valencia: Prometeo, s. d., S. 157 f.: "Exclúyanse - si se quiere -, por legendarias o dudosas, de la vida de Jesús toda determinación biográfica, toda circunstancia concreta: el nacimiento en Belén ó en Nazaret, la visita al Bautista, el grupo de pescadores, la crucifixión en el Calvario... y siempre quedará subsistente la necesidad psicológica de la existencia de la personalidad capaz de haber dado el impulso genial, la forma orgánica de los elementos que compusieron la doctrina é inflamado el fuego del proselitismo. Y siempre subsistirá además la noción fundamental del carácter de esa personalidad, testimoniado por la índole de su obra, de su creación, de su ejemplo, tal como éste toma formas vivas en los actos de sus discípulos y en la moral que prácticamente instituyeron."

26 Vasconcelos, S. 138.

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de la tierra y el del cielo, sino la revelación de una manera divina de la energía, que a la misma realidad la reforma y la adapta al fin superior. Si algo de esto logramos, tendremos derecho para afirmar que representamos una era nueva en el mundo.27

Ebenso wie Rodó und Vasconcelos unternimmt auch der Argentinier Ricardo ROJAS (1882-1957) mit Eurindia

(1924) einen Versuch, die kulturelle Essenz Lateinamerikas zu bestimmen, dem eine halb christlich-religiöse,

halb freimaurerische Sozialdoktrin zugrundeliegt. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang auch sein

Essay El Cristo invisible (1928). In einer Art platonischem Dialog, der sich hier zwischen dem Autor und einem

Bischof entspinnt, scheint ein "unsichtbarer Christus" gegenwärtig zu sein28.

In jüngerer Zeit hat der ebenfalls aus Argentinien stammende Héctor Alvarez MURENA (1923-1975)

sich mit Hilfe einer paratheologischen Begrifflichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Problematik

Lateinamerikas zu nähern versucht. Er stellt dem positivistischen "Objektivismus" einen grenzüberschreitenden

"Transobjektivismus" entgegen, den er unter anderem in den Werken von NERUDA, MALLEA und BORGES

anklingen sieht29. Die Analyse der spirituellen Wirklichkeit Lateinamerikas führt den Autor allerdings zu der

Erkenntnis, daß Christus hier als Mittler zwischen dem Mensch und dem Absoluten negiert wird:

Pues Cristo fue esencialmente el intermediario entre Dios y los hombres, el que quedó como asegurador del restablecimiento de la antigua alianza quebrada por el pecado original, y quien, al soldar de nuevo esa alianza entre Dios y los hombres, dio también forma de doctrina a la alianza entre todos los seres humanos. Y en América esta alianza interhumana ha sido abandonada, pero a causa de que previamente se había dejado de lado, en lo íntimo, la esperanza depositada en el mediador, en Cristo, el Sostén de esa alianza.30

Bemerkenswert ist auch der Vergleich, den der Autor hinsichtlich der Bedeutung des Christentums für die

Künste in Lateinamerika und Europa anstellt:

[...] la prueba de fuego del arte nos dice que la capacidad del cristianismo para satisfacer a las almas se mantiene tan viva que entre los más destacados artistas de la presente hora europea, entre los que se hallan en la vanguardia de la estética europea, figuran muchos que no sólo son cristianos sino católicos, cuyas obras más logradas son aquellas en las que no vacilan en dar tanta primacía al dogma como al arte: lo cual viene asimismo a demostrarnos que ese decaimiento de la fe en general y esas filosofías anticristianas no representan más que un momento de crisis del

27 Ebd., S. 226. 28 Grossmann 1968, S. 88. 29 Héctor Alvarez MURENA, El pecado original de América, Buenos Aires ²1965, S. 203. 30 Ebd., S. 215 f. - Was Murena letztlich kritisiert, ist der "magische" Charakter der lateinamerikanischen

Religiosität. Amerika ist deshalb in die Ursünde zurückgefallen, weil die Natur hier dem Menschen mit einem so überwältigenden Gewicht begegnete, daß ihm die Erlösungsbotschaft Christi einfach unglaubwürdig erschien. So erklärt der Autor auch das Zustandekommen jenes Bildes vom "bösen Gott": "La muerte volvió a mostrarse desnuda y sin atenuantes en la normal, indiferente caducidad provocada por el rodar de ese mundo indomado, y mostró así también el rostro de un Dios que no era el dulce y humanizado que había logrado grabar Cristo en las almas." (S. 218)

Page 11: K2_lustig_christentum

53

cristianismo que conserva su posibilidad de vigencia para el espíritu objetivo y que saldrá sin duda de esta instancia fortalecido.31

Für Murena ist das Verblassen des Christussymbols der Beginn allen Übels in Lateinamerika - dennoch bleibt

die Hoffnung auf "una nueva visión de Cristo"32.

Auch Ernesto SABATO und Octavio PAZ berühren in ihren Essays mehrfach die beiden Themenkreise:

den Stellenwert des Christentums und seinen kulturellen Beitrag im heutigen Lateinamerika sowie die neuerliche

Annäherung von Literatur und Religion, die sich aus der gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber einer

eindimensional positivistischen Wirklichkeitsauffassung ergibt.

2.22 Lyrik

Die Person des inzwischen ja auch im deutschen Sprachraum allgemein bekannten Essayisten und Lyrikers

Octavio PAZ kann überleiten zu der Frage nach der Präsenz des Christlichen in der spanischamerikanischen

Poesie. Über die Verwandtschaft, die grundsätzlich zwischen Dichtung und Religion besteht, reflektiert Octavio

Paz in La revelación poética, einem Teil seiner 1952 entstandenen Poetik mit dem Titel El arco y la lira :

"Religión y poesía tienden a realizar de una vez para siempre esa posibilidad de ser que somos y que constituye

nuestra manera propia der ser."33 Vielleicht aus einer spezifisch mexikanischen Erfahrung heraus verbindet sich

dieses Bekenntnis bei Octavio Paz allerdings mit einer deutlich kirchen- und theologiefeindlichen Einstellung34.

Nach seiner Auffassung wird es nicht zu einer Wiederbelebung der Religion im herkömmlichen Sinne kommen;

vielmehr scheint die Dichtung im Begriff zu sein, deren Funktion - unter anderem die des "desafío a la razón" -

zu übernehmen35. Damit steht die Dichtung, die auch das eigentliche Mysterium und Faszinosum der Heiligen

Schriften begründet, für ihn höher als die Religion: "Religión es poesía, y sus verdades, más allá de toda opinión

sectaria, son verdades poéticas: símbolos y mitos"36. Insofern gerade der neuere lateinamerikanische Roman

Symbole und Mythen verarbeitet, also - wie man ja auch oft konstatiert - "poetisch" wird37, geht auch er eine

Wahlverwandtschaft mit dem Phänomen des Religiösen ein.

Prinzipiell kann die Lyrik jedoch als diejenige Ausdrucksform gelten, in der das Religiöse am ehesten

eine literarische Heimstatt findet. Dies liegt u. a. an ihrem tendenziell subjektiveren Charakter und jenem

31 Ebd., S. 217. 32 Ebd., S. 223. 33 Octavio PAZ, El arco y la lira , México 41973, S. 137. 34 Vgl. z. B. S. 156. 35 Ebd., S. 118. 36 Ebd., S. 235. 37 Ebd., S. 225 u. 232.

Page 12: K2_lustig_christentum

54

Reichtum an Metaphern und Symbolen oft religiösen Ursprungs, der die moderne Lyrik auch in Lateinamerika

kennzeichnet. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa die beiden chilenischen Nobelpreisträger

Gabriela MISTRAL (1889-1957) und Pablo NERUDA (1904-1973). Gerade letzterer ist ein Beispiel dafür, wie

der massive Einsatz religiös markierten Sprachmaterials mit einer plakativen Irreligiosität einhergehen kann. Zu

religiösen Aspekten im Werk einzelner spanischamerikanischer Autoren liegt eine größere Anzahl von

Einzeluntersuchungen vor38.

Seit den 60er Jahren versuchen verschiedene spanischamerikanische Lyriker zunehmend eine Synthese

von Sozialrevolutionärem und Christlichem, sowohl im Denken als auch in der Bildlichkeit. In seiner

Literaturgeschichte widmet José María VALVERDE den kubanischen Vertretern dieser Richtung, für die José

LEZAMA LIMA ein wichtiges Vorbild ist, einen "Cristianismo y Revolución" betitelten Abschnitt39. Eine oft

religiös getönte Lyrik, deren Autoren freilich nicht in Literaturgeschichten Erwähnung finden, geht aus den

"Lyrikwerkstätten für jedermann", den sogenannten Talleres de poesía hervor, die sowohl in Kuba als auch in

Nicaragua eingerichtet worden sind. Zu ihren Förderern gehört auch der im deutschen Sprachraum wohl

populärste lateinamerikanische Dichter: der nach der Revolution zum Kulturminister ernannte nicaraguanische

Priester Ernesto CARDENAL (*1929)40, der eben aufgrund seiner politischen Aussagen und Aktivitäten mit der

römischen Kirche in Konflikt geraten ist.

Neuerdings hat Franz NIEDERMAYER eine deutschsprachige Anthologie mit dem Titel Gott der Armen

vorgelegt41. Mit Erstaunen nimmt der Leser zur Kenntnis, daß so viele bedeutende lateinamerikanische

Schriftsteller sich in lyrischer Form mit dem Problem "Gott" auseinandergesetzt haben. Neben den bereits

erwähnten findet man Namen wie: Miguel ARTECHE (Chile), Jorge Luis BORGES; Rosario CASTELLANOS

(Mexiko), Roque DALTON (Nicaragua), Carlos DRUMMOND de ANDRADE (Brasilien), José GOROSTIZA

(Mexiko), Ezequiel MARTINEZ ESTRADA (Argentinien), José Emilio PACHECO (Mexiko), Carlos

PELLICER (Mexiko), Gonzalo ROJAS (Chile), Rodolfo USIGLI (Venezuela), César VALLEJO (Peru) und

viele andere, weniger bekannte.

38 Hier sei nur eine Studie genannt, die sich mit der puertorikanischen Dichtung befaßt: Ciriaco PEDROSA IZARRA, Religión y religiones en los poetas. La lírica religiosa en la literatura puertorriqueña del siglo XX, Madrid 1973.

39 José María VALVERDE, La literatura de Hispanoamérica (= Historia de la literatura universal, T. 4), Barcelona ²1977, S. 408-412.

40 Vgl. Eduardo URDANIVIA BERTARELLI, La poesía de Ernesto Cardenal: Cristianismo y revolución. Prólogo de Luis MONGUIO, Lima 1984.

41 Gott der Armen. Religiöse Lyrik aus Lateinamerika. Ausgewählt und übertragen von Franz NIEDERMAYER. Eingeleitet von Erika LORENZ, Düsseldorf 1984. - Franz Niedermayer, aus früheren Veröffentlichungen als politisch konservativer Literaturkritiker bekannt, widmet der kuba-nischen Lyrik besonders breiten Raum; exilierte Autoren haben in der Sammlung allerdings ein deutliches Übergewicht. Der Titel der Anthologie ist ein wenig irreführend, weil sie den falschen Eindruck einer besonderen Affinität mit der Befreiungstheologie entstehen läßt.

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55

2.23 Drama

Das Drama scheint die am wenigsten bedeutsame Gattung der spanischamerikanischen Literatur zu sein. Dabei

ist es hier - gleichsam im Verborgenen -, wo sich eine religiöse Problematik (oft in existentialistischer

Gewandung) besonders augenfällig in symbolischen Ausdrucksformen "christlichen" Ursprungs manifestiert.

Mit Vorbehalt christlich ist nämlich die Präsenz des Teufels, die GROSSMANN in den Dramen des Argentiniers

Conrado NALÉ ROXLO (El pacto de Cristina, 1945) und des Guatemalteken Carlos SOLORZANO (La mano

de Dios, Mexiko 1956) aufzeigt42. Solórzano hat sich in dem Stück Las celdas (1971) mit jener Affäre um den

Benediktiner-Abt Lemercier in Cuernavaca befaßt, die auch das Interesse des Mexikaners Vicente LEÑERO ge-

funden hat. Dieser ist selbst Verfasser zahlreicher Dramen, in denen eine religiöse Thematik im Vordergrund

steht. Leñero wird in Kap. 10 als Romancier ausführlich behandelt. V. A. BROWNELL hat den religiösen

Aspekten im modernen Drama Lateinamerikas eine ausführliche Untersuchung gewidmet, aus welcher hervor-

geht, daß die meisten bedeutenden lateinamerikanischen Dramatiker religiös-metaphysische Probleme und

Symbole in ihr Schaffen einbeziehen43. Zu erwähnen wären hier neben den bereits genannten Autoren der

Mexikaner Rodolfo USIGLI, der Argentinier Samuel EICHELBAUM und aus Mexiko Emilio CARBALLIDO

sowie Carlos FUENTES mit seinem Stück El tuerto es rey. Der Einfluß des europäischen Existentialismus ist bei

den meisten von ihnen in der Form spürbar, daß "Gott" seine Rolle zwar noch nicht ausgespielt hat, aber gerade

dabei ist, vom Menschen entthront zu werden.

2.24 Cuento

Die Kurzerzählung, der spanischamerikanische cuento, ist eine weitere in großem Ausmaß gepflegte literarische

Ausdrucksform, in der sich das Interesse der modernen Erzähler am Metaphysisch-Religiösen und an christlicher

Symbolik ablesen läßt. Religiös-symbolische Elemente haben hier oft eine primär ästhetische Funktion zu

erfüllen, indem sie für eine Grenzüberschreitung in Richtung auf das Transrationale und Metaphysische

dienstbar gemacht werden. Das gilt besonders für den cuento "fantástico"; in ihm vermag sich das "Unerhörte"

zu kristallisieren, das viele Autoren mit Hilfe dieser Erzählform aufscheinen lassen möchten44. Als

repräsentativen Autor wird man an erster Stelle den Altmeister der modernen Literatur in Spanischamerika,

42 Grossmann 1973. 43 Virginia Anne BROWNELL, Views of religion in contemporary Spanish American and Brazilian

Drama, Pennsylvania State University (Diss.) 1975. 44 Vgl. Edelweis SERRA, Tipología del cuento literario, Madrid 1978, Kap. V.: "El cuento fantástico".

Noch treffender wäre wohl - auch für das von E. Serra Gemeinte - der Begriff des cuento epifánico. Vgl. hierzu: Lida ARONNE AMESTOY, América en la encrucijada de mito y razón. Introducción al cuento epifánico latinoamericano, Buenos Aires 1976.

Page 14: K2_lustig_christentum

56

Jorge Luis BORGES (*1899) nennen müssen. Sein Werk ist zum einen reich an metaphysischen,

"epiphanischen" Erzählungen, zum anderen ist die Bibel in ihm allgegenwärtig, wenngleich der Autor die

Religionen nach eigener Aussage nur wegen ihres ästhetischen Gehalts ehrt45. Auf den gleichen "spielerischen"

Umgang nicht nur mit religiöser Symbolik, sondern mit Erzählstoffen biblischen Ursprungs stößt man in den

Falsificaciones (1966) des gleichfalls argentinischen Erzählers Marco DENEVI (*1922). Ein fast obligatorischer

Kunstgriff ist die Verwendung biblisch-christlicher Stoffe und Symbole in den Kurzgeschichten der chilenischen

Generación del 1950. Ein bedeutender Teil der später zu untersuchenden Romanautoren hat in frühen

Erzählungen Stoffe aus der biblisch-christlichen Tradition verarbeitet (z.B. Manuel ROJAS, Carlos DROGUETT,

Augusto ROA BASTOS und Eduardo CABALLERO CALDERON). In vielen dieser cuentos sind noch

Elemente des Symbolismus und Modernismus erkennbar. Sie entführen den Leser häufig in eine Welt des "ganz

Anderen", die kaum Bezüge zur zeitgenössischen Realität Lateinamerikas aufweist. Für das literarische

Experiment, ein Motiv oder Symbol der biblisch-christlichen Tradition narrativ zu entfalten, stellt die Kurz-

geschichte die ideale Form dar: wesentlich schwieriger ist es, einen solchen Nucleus mit der ausladenden

Handlung eines im lateinamerikanischen Hier und Jetzt spielenden Romans zu verknüpfen. Es leuchtet dem

Leser ein, daß eine kurze Erzählung nicht jenen Gehalt an Welt und Wirklichkeit besitzen muß, ohne den die

Großform nicht auskommen kann.

Am spanischamerikanischen cuento zeigt sich allerdings auch, daß das christliche Erbe auf dem

Subkontinent nicht nur in der universalen "biblischen", also Buch-Form, überliefert wurde. Vielmehr ist bis

heute ein reicher Schatz an mündlich tradierten Erzählungen lebendig, in welchen die Religion eine Hauptrolle

spielt. Das Christentum - freilich nur selten in seiner orthodox-dogmatischen Form - steht hier zumindest

gleichberechtigt neben dem, was sich an präkolumbischen Religionen und Mythen erhalten hat, und beide

Stränge gehen häufig eine synkretistische Verbindung ein. Wiederkehrende Figuren und Motive der cuentos

populares46 sind der Hl. Joseph, Petrus und Jesus, Mariendevotionen sowie der Unterweltsbesuch und die Be-

gegnung mit Toten. Immer wieder haben sich spanischamerikanische Schriftsteller für diese Stoffe interessiert

und sie literarisch kultiviert. Allgemein bekannt ist das Beispiel des guatemaltekischen Nobelpreisträgers Miguel

Angel ASTURIAS, der seine Leyendas de Guatemala (1930) zwar mit hohem literarischem Anspruch, aber aus

dem Geiste der volkstümlichen Literatur heraus verfaßt hat. Asturias ist nur einer unter vielen Romanciers, die

Motive der mündlich überlieferten Literatur in ambitiöse Romane einfließen ließen und damit eine künstlerische

Synthese indigener Mythen mit christlich geprägten Legenden und creencias zu schaffen versuchten.

Die cuentos populares mit ihrem Anteil christlicher Motivik konstituieren für viele lateinamerikanische

Erzähler eine lebendige Erzähltradition, von der sie unmittelbar beeinflußt sind. Von mehreren Autoren, etwa

45 Als Beispiele seien genannt: Tres versiones de Judas (in: Ficciones, 1944) und El Evangelio según Marcos (in: El informe de Brodie, 1970).

46 Vgl. die deutschsprachige Sammlung Märchen aus Mexiko. Herausgegeben und übersetzt von Felix KARLINGER und Maria Antonia ESPADINHA, Düsseldorf/Köln 1978. - Der Band enthält 13 derartige Legendenmärchen, die in leicht abgewandelter Form auch in anderen lateinamerikanischen Ländern erzählt werden.

Page 15: K2_lustig_christentum

57

Carlos DROGUETT, Gabriel GARCIA MARQUEZ und José María ARGUEDAS weiß man, daß die abend-

lichen Erzählungen der Eltern, Großeltern und Kinderfrauen den ersten Impuls für die eigenen literarischen

Ambitionen darstellten.

2.3 DER NEUERE SPANISCHAMERIKANISCHE ROMAN

2.31 Ein Forschungsüberblick

Durch seinen Realitätsgehalt und das Totalitätsstreben übertrifft der Roman, zumal in der Form, wie er in

Lateinamerika seit etwa Mitte dieses Jahrhunderts gepflegt wird, alle übrigen literarischen Ausdrucksformen bei

weitem. Es ist zu erwarten, daß sowohl das Christentum als wesentlicher Bestandteil der kulturellen Wirklichkeit

als auch biblisch-christliche Symbolik als ein Mittel zur literarischen Bewältigung dieser Wirklichkeit im Roman

ein besonderes Gewicht erlangen. Die zu dieser Problematik vorliegenden übergreifenden Untersuchungen

vermögen diese Vermutung zunächst nicht zu bekräftigen. Die wenigen Studien, die sich explizit mit der

Thematik befassen, sollen im folgenden kurz dargestellt werden. Spezielle Untersuchungen zu einzelnen

Autoren - im übrigen nicht viel zahlreicher - finden in den betreffenden monographischen Kapiteln

Berücksichtigung. Verstreute und unsystematische Bemerkungen finden sich allenthalben; da sie im allgemeinen

jedoch nicht bibliographisch erfaßt werden, kann in dieser Hinsicht kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben

werden. Gerade die aufschlußreichsten Materialien waren bibliographisch nur schwer zu ermitteln, und nicht

selten ist es dem Zufall zu verdanken, daß sie überhaupt einbezogen werden konnten. Als erschwerender

Umstand tritt hinzu, daß es oft Theologen und Ethnologen sind, die sich dem Gegenstand mit größerer

Aufmerksamkeit und umfassenderem Sachverstand widmen als lateinamerikanische Literaturkritiker und

europäische Literaturwissenschaftler mit ihrem teilweise dogmatischen Desinteresse an allem, was mit Religion

zu tun hat. Als gewichtige Beiträge müssen in Anbetracht dessen einige an nordamerikanischen Universitäten

vorgelegte Dissertationen gewertet werden.

Schon im Vorfeld methodologischer Differenzierungen ist die Feststellung möglich, daß das Interesse der

Literaturkritik sich primär darauf richtet, welchen Stellenwert Religion, Glaube und Kirche in der von den

Romanen dargestellten Wirklichkeit erlangen und welche Bewertung sie erfahren. Das Christentum wird hier als

Teil der soziokulturellen, oft auch politischen Realität Lateinamerikas "behandelt". Eine alternative

Fragestellung, die der Struktur moderner Romane eher angemessen zu sein scheint, zielt darauf ab, in welcher

Beziehung das christliche Erbe Lateinamerikas zur Art und Weise der Wirklichkeitsdarstellung steht - eine

Frage, die ja hinsichtlich des "Mythos" im allgemeinen und der autochthonen Mythologien im besonderen das

Interesse seit langem beansprucht. Die Frage ist, ob Stoffen, Motiven und Symbolen der christlichen Tradition

eine vergleichbare Funktion zukommt.

Page 16: K2_lustig_christentum

58

Die erstgenannte Problemstellung ist insofern auch weiterhin von Interesse und in dieser Studie ebenfalls

zu berücksichtigen, als davon ausgegangen werden kann, daß eine christlich geprägte Wirklichkeit christlich

geprägte Erzählformen hervorbringt; d. h. die zweite, interessantere Frage kann nicht ohne die erste beantwortet

werden. Daher verdient auch ein Werk von 1951 wie Mary Ellen STEPHENSONs The treatment of religion in

contemporary Spanish American fiction47 Erwähnung. Die Autorin richtet ihr Hauptaugenmerk auf Romane der

30er und 40er Jahre. Dabei gelangt sie zu dem Schluß, daß die spanischamerikanischen Romanciers, sofern sie

nicht sogar eine "zynische" Haltung gegenüber Glauben und Kirche einnehmen, dem Bereich des Religiösen im

allgemeinen sehr kritisch gegenüberstehen48. Wenn auch das Christentum nie Zentralthema sei, beschäftige sich

doch fast jeder Autor dann und wann mit dem Gegenstand; "the tremendous importance of Church in Spanish

American lives" läßt ihnen keine andere Wahl49. Die private Einstellung der Autoren und ihre explizite

Stellungnahme gegenüber dem Glauben hat bei Stephenson großes Gewicht. Einige Einzelbeobachtungen sind

insofern interessant, als die Tendenz der nach 1950 erschienenen Romane in eine ganz andere Richtung weist:

- in der Welt der von Stephenson behandelten Romane ist das Christentum nur selten Träger eines humanitären Impulses50;

- das Erscheinungsbild des Christentums differiert in den einzelnen Nationalliteraturen nur wenig voneinander51;

- die Volksreligiosität, deren Bedeutung für ganz Lateinamerika konstatiert wird, ist für die literarische Darstellung von geringer Relevanz, vor allem dort, wo individuelles und inneres Geschehen (und nicht kollektives, äußeres) im Vordergrund steht52;

- die Figur Christi ist in der Welt der Romane in auffälliger Weise unterrepräsentiert; wenn überhaupt, findet das Motiv der Kreuzigung, nicht das der Auferstehung, Erwähnung; Jesu Lehre ist bedeutungslos53;

- mit der Bibel scheinen die spanischamerikanischen Romanciers, ebenso wie die breite Masse der Bevölkerung, nur oberflächlich vertraut zu sein54.

Neben zahlreichen heute in Vergessenheit geratenen Autoren berücksichtigt M. E. Stephenson auch Erzähler, die

als Wegbereiter der Nueva Novela weiterhin von Bedeutung sind, wie Miguel Angel ASTURIAS, José Rubén

ROMERO, Eduardo MALLEA und José REVUELTAS. Den komplexen Strukturen, die deren Romane

auszeichnen, wird die Untersuchungsmethode allerdings nicht hinreichend gerecht.

47 Chicago/Illinois (Diss.) 1951. 48 Ebd., S. 320. 49 Ebd., S. 23. 50 Ebd., S. 223. 51 Ebd., S. 327. 52 Ebd., S. 23 f. 53 Ebd., S. 118 ff., vgl. S. 323. 54 Ebd., S. 56 u. 321.

Page 17: K2_lustig_christentum

59

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der an der religiösen Thematik der lateinamerikanischen

Literatur Interessierte zahlreiche Anregungen bei Rudolf GROSSMANN findet: etwa die, daß die

Reformbestrebungen des II. Vatikanischen Konzils ihren Niederschlag auch in der Literatur finden und daß der

Widerspruch zwischen Volksfrömmigkeit und institutionalisierter Religion sich immer stärker bemerkbar

macht55. Grossmanns Beobachtungen lassen vermuten, daß der Komplex von christlicher Thematik und

Symbolik in der brasilianischen Literatur noch größeres Gewicht hat als in derjenigen der

spanischamerikanischen Länder, wobei die dortige Berührung mit den afroamerikanischen Kulten allerdings

wesentliche Modifikationen zur Folge hat. Leider illustriert Grossmann seine durchaus glaubwürdigen Hinweise

kaum mit Beispielen aus der neueren spanischamerikanischen Erzählliteratur. Die nach 1950 erschienenen

Romane jüngerer Autoren sind in dem Kapitel zur "jüngsten Gegenwart" (1935-1965) zu knapp vertreten.

Grossmann konzentriert sich weitgehend auf den weltanschaulich-kulturellen Einfluß, der in den einzelnen

Epochen - bis heute - vom Christentum ausgegangen ist und die Autoren, und durch sie die Romane, geprägt hat.

Unter diesem Aspekt steht auch seine kurze, aber für unser Anliegen sehr aufschlußreiche Studie "Das Erbe der

Mönche und Conquistadoren"56.

Es ist verständlich, wenn im deutschen Sprachraum der lateinamerikanische Roman auch als ein Mittel

zur Information über die Wirklichkeit des Subkontinents Interesse findet. Auf der Basis dieser

Erwartungshaltung begreift Ronald DAUS die lateinamerikanische Literatur als eine auf die objektive

Wirklichkeit gerichtete "Selbstdarstellung eines Kontinents"57. Der Rang, den die Beobachtungen zum

Christentum und vor allem zur Rolle der Kirche in Lateinamerika einnehmen, entspricht dem historischen

Gewicht der Institution. Wie Daus deutlich macht, geht es vor allem den Autoren des indigenistischen Romans

um Denunzierung der verderblichen politischen Einflußnahme von Klerus und Kirche58. Verschiedentlich

erwähnt der Autor aber auch andere als negative Spuren des Christentums im lateinamerikanischen Roman; er

verweist auf die kulturelle Integrationsfunktion des katholischen Erbes und stellt im Zusammenhang mit der

kolumbianischen Literatur heraus, daß christliches Denken bei einigen Schriftstellern zum Nährboden sowohl

literarischer als auch ethisch-politischer Kreativität wird59.

Ganz ähnlich konzipiert ist Francisco MORALES PADRONs Untersuchung América en sus novelas60.

Hier werden "superstición, sincretismo y catolicismo" als ein Punkt unter Cuestiones sociales beleuchtet, und

zwar wieder so, als handele es sich um ein Material, das die Romanciers distanziert behandelten. Immerhin

konstatiert Morales Padrón gerade auch für die neueren Romane: "Las novelas se detienen bastante en estos

fenómenos religiosos", und er stellt fest, daß sowohl die Volksreligiosität als auch neuere Tendenzen wie etwa

55 Grossmann 1969 (Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur), S. 530. 56 Grossmann 1968 (op. cit.). 57 Ronald DAUS, Zorniges Lateinamerika. Selbstdarstellung eines Kontinents, Düsseldorf/Köln 1973. 58 Ebd., S. 54 ff. 59 Ebd., S. 230 ff. - Weiteres hierzu in dem Eduardo CABALLERO CALDERON gewidmeten 5. Kapitel. 60 Francisco MORALES PADRON, América en sus novelas, Madrid 1973.

Page 18: K2_lustig_christentum

60

die Befreiungstheologie in die Romandarstellung eingehen61. Allerdings zielen seine Beispiele eher auf die

Verarbeitung von magisch-mythischen creencias und Synkretismen in verschiedenen Romanen. Es finden sich

Bemerkungen zu Werken von ASTURIAS, CARPENTIER, RULFO, ARGUEDAS, Rosario CASTELLANOS,

VARGAS LLOSA und anderen.

Wenn "Christentum im Roman" nur als Teilaspekt von Arbeiten erscheint, die die gesamte

lateinamerikanische Literatur berücksichtigen wollen, bleibt es deren Autoren versagt, der Komplexität des

Themas auch nur annähernd gerecht zu werden. Daher sind Untersuchungen, die sich auf einzelne Länder

beschränken, oft aufschlußreicher, selbst wenn auch hier Religion nur als ein Thema unter anderen erscheint:

dies gilt etwa für Marta PORTALs Proceso narrativo de la Revolución mexicana62. Die Autorin stellt fest, daß

Antiklerikalismus und Religiosität in der mexikanischen Literatur komplementäre Größen sind. Die Hinweise

auf die Erscheinungsweise und Funktion des Religiösen in den einzelnen Romanen sind zwar nicht umfangreich,

aber differenziert. Die Autorin unterscheidet zwischen materieller Präsenz der Religion und ihrer Verurteilung

auf der gleichen Ebene, der Glaubensproblematik als Teil der Psychologie der Figuren63 (nicht selten treten

katholische Priester in den Vordergrund) und der Präsenz des Christlichen in der symbolischen Struktur der

verschiedenen Romane. Autoren wie José Rubén ROMERO, José REVUELTAS, Carlos FUENTES, Juan

RULFO und Elena PONIATOWSKA sind für Marta Portal in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse.

Trotz des relativen Gewichts des Christentums in der Literatur zeigt sich auch hier der Prestigeverlust, den der

Glaube als Folge der jahrhundertelangen Verwicklung der Kirche in ungerechte Herrschaftsstrukturen erlitten

hat. Als Resümee dieses Strangs ihrer Untersuchung konstatiert die Autorin eine ausencia de intimismo

religioso64, was bemerkenswerterweise nicht dem Fehlen religiöser Thematik und Symbolik gleichkommt.

Daß das Christentum in Mexiko mit einer Problematik eigener Art behaftet ist, war bereits im vorigen

Kapitel angeklungen. Dies hat Emilio CASTAÑEDA am Beispiel der Romane von Agustín YAÑEZ, José

Rubén ROMERO, Juan RULFO und Carlos FUENTES detailliert untersucht65. Besonderer Wert kommt der Ar-

beit dort zu, wo im Zusammenhang mit dem Werk Juan Rulfos auf die symbolischen Strukturierungen

eingegangen wird, die ihren Ursprung in den typisch mexikanischen creencias haben, in deren "Bann" die

erzählte Wirklichkeit und die Figuren zu stehen scheinen. An den untersuchten Romanen wird vor allem ein

traditioneller Zug des spanischamerikanischen Katholizismus deutlich: daß nämlich Religion hier mehr mit dem

Tod als mit dem Leben zu tun hat66. Mit Rulfos Pedro Páramo scheint der Punkt erreicht, wo christlich

61 Ebd., S. 84. 62 Madrid 1980. 63 Ein "conflicto íntimo religioso" wird etwa in einigen Romanen von Carlos FUENTES durchgespielt,

besonders in Las buenas conciencias (Ebd., S. 242; vgl. u. S. 108 f.). 64 Ebd., S. 344 ff. 65 V. Emilio CASTAÑEDA M., El catolicismo y la revolución. La muerte en 4 novelas mexicanas, Univ.

of New Mexico (Diss.) 1979. 66 Ziel der Arbeit ist es, "to examine the effects produced by a life oriented toward death because of a

religious environment in which people are immersed." (Ebd., S. V.)

Page 19: K2_lustig_christentum

61

geprägte Vorstellungen als "Mythos" die Weltsicht des Romans konfigurieren: "La angustia mexicana y la

creencia mexicana en las almas de los difuntos en pena, pasan a la categoría de mitos universales en Pedro

Páramo."67 Man wird sich fragen, ob nicht doch der typisch mexikanische bzw. spanischamerikanische

Charakter dieser Weltsicht überwiegt. Der universelle Gehalt des Christentums - auch des Katholizismus -

kommt in diesen Romanen nicht zum Tragen. Die Lehre der Kirche scheint aus Mexiko und seiner Literatur ein

Reich der Hoffnungslosigkeit gemacht zu haben.

Ein ganz anderes Bild erzeugen die Studien von Román LOPEZ TAMÉS zur Literatur eines anderen

Landes, in dem die katholische Tradition ebefalls sehr großes Gewicht hat, nämlich Kolumbien68. López Tamés

erwähnt zahlreiche Autoren, die Zeugnis davon ablegen, daß das Christentum - freilich erst 15 - 25 Jahre nach

Pedro Páramo - nicht nur Hemmschuh, sondern auch Impulsgeber revolutionärer Entwicklungen sein kann. Die

Figur nicht nur des Priesters, sondern auch des cura revolucionario nach dem Vorbild von Camilo Torres tritt im

kolumbianischen Roman der 60er und 70er Jahre sehr häufig in den Vordergrund69.

Wieder anders schlägt sich das christliche Erbe in der Literatur der La-Plata-Region nieder, die

Gegenstand einer Arbeit von Rose Lee HAYDEN ist70. Es entspricht dem kulturellen Profil dieser Länder, daß

die religiöse Problematik sich hier als psychologische Agonie hochindividualisierter Romanfiguren manifestiert.

Die existentielle Frage nach Sinn und Ziel des menschlichen Daseins stellt sich in ähnlicher Form wie in der

zeitgenössischen, stark existentialistisch beeinflußten europäischen Literatur dar. R. L. Hayden untersucht einige

der mitunter als novelas metafísicas qualifizierten Romane von Eduardo MALLEA, Carlos ONETTI, Ernesto

SABATO und dem weniger bekannten Carlos MAZZANTI. Mehr als einer dieser Autoren gestaltet das Motiv

der metaphysischen Suche unter Rückgriff auf religiöse Symbolik. Was die Frage nach Gott anbelangt, so

unterstreicht die symbolische Gestaltung freilich eher seine Abwesenheit. Aus der Studie geht hervor, daß in

Lateinamerika und besonders im La-Plata-Raum gerade diejenigen existentialistischen Philosophen stark rezi-

piert wurden, die das christliche Erbe und das Postulat der Transzendenz nicht über Bord geworfen haben, wie

etwa Karl JASPERS, HEIDEGGER, Gabriel MARCEL und Nikolai BERDYAEV71. Obwohl im Falle

Mazzantis auch auf eine eventuelle Christus-Symbolik hingewiesen wird, interessiert sich die Autorin primär

dafür, wie in diesen Romanen die Frage nach Gott bzw. dem Sinn der menschlichen Existenz diskutiert wird,

und nicht so sehr für die strukturelle Relevanz religiöser Bildlichkeit und Symbolik.

Wieder ganz anders stellt sich die religiöse Thematik in den Andenländern dar, wo die indigene Kultur

und durch sie das vorchristliche Substrat weiterhin großes Gewicht haben. Den "figuras religiosas en la novela

peruana contemporánea" widmet Miguel VALLE einen überaus informativen Aufsatz, der sich keineswegs - wie

67 Ebd., S. 135 (mit Bezug auf eine Beobachtung Brushwoods). 68 Román LOPEZ TAMÉS, La narrativa actual de Colombia y su contexto social, Valladolid 1975. 69 Vgl. u. S. 95 f. u. Abschn. 5.1. 70 An existential focus on some novels of the River Plate, Michigan State University 1973 (Monograph

Series, 10). 71 Ebd., S. 24.

Page 20: K2_lustig_christentum

62

der Titel zunächst vermuten läßt - auf Priesterfiguren beschränkt72. Hier finden Romane von César VALLEJO,

Ciro ALEGRIA, José María ARGUEDAS, Mario VARGAS LLOSA, Julio Ramón RIBEIRO und Alfredo

BRYCE ECHENIQUE Berücksichtigung. Zwar fragt auch Valle in erster Linie nach der Beurteilung, welche

Religion und Kirche als sozio-kulturelle Kraft in der Roman-Wirklichkeit erfahren. Er ist jedoch einer der

wenigen, die erkennen, daß hier auch in der Literatur einiges in Bewegung geraten ist. Seine Untersuchung

beginnt mit dem Abschnitt "La religión bajo el signo de lo mágico" und endet mit "Hacia una religión de

autonomía" und "Religión y liberación". Dabei sind es erstaunlicherweise der bereits 1938 verstorbene, vor-

nehmlich lyrische Dichter César Vallejo und José María Arguedas, die in ihren Werken einer für die Welt

offenen, zukunftsweisenden Religiosität eine Chance geben73.

Von großem Interesse sind die Überlegungen, die von theologischer Seite zu dieser religiös-literarischen

Problematik beigesteuert wurden. Nicht zu unterschätzen ist zunächst die Tatsache, daß Gustavo GUTIÉRREZ,

der ebenfalls peruanische Initiator der Teología de la liberación sein gleichnamiges Hauptwerk mit einem Zitat

von Arguedas einleitet und mehrfach literarische Beispiele in seine Argumentation einfließen läßt74. Später hat

er den religiösen Aspekten in Arguedas' Werk noch einen umfangreichen Essay gewidmet75 .

Verständlicherweise beschäftigt die Theologen vornehmlich die Frage nach dem Glauben oder Unglauben der

Romanfiguren, oder sie interessieren sich für die oft tief verborgene Religiosität einzelner Autoren. In seiner

Untersuchung "La religión en la reciente literatura latinoamericana"76 fragt Fernando GUILLÉN PRECKLER

aus der Perspektive eines zwar wohlwollenden, aber offenbar doch um die einzige Wahrheit wissenden

Katholiken nach dem mehr oder weniger "authentischen" Glauben der Romanfiguren, der "presencia de la

religión" in der dargestellten Wirklichkeit und nach der religiösen oder auch antireligiösen tesis in den Werken

dreier Autoren. Untersucht werden im einzelnen Juan RULFOs El llano en llamas, Carlos FUENTES' Las

buenas conciencias und Alejo CARPENTIERs El siglo de las luces. Aus der abschließend gegebenen Zusam-

menfassung spricht eine gewisse Enttäuschung, denn zu einer Gestaltung des "wirklichen" Christentums, wie es

offenbar der Verfasser selbst vor Augen hat, findet keiner der drei Romanciers. Als mögliche Ursache wird

eingeräumt, daß es sich in der historischen Wirklichkeit Spanischamerikas, welcher sich Guillén Preckler durch

die Erzählwerke hindurch nähern möchte, bisher nicht realisiert haben könnte. Bemerkenswert ist vor allem die

Analyse von El siglo de las luces, weil aus ihr hervorgeht, daß Carpentier mit diesem Werk - Los pasos perdidos

in mancher Hinsicht noch übertreffend - eine Bestandsaufnahme der Kultur, insbesondere der religiösen Kultur,

72 Miguel VALLE, "Las figuras religiosas en la novela peruana contemporánea", in: Latinoamérica (México), 12 (1979), S. 189-208.

73 Ebd., S. 206. - Eine Untersuchung, die sich ausschließlich mit Priesterromanen befaßt, sich aber auf ein breiteres Gebiet und einen früheren Zeitraum bezieht und nicht zuletzt deshalb weit hinter Valle zurück-bleibt, ist: Juan TERLINGEN, "La novela del sacerdote en las literaturas hispanas", in: Clavileño, VII, 39 (1956), S. 14-18; vgl. id., De katolieke literatuur in Spaans-Amerika van 1900 tot beden, Antwerpen 1954.

74 S. o. S. 33 f. 75 Gustavo GUTIÉRREZ, Entre las calandrias (in einem Band mit Trigo 1982). 76 In: Analecta Calasanctiana, XXV, 49 (1983), S. 39-69.

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63

Lateinamerikas geliefert hat. Tatsächlich ist es die Aufklärung mit jener "Explosion in der Kathedrale", welche

die scheinbar unüberwindbaren Fronten zwischen "Gläubigen" und "Ungläubigen" geschaffen hat, die als

Wurzel der religiösen Situation im 20. Jahrhundert gelten können. Die Chance eines "reaparecer del

cristianismo"77, die für Guillén Preckler in dem Roman in Symbolen und Metaphern, im unerschütterlichen

Glauben Sofías sowie in der "admiración del autor por el fenómeno en cuanto tal" aufleuchtet, eröffnet daher in

der Diktion des Theologen auch für das heutige Lateinamerika "un horizonte a la verdadera dimensión definitiva

del hombre"78.

Der wohl aufschlußreichste und auch quantitativ bedeutsamste Beitrag, der bisher zu unserer Problematik

geliefert wurde, stammt von dem venezolanischen Jesuitenpater Pedro TRIGO DURA. In seiner Studie "El

cristianismo popular en la nueva novela latinoamericana"79 sammelte und analysierte er die in den Romanen

reichlich präsenten "Datos sobre la religiosidad popular". Als Corpus dienen die wichtigsten Werke von José

REVUELTAS, Juan RULFO, Manuel SCORZA, Juan José ARREOLA, Gabriel GARCIA MARQUEZ, Miguel

Angel ASTURIAS, Mario VARGAS LLOSA und Juan Carlos ONETTI. Nach dem Urteil Trigos erfassen die

Autoren sehr wohl die historisch bedingte Ambivalenz des lateinamerikanischen Christentums und gelangen

teilweise zu einer "captación del espíritu cristiano", auch wenn sich keiner von ihnen als bekennender Christ

bezeichnen würde80. In einigen Romanen spiegele sich sogar "la dura lucha del pueblo por liberarse - con su

horizonte incierto o sombrío, pero con agónica persistencia - como la pasión de Cristo, como un cristo sufriente,

aún sin resurreción, pero sin sumisión tampoco a la fatalidad"81. Der neue Roman ist für Trigo ein privilegiertes

Mittel des Zugriffs auf die intrahistoria des lateinamerikanischen Volkes. Als Theologe interessiert er sich in

erster Linie für die sozioreligiöse Wirklichkeit und beläßt die spezifisch literarische Problematik - ohne sie ganz

zu vernachlässigen - im Hintergrund. Mit dieser Einschränkung hat Trigos 1980 vorgelegte Dissertation zur

Rolle der kirchlichen Institution in der Nueva Novela als wichtigster und auf jeden Fall stoffreichster, wenn auch

etwas unübersichtlicher Beitrag zu gelten82. Von meiner Studie unterscheidet sich Trigos Arbeit vor allem durch

ihre primär thematische Ausrichtung: es geht um die Rolle der Kirche - vornehmlich vertreten durch ihre Priester

- in der von den einzelnen Romanen dargestellten Wirklichkeit. Wenngleich der Verfasser literarkritische

Methoden fruchtbringend anwendet, ist sein Erkenntnisinteresse vornehmlich theologisch-ekklesiologischer

Natur. Aus dieser Warte begibt Trigo sich auf die Suche nach "figuras laceradas, pero fecundas, verdaderos

77 Ebd., S. 63. 78 Ebd., S. 69. 79 In: EQUIPO SELADOC (Ed.), Religiosidad popular, Salamanca 1976 (Urfassung 1973), S. 241-259. 80 Ebd., S. 258. 81 Ebd., S. 258 f. 82 Pedro TRIGO, La institución eclesiástica en la Nueva Novela Latinoamericana, Madrid: Pontificia

Universidad de Comillas, 1980 (unveröffentlichte Dissertation; dank des Entgegenkommens der Universidad de Comillas konnte ich die überaus umfangreiche Arbeit bei einem Besuch in Madrid einsehen).

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centros de solidaridad, capaces de atravesar hasta la misma muerte."83 Wie kaum einer der bisher erwähnten

Kritiker wird er der Tatsache gerecht, daß die Literatur die Möglichkeit besitzt, eine eigene, relativ autonome

Wirklichkeit zu gestalten, so daß das in den Romanen konfigurierte Christentum nicht unbedingt ein Abbild des

religiösen Status Quo Lateinamerikas sein muß: wo Trigo in der Struktur der Romane nach "figuras

cristológicas", dem "paradigma de Jesús", sucht, zielt seine Fragestellung auch auf die christliche Symbolik der

Romane und trifft sich mit der unseren. Aber auch die iglesia liberadora, die in einigen Werken die alte iglesia

moribunda84 zu überwinden beginnt, ist eine solche "christologische Figur". Romane, in denen die Kirche kein

explizites Thema ist, fallen damit freilich heraus. Wichtige Werke, die detailliert untersucht werden, sind

REVUELTAS' El luto humano, ASTURIAS' El señor presidente, ONETTIs Juntacadáveres, ARGUEDAS' El

zorro de arriba y el zorro de abajo, SCORZAs Redoble por Rancas, MARECHALs Megafón und ROA

BASTOS' Hijo de hombre. Nach dem Urteil Trigos spiegelt die Gesamtheit der Romane eine Entwicklung wider,

in deren Verlauf die Kirche zu einer positiveren Einstellung gegenüber dem lateinamerikanischen Volk gelangt:

"muere al orden establecido y resucita al pueblo", wie er es in einer Kapitelüberschrift formuliert.

Einen José María ARGUEDAS gewidmeten Auszug aus seiner großen Arbeit konnte Trigo zusammen

mit dem bereits erwähnten Essay von Gustavo GUTIÉRREZ 1982 in Lima veröffentlichen85. Der Wert des

Bandes liegt vor allem darin, daß er die religiös-theologische Problematik des neueren spanischamerikanischen

Romans langsam auch ins Bewußtsein einer beklagenswert desinteressierten Literaturkritik vordringen läßt.

Mehr als in seinen früheren Studien bringt Trigo in der introducción zu dieser Arbeit zum Ausdruck, daß er der

Erzählliteratur eine theologische Eigendynamik zuerkennt. Zwar wird ein expliziter Bezug zur

Befreiungstheologie hergestellt, aber die Literatur wird nicht als bloßer Reflex der sozioreligiösen Wirklichkeit

begriffen: "La nueva novela y la teología de la liberación serían dos manifestaciones homogéneas en el horizonte

complejo de la liberación latinoamericana."86 Etwas verwundert ist allerdings gerade der theologische Laie

darüber, daß hier von kompetenter Seite so oft und anscheinend überstürzt Berührungspunkte und Parallelen

zwischen mythischem Bewußtsein und religiösem bzw. christlichem Glauben gesehen werden87. Gerade

angesichts der modischen Aktualität des Mythos-Begriffs scheint hier eine vorsichtigere Gangart angebracht.

"Mythos" ist nichtsdestoweniger ebenso wie "Symbol" ein Begriff, der eine Brücke zwischen den

Bereichen der Religion und der Literatur, der Theologie und der modernen Literaturkritik schlägt. Im Gefolge

des neuen Interesses am Mythisch-Symbolischen in der Struktur - also nicht in der dargestellten Wirklichkeit -

neuerer Romane, hat die Literaturkritik auch verstreute Erkenntnisse zu spezifisch literarischen Konsequenzen

des christlichen Erbes in Lateinamerika zutage gefördert. In diesem Zusammenhang darf freilich nicht vergessen

83 Ebd., S. XV. 84 Ebd., S. 31. 85 Arguedas: mito, historia y religión. 86 Ebd., S. 13. 87 Vgl. S. 27: "Mito es, pues, con otra palabra religión". Der "hombre mítico" erscheint als "portador de la

esperanza de la liberación" (S. 270).

Page 23: K2_lustig_christentum

65

werden, daß das Interesse an Mythos und Magie und an archetypischer Religiosität zwar an Autochthones

anknüpfen kann, aber keine lateinamerikanische Erfindung ist, sondern im wesentlichen aus Europa importiert

wurde. Initialzündungen gingen vom Surrealismus (André BRETON), von der modernen Ethnologie (Claude

LÉVI-STRAUSS) und der vergleichenden Religionswissenschaft (Mircea ELIADE) aus.

Zunächst scheint es daher auch gerechtfertigt, daß Leo POLLMANN den neuen Roman Lateinamerikas

zu dem französischen Nouveau Roman in Beziehung setzt88. Im Verlauf seiner Analyse verschiedener

bedeutender Romane des Zeitraums 1948-196389 stößt Pollmann immer wieder auf eine Symbolik

biblisch-christlichen Ursprungs, wie etwa in El señor presidente, wo sie seiner Deutung nach "zum Aufleuchten

eines magischen Augenblick-Sinns" führt90. Das Christliche erscheint als ein Teil des Tellurisch-Magischen und

als letzter Rest einer zumal in Europa überwundenen Denkweise. Bei den meisten untersuchten Romanautoren

konstatiert Pollmann entweder Anlehnung an oder Auseinandersetzung mit "christlichen Denkstrukturen", zu

denen für ihn offenbar auch das sehr oft verarbeitete Motiv des descensus ad inferos gehört91. Verzerrungen

ergeben sich daraus, daß Pollmann das Christentum a priori mit einem überholten, "konservativen" Bewußtsein

assoziiert. Das zeigt sich an der krassen Fehleinschätzung von Augusto ROA BASTOS' Hijo de hombre: das

Werk wird als christlicher und daher restaurativer Thesenroman abgetan92. Jene Periode, in der besonders viele

von biblisch-christlicher Symbolik getragene Romane entstanden sind - 1956-1959 -, ist für Pollmann die Zeit

der "restaurativen Antithese". In der "großen Synthese", auf die etwa die Romane von Ernesto SABATO und

Carlos FUENTES hinzielen, scheint indessen eine durchaus positiv bewertete "vertikale Transzendenz"

aufzuleuchten93. "In der explizit metaphysischen Sorge in Lateinamerika"94 liegt demnach sogar jene

Gemeinsamkeit, welche die soziologischen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen in den Hintergrund

treten läßt, und zugleich schafft sie eine Brücke zu Europa, insbesondere zu Frankreich und seinem Nouveau

Roman.

In Günter W. LORENZ' Darstellung der zeitgenössischen Literatur in Lateinamerika95 sucht man

vergebens nach einer fundierten Auseinandersetzung mit den Spuren des Christlichen im neueren Roman.

Beobachtungen, die sich angesichts der Werke von CARPENTIER, ROA BASTOS und GARCIA MARQUEZ

88 Leo POLLMANN, Der Neue Roman in Frankreich und Lateinamerika, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968.

89 Eine Beschränkung, die sich der Verfasser auferlegt, liegt in der Konzentration auf die "Höhenkamm-Literatur" Lateinamerikas.

90 Ebd., S. 54. 91 Etwa bei A. Carpentier (S. 91). 92 S. 160 f., vgl. u. S. 435 f. - Dem gleichen Verdikt fällt der große brasilianische Roman von Joao

GUIMARAES ROSA, Grande Sertao. Veredas (1956) zum Opfer, in dem Gott und Teufel wichtige Strukturelemente sind.

93 Ebd., S. 201 u. 209. 94 Ebd., S. 250. 95 Günter W. LORENZ, Die zeitgenössische Literatur Lateinamerikas. Chronik einer Wirklichkeit. Motive

und Strukturen. Tübingen/Basel 1971.

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66

aufdrängen, erschöpfen sich in vordergründigen Kategorisierungen wie "magischer Realismus", "Hiobs-Gestalt"

und "biblische" Struktur, obwohl der Untertitel, der auf "Motiven und Strukturen" insistiert, hier ein

differenziertes Interesse vermuten ließe. Wie so viele andere scheint auch Lorenz von dem "mythischen" Gehalt

des lateinamerikanischen Romans so fasziniert, daß das christliche Erbe als wesentlicher Bestandteil auch der

"mestizischen" Kultur nicht der Rede wert zu sein scheint.

Eine Motivstudie, die diese Bezeichnung wirklich verdient und auch die Beziehungen zwischen

literarischer Imagination und der Faktizität der kulturellen Überlieferung berücksichtigt, ist die bereits erwähnte

Arbeit von Rudolf GROSSMANN zum "Teufel in der lateinamerikanischen Literatur" (1973). Nach Grossmanns

Darstellung hat die Rekurrenz des Teufels, die übrigens nicht auf die moderne Literatur Lateinamerikas

beschränkt ist96, ihre Wurzeln sowohl im autochthonen Volksglauben mit seinen magischen Vorstellungen als

auch in der literarisch-kulturellen Tradition Europas. Wie der Autor ebenfalls sieht, gehört der Teufel nur

bedingt zu dem in unserem Sinne relevanten Inventar "christlicher" Symbole, und die Frage nach der

"Christlichkeit" der untersuchten Autoren bleibt auch für Grossmann weiterhin offen.

Daß viele scheinbar christliche Elemente des neueren hispanoamerikanischen Romans eher in der

magisch-mythischen Tradition der Volkskultur des Subkontinents stehen, geht auch aus der Arbeit von Dieter

JANIK (Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts.

Geschichtliches Erbe und kulturelle Tendenz)97 hervor. Hier wird hauptsächlich nach der literarischen

Bedeutung des Magisch-Mythischen in Spanischamerika gefragt: Janik zeigt aber auch, wie religiöse

Ausdrucksformen spanisch-katholischen Ursprungs sich mit magischen Vorstellungen und Praktiken vermischen

und in dieser Form zu Strukturelementen neuerer Romane werden. Einige Erzähler, z. B. Ciro ALEGRIA und

José María ARGUEDAS, gestalten die enge Verbundenheit des andinen Menschen mit der Natur, den

Mitmenschen und dem Kosmos als eine kulturelle Zukunftsperspektive; die Wiederentdeckung einer "religiösen"

Wirklichkeitsauffassung geht also mit einem Strukturwandel im hispanoamerikanischen Roman, dem Übergang

von der "allegorischen" zur "symbolischen" Darstellungsweise einher. Gerade vor dem Hintergrund dieser

Untersuchung wäre nun zu fragen, wie sich denn die konkurrierende oder komplementäre kulturelle Tradition

und Wirklichkeitsauffassung, nämlich die durch das Christentum begründete, im Roman der letzten Jahrzehnte

niedergeschlagen hat und ob auch sie literarische und sozio-kulturelle Zukunftsperspektiven eröffnet.

Auch in der lateinamerikanischen Literaturkritik hat die Frage nach dem "Mythischen" in der eigenen

Literatur Mitte der 70er Jahre starken Auftrieb erhalten. Man erkannte zunehmend die Bedeutung des

Symbolischen für die Nueva Novela, machte sich unter Einfluß der Ideen C. G. JUNGs an die Interpretation

archetypischer Sinnfiguren in den Romanen und entdeckte dabei auch jenen Symbol-Code neu, der seinen

96 Vgl. z. B. José María SOUVIRON, El príncipe de este siglo. La literatura moderna y el demonio, Madrid 1967 (Souvirón ist ein chilenischer Autor, der auch Erzählungen verfaßt hat), und Heinrich SCHIRMBECK, "Der moderne Jesus-Roman. Die Wiederkehr des Teufels", in O. Mann, op. cit., S. 445-463.

97 Tübingen 1976.

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67

Ursprung in der biblisch-christlichen Tradition hat, der nun aber nicht wegen seines spezifisch christlichen

Wertes, sondern wegen seiner mythisch-archetypischen Implikationen interessierte. Neben den Kulturen des

Ostens und Altamerikas erkennt man das (prämoderne) Christentum als eine Tradition, auf deren Basis man der

unter dem Ansturm von Materialismus und Positivismus geistig und geistlich verarmten abendländischen Kultur

entgegentritt. Dieser Haltung sind vor allem zahlreiche Studien zur modernen lateinamerikanischen Literatur

verpflichtet, die seit 1972 in dem Buenosairenser Verlag García Cambeiro in der Reihe Estudios

Latinoamericanos erschienen sind. Ein führender Kopf dieser Gruppe von Kritikern ist Graciela MATURO; als

eine Art Manifest dieser Nueva crítica kann der von ihr herausgegebene Band Hacia una crítica literaria

latinoamericana98 gelten. Graciela Maturo ist zugleich Herausgeberin der seit 1974 erscheinenden Zeitschrift

Megafón, deren Titel die Orientierung an Leopoldo MARECHAL verrät, jenem Wegbereiter des neuen

symbolischen Romans in Hispanoamerika99.

Als Anwendung dieser Konzeption ist Graciela Maturos Interpretation der symbolischen Elemente im

Werk von GARCIA MARQUEZ zu lesen96. Angesichts ihrer Methoden und Ergebnisse melden sich in

zweifacher Hinsicht Bedenken an: zum einen steht spezifisch christliche (z. B. Christus-)Symbolik qualitativ

undifferenziert neben Symbolen anderen religiös-kulturellen (z. B. alchimistischen) Ursprungs. Ziel der Deutung

ist letztlich die Reduktion auf interkulturelle archetypische Strukturen; zum anderen erweist sich gerade im Falle

von García Márquez der Versuch einer exhaustiven Symboldeutung als problematisch: die ernsthafte

Auseinandersetzung mit jeder einzelnen symbolischen Anspielung verführt zu grenzenlosen, oftmals

esoterischen Spekulationen, die dem "Spiel"-Charakter seiner symbolischen Schreibweise unangemessen sind97.

98 Buenos Aires 1976; s. hierin besonders Graciela MATURO, "Sobre la reintegración de la crítica a la cultura latinoamericana". "Reintegration" hat auch eine metaphysische Bedeutung; vgl. auch folgende Einzelbeiträge: Liliana BEFUMO BOSCHI, "Descubrimiento de la realidad latinoamericana"; Eugenio CASTELLI, "Bases semióticas para una crítica hermenéutica"; Graciela RICCI, "La búsqueda del sentido. Cinco momentos y un método". Sämtliche Aufsätze weisen auf das Gewicht des Symbolischen in den neueren Romanen hin und unterstreichen seine "transzendierende" Funktion.

99 Folgende Passage aus dem Vorspann der Zeitschrift Megafón erhellt das Selbstverständnis dieser literarkritischen Strömung:

"¿Y no han sido en medio de todo las intuiciones arquetípicas de la humanidad, los grandes mitos culturales por ellas engendrados, los que han venido conduciendo un proceso de sentido, la única posibilidad de sentido rescatable en nuestro convulso acontecer? O la historia es un proceso mecánico y desprovisto de finalidad, o bien las escrituras proféticas (tanto judías como de los otros pueblos, en distintos grados de la revelación que se va abriendo a los hombres) adquieren peso y real virtualidad histórica.

A esa posibilidad de futuro hemos apostado en estos tiempos de tiniebla. Hemos recogido la antigua predicción de una última tierra destinada a generar un nuevo tiempo. Sentimos ser la nueva tierra y el nuevo cielo del que hablan los profetas bíblicos. Pero también hallamos esas resonancias lejanas en nuestros propios pensadores, poetas y conductores próximos. Está en el pensamiento de San Martín y de Bolívar, en el de Martí y Rubén Darío, en el de Ugarte y Rodó, en el de Octavio Paz, Marechal y Sábato."

96 Claves simbólicas de García Márquez, Buenos Aires 21977 (11972). 97 Ähnliches gilt für die Werke von MARECHAL, LEZAMA LIMA, CARPENTIER und CORTAZAR.

Eine ausschließlich werkimmanente Symbolanalyse führt bei diesen Autoren ins Uferlose. Die

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68

Das Verdienst größerer thematischer Kohärenz und stärkerer Konzentration auf ein Zentralmotiv kommt

Fernando AINSAs Studie Los buscadores de la utopía. La significación novelesca del espacio latinoamericano

zu98. Sie ist symptomatisch für die Methode zahlreicher nicht nur lateinamerikanischer Literaturkritiker, die in

einzelnen Romanen archetypische Motivstrukturen aufdecken und diese dann mit Begriffen wie Paradies,

Himmel, Hölle, Antichrist und Apokalypse fassen, die für den abendländischen Leser zwar "christlich"

markiert sind, hier aber etwas rein Strukturelles, religiös gänzlich Neutrales bezeichnen99.

Nur ausnahmsweise befassen sich Literaturkritiker - am wenigsten solche aus Spanischamerika - mit der

explizit christlichen Symbolik im neueren Roman. Wenn, dann geschieht es im Zusammenhang mit Autoren,

bei denen etwa eine Christussymbolik absolut unübersehbar ist wie bei Augusto ROA BASTOS. Im Rahmen

seiner Analyse von dessen Werk hat David William FOSTER zwar zu einer übergreifenden Erforschung der

Christusmotivik und -symbolik im spanischamerikanischen Roman angeregt100; von der theologisch

ausgerichteten Studie TRIGOs abgesehen, liegt dennoch bisher nur ein Versuch vor, die Christussymbolik in

mehreren Romanen parallel zu untersuchen, nämlich der zitierte Aufsatz von Rosa M. CABRERA aus dem Jahre

1982. Hier finden folgende Erzählwerke Erwähnung: Esteban ECHEVERRIA, El matadero; Eduardo CABA-

LLERO CALDERON, El Cristo de espaldas; Augusto ROA BASTOS, Hijo de hombre; José Rubén ROMERO,

La vida inútil de Pito Pérez; Gabriel GARCIA MARQUEZ, Cien años de soledad und Severo SARDUY, De

dónde son los cantantes. In einer Studie so beschränkten Umfangs war es der Autorin freilich nicht möglich, ihre

Beobachtungen in angemessener Weise methodologisch zu fundieren, so daß hier Christus-Symbolismen

heterogener Struktur und unterschiedlichen Stellenwerts nebeneinanderstehen und auch nicht viel mehr als ihre

Existenz konstatiert werden kann. Eine literargeschichtliche oder kulturelle Interpretation erfolgt nicht. Aus ihrer

Analyse zieht die Autorin lediglich den Schluß, daß das Christus-Symbol in der neueren Literatur nicht nur in

den von der Glaubenstradition vorgegebenen Schemata gedeutet wird; seine Verarbeitung in der Literatur

entspreche vielmehr der "conflictiva identidad que aflige al hombre de Hispanoamérica"101.

Interpretation darf die jeweiligen außerliterarischen, z. B. religiös-kulturellen oder biographischen Kon-texte nicht aus den Augen verlieren.

98 Caracas 1977. 99 Nur eine Passage sei zur Illustration dieser Kritik zitiert: "Latinoamérica cumple en esta novelística del

movimiento centrípeto parte de un mito bíblico: trata de dar forma, transformando y adaptando a la escala de las conciencias de sus héroes esta turbulencia caótica que sigue siendo la raíz de su identidad. Esto se llama Génesis [...]" (ebd., S. 272; Hv. n. o.). Die Erwähnung von Bibel und Genesis hat hier eine metaphorische Funktion. Bezeichnend ist auch das mythische Verständnis der Bibel, das ihrer religiösen, christlichen Interpretation jedoch gänzlich zuwiderläuft, wenngleich nicht bezweifelt werden kann, daß sie mythologische Stoffe und Motive enthält.

100 The myth of Paraguay in the fiction of Augusto Roa Bastos, Chapel Hill 1969, S. 25 (Anm. 8). 101 Cabrera, S. 233.

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69

2.32 Christentum und religiöse Symbolik im Schaffen moderner spanischamerikanischer

Erzähler: eine Hinführung auf die Problematik in Kurzanalysen

Die zweite Abteilung der soeben besprochenen Forschungsbeiträge umfaßte Arbeiten, die durch eine neue,

symbolische und transgressive, nicht mehr nur auf die sozioökonomische Faktizität gerichtete Erzählweise

stimuliert wurden. Spätestens seit den 50er Jahren wird sie von immer mehr lateinamerikanischen Romanciers

angestrebt. Obwohl das Panorama der Forschung dies nur unzureichend widerspiegelt, stellt die

biblisch-christliche Tradition für sie einen Symbol-Code dar, der mindestens gleichbedeutend neben Mythen und

magischen creencias steht, die ihren Ursprung entweder auf südamerikanischem Boden oder in der

Bildungstradition des Abendlandes haben. Um zunächst nur einmal einen Eindruck von der rein quantitativen

Bedeutung des Christlich-Religiösen in der neueren spanischamerikanischen Erzählliteratur zu vermitteln,

werden im folgenden ca. 40 Autoren in knapper Form vorgestellt und die Präsenz des christlichen Elements in

ihrem Werk kurz charakterisiert. Es leuchtet ein, daß nur eine kleine Auswahl der in Betracht kommenden

Autoren mit ihren Romanen einer detaillierten Analyse unterzogen werden kann. Andererseits gestattet es die

Komplexität des Problems nicht, auf ein sehr differenziertes Vorgehen zu verzichten. Eine methodologisch

strenge Analyse und Deutung der Werke von acht Autoren, die hinsichtlich Funktion und Stellenwert der christ-

lichen Symbolik in ihrem Schaffen tatsächlich vergleichbar sind, erfolgt im Hauptteil dieser Arbeit. Dort werden,

besonders im Falle Kolumbiens und Chiles, weitere Autoren erwähnt, sofern deren Werk als

literargeschichtlicher Kontext für die eingehender behandelten Romanciers von Bedeutung ist. Das folgende

Repertorium der im weiteren Sinne bei unserer Fragestellung interessierenden Autoren erhebt keinen Anspruch

auf Vollständigkeit, wenngleich auffallen wird, daß auch weniger bekannte bzw. in Europa kaum gelesene Ro-

manciers Erwähnung finden. Bewußt wurde auf die Nennung einer Vielzahl weiterer Autoren verzichtet, deren

Werke in bundesdeutschen Bibliotheken nicht verfügbar sind und über die in Literaturgeschichten nichts zu

erfahren war102. Auch die zu den neuesten Autoren gegebenen bibliographischen Angaben bedürfen zweifellos

der Ergänzung. Unsere Auflistung, die ja erst zur Gewinnung thematischer und struktureller Kriterien hinführen

soll, folgt der Einfachheit halber einem geographischen (nach Regionen und Ländern) und einem

chronologischen Schema (nach Geburtsjahren der Autoren bzw. dem Zeitpunkt ihres Hervortretens als

Romanautoren). Der Schaffensschwerpunkt der meisten hier interessierenden Erzähler liegt nach 1925. Obwohl

sich bereits in jenen Jahren hier und dort (etwa bei Miguel Angel ASTURIAS) eine Überwindung der

traditionell-realistischen Schreibweise ankündigt, arbeiten viele der erwähnten Autoren weiterhin mit den

überkommenen Darstellungsmitteln; es werden somit Romane, in denen Christentum, Kirche und Glauben als

Thema behandelt werden, neben solchen genannt werden, in denen christliche Symbolismen verschiedenster

Natur Bedeutung erlangen.

102 Über sie informieren neben Verlagsankündigungen auch die kurzen Inhaltsangaben im Handbook of Latin American Studies.

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70

2.321 Argentinien

Daß Jorge Luis BORGES (1899-1986) als Altmeister der modernen Literatur in Lateinamerika in seinem

vielfältigen Schaffen gerne auf biblisch-christliche Stoffe und Symbole zurückgreift, um sie in

spielerisch-unorthodoxer, aber nicht areligiöser Manier zu verarbeiten, wurde bereits im Zusammenhang mit

dem cuento angesprochen. Der Verweis auf das Trans-Reale geschieht in seinem Werk kraft einer Imagination,

die Versatzstücke der Universalkultur - unter anderem Biblisches und Theologisches - frei kombiniert, ja "fin-

giert"103. Borges' literarisches Vermächtnis dürfte die Präsenz biblisch-christlicher Symbolik in der modernen

Literatur Lateinamerikas wesentlich beeinflußt haben.

Neben Kolumbien ist Argentinien das Land, wo der traditionelle, kirchliche Katholizismus den größten

kulturellen Einfluß besessen hat; hier ist nicht die Volksreligiosität der bedeutendste Träger des Glaubens,

sondern es gibt bzw. gab auch unter den Intellektuellen und bedeutenden Schriftstellern gläubige Katholiken.

Einer von ihnen ist Manuel GALVEZ (1882-1962). In seinen Romanen, etwa El mal metafísico (1916) und

Miércoles Santo (1930) wird "ein von der Kirchenlehre gelöster Katholizismus erkennbar". Oft werden seine

Protagonisten in unaufdringlicher Weise dem Glauben zugeführt104. Sein Einfluß auf andere Romanciers, etwa

den Uruguayer Francisco ESPINOLA, ist beachtlich.

Hugo WAST (d. i. Gustavo MARTINEZ ZUVIRIA, 1882-1962) hat von einem festen katholischen

Standpunkt aus an die 50 Romane verfaßt. Er dürfte einer der meistgelesenen argentinischen Autoren sein; 1957

waren 2,5 Millionen Exemplare seiner Romane und Erzählungen verkauft; sein Werk ist auf der Grenzlinie zur

Konsum- und Trivialliteratur anzusiedeln105 (wie übrigens viele Romane anderer, wenig bekannter Autoren,

die schon im Titel auf Biblisches oder Religiöses anspielen und damit offenbar ihren Verkaufserfolg steigern)

und umfaßt Titel wie: Espera contra toda esperanza (1944), Lo que Dios ha unido (1945), ¿Le tiraría usted la

primera piedra? (1955) und 666106 (1942), eine Vision von der Herrschaft des Antichrist im Jahr 2000, wo

103 Vgl. Vicente CANTARINO, "Borges, filósofo de Dios: argumentum ornithologicum", in: Thesaurus, 31:2 (1976), S. 288-299; Leo POLLMANN, "El espantoso Redentor. La póetica inmanente de Historia universal de la infamia", in: Revista Iberoamericana, 108/09 (1979), S. 459-73; Oswaldo ROMERO, "Dios en la obra de Jorge Luis Borges: su teología y su teodicea", in: Revista Iberoamericana, 100/101 (1977), S. 465-501; Emma Susanna SPERATTI PIÑERO, "Judas en la obra de Borges", in: Homenaje al Instituto de Filología y Literaturas Hispánicas. Dr. Amado Alonso en su Cincuentenario, 1923-1973, Buenos Aires 1975, S. 401-409; Carter WHEELOCK, The mythmaker: a study of motif and symbol in the short stories of Jorge Luis Borges, Austin (Texas) 1969.

104 Grossmann 1969, S. 422 u. 417 f.; vgl. Donald F. Brown, "The catholic naturalism of Manuel Gálvez", in: Modern Language Quarterly, 9 (1948), S. 165-176; G. ARNOLD CHAPMAN, "Manuel Gálvez y Eduardo Mallea", in: Revista Iberoamericana, 37 (1953), S. 71-78; Myron A. LICHTBLAU, Manuel Gálvez, New York 1972; Terlingen 1956; Esther H. TURNER, "The religious element in the works of Manuel Gálvez", in: Hispanófila, 38 (1970), S. 59-67.

105 Vgl. Grossmann 1969, S. 474, der Wasts Schreibweise allerdings gegen den Vorwurf der Trivialität in Schutz nimmt. Vgl. Robert Stanley WHITEHOUSE, "Amistades literarias: Hugo Wast", in: Revista Iberoamericana, 17 (1951/52), S. 109 u. 108.

106 666 ist in der Offenbarung des Johannes (13, 18) die Zahl des Antichrist.

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eine schöne Frau versucht, die Geistlichkeit zur Apostasie zu verführen. Hugo Wasts Beispiel zeigt, wie

Biblisches und Religiöses auch eingesetzt werden können, um dem Sensationsbedürfnis einer breiten Lesermasse

entgegenzukommen.

Anders als die beiden letztgenannten Autoren zählt Eduardo MALLEA (1903-1970), der mit Gálvez

freilich einiges gemeinsam hat107, zu den Wegbereitern der Nueva Novela108, die sich im La-Plata-Raum

zunächst als novela metafísica manifestiert. Der Titel und die Motti seines berühmtesten Romans Todo verdor

perecerá (1941) sind biblischen Ursprungs109. Es sind prophetische Texte, die von drohendem Unheil künden;

in ihnen kristallisiert sich die Atmosphäre der existentiellen Auswegs- und Hoffnungslosigkeit, die über dem

eher statischen als dynamischen Romangeschehen liegt. Die Bibel ist nicht nur in der Sprache, sondern auch in

der erzählten Wirklichkeit präsent: das dichterische Wort der Propheten ist für den Vater der Hauptfigur - selbst

ein "ateo evangelizante" - "el eco de una distante, ininteligible poesía". In ihr findet seine "existencia gris y

pasiva" einen "vuelo ampuloso"110. Das Religiöse ist in Form zahlreicher biblischer Anspielungen gegenwärtig,

weist aber in paradoxer Weise gerade auf seine eigene ausencia hin. Gerade dadurch, daß Gott ständig

beschworen wird, erweist sich in tragischer Weise seine Abwesenheit: das Leben ist der verdorrte Feigenbaum

aus dem Lukas-Evangelium, aber es besteht keine Hoffnung auf neue Fruchtbarkeit111. Das Leiden an dieser

Tragik läßt sich dennoch als prophetisches Vorzeichen einer "nueva transcendencia" deuten, als Suche nach

einem "nuevo Dios desconocido"112. Zu Malleas 1953 erschienenem Roman Chaves bemerkt PICON SALAS:

"el protagonista se nos trueca en una especie de Cristo popular cuyo dolor y cuyo amor son un símbolo de la

humanidad entera."113

Nicht weniger bedeutend und fast von monumentalem Charakter ist das Werk von Leopoldo

MARECHAL (1900-1970). Sein wichtigster und größter Roman Adán Buenosayres (1948) ist eine Art

107 Vgl. Chapman. 108 Vgl. John S. BRUSHWOOD, The Spanish American Novel, Austin/London 1978, S. 131-134. 109 Jes 15, 6; als zweites Motto folgt ein Spruch aus dem Ekklesiastes (Kohelet) 9, 12: "No sabe el hombre

su fin: sino que como los peces son cazados en el anzuelo y las aves aprehendidas con el lazo, así los hombres son cazados en el tiempo malo cuando de improviso les sobreviniere".

110 Eduardo MALLEA, Todo verdor perecerá, in: id., Obras completas, I, Buenos Aires 1961, S. 1004 f. 111 Für Luis B. EYZAGUIRRE ist Malleas Roman das pessimistische Gegenstück zu Manuel ROJAS' Hijo

de ladrón (s. u., Kap. 6); so wie dort die Hoffnung das Lemma der menschlichen Existenz sei, so bei Mallea die Angst. Beiden Romanen wird eine existentialistische Filiation bescheinigt.

112 Mario PICON SALAS, "Prólogo", in: Mallea, Obras completas, S. 20 u. 17; vgl. Emilio SOSA LOPEZ, La novela y el hombre, Madrid 1968, bes. S. 121 f. (hier finden sich Hinweise zum symbolischen Charakter von Malleas Romanfiguren und zur religiösen Dimension seines Denkens und Schreibens im allgemeinen). Die Bibliographie zu Mallea ist reichhaltig; eine kommentierte Bibliographie, die mehrere in unserem Zusammenhang interessierende Titel aufweist, findet sich in Hispania, 62 (1979), bes. S. 444. Hervorhebung verdienen die Arbeiten von Herbert GILLESSEN (Themen, Bilder und Motive im Werke Eduardo Malleas, Genf 1966) und Porfirio SANCHEZ, "Aspectos bíblicos en Todo verdor perecerá", in: Romance Notes, 14 (1973), S. 469-475.

113 Picón Salas, S. 10; vgl. Sosa López, S. 135, wo es heißt: "tiene [...] la simplicidad y la plenitud de una narración evangélica".

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72

rioplatensischer Ulysses. Der immer wieder durchscheinende, mit dem Geschehen korrelierte "Mythos" inspiriert

sich jedoch nicht so sehr an dem homerischen Epos als an DANTEs Divina Commedia und ist schon dadurch mit

der christlichen Tradition innig verbunden114. Sofern es sich um einen "Schlüsselroman" handelt, wird man sich

fragen, ob das Werk nicht eher allegorischen Charakter trägt115. Auch wenn in dem Roman die abendländische

Bildungstradition in ihrer ganzen Vielfalt verarbeitet zu sein scheint, so dominieren doch die Verweise auf einen

christlichen Neuplatonismus, als dessen thesenhafte Illustration der Roman streckenweise anmutet116. Adán

Buenosayres ist der initiatorische Roman einer metaphysischen Suche. Die erzählte Wirklichkeit und die

Sprache, in der sie vermittelt wird, konstituieren einen wahren Wald von Symbolen und Metaphern117, in deren

"Lektüre" der Protagonist Adán eingeführt wird; seine Bestimmung ist, als "Leser der Welt" (350) zur

Erkenntnis der "cosas de allende" (334) zu gelangen. Sein Weg durch Buenos Aires ist eine

kontinuierliche : die Johannes-Apokalypse ist denn auch neben der Genesis einer der von Anfang an

präsenten biblischen Texte (z. B. 14 u. 72). Auch Christus ist ein Leitmotiv des Romans und zwar zunächst in

Form einer Statue des Cristo de la Mano Rota, für die sich in der Stadt außer Adán allerdings kaum noch jemand

interessiert (78). Christus scheint ohnmächtig geworden zu sein; seine Bedeutung wird unter der lauten,

modernen Massenkultur begraben: darauf weist die Evokation jener biblischen Szene hin, in welcher der Pöbel

von Pilatus die Kreuzigung Jesu fordert (312). Neben dem biblisch-christlichen werden noch weitere

Symbol-Codes aktiviert; die antike Mythologie ist präsent, von Kabbala und Alchimie ist die Rede, vom

Judentum und vom Islam: der Roman ist in ähnlicher Weise ein symbolischer fourre-tout wie die großen Werke

von LEZAMA LIMA, CARPENTIER und CORTAZAR. Marechals 1966 erschienener Roman El banquete de

Severo Arcángel bestärkt noch diese in Spanischamerika recht seltene Tendenz zum ausgesprochen religiösen,

vom katholischen Glauben inspirierten Roman118. 1970, in Marechals Todesjahr, erschien Megafón, von dessen

Wirkung auf die Literaturkritik bereits die Rede war. Pedro Trigo hat gezeigt, daß in diesem Roman, in dem sich

Mystik und Politik verbinden, ein Motiv Gewicht erlangt, das ihn mit verschiedenen anderen Werken verbindet,

in welchen auf symbolischer Ebene die Problematik des lateinamerikanischen Christentums zum Ausdruck

kommt: während die offizielle Kirche im Kult eines toten Christus zu erstarren droht, erscheint gleichzeitig die

Vision eines lebendigen Christus, der sich von seinem Kreuz befreit119. Ein Bischof verbindet gar den in dieser

Weise auferstehenden Erlöser mit einer eindeutig politischen - in diesem Fall der peronistischen - Option und

114 Reminiszenzen an das Dantesche Epos finden sich in vielen neueren spanischamerikanischen Romanen, bzw. die Kritik wird nicht müde, auf Parallelen hinzuweisen. Dem allzu häufigen Schlagwort von den infiernos dantescos wird man zunächst allerdings besser mit Skepsis begegnen.

115 Vgl. die "Aufschlüsselung", die der Autor selbst nachgeliefert hat: Leopoldo MARECHAL, Las claves de Adán Buenosayres, Mendoza 1966.

116 Franco 1980, S. 361 f. 117 Vgl. Leopoldo MARECHAL, Adán Buenosayres, Buenos Aires: Sudamericana, 1966, S. 333 (weitere

Belegstellen in Klammern). 118 Vgl. Franco 1980, S. 352 u. Dieter REICHARDT, Schöne Literatur lateinamerikanischer Autoren. Eine

Übersicht der deutschen Übersetzungen mit biographischen Angaben, Tübingen 1971, S. 100. 119 Trigo 1980, S. 113 f.

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gerät dadurch in Konflikt mit der Hierarchie120. Der historische Irrtum, dem Marechal gemeinsam mit diesem

Bischof und dem argentinischen Volk unterlegen ist, wurde dem ebenso großen wie problematischen Romancier

nicht selten zur Last gelegt.

Manuel MUJICA LAINEZ (*1910) verlegt das Geschehen seiner Romane mit Vorliebe in andere

Epochen, oft auch in andere Länder und Erdteile. Im Laufe der Jahre tritt das Mythische und Symbolische in

seinem Werk immer mehr in den Vordergrund. Die Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen

Wirklichkeit Lateinamerikas sind allerdings spärlich. Mythos und Symbol fungieren eher als literarästhetische

Mittel zur Erzeugung einer Aura des Mysteriösen und Phantastischen121. In El viaje de los siete demonios (1974)

strukturiert das theologische Konzept der sieben Todsünden, vertreten von sieben durch die Weltgeschichte

reisenden Teufeln, das Romangeschehen. Die ausführlich geschilderte Hölle ist ebenfalls ohne Dante nicht

denkbar und spielt auf die politischen Zustände in Argentinien und Lateinamerika an. Das Werk ist eine weitere

Illustration der Popularität des Teufels in der spanischamerikanischen Literatur und verweist in

humorvoll-ironischer Weise auf einige creencias der Volksreligiosität.

Ernesto SABATO (*1911), ursprünglich selbst ein bedeutender Naturwissenschaftler, ist als Schriftsteller

zum entschiedenen Gegner einer szientistisch-positivistischen Wirklichkeitsauffassung geworden und trat auch

als Theoretiker einer neuen novela metafísica hervor122. Aus verschiedenen Interviews geht hervor, daß Sábato

in seinen Romanen das Mythische und Religiöse bewußt zur Überwindung einer "realistischen Schreibweise"

einsetzt. Ähnliche Funktionen erfüllt bei ihm die Verwendung von Traumbildern, in denen sich das Irrationale

und Unterbewußte der menschlichen Existenz spiegelt123. Es ist symptomatisch, daß die etablierte Kirche für

ihn eher ein Element der Desakralisierung ist. Was er vor Augen hat, ist "cierto tipo de religioso (quizá el más

profundo) que es, que tiene que ser anticlerical. Las iglesias objetivan la religión y la pervierten. Los místicos

tienen que volver a las fuentes."124 Sábatos Romane mit ihrer oft schwer faßbaren Symbolik sind in diesem

Sinne ein Hort der stets entgleitenden Transzendenz. In Sobre héroes y tumbas (1961) - besonders in dem

Informe sobre ciegos, das im Mittelpunkt des Romans steht - wird der Leser immer wieder mit Reflexionen über

Gott und das Religiöse im allgemeinen konfrontiert125: der Weg des Protagonisten stellt sich hier zwar als ein

"Höllenabstieg" dar, ist aber zugleich ein "peregrinaje hacia la deidad" (386). Der 4. Teil ist El Dios desconocido

überschrieben. Die vielfältigen symbolischen Elemente des Romans sind allerdings nicht ausschließlich und

120 Ebd., S. 116 f. 121 Kessel SCHWARTZ, A New History of Spanish American Fiction. Volume II: Social Concern,

Universalism and the New Novel, University of Miami Press 1971, S. 239 ff. 122 Vgl. seinen Aufsatz von 1966 Por una novela novelesca y metafísica. 123 "Ernesto Sábato", in: Günter W. LORENZ, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen/Basel 1970, S. 124 ff.,

und Javier CRISTALDO, "Entrevista a Sábato", in: Khipu, 8 (1981), S. 36-42. 124 Ebd., S. 40. 125 Ernesto SABATO, Sobre héroes y tumbas, Barcelona: Planeta, 1968, S. 263, 265 u. 293.

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primär christlich, sondern entstammen den verschiedensten Traditionen126. Explizit auf biblischer Bildlichkeit

fußt der 1974 erschienene Roman Abaddón el exterminador. Titel und Motto entstammen der

Johannes-Apokalypse (9, 11). Der apokalyptischen Bedrohung, die über dem Roman ebenso schwebt wie über

der gesamten modernen Zivilisation, vermag Sábato, der selbst eine Figur des Romans ist, allerdings nichts

weiter entgegenzusetzen als die ästhetische Wirklichkeit dieses und des "metaphysischen" Romans überhaupt127.

Es ist freilich kein christlicher Glaube128, sondern eine satanisch-luziferische Mythologie, die hier als Bollwerk

gegen einen Rationalismus etabliert wird, der die Menschheit in den Untergang zu führen droht129.

Symbolismen verschiedenster Provenienz hat auch Julio CORTAZAR (1914-1984) in seinem nicht

weniger metaphysischen Hauptwerk Rayuela (1963) verarbeitet130 . Auch wenn der Zielpunkt der

metaphysischen Suche der Hauptfigur mitunter als cielo oder paraíso erscheint, ist es - wie Wiltrud IMO gezeigt

hat - eben die Metaphorik des Zen-Buddhismus, in welcher die "immanente Religiosität" des Romans zum

Ausdruck kommt131. In der Erzählung El perseguidor steht hingegen der biblische Symbol-Code im

Vordergrund132. Hier werden - wie bei Sábato, aber konsequenter - Bilder aus der Johannes-Apokalypse in

Korrelation zum Geschehen gesetzt. Die biblische, transzendierende Symbolik illustriert hier die Suche nach

dem "Zugang zu einer Wirklichkeit, die über die sichtbare, erklärbare Wirklichkeit hinausgeht"133. Aber auch

eine ausgesprochene Christus-Symbolik ist in dieser Erzählung präsent134. Selbst wenn man sich fragen mag,

ob dies alles, ebenso wie Cortázars Verwendung des Ausdrucks mi prójimo, in diesem Zusammenhang den

Rückschluß auf eine intensive Beschäftigung mit dem Christentum zuläßt, wäre zumindest zu ergänzen, daß

Cortázar in späteren Jahren seinem Interesse an der Praxis eines "anderen" Christentums literarische Gestalt

gegeben hat. Die apokalyptische Bedrohung ist allerdings auch dort spürbar, wo Cortázar - wie in dem cuento

126 Vgl. Lilia DAPAZ STROUT, "Sobre héroes y tumbas: Mito, realidad y superrealidad", in: Actas del Cuarto Congreso [...] Vol. I, S. 365; s.a. ead., "Sobre héroes y tumbas: Misterio ritual de purificación. La resurrección de la carne", in: Juan LOVELUCK, Novelistas hispanoamericanos de hoy, Madrid 1976, S. 197-235.

127 Vgl. Gustav SIEBENMANN, "Ernesto Sábato", in: Wolfgang EITEL [Hg.], Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1978, S. 87; Siebenmann sieht in dem Roman einen "Gegenmythos".

128 Auch hier wird das kirchliche Christentum verworfen, nicht aber der religiöse Impuls, der durch dieses nur verdeckt wird: "el arte, los sueños, el mito, el espíritu religioso" bilden eine "revolutionäre" Einheit (Sábato, Abaddón el exterminador, Barcelona: Seix Barral, 1984, S. 197).

129 Vgl. Karl KOHUT, "Una novela para defender la novela: Abaddón, de Ernesto Sábato", in: Iberoromania, 5 (1976 [erschienen 1980]), S. 82-111.

130 Für Graciela Maturo liegt dem Werk Cortázars die gleiche spirituelle Symbolik zugrunde, wie sie von ihr bei García Márquez untersucht worden ist (Maturo 1977, S. 158).

131 Wiltrud IMO, Wirklichkeitsaufssung und Wirklichkeitsdarstellung im Erzählwerk Julio Cortázars. Con un resumen en español, Frankfurt/M. 1981, S. 223 ff.

132 Ebd., S. 96-103. 133 Ebd., S. 99. 134 Ebd., S. 101. - Das nicht nur apokalyptische, sondern auch evangelische Symbol der puerta wird von

Carlos DROGUETT in El compadre in ähnlicher Weise verwendet (s. u. S. 395).

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mit dem Titel Apocalipsis de Solentiname - von seinem Besuch bei Ernesto Cardenal und seiner comunidad

erzählt135.

Der besonders als Essayist bekannte und bereits erwähnte Héctor Alvarez MURENA (1923-1975) hat

auch in seinen Romanen und Erzählungen Christlich-Symbolisches verarbeitet. In der Erzählung El centro del

infierno (1956) erlangt Judas als Verräter Christi gottähnliche Macht. In Murenas gesamtem Erzählwerk

illustriert eine Bildlichkeit christlicher Herkunft - es überwiegen die düsteren Elemente wie Teufel, Hölle, Judas

und Kain - die demonización de la tierra136. Seinem tiefen, heillosen Pessimismus verleiht der Autor auch in

dem Roman Caína muerte (1971) Ausdruck. Hier wird in extrem grotesker Weise die Vision eines Dorfes

entworfen, das gänzlich der Macht von Tod und Teufel verfallen ist. Auch die Welt dieses Romans wird Opfer

eines apokalyptischen Untergangs. Abgesehen von dem dämonisierenden Grundtenor wird keine durchgehende

Symbolik des Geschehens konstruiert. Im Vordergrund steht der skurrile und teilweise obskure Redefluß des

Erzählers, in dem religiöse Reminiszenzen in Form metaphorischer Streiflichter aufblitzen137. Bei zahlreichen

Romanen basiert zwar nicht die Strukturierung des Geschehens auf biblisch-christlichen Erzählstoffen oder

Vorstellungen, wohl aber ist die Ebene des Diskurses von den religiösen Traditionen des christlichen

Abendlandes deutlich beeinflußt. Hier wirken die im Katholizismus überlieferten Verhaltensmaßstäbe und

Wertvorstellungen fort, die wiederum die Psychologie der Handelnden und eventuell der Erzählerfigur

mitprägen. Dies wäre ein Teilaspekt im Erzählwerk von Manuel PUIG (*1931). Im Vordergrund steht bei ihm

allerdings die weltanschauliche Konditionierung der argentinischen Unterschicht durch die moderne

Massenkultur. Für Elías Miguel MUÑOZ ist indessen Sangre de amor correspondido (1982) eine

Infragestellung des "discurso religioso judeocristiano que ha predominado en Occidente desde tiempo

inmemorial"138. Ebenso wie die in Puigs gesamtem Romanwerk vom Medium Kino vermittelten Wert- und

Verhaltensklischees sei hier die Bibel sprachliches Werkzeug der Oppression. Mittels parodistischer Gestaltung

werde vom Autor eine Aufdeckung dieser Mechanismen angestrebt. Wenn Gott als "peligro público número

135 In: Julio CORTAZAR, Alguien que anda por ahí, Barcelona: Bruguera, 1980, S. 77-88 (entstanden 1976; ebenfalls enthalten in: J. C., Nicaragua tan violentamente dulce, Barcelona 1984).

136 Aínsa, S. 403; vgl. Manuel VIRASORO, "El cristianismo en un libro de Murena", in: Estudios, 533 (1962), S. 189-198.

137 La metáfora y lo sagrado ist denn auch der Titel einer 1974 in Buenos Aires erschienenen Aufsatzsammlung, die sich allerdings besonders auf die lyrische Rede bezieht.

138 Elías Miguel MUÑOZ, "Sangre de amor correspondido y el discuro del poder judeocristiano", in: Revista Iberoamericana, 130/131 (1985), S. 74. - Darüber hinaus glaubt Múñoz eine auf der Bibel basierende "mythische" und zyklische Struktur des Geschehens ausmachen zu können. Hier liegt wieder jene weitverbreitete Fehlinterpretation der Bibel vor, bei der sich zudem zwei verschiedene "Mythos"-Begriffe vermischen, nämlich der des narrativen "Monomythos", wie er von Joseph CAMPBELL dargestellt wurde, und der des "ideologischen" Mythos, wie er bei Roland BARTHES begegnet. Für Múñoz ist die Bibel Garant des eterno retorno - ein ihrer Intention fundamental entgegensetztes Verständnis. Das gleiche Prinzip erkennt der Kritiker in Puigs früherem Roman La traición de Rita Hayworth (1981). Die im großen und ganzen überzogenen Behauptungen von Múñoz erhellen weniger Puigs Erzählweise als seine persönlichen Vorurteile und Mißverständnisse gegenüber dem Christentum. - Der Roman spielt im übrigen in Brasilien und hat es somit mit einer christlichen Tradition ganz eigener Art zu tun.

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uno" denunziert wird, so steht dahinter wieder das Zerrbild des mythischen "bösen Gotts", welcher der

Selbstverwirklichung des Menschen im Wege steht139. Judeocristianismo wird fälschlicherweise mit "Mythos"

gleichgesetzt, und als solcher ist er hier eine die Unterdrückung festschreibende, nicht eine befreiende Kraft.

2.322 Uruguay

Die Themen und Motive der Literatur des Nachbarlands Uruguay, die ebenfalls einen ausgeprägt urbanen

Charakter hat, unterscheiden sich kaum von denen der argentinischen Romane. Bemerkenswert ist allerdings

auch, daß Uruguay als das "säkularisierteste" aller lateinamerikanischen Länder gilt140. Ein frühes Beispiel für

ein Werk, das eine strukturell relevante Christussymbolik enthält, ist Sombras sobre la tierra (1933) von

Francisco ESPINOLA (1901-1973). Für Alberto ZUM FELDE ist der Held dieses dostoievskihaft metaphysi-

schen Romans ein "Cristo en el prostíbulo"141. Tatsächlich weisen nicht nur seine Initialen (Juan Carlos) auf

die Ähnlichkeit mit Jesus Christus hin; das Motto aus dem Lukas-Evangelium orientiert bereits die

Wahrnehmung des Lesers: "Y como llegó cerca, viendo la ciudad, lloró sobre ella." Die moderne Großstadt - la

ciudad pulpo - und das Bordell als symbolhafte Verdichtung ihrer düsteren Seiten sind gleichsam die "Hölle",

der sich die christusähnliche Hauptfigur voller Mitleiden nähert, zugleich erfüllt von dem Streben, die "ge-

fallenen" Mitmenschen zu erlösen. Gleichzeitig klingt die tragische Gottesferne des modernen Menschen in dem

refrainartig wiederkehrenden Eli, Eli, lema sabachtani an. Als Gegenpol tritt aber auch der ebenso unorthodoxe

wie innige, mit messianischen Elementen durchsetzte Glaube der Armen in Erscheinung, und stellenweise sieht

es so aus, als sei hier eine fast schon befreiungstheologische "revolutionäre" Auferstehung möglich, inspiriert

von Bibel und Volksglauben142. Die aufflackernde Hoffnung wird in diesem Roman allerdings auf fatale Weise

von der Realität niedergewalzt - nicht zuletzt als Folge des Versagens von Juan Carlos: er erscheint als

halbherziger bürgerlicher Rebell aus der "Oberwelt". Francisco Espínola ist einer der Exponenten des Wandels,

nicht nur der uruguayischen, sondern der hispanoamerikanischen Literatur überhaupt. Besonderes Interesse

verdient Sombras sobre la tierra wegen der durchgängigen Präsenz einer symbolischen - nach Aínsa "allegori-

139 Múñoz, S. 81 f.; der Kritiker zitiert hier zum Beleg eine Passage aus Rita Hayworth: "tal vez Dios sea una fuerza sádica que se regocija en contemplar el sufrimiento".

140 Rama, S. 111. 141 Alberto ZUM FELDE, Indice crítico de la literatura hispanoamericana. La narrativa, t. 2, México

1959, S. 448 f. - Vgl. Jorge RUFFINELLI, "Paco Espínola, un buceador de almas", in: id., Crítica en marcha, México 1979, S. 228-233, bes. S. 231, u. Aínsa, S. 383-398. - Das Titelbild der hier zitierten Ausgabe (Montevideo 1969) zeigt die Holzplastik eines leidenden Christus.

142 Eine dynamische Verarbeitung der volkstümlichen "ritual superstición" versucht Espínola auch in seinen cuentos; vgl. hierzu Mario BENEDETTI, "Francisco Espínola: el cuento como arte", in: id., Literatura uruguaya siglo XX, Montevideo/Buenos Aires 1963, S. 57-61.

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schen" - Dimension143. Streckenweise bleibt der Roman freilich einem naturalistischen Gut-Böse-Schema

verhaftet, in dem sich Hell und Dunkel, "the spirit and the flesh"144, ihr ewiges Duell liefern.

Das Werk von Juan Carlos ONETTI (*1909), der anders als sein Landsmann Espínola bereits zu den

Hauptautoren der Nueva Novela zählt, hat in weitaus größerem Maße das Interesse der Literaturkritik auf sich

gezogen. Die recht deutliche Präsenz einer anscheinend christlichen Symbolik, vor allem in seinen Romanen El

astillero (1961) und Juntacadáveres (1964) - die biblischen Namen der Hauptfiguren etwa und die Aktivitäten

eines Priesters - haben unterschiedliche Interpretationsversuche herausgefordert145. Zunächst handelt es sich

wohl um nicht mehr als um den Reflex eines seiner ursprünglichen Funktion und Wahrhaftigkeit beraubten

"katholischen Substrats"146, das nun in grotesken Widerspruch zu einer jeglichen Sinns und aller Transzendenz

beraubten Wirklichkeit tritt: die Funktion der religiösen Symbolik scheint gerade im Hinweis auf ihre

Unangebrachtheit zu bestehen. Damit läge eine ironische Verwendung biblisch-christlicher Symbole vor147. Die

Sakralisierung des Bordells als "Kirche" bzw. als Ort, an dem paradoxerweise eine urkirchliche Solidarität und

Unschuld herrscht, hat Onetti mit Espínola und zahlreichen anderen lateinamerikanischen Autoren

gemeinsam148. Vor allem läßt sich aber mit EYZAGUIRRE die Werft, eine "impotente, aunque difunta

empresa", deren Gründer den Namen "Jeremías Petrus" trägt, als Symbol der römisch-katholischen Kirche oder

143 Aínsa, S. 385; "allegorisch" ist hier wohl kaum als Gegenbegriff zu einer möglichen symbolischen Erzählweise zu verstehen, sondern verweist auf die Korrelierung mit dem biblischen Christus-Geschehen, welche der etwas chaotischen Erzählung eine strukturelle Achse verleiht: "el símbolo es lo más real de este mundo entre dos luces" (Valverde, S. 378).

144 Schwartz, S. 167. 145 Vgl. Emir RODRIGUEZ MONEGAL, "Onetti oder die Entdeckung der Stadt", in: Mechtild

STRAUSFELD [Hg.], Materialien zur lateinamerikanischen Literatur, Frankfurt 1977, S. 183: "die allegorische Dichte der Erzählung selbst [...] regen [sic!] irgendwie dazu an, hinter der Handlung von Die Werft nach christlichen Symbolen zu suchen".

146 Jaime CONCHA, "Sobre Tierra de nadie de Juan Carlos Onetti", in: Loveluck, S. 78: "Con esto, es legítimo ir sospechando que, tras la obra de Onetti, actúan determinaciones de una conciencia religiosa cuyos lejanos estertores resuenan, como en ecos truculentos, en estas escenas de horror y de pesadilla. El catolicismo ha sabido contaminar a las sensibilidades de Hispanoamérica y de cualquier parte con morbosas, contradictorias experiencias de delectación y pánico ante la carne dañada. El sentimiento bíblico de la enfermedad como castigo por el pecado, la impregnación obsesiva de la fantasía infantil por un Infierno cuya única misión es torturar al cuerpo, el régimen cotidiano de postrimerías a que la Iglesia por largo tiempo sometió a sus fieles, son algunos elementos que operan, indirecta y subrepticiamente, sobre la concepción del escritor uruguayo." - Auf Tierra de nadie bezieht sich auch Katalin KULIN, "The myth of Job in the works of Juan Carlos Onetti and Salvador Espriu", in Actes du 9e Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée (Innsbruck 1979), T. 4, Innsbruck 1982 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 53), S. 397-402.

147 Franco 1980, S. 391 f. ("lo puro es impuro, lo impuro es inocente"). Nach Franco kämpfen in Santa María unter anderem der Positivismus gegen die "Religion"; doch die beiden Mächte unterscheiden sich hier kaum.

148 Lloyd Hughes DAVIES, "Use of irony in Juan Carlos Onetti's El astillero", in: Iberoromania, 17 (1983), S. 121-130; Luis Mario SCHNEIDER, "La iglesia de Onetti: el prostíbulo", in: Texto Crítico, 18-19 (1980), S. 87-89; in Juntacadáveres versucht eine Romanfigur - Marcos (!) Bergner - eine "urchristliche Gemeinde" zu gründen. Vgl. Gordon BROTHERSTON, The emergence of the Latin American Novel, Cambridge University Press 1977, S. 69.

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des religiösen Glaubens überhaupt deuten149. Indessen tritt bei Onetti ja auch die reale Kirche in die Handlung

ein, wo sie sich eindeutig gegen das Volk mit der Macht kompromittiert150. Zusammen mit der recht stringent

eingesetzten christlichen Symbolik weist alles "Kirchliche" bei Onetti letzten Endes auf eine mala fe, wenngleich

das Bedürfnis des Menschen nach Glauben und Sinn ernst genommen wird.

2.323 Chile

Die neuere Geschichte des Christentums und der Kirche in Lateinamerika weist Chile als einen Sonderfall

aus151. Die Ausnahmestellung, durch welche das Land im Rahmen dieser Untersuchung besondere

Aufmerksamkeit verdient, spiegelt sich auch in der Literatur und gipfelt in der symbolischen Darstellungweise,

die als fast durchgängiges Strukturmerkmal der in den 50er Jahren verfaßten Romane hervortritt. Erzähler wie

Manuel ROJAS und Carlos DROGUETT sowie Autoren der sogenannnten Generación del 50 greifen vielfach

auf biblische Stoffe und Motive zurück, und nicht wenige von ihnen bemühen sich um eine Auseinandersetzung

mit der Figur Christi und ihren symbolischen Implikationen, wobei eine ausgesprochen "katholische"

Perspektive durchaus die Ausnahme bleibt. Den Autoren dieser Strömung wird im Hauptteil dieser Arbeit ein

eigenes Kapitel gewidmet, in dessen Rahmen auch die literarische Vorgeschichte Berücksichtigung findet. Hier

sollen lediglich zwei Romanciers erwähnt werden, deren Schaffensschwerpunkt in die Zeit nach diesem boom

der biblisch-christlichen Symbolik fällt.

Da wäre zum einen José DONOSO (*1925) zu nennen, der im weiteren Sinne ebenfalls der Generation

von 1950 zuzurechnen ist. Ein Strukturprinzip von El lugar sin límites (1966) ist das "correlato mítico cristiano",

jedoch in Form einer Inversion152. Hauptfiguren und Pole des Geschehens sind der Transvestit Manuela in

seinem Bordell einerseits und der Kazike und Weingutsbesitzer Don Alejo Cruz andererseits. Er trägt zahlreiche

Züge des biblischen Gottes, ist jedoch in Wirklichkeit Garant einer infernalischen Ordnung, eine weitere

literarische Inkarnation des "bösen Gottes"153. Die sprachliche Darbietung intensiviert die religiöse Überhöhung

149 Eyzaguirre, S. 258. - Im Romantext wird die Werft explizit als "templo desertado de una religión extinta" bezeichnet (Juan Carlos ONETTI, El astillero, Ed. de Juan Manuel GARCIA RAMOS, Madrid: Cátedra, 1983, S. 198).

150 Trigo 1976, S. 249. 151 S. o. S. 22 f. sowie die "Zwischenbemerkung", S. 268 f. 152 Marcelina Elvira ALAVIA TICONA et al., Aproximación a la temática de José Donoso, Antofagasta

1980; vgl. Fernando MORENO TURNER, "La inversión como norma. A propósito de El lugar sin límites", in: José Donoso. La destrucción de un mundo, Buenos Aires 1975, S. 73-100.

153 José DONOSO, El lugar sin límites, Barcelona: Seix Barral, 1981, S. 11: "Hasta la cara de tatita Dios tenía". - Für Aínsa (S. 162 f.) ist Don Alejo Cruz "como un Dios del Antiguo Testamento: crea y destruye, bendice y es iracundo". - Für Alavia Ticona "no es el Dios cristiano, sino el Dios Saturno que devora a sus hijos, es el Dios de la violencia" (S. 20). - Das Motto aus MARLOWEs Faust weist darauf

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79

der feudalistischen Unterdrückungsstrukturen, wie sie sich in der Vorstellung der Dorfbewohner eingenistet hat.

Leben und Arbeiten sind geprägt vom Weinbau: aber die viña del Señor erscheint hier eben unter eindeutig

negativen Vorzeichen. Die von Manuel verkörperte Un-Ordnung wird angesichts der "geometrischen"

Herrschaft Don Alejos zu einem revolutionären Potential154. Ein weiterer Agent der Rebellion ist die

luziferische Figur des Pancho Vega, der sich als Gottes- und Vatermörder gegen Don Alejo auflehnt155. Eine

wirkliche Befreiung erfolgt dennoch nicht; der infernalische Zyklus der Gewalt ist ebenfalls sin límites, und die

Hoffnung auf Erlösung ist es gerade, was ihn so unerträglich macht156. So mag man den Roman zwar als

"moderne Allegorie" bezeichnen157, die biblisch-christliche "Mythen" verarbeitet; der Bezug zum Christentum

ist jedoch rein materieller Natur; von christlichem Denken und Glauben ist die Welt dieses Romans weit

entfernt.

Einer jüngeren Autorengeneration gehört Jorge GUZMAN (*1930) an, der mit seinem 1968 erschienenen

Roman Job-Boj ein uraltes, immer wieder literarisch bearbeitetes biblisches Thema neu aufgreift158. Die

Lebensgeschichte des biblischen Hiob, der Weg von der jugendlichen Unbeschwertheit durch eine tiefe

existentielle Krise bis zu einer neuen Lebenszuversicht klingt in dem unkonventionell gestalteten Roman als

verhaltener Unterton an. Wenn man von einigen wenigen direkten Anspielungen und expliziten Erwähnungen

der biblischen Fabel durch den Erzähler absieht159, scheinen sich die Parallelen in einer stimmungsmäßigen

Analogie zu erschöpfen. Ein genauer Blick auf den biblischen Text läßt indessen vermuten, daß Guzmán sich

intensiv damit auseinandergesetzt hat, denn Hiobs existentielle und "psychologische" Situation ist tatsächlich

hin, daß der Ort des Geschehens eine Hölle - lugar sin límites - ist. Damit wird zugleich die Bedeutung des Erzählten ins Universell-Symbolische ausgeweitet.

154 Herausstechendes Merkmal der Weinberge ist ihr "ordenamiento"(125). 155 José PROMIS OJEDA, "La desintegración del orden en la novela de José Donoso", in: La novela

hispanoamericana. Descubrimiento e invención de América, Valparaíso 1973, S. 205-228, bes. S. 224: "Esta inversión de los valores - Dios vencido y Luzbel triunfante - provoca la caída del orden establecido por don Alejo en su mundo creado". Nach Promis verwendet Donoso hier "el correlato mítico cristiano" (S. 223).

156 Folgende Worte der "japonesita" stehen am Ende des Romans: "Las cosas que terminan dan paz y las cosas que no cambian comienzan a concluirse, están siempre concluyéndose. Lo terrible es la espe-ranza."(137)

157 HLAS, 30 (1968), S. 264, vgl. S. 273 f. (Nr. 3472). 158 Vgl. Hernán LOYOLA, "Job-Boj, novela de Jorge Guzmán", in: Mapocho, 19 (1969), S. 199-204;

Michael J. DOUDOROFF, "Coordinate design in a Chilean Nueva Novela. Job-Boj by Jorge Guzmán", in: Latin American Literary Review, 3 (1975), S. 23-29; José PROMIS, La novela chilena actual, Buenos Aires 1977, S. 163 ff. - Ariel DORFMAN, "Temas y problemas de la narrativa chilena actual", in: Aníbal PINTO et al., Chile hoy, México 1970, S. 393. Die Bezüge zur biblischen Hiob-Figur werden in den kritischen Beiträgen, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

159 Jorge GUZMAN, Job-Boj, Barcelona: Seix Barral, ²1971, S. 251 u. 264. - Interessant ist jene Episode, in welcher der Ich-Erzähler einen schreibenden Freund besucht, der sich neuerdings wieder mit der Frage nach Gott beschäftigt und das Buch Hiob literarisch bearbeitet: der Autor scheint eine mise en abyme seiner selbst vorgenommen zu haben.

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detaillierter umgesetzt, als es zunächst den Anschein hat160. Die Hiob-Geschichte ist bekanntlich einer der am

meisten behandelten Bibelstoffe in der Weltliteratur und hat besonders im Gefolge existentialistischer

Daseinsdeutungen neuen Aufschwung erfahren161. Umso bemerkenswerter ist es, daß Job-Boj bei Guzmán

nicht der totalen Verzweiflung und Gottesferne verfällt. Ohne daß damit in irgendeiner Weise ein explizit

christlicher Glaube insinuiert würde, nehmen die beiden Erzählstränge des Romans einen von Ungewißheit zwar

nicht freien, aber hoffnungsvollen Ausgang162.

2.324 Paraguay

Die bisher behandelten Beispiele aus der argentinischen, uruguayischen und chilenischen Literatur stellen

gleichsam eine Hinführung auf Romane aus jenen Ländern dar, in deren Kultur das europäisch-hispanische

Element zugunsten des spezifisch Indoamerikanischen zurücktritt, dessen Verständnis den europäischen Leser

mit wesentlich größeren Problemen konfrontiert. Als erstes jener Länder, in denen das indigene Erbe - hier das

der Guaraní-Kultur - bis heute lebendig geblieben ist, wäre Paraguay zu nennen. Da aber die Vitalität der

autochthonen Kulturtraditionen oft nur die andere Seite eines Zustandes ist, den man aus der "modernen" Sicht

der Industrienationen als wirtschaftliche, kulturelle und politisch-soziale Rückständigkeit interpretiert, hat gerade

Paraguay, ebenso wie Bolivien, die Dominikanische Republik und die meisten mittelamerikanischen Staaten nur

wenige bedeutende Romanciers hervorgebracht. Allerdings ist dieses Land die Heimat von Augusto ROA

BASTOS (*1917), des Verfassers von Hijo de hombre (1960), dem wohl bedeutendsten der im Hauptteil

eingehend untersuchten Romane. Schon der Titel weist darauf hin, daß es eine auf Christus verweisende

Symbolik ist, welche die Bedeutungsstruktur des Werks mitbegründet163.

2.325 Peru

In den indigenistischen Romanen Perus und der angrenzenden Andenländer gelangen sowohl die religiöse

Vorstellungswelt der Indios als auch das Christentum in Form der katholischen Kirche und ihrer Repräsentanten

160 Primär "psychologische" Motiventsprechungen liegen in der Hoffnungslosigkeit, der Angst, dem Todesverlangen, der subjektiv empfundenen Sinnlosigkeit des Lebens, physischen Schmerzen, Schlaflosigkeit, Ekel vor dem Leben etc.

161 Elisabeth FRENZEL, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 61983, S. 326.

162 Promis 1977, S. 174 ff. 163 S. u. Kap. 9.

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zur Darstellung: daß der Dorfpfarrer als oft geradezu diabolischer Agent der Macht und Unterdrückung

gezeichnet wird, ist zum Topos dieser Romangattung geworden. Als Beispiel sei nur Huasipungo (1934) von

dem Ecuadorianer Jorge ICAZA (1902-1978) genannt164. Ciro ALEGRIA (1909-1967) beginnt indessen die

ideologische und literarästhetische Beschränkung des Indigenismus zu überwinden.

Als Krönung seines Gesamtwerks plante er seit Anfang der 50er Jahre einen dreiteiligen

Monumentalroman mit dem Titel Resurrección:

"En ella narro el desarrollo de una revolución americana y trato de captar esos sentimientos confusos, esas acciones que responden a oscuros motivos, esos pintorescos personajes que les dan su tónica peculiar a las insurrecciones en nuestros países."165

Die einzelnen Teile hatte der Autor nach folgendem Strukturschema konzipiert:

I. Dolor y Esperanza

II. Lucha y Agonía

III. Muerte y Resurrección

Das Auferstehungs-Motiv erscheint hier primär ins Politisch-Soziale ("Aufstand" und Revolution) gewendet, ist

aber von mythisch-religiösen Anklängen nicht frei166. Es ist der Versuch, eine romanhafte Geschichte von der

Unterdrückung und Befreiung des peruanischen Volkes zu schreiben. Nur den ersten Teil konnte Alegría vor

seinem Tod zur Ausführung bringen. Er trägt den Titel Lázaro und verweist somit auf jene in der

lateinamerikanischen Literatur übrigens recht häufig zitierte Figur des Lazarus167, dessen Auferstehung in

Analogie zu derjenigen Christi gedeutet wird. Leiden, Hoffnung und vor allem die Auferstehung sind Leitmotive

in Lázaro: verschiedene Romanfiguren erleben in äußerster Bedrängnis resurrecciones, ohne daß sich das

Schicksal des biblischen Lazarus an einer bestimmten Figur konsequent und in allen Details nachvollziehen

würde. Bemerkenswert ist, daß hier der arme und gelähmte bzw. aussätzige Lazarus als Symbol der

164 Trigo, der diesen Roman stellvertretend für viele andere erwähnt, moniert hier "la pobreza analítica con que aparece descrita la religión" (Trigo 1980, S. 7).

165 Henry BONNEVILLE, "Prólogo a Lázaro", in: Ciro ALEGRIA, Lázaro, Buenos Aires: Losada, 1973, S. 12; vgl. Bonneville, "Mort et résurrection de Ciro Alegría", in: Bulletin Hispanique, 70 (1968), S. 12-33; André JANSEN, La novela hispanoamericana actual y sus antecedentes, Barcelona 1973, S. 36. - Zu El mundo es ancho y ajeno, Alegrías bedeutendstem Roman, s. Manuel M. ALVAREZ de TOLEDO, Religión y superstición en El mundo es ancho y ajeno, México 1963; Francis T. McGOURN, "The priest in El mundo es ancho y ajeno", in: Romance Notes, 9 (1968), S. 224-233.

166 "- ¿Y por qué el título de Lázaro? - Es que en esos momentos la vida humana está entregada al azar, vivimos y morimos, y a veces resucitamos, sin explicación posible. En esta novela aparecen esos casos de hombres que mueren todos los días, y de otros que el pueblo cree que todavía viven, a pesar de haber muerto". (Aus einem Interview mit C. Alegría [1954], zit. nach Bonneville 1973, S. 12 f.). - Als sich bei ihm der Plan zu Resurrección verdichtete, hatte er gerade die kubanische Lyrikerin Dora VARONA (*1932) geheiratet, die eine christlich inspirierte Dichtung verfaßte (vgl. Gott der Armen, S. 131 f.).

167 Joh 1, 11-46; die johanneische Figur wird oft mit dem gleichnamigen gelähmten Bettler kontaminiert, der in einem Gleichnis des Lukas-Evangeliums (16, 19-31) genannt wird.

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Auferstehung gewählt wurde und nicht Christus - wohl weil seine Person, zumal in Lateinamerika, als zu

weltenthoben und "jenseitig" empfunden wurde. Ciro Alegría ist nichtsdestoweniger der erste

hispanoamerikanische Romancier, der eine diesseitige Interpretation der wohl unbestreitbar christlichen

Vorstellung von der Auferstehung versucht. Bei dem peruanischen Autor läßt sich eine Akzentuierung

vernehmen, die auch in der Teología de la liberación wiederkehrt, etwa bei Jon SOBRINO mit der Botschaft: "el

resucitado es el crucificado" - nur dort, wo Armut und Leiden ist, kommt es zur Auferstehung. Auf die

"Reichen" wird in Lázaro weder eine christliche Symbolik projiziert, noch finden sich bei ihnen Spuren eines

echten religiösen Empfindens. Sie dienen weiterhin der Illustration einer reaktionären Pseudoreligiosität.

Eher als Kuriosum sei an dieser Stelle ein Roman des bereits genannten Philosophen Alberto WAGNER

de REYNA (*1915) erwähnt: die kulturphilosophische Problematik der Prägung des heutigen Lateinamerikas

durch das abendländische christliche Erbe ist auch Thema seines Romans La fuga von 1955168. Das Bekenntnis

zum Christentum nicht unbedingt "como religión sino como realizador de cultura" (95) steht in Opposition zu

kultur- und gesellschaftspolitischen Strömungen des Indigenismus. Die Auseinandersetzung wird im Roman in

Zusammenhang mit der peruanischen Universitätsreform der 30er Jahre gestaltet. Im Vordergrund steht

allerdings der psychologische Konflikt eines jungen Studenten der Universität San Marcos, der von einer

oberflächlichen traditionellen Religiosität, die nichts anderes als eine fuga vor der Wirklichkeit gewesen war169,

zu einem auf das Diesseits und die eigene Existenz bezogenen Glauben findet. Die innere Wandlung wird stark

beeinflußt durch eine "discusión sobre temas cruciales", die der Protagonist - er trägt den symbolischen Namen

Pablo - mit einem Priester führt (229). Der Bezug zur Parábola del Hijo pródigo wird explizit hergestellt (245).

Reflexionen des Erzählers vertiefen die philosophisch-theologische Problematik: culpa, castigo, redención

erscheinen als existentielle Erfahrungen, die der Mensch nicht nur spirituell, sondern durch sein Erleben und

Handeln - agónicamente (248) - bewältigen muß170.

Eine herausragende Figur der peruanischen Literatur ist der 1969 durch Freitod ums Leben gekommene

José María ARGUEDAS (*1911). Er führt die von Ciro Alegría eingeleitete "Universalisierung" der

indigenistischen Schreibweise fort. Die Darstellung und strukturelle Verarbeitung der religiösen Welt der

Andenbewohner ist ein hervortretendes Merkmal seines Gesamtwerks. Dabei scheint es zunächst, als komme in

seinem Werk primär oder ausschließlich die magisch-mythische Vorstellungswelt und Wirklichkeitsauffassung

der Indios zum Tragen171. Interessant ist aber, wie Arguedas gleichsam aus indigenistischer Perspektive

168 Alberto WAGNER de REYNA, La fuga, Santiago: Zig-Zag, 1955. - Bezeichnenderweise ist der Roman in Chile erschienen, bei einem Verlag, der mehrere jener Autoren herausgebracht hat, die in Kap. 7 besondere Beachtung finden werden.

169 Das Motiv ist letztlich das gleiche wie in CARPENTIERs Los pasos perdidos und Enrique LAFOURCADEs Para subir al cielo.

170 Unschwer läßt sich hier der Reflex einer christlich inspirierten Existentialphilosophie (KIERKEGAARD und UNAMUNO) erkennen.

171 Vgl. Janik 1976, S. 136-153.

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langsam, aber stetig zu einer Neubewertung des lateinamerikanischen Christentums hinfindet172. Die

Religiosität des andinen Menschen ist für ihn einer der "tiefen Flüsse", die diese Kultur durchströmen und die für

die Indios die Solidarität mit ihren Mitmenschen und mit der Natur zu etwas Selbstverständlichem machen. Die

in Arguedas' Romanen, vor allem seit Los ríos profundos (1958), dargestellte Wirklichkeit ist voller religiöser

Symbole, die auf die Romanfiguren wirken und sie in eine Ordnung einbinden173. In Arguedas' Darstellung ist

die andine Religiosität zugleich ein politisches Potential, aus dem die Menschen Kraft zum Widerstand gegen

Unterdrückung und Unrechtsstrukturen schöpfen. Während in Los ríos profundos noch eine deutliche

Abgrenzung und Opposition zwischen der (positiven) autochthonen magisch-mythischen Religiosität und dem

(negativen) kirchlichen Christentum zu erkennen ist, rückt in Todas las sangres (1964) ein christlicher "Gott der

Armen" ins Blickfeld, den die offizielle Kirche - den Gott der Reichen verehrend - bisher gar nicht gekannt zu

haben scheint174 . Explizit gestaltet wird die Möglichkeit eines engagierten, ja revolutionären

Christentums - hier gebunden an die Gestalt eines nordamerikanischen Priesters - in Arguedas' letztem,

fragmentarischem Roman El zorro de arriba y el zorro de abajo (1971), der als ergreifendes Dokument einer

Hoffnung zu lesen ist, die aus tiefster Verzweiflung erwächst175.

Hier ist der Ort, auf zwei peruanische Erzähler hinzuweisen, die die Figur Christi in Kurzerzählungen

symbolisch verarbeitet haben. Carlos E. ZAVALETA (*1925), der sich intensiv mit FAULKNER und JOYCE

beschäftigt hat und vielleicht dadurch Anregungen für eine symbolische Schreibweise erhielt, ist unter anderem

durch seine Erzählung El Cristo Villenas (1955) bekannt geworden176. Es ist die Geschichte eines leutseligen

und vitalen hacendado, der bei einem Fest in einen Kessel mit kochender Chicha stürzt, dabei schwerste,

entstellende Verwundungen erleidet, aber noch einmal voller Todesverachtung vom Sterbebett aufsteht, um

seine Geliebte zu besuchen; damit überwindet er wie Jesus Christus - aber aus ganz diesseitigen Motiven - den

Tod. Im Glauben und der Imagination des Volkes wird er denn auch zu einem Cristo, hinter dem die Erinnerung

172 Zur Affinität von Arguedas' Werk mit der Befreiungstheologie s. a. oben, S. 33. 173 Vgl. Tomás G. ESCAJADILLO, "Los señales de un tránsito a la universalidad", in: Juan LARCO (Ed.),

Recopilacíon de textos sobre José María Arguedas, La Habana 1978, S. 90 ff.; id., "Tópicos y símbolos religiosos en el primer capítulo de Los ríos profundos", in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, 5:9 (1979), S. 57-68; María Ofelia IBAÑEZ, "La cosmovisión sacralizada en Los ríos profundos", in: Megafón, 3:6 (1977), S. 119-133; José Luis ROUILLON, "José María Arguedas y la religión", in: Páginas, 15 (5/1978), S. 11-30.

174 Vgl. die in Theologie der Befreiung von Gutiérrez zitierte Passage aus dem Roman (s. o. S. 33). 175 Trigo 1982, S. 198 ff. und Valle, S. 190 ff. Am Ende des Romans, der zugleich das Ende von Arguedas'

Leben und Schaffen ist, wendet er sich direkt an Gustavo Gutiérrez als den Theologen eines Dios liberador, der dem traditionellen Dios inquisidor entgegengesetzt ist (J. M. ARGUEDAS, El zorro de arriba y el zorro de abajo, Buenos Aires: Losada, 31972, S. 69); vgl. folgende Passage (S.270): "... Quizá conmigo empieza a cerrarse un ciclo y a abrirse otro en el Perú y lo que él representa: se cierra el de la calandria consoladora, del azote; del arrieraje, del odio impotente, de los fúnebres alzamientos, del temor a Dios y del predominio de ese Dios y sus protegidos, sus fabricantes; se abre el de la luz y de la fuerza liberadora invencible del hombre de Vietnam, el de la calandria de fuego, el del dios liberador, Aquel que se reintegra. Vallejo era el principio y el fin."

176 Zuerst erschienen in der gleichnamigen Sammlung (México 1956); hier zitiert nach José Miguel OVIEDO [Hg.], Narradores peruanos, Caracas 1976, S. 73-85.

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an jenen anderen, historischen Jesus Christus verblaßt. Seine Geschichte verbreitet sich in Form verschiedener

"Evangelien" schnell in der ganzen Gegend. Nach seinem Tod "kehrt er heim" zu seinem Vater, "muerto Él

también hacía mucho tiempo" (80). Der diesseitige, lebensfrohe Cristo Villenas löst damit den Glauben an den

jenseitigen, von Priestern und Religionslehrern verkündeten alten Christus ab. Ein Fremder erscheint

abschließend als "Apostel" und Theologe des neuen Glaubens:

No creo en esa buena historia que resulta mezclada en todo y que impide a un hombre, sea o no Villenas, tener una vida propia. Me disgusta una historia que por vieja dependa de mí para que no muera. (83)177

Die Befreiung von der Erinnerung an den "alten Christus" erscheint hier als Lösung aus einer entfremdenden

Religion und Hinwendung zur Fülle des diesseitigen Lebens.

Eleodoro VARGAS VICUÑA (*1924) erzählt in Taita Cristo (1964)178 von einer Begebenheit, die in

den Rahmen einer Karfreitagsprozession in einem Indiodorf projiziert wird. Das Christus-Geschehen der

Evangelien mit den Elementen des Leidens, des Todes, der Auferstehung und sogar einem Anklang an die

Niederkunft des Heiligen Geistes wiederholt sich hier in einem Andendorf. Die Sinngebung erfolgt aber weniger

aus theologischer, denn aus einer existentiellen Perspektive, die in dieser Form nur vor dem Hintergrund der au-

tochthonen Religiosität möglich ist. Um bewußt eine kollektive Schuld zu sühnen, nimmt die Hauptfigur das

Kreuz auf sich und stirbt dabei. Für die Dorfbewohner ist dieser heroische Akt ein glaubwürdiges Symbol der

redención und impliziert zugleich das Gefühl einer Auferstehung: "una esperanza en el renacer del hombre

andino, en cuya hombría pone el autor toda su fe."179 Ebenso wie bei Arguedas erfolgt hier also eine

zukunftsweisende Überblendung autochthoner, "mythischer" und christlicher Religiosität.

Ähnliches gilt für Manuel SCORZA (1928-1984), insbesondere seinen Roman Redoble por Rancas

(1970), wenngleich hier bereits explizit zum Ausdruck kommt (besonders an der Figur des Padre Chasán), daß

Teile des peruanischen Klerus den Widerstand der Indios gegen die strukturelle Ungerechtigkeit nicht nur

unterstützen, sondern daß der christliche Glaube einem fatalistischen Ertragen jeglicher Unterdrückung

entgegengesetzt ist180. Auf die Frage, warum Gott die Bewohner von Rancas so hart strafe (ein

nordamerikanischer Bergbaukonzern hat die zum Dorf gehörigen Ländereien widerrechtlich für sich eingezäunt),

antwortet der Priester: "El Cerco no es obra de Dios, hijitos, es obra de los americanos. No basta rezar. Hay que

pelear."181 Später predigt er mit den Worten der Bibel: "Los abusadores y los violentos rodarán en la ceniza.

Los bienaventurados y los mansos, los pobrecitos sin tierra, los pisoteados, los despojados, ellos se sentarán a la

177 Der Fremde bezieht sich auf die Geschichte des Jesus von Nazareth. 178 Lima: Populibros Peruanos, 1964. Eine Interpretation, auf die hier weitgehend Bezug genommen wird,

liefert Marguerite C. SUAREZ-MURIAS, "Arquetipos míticos y existencialistas en Taita Cristo (de Eleodoro Vargas Vicuña)", in: Explicación de Textos Literarios, 10:1 (1981), S. 15-21.

179 Suárez-M., S. 21. 180 Vgl. hierzu den M. Scorza gewidmeten Abschnitt in Trigo 1980 sowie Trigo 1976, S. 257 f. 181 Manuel SCORZA, Redoble por Rancas, Barcelona: Plaza & Janés, 1983, S. 117.

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diestra de Dios Padre" (163). Auf symbolischer Ebene erscheint das gedemütigte Volk als gekreuzigter Christus,

und zwar in der Figur des alten Fortunato, der sich den Handlangern der Minengesellschaft beharrlich und

schließlich erfolgreich widersetzt, aber dafür brutal mißhandelt wird. Als Gekreuzigter verfolgt er einen Wächter

im Traum (121 ff., 145). Durch seine Opferbereitschaft und sein Leiden wird Fortunato zum prophetischen

Vorkämpfer einer Rebellion (149). Nachdem er und seine Mitkämpfer bei einem Gemetzel mit der

Ordnungsmacht gefallen sind, führen sie ihr Gespräch im Grab fort: mit ihrem Tod ist die Geschichte der

Befreiung nicht zuende.

Mario VARGAS LLOSA (*1936) als der jüngste und auch in Europa bekannteste der hier vorgestellten

peruanischen Autoren räumt in seinen Werken der Kirche und dem religiösen Phänomen schlechthin breiten

Raum ein. Er tut dies allerdings aus einer radikal aufgeklärten Perspektive. Von jener Faszination durch das

Mythische und Religiöse, die vor allem aus dem Werk Arguedas' spricht, ist bei ihm ebensowenig zu spüren wie

von einer strukturell bedeutsamen christlichen Symbolik. Die Bedeutung des Religiösen in der lateinameri-

kanischen Kultur und Gesellschaft wird indessen sehr wohl behandelt, wobei aber primär der entfremdende

Charakter jeglicher creencias denunziert wird. Unterschwellig stellen sich solche "Glaubensreste" als Folge der

soziokulturellen Rückständigkeit des Subkontinents dar. Vargas Llosa widmet sich mit Vorliebe der Darstellung

sektiererischer religiöser Massenbewegungen, an denen die vom Irrationalen ausgehende Faszination besonders

auffällig ist. Religiöser Fanatismus spielt bereits in La casa verde (1966) eine Rolle182. In Pantaleón y las

visitadoras (1973) geht es um einen fanatischen Kult des Gekreuzigten, ja der Kreuzigung überhaupt, dessen

Anhänger zunächst alle erreichbaren Tiere und schließlich sogar vier Menschen kreuzigen183. Die "wahre Ge-

schichte" einer apokalyptisch-messianischen Bewegung aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts ist Gegenstand

von La Guerra del Fin del Mundo (1981). Ein fast schon obsessives Leitmotiv in Vargas Llosas gesamtem Werk

ist das Bemühen um eine "Entthronung Gottes"184. Transzendenz und Religiosität sind für ihn noch immer der

Garant eines "falschen Bewußtseins".

182 Vgl. Cedomil GOIC, Historia de la novela hispanoamericana, Valparaíso 1972, S. 282. Wie Goic darstellt, erscheint die Kirche hier als (negativer) Repräsentant der rationalen städtischen Ordnung, das Bordell hingegen als anarchischer Ort der Befreiung.

183 Vgl. Valle, S. 200 f.; hier finden sich auch Bemerkungen zum Stellenwert des Religiösen in den übrigen Romanen von Vargas Llosa.

184 Sehr viel über Vargas Llosas eigene Weltanschauung sagt sein García-Márquez-Essay Historia de un deicidio. Vgl. auch Ernesto GONZALEZ BERMEJO, "Mario Vargas Llosa o la suplantación de Dios", in: id., Cosas de escritores, Montevideo 1971, S. 53-89.

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2.326 Ecuador

Als Vertreter des neueren Romans in Ecuador wurde bereits Jorge ICAZA genannt, der auch in späteren Werken

z. B. der Trilogie Atrapados. Tríptico (1972) an seiner antiklerikal-antireligiösen Position festhält. In eine ganz

andere Richtung weist der Roman Juyungo (1943) des schwarzen Autors Adalberto ORTIZ (*1918). Die ganze

Erzählung ist von einer Aura magisch-mythischer Religiosität185 durchflutet, die ihr - ungeachtet des

sozialkritischen Gehalts - einen sehr poetischen Charakter verleiht. Zahlreiche synkretistische creencias sind in

die Geschichte eingearbeitet. Archetypische Symbolik, die teilweise in christlichen Ausdrucksformen wie

"Taufe" und "Sintflut" Gestalt annimmt, ist ein Strukturelement des Romans. Schon der Name des Protagoni-

sten - Ascensión Lastre - weist auf den initiatorischen Sinn seiner Lebensgeschichte hin. Obwohl ihm

Christliches in Gestalt verschiedener "gläubiger" Figuren begegnet, ist sein Weg auch eine Befreiung von

jeglichem Aberglauben186.

Biblisch-christliche Bildlichkeit hat - auch als Träger revolutionärer Impulse - großes Gewicht im Werk

von Pedro Jorge VERA (*1914), der neben dem Roman La semilla estéril (1962) Erzählungen mit Titeln wie

Los mandamientos de la ley de Dios (1972) und Jesús ha vuelto (1975) auch zahlreiche Theaterstücke mit

ähnlicher Ausrichtung verfaßt hat187.

Demetrio AGUILERA MALTA (*1905) wird ebenso wie Adalberto Ortiz dem Grupo de Guayaquil

zugeordnet. In den Romanen dieser Autoren, die in den 30er Jahren zu publizieren beginnen, verbinden sich

gesellschaftliche Analyse und Kritik mit einer oft symbolisch überhöhten Darstellungsweise188. In Aguilera

Maltas 1970 erschienenen Roman Siete lunas y siete serpientes sind bereits die stilistischen und

erzähltechnischen Neuerungen der Nueva Novela eingegangen. Trotz des ernsten Anliegens ist die Geschichte

humorvoll und poetisch erzählt, wodurch zahlreiche "wunderbare" Unwirklichkeiten aufgefangen werden. Mit

den Stilmitteln des "magischen Realismus" arbeitend, verwendet der Autor hier nicht nur die Elemente des

indianischen, afrikanischen und christlichen Volksglaubens (insbesondere das Motiv des Teufelspakts)189,

185 Im Text wird sie einmal als "actitud franciscana, panteísta" charakterisiert (Adalberto ORTIZ, Juyungo. Historia de un negro, una isla y otros negros. Prólogo de José Carlos MAINER, Barcelona/Caracas/México: Seix Barral, 1976, S. 141). Dies ist nur einer von vielen Fällen, wo der Versuch, die magisch-mythische Wirklichkeitsauffassung "christlich" zu begreifen, dazu führt, daß von "Franziskanismus" gesprochen wird.

186 Renaud RICHARD, "Juyungo, de Adalberto Ortiz, ou De la haine raciale à la lutte contre l'injustice", in: Bulletin Hispanique, 72 (1970), S. 152-170, bes. S. 156.

187 Vgl. Pedro SHIMOSE [Hg.], Diccionario de autores iberoamericanos, Madrid 1982, S. 436 f., u. Schwartz, S. 43 f.

188 Vgl. Schwartz, S. 19. 189 Weil hier der synkretistische Charakter der lateinamerikanischen Kultur zu literarischer Gestaltung

gelangt, vergleicht Seymour Menton den Roman mit Severo SARDUYs De dónde son los cantantes (s. u. S. 111 ff.; Seymour MENTON, "Demetrio Aguilera Malta: Siete lunas y siete serpientes" [Rezension], in: Revista Iberoamericana, 36 [1970], S. 677-680); vgl. Antonio FAMA, Realismo mágico en la narrativa de Aguilera Malta, Madrid 1977, bes. S. 98 ff.; Marta MORELLO-FROSCH,

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sondern hier begegnet der Leser auch einer "Kirche der Armen", die im Geiste der Befreiungstheologie zu

wirken beginnt. Der Impuls geht von einem revolutionären Christus aus - el Cristo Quemado -, der, als das

Unrecht unerträglich wird, von seinem Kreuz in der Dorfkirche herabsteigt, den Pfarrer in Diskussionen

verwickelt und zu einem "alternativen", engagierten Christentum bekehrt; es steht unter der Devise "Déjate de

milagros y ponte a trabajar"190. Wie kaum in einem anderen neueren hispanoamerikanischen Roman wird hier

die Opposition aufgedeckt und gestaltet, die zwischen einem zu gesellschaftlichem Handeln veranlassenden

christlichen Glauben und einer magisch-mythischen Wirklichkeitsauffassung besteht. In deren Bereich sind hier

die Kräfte des Bösen beheimatet, wenngleich dies nicht in Form eines platten Manichäismus geschieht. Daß die

Dorfbewohner in engem Kontakt mit der sie umgebenden Natur leben, ja sogar mit ihr "kommunizieren", wird

positiv bewertet - schließlich gelingt es einem brujo sogar, ein Rudel Affen zur Beteiligung an einem

Selbsthilfeprojekt zu bewegen (302 f.); auf der anderen Seite gibt es einen cura der "alten Garde", der mit den

teuflischen Mächten im Bunde steht. Ihm wirft der Cristo Quemado vor: "has dado la espalda191 a los tuyos, a

los de abajo" (314). Gegen Ende des Romans wird die hoffnungsvolle Vision eines neuen Christus, der auf der

Seite der Armen steht, so formuliert: "Se ha vuelto un gigante [...]. Una fuerza germinal. ¿Estará resucitando

nuevamente? [...] Cristo está ardiendo. Es una antorcha." Selbst ein Arzt, der vorher als ungläubiger Vertreter

eines städtischen Rationalismus gezeichnet worden war, "oyó, dentro de sí mismo, la Voz" (336). Ein

Christentum, das zur offiziellen Kirche in kritische Distanz tritt, sich aber gleichzeitig der autochthonen Kultur

öffnet, beweist in diesem Roman seine integrierende und befreiende Kraft.

2.327 Kolumbien

Das Nachbarland Kolumbien ist derjenige lateinamerikanische Staat, in dem die katholische Kirche das

gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben am nachhaltigsten geprägt hat. Von der Präsenz der Kirche und

des Christentums schlechthin wird im 5. Kapitel im Zusammenhang mit der Analyse von Eduardo

CABALLERO CALDERONs (*1910) Roman El Cristo de espaldas (1952) ausführlich die Rede sein; es ist die

Geschichte eines christusähnlichen Priesters, der in einem von der violencia geschüttelten Bergdorf mit seiner

Predigt der Nächstenliebe eine Niederlage erlebt.

"El realismo integrador de Siete lunas y siete serpientes de Demetrio Aguilera Malta", in: Donald A. YATES [Hg.], Otros mundos - otros fuegos. Fantasía y realismo mágico en Iberoamérica. Memoria del XVI Congreso Internacional de Literatura Iberoamericana, Pittsburgh 1975, S. 387-392; Clementine Christos RABASSA, Demetrio Aguilera Malta and social justice. The tertiary phase of epic tradition in Latin American Literature, London 1980.

190 Demetrio AGUILERA MALTA, Siete lunas y siete serpientes, México: Fondo de Cultura Económica, 1970, S. 63.

191 Diese Formulierung ist nicht das einzige, was in diesem Roman an Eduardo CABALLERO CALDERONs El Cristo de espaldas erinnert (s. u. Kap. 5).

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88

Hier ist indessen der Ort für einige Bemerkungen zum Werk des Nobelpreisträgers Gabriel GARCIA

MARQUEZ (*1928), insbesondere zu seinem Meisterroman Cien años de soledad (1967). Diesem Werk ein

"biblisches Fluidum" zu bescheinigen, ist bereits ein Gemeinplatz der Forschung geworden192. G. W. LORENZ

liefert ein stichwortartiges Inventar der seinem Eindruck zufolge verarbeiteten biblischen "Mythen":

Genesis und Unschuld des Schöpfungstages, Sündenfall, Sintflut, die sieben Plagen, Absage an das Schöpfungsprinzip, Herrschaft des zerstörerischen Bösen und schließlich Apokalypse wiederholen sich in den Buendías, von Ursula-Eva und José Arcadio-Adam über die Auflehnung des Obersten Aureliano-Kain, die sündhafte Verstrikkung, die Selbstherrlichkeit der dritten und vierten Generation bis zur Einlösung der Schuld im "siebenten Glied" [...].193

Hinzuzufügen wäre das recht gewichtige Motiv vom Exodus des Erwählten Volkes194. Nur selten wird die

besondere Funktionalisierung der biblischen und religiösen Elemente genau bestimmt, wobei mit dem Begriff

"Mythos" etwas vorsichtiger umzugehen wäre195. Indessen vertieft die Präsenz der Bibel hier tatsächlich den

mythischen Charakter der Geschichte Macondos. Die zahlreichen Anspielungen an biblische Geschehnisse

unterstreichen, daß sich hier das ereignet, was "schon immer" so geschehen ist. Die biblische Folie

verstärkt - entgegen der Zielsetzung der biblischen Religion - den zyklischen und damit fatalen Charakter der

Handlungsabläufe. Nur wenn man einen "Gott" als Garanten dieser Fatalität annimmt, ist der Roman La historia

de un deicidio, wie ihn VARGAS LLOSA und andere in seinem Gefolge interpretieren196. Eine solche Deutung

ist die Konsequenz jenes bereits mehrfach erwähnten korrumpierten Gottesbildes. In der Tat zielt der Roman

nicht auf eine Affirmation, sondern auf eine Befreiung aus dem mythischen Kreislauf, in dem "die Götter" den

Menschen scheinbar gefangen halten. Im Prinzip ist dies genau eine Forderung, die aus dem biblisch-christlichen

Glauben erwächst; es wäre aber verfehlt, diesen in García Márquez' Erzählweise am Werk zu sehen. Fraglich ist,

ob es eine sinnvolle Lösung darstellt, wenn man das Werk in Anbetracht seiner Option gegen das Fatum und für

192 Vgl. Pollmann 1968, S. 246; K. Schwartz konstatiert zu diesem Roman: "[it] seems to be almost the Biblical story from the creation to the apocalypse" (144). - In kaum einer der zahllosen Untersuchungen wird die Problematik nicht in irgendeiner Form erwähnt; andererseits gibt es kaum Versuche, sich dem Phänomen mit methodischer Strenge zu nähern.

193 Vgl. Lorenz 1971, S. 219. 194 Vgl. Katalin KULIN, "Mito y realidad en Cien años de soledad de Gabriel García Márquez", in: Actas

del Cuarto Congreso, Vol. II, S. 95 ff.; zu El otoño del patriarca (1975), wo die Autorin Christus-Symbolik feststellen zu können glaubt, s. ead., "García Márquez: The fall of the patriarch", in: Neohelicon, 4 (1970), S. 147-169, bes. S. 157; zu biblischen Motiven in Cien años s. a. Goic 1972, S. 256, und Aínsa, S. 179 ff.

195 Den "Elementos religiosos y literarios" widmet einen eigenen Abschnitt: Joaquín MARCOS, "Gabriel García Márquez y sus Cien años de soledad", in: Gabriel GARCIA MARQUEZ, Cien años de soledad, Madrid: Espasa Calpe, 1982, S. 33-40. - Wenn von "biblischem Mythos" die Rede ist, liegt meist jenes von Northrop FRYE entwickelte Konzept zugrunde, das mit dem christlichen Verständnis der Bibel nichts zu tun hat und primär archetypisch orientiert ist; so etwa bei Germán Darío CARRILLO, La narrativa de Gabriel García Márquez. Ensayos de interpretación, Madrid 1975.

196 René JARA CUADRA, "Las claves del mito en Cien años de soledad", in: La novela hispanoamericana, S. 207; Jorge GUZMAN, "Cien años de soledad: en vez de Dioses, lenguaje", in: Acta Literaria, 7 (1982), S. 17-49.

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89

die vom Menschen verantwortete Geschichte - wie René JARA CUADRA197 - als moderne Umsetzung eines

anderen, des Prometheus-Mythos, auffaßt.

Vor jeglicher symbolischer oder "mythischer" Deutung von Cien años de soledad wie auch der übrigen

Werke von García Márquez muß man sich vor Augen halten, daß eine großzügige "Garnierung" der Erzählungen

mit symbolischen Signalen ein vom Autor oft ganz einfach spielerisch eingesetztes Stilmittel ist: es verleiht dem

Roman eine größere Sinntiefe, ohne daß damit eine kohärente Strukturierung des gesamten Textes angestrebt

wird198. Als Beispiel für eine eher unverbindliche Symbolik sei nur die Redewendung vom "huracán bíblico"

erwähnt. Das Adjektiv unterstreicht hier mehr die schicksalshafte Bedeutung des Sturms, als daß es einen

expliziten und eindeutigen Bezug zur Bibel herstellt199. Auf jeden Fall ist es ein bodenloses Unterfangen, die

Gesamtheit der tatsächlich vorhandenen und vom professionellen Leser entdeckten biblisch-christlichen und auf

andere Traditionen zurückgehenden Symbole als ein zusammenhängendes und stimmiges System deuten zu

wollen - wenngleich der Roman zu einer Entschlüsselung der Claves míticas, wie sie Graciela MATURO

versucht hat200, geradezu herausfordert. Auf größte Schwierigkeiten stößt Rosa CABRERA mit ihrem Bemühen,

in dem Roman eine ausgesprochene Christus-Symbolik201 aufzudecken. Auch wenn José Arcadio an einen

árbol crucifical gekreuzigt wird und die auf das -Symbol verweisenden goldenen Fischlein mehrfach

erwähnt werden, ist Christus nur eine symbolische Anspielung unter Hunderten von anderen.

Die Präsenz christlicher Symbolik und des Religiösen in diesem Roman hat noch eine weitere Ursache:

nämlich den hohen Stellenwert von Religion und Kirche, christlichen Glaubensvorstellungen und supersticiones

in der Alltagswirklichkeit Kolumbiens. Wenn Remedios la bella gleich der Jungfrau Maria in den Himmel

auffährt, dann einfach deshalb, weil ein solches Vorkommnis für den kolumbianischen Volksglauben durchaus

im Rahmen des Möglichen liegt202. Genauso ist die katholische Kirche mitsamt ihren hohen und niedrigen

Würdenträgern eine maßgebliche Größe in der Erzählwelt von García Márquez. Vargas Llosa behandelt diesen

Aspekt recht ausführlich203 und sieht an Macondo die Geschichte von Religion und Kirche in Lateinamerika

197 "Prometeo es el mediador entre el dios y el hombre. El dios - Zeus - lejano, traicionero, acecha la oportunidad de aplastar el mundo postrado e indefenso del hombre. El destino humano consiste en rebelarse contra esta tiranía. Y Prometeo - el mito - resuelve la lucha a favor del hombre enseñándole a manejar sus energías y sus armas en la lucha contra el dios." (Op. cit., S. 207.)

198 Vgl. Vargas Llosa 1971, S. 538. 199 In der Bibel drohen die Propheten verschiedentlich den Sturm als göttliches Strafgericht an (Jer 23,19;

Jes 28,2; Sir 39, 28). Sowohl beim Autor als auch beim Leser wird man aber nicht mehr als ein vages Erinnern an diese Passagen voraussetzen können. - Vgl. auch die lebensgeschichtliche Deutung des Sturm-Motivs in einem Aufsatz von Dieter JANIK: "Drei Zentralmotive der dichterischen Einbildungskraft des Erzählers Gabriel García Márquez: La casa - El huracán - La muerte", in: José Manuel LOPEZ de ABIADA/Titus HEYDENREICH [Hg.], Iberoamérica. Historia-sociedad-literatura. Homenaje a Gustav Siebenmann, Tomo I (Lateinamerika-Studien, 13/1), München 1983, S. 371-387.

200 Maturo 1977. 201 Cabrera, S. 230 f. 202 Die hier noch lebendigen creencias sind somit auch Stimulans eines real maravilloso, wie es von

Carpentier näher bestimmt wurde. 203 Vargas Llosa 1971, S. 262 ff. und 514 ff.

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90

exemplarisch gestaltet. An der wohlwollenden Behandlung, die García Márquez zumindest einigen Dorfpfarrern

zukommen läßt, kann man ablesen, daß die Metapher vom "Gottesmörder" oder suplantador de Dios zu weit

greift: sie ist Symptom einer für lateinamerikanische Kritiker und manche Autoren charakteristischen Ver-

krampfung in religiösen Dingen. García Márquez ist indessen weder ein antireligiöser Eiferer noch Anhänger

einer esoterischen Privatreligion.

Wesentlich greifbarer ist das Verhältnis von (spezifisch) christlicher Symbolik und Christentum in García

Márquez' vorletztem Roman Crónica de una muerte anunciada (1981). Schon der Titel, der das Kernmotiv des

Romans benennt, weist auf einen gewissen Parallelismus mit den Evangelien hin, die ebenfalls mehrere anuncios

de la pasión enthalten, welche den baldigen Tod Jesu vorwegnehmen. Das unschuldige Opfer Santiago Nasar

verweist nicht nur durch seinen Namen auf die Bibel, sondern es gibt noch weitere Indizien, die seinen Tod als

Nachgestaltung desjenigen Jesu von Nazareth erscheinen lassen und den Erzähler als einen Evangelisten204.

Wie so oft bei García Márquez hat die christliche Symbolik allerdings auch einen ironischen Effekt205. Dieser

"Chronik" läßt sich recht deutlich die beunruhigende Botschaft entnehmen, daß der Tod Santiago Nasars eben

keinem göttlichen Heils- oder Unheils-Plan, keiner divina providencia entsprach, wie es der Erzähler mitunter

insinuiert, sondern daß die scheinbar so christlichen Menschen hier versäumt haben, in den "fatalen" Ablauf der

Ereignisse einzugreifen. Ein weiterer ironischer Zug der Erzählung ist nämlich, daß Santiago nicht zuletzt

deshalb getötet werden konnte, weil die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner sich gänzlich auf die Ankunft eines

Bischofs richtete, der hier das genaue Gegenteil christlicher Nächstenliebe verkörpert. Eine rituelle Religiosität,

die sich mit dem Glauben an die Unabänderlichkeit traditioneller - unmenschlicher - Verhaltensmuster

vortrefflich verbindet, läßt diesen Tod geschehen, obwohl er angekündigt war206.

204 Vgl. Myrna SOLOTOREVSKI, "Crónica de una muerte anunciada: la escritura de un texto irreverente", in: Revista Iberoamericana, 128/129 (1984), S. 1077-1091, bes. S. 1084; vgl. Anneliese BOTOND, "Der Alptraum wird Tragikomödie. Gabriel García Márquez erhält den Nobelpreis für Literatur", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton), 22.10.1982: "So wie die grausame Hinrichtung des in Wahrheit unschuldigen Mannes als die parodistische Wiederholung des Todes Christi erscheint, ein kollektiver Mord, begangen nicht von Heiden, sondern von gutgläubigen Katholiken, so hat García Márquez dieser 'Chronik' auf subtilste Weise seine Kritik am Christentum eingeschrieben. Kritik nicht an der Gestalt Christi, sondern an seiner Kirche, die seine Lehre pervertiert hat zur politischen Praxis der Gewalt des Starken über den Schwachen, des Mannes über die Frau, des Reichen über den Armen." Der Roman hat ferner manche Ähnlichkeit mit den ebenfalls christlich-symbolischen Mordgeschichten von Carlos DROGUETT und Vicente LEÑERO (s. u., Kapitel 8 u. 10).

205 Besonders auffällig ist die Ironie in den allzuchristlichen Namen der meisten Romanfiguren. 206 In dieser Hinsicht wiederholt die Chronik die Motivstruktur von Cien años de soledad: der "Tod"

Macondos im "viento final" ist ebenfalls von Anfang an prophezeit. Schuld und Versäumnis der Macondinos liegen darin, daß auch sie sich nicht zur Solidarität durchgerungen und ihre Geschichte nicht selbst in die Hand genommen haben. Vgl. hierzu: Josefa SALMON, "El poder de la anunciación en Cien años de soledad y Crónica de una muerte anunciada", in: Discurso Literario, 1 (1963), S. 67-77.

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91

2.328 Guatemala (Miguel Angel Asturias)

Als Vertreter der kleineren mittelamerikanischen Staaten soll hier lediglich ein Autor genannt werden, der

freilich zugleich der erste Exponent der neueren lateinamerikanischen Romanliteratur schlechthin war: gemeint

ist der aus Guatemala stammende Nobelpreisträger Miguel Angel ASTURIAS (1899-1974), nach Grossmann

übrigens ein "überzeugter Katholik"207. Sein 1946 erschienener, aber schon in den 30er Jahren entstandener

Roman El señor presidente ist das erste große Werk, dem die Kritik eine magisch-realistische oder auch

"mythische" Schreibweise bescheinigte. Von allen Implikationen, die man diesen schillernden Begriffen

beigelegt hat, ist in diesem Zusammenhang am wichtigsten, daß es hier in der Tat ein (in der abendländischen

Kultur) überlieferter Mythos ist, der die Geschehensstruktur stützt: die Auflehnung Miguel Cara de

Angels - "bello y malo como Satán" - gegen den Diktator steht primär in Analogie zur Rebellion Luzifers, was

im Text auch explizit anklingt. Daneben verarbeitet Asturias auch eine Bildlichkeit, die ihm vom autochthonen

guatemaltekischen Volksglauben und aus seinem intensiven Studium mythologischer Texte der Mayas vertraut

ist208. Sofern man den Luzifer-Mythos überhaupt als "biblisch-christlich" bezeichnen möchte209, erfolgt in

dem Roman seine Bewertung genau umgekehrt zu jener der christlichen Tradition: der Diktator ist wieder die

Verkörperung des "bösen Gottes", der den Menschen in Unfreiheit hält, so daß die Rebellion Luzifers zur Tat

eines positiven Helden wird. In diesem Fall ist die Vorstellung vom "bösen Gott" ein deutlicher Reflex der

präkolumbischen Religion, deren blutrünstige Gottheiten nach Menschenopfern verlangten210. Der Fall des

Günstlings stellt sich als ein "Adynaton" dar, als eine caída del mal al bien211. Dies gilt freilich nur auf der

moralischen Ebene, denn für den in Ungnade gefallenen Cara de Angel wird das Leben tatsächlich zur Hölle.

Kirchliches und Christliches ist in dem Roman - gerade auf der sprachlichen Ebene mit ihrer ausufernden

Metaphorik - allgegenwärtig; die Funktion dieser Elemente ist jedoch äußerst zwiespältig: von ihnen geht eine

Art dämonischer Zauber aus, und nur selten deuten sie auf eine heilvolle transzendente Ordnung. Auch hier

unterstreicht die massive Präsenz des Religiösen in Sprache und Objektwelt des Romans gerade die Abwesenheit

von Glaube und christlichem Ethos. Die von Asturias gezeichnete Hölle ist die Konsequenz einer Vergötzung

der Herrschaft:

207 Grossmann 1969, S. 475. 208 Luis LEAL bemerkt zu Cara de Angel und dessen Verhältnis zu dem Diktator (dem señor presidente)

folgendes: "Se le asocia a la mitología cristiana. Los dos personajes son simbólicos de la lucha entre las dos culturas"; demnach handelt es sich um eine Verflechtung "de las dos mitologías" (L. Leal, Breve historia de la literatura hispanoamericana, New York 1971, S. 285).

209 Die Gleichsetzung Luzifers mit Satan beruht auf einer altkirchlichen Kontamination und gehört sicher nicht zum Kern christlicher Glaubensvorstellungen (vgl. Reclams Bibellexikon, hg. v. Klaus KOCH u.a., Stuttgart 31982, S. 311 u. 439).

210 Vgl. den Essay von M. A. Asturias, El "Señor presidente" como mito, Milano 1967. 211 Humberto E. ROBLES, "Perspectivismo, yuxtaposición y contraste en El señor presidente", in:

Loveluck, S. 110 ff. Zugleich erfolgt eine Deutung der Romanwelt als "infierno dantesco" mit einem "Gott" als Präsidenten.

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Es una demostración de lo que le ocurre al hombre cuando sus relaciones no pueden desarrollarse naturalmente; cuando, para sustituir a la unidad familiar o a la fe religiosa, sólo es posible la adhe-sión al estado, que se encarna en la persona de un loco.212

In die gleiche Richtung zielt der 1969 erschienene Roman Maladrón. Es ist die phantastische Geschichte eines

Haufens von Conquistadoren, der sich, von der Gier nach Gold und Abenteuer getrieben, durch den

mittelamerikanischen Urwald kämpft. Die Eroberer hängen dem "sadduzäischen"213 Kult des Maladrón an, des

Bösen Schächers, der zusammen mit Christus gekreuzigt wurde: seine Religion ist die Leugnung jeglicher

Transzendenz, ein dogmatischer Materialismus. Der Roman ist einerseits als literarische "Mythenschöpfung"

interessant, die ihren Ausgangspunkt im Neuen Testament nimmt, wobei Asturias zugleich den Mythos und die

an ihn "glaubende" religiöse Bewegung darstellt. Zugleich entlarvt der Roman aber auch die religiöse Struktur

von Atheismus, Materialismus und Positivismus - jener philosophischen Strömungen, die in Lateinamerika seit

Ende des 19. Jahrhunderts den Ton angeben und deren Keim Asturias bereits im Unternehmen der Conquista

bloßlegt214. Der Autor scheint die Entthronung Gottes durch moderne Götzen zu beklagen, weil sie eine Ent-

menschlichung bedeutet:

Las viejas religiones tienen muchas veces un subfondo antihumano, pero al mismo tiempo confieren al hombre un sentido y esperanza de vivir. Las nuevas religiones cuya base es neomística o ateísta, llevan al hombre a la perdición del mundo de los sueños, el mundo de los espejos y de las esperanzas, es decir de todas las relaciones humanas con miras espirituales.215

Miguel Angel Asturias' positive Bewertung eines in Lateinamerika bisher leider kaum zum Durchbruch

gelangten Christentums wird durch sein Interesse an der Figur des Bartolomé de LAS CASAS belegt. Er wird

nicht nur in Maladrón erwähnt, sondern der Autor widmete ihm 1957 auch ein Theaterstück mit dem Titel La

audiencia de los confines, das allerdings bezeichnenderweise als kommunistisches Pamphlet gegen Kirche und

Oberschicht denunziert wurde216.

212 Franco 1980, S. 371. - Die Darstellung entspricht dem "theokratischen" Charakter, den zahlreiche diktatorische Regimes in Lateinamerika sich selbst zu geben versuchen (vgl. Grossmann 1968, S. 90).

213 Die "Sadduzäer", mit deren Glaubensauffassung Asturias den Maladrón verknüpft, leugneten die Auferstehung. Sie hingen einer rein innerweltlichen Glaubenshaltung an und stellten in Jerusalem zur Zeit Jesu die Priesteraristokratie (Reclams Bibellexikon, S. 433).

214 Nahum MEGGED, "Maladrón o la religión del materialismo", in: Texto Crítico, 14 (1979), S. 117-131; vgl. Aínsa, S. 263 f.

215 Megged, S. 131. 216 Miguel Angel ASTURIAS, Maladrón, Buenos Aires: Losada, 1969, S. 150. - Vgl. Reichardt, S. 481 f. -

Eine der frühen Erzählungen von Asturias gestaltet im Stil seiner Leyendas eine Episode aus dem Leben Jesu: "Una desobediencia de Jesús (Leyenda de los tiempos en que pasó el Salvador)" [1933], in: M. A. Asturias, Novelas y cuentos de juventud, recogidos y presentados por Claude COUFFON, Paris 1971, S. 245-261.

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93

2.329 Mexiko

Mexiko ist das Land, in dem Antiklerikalismus und Religionsfeindlichkeit die tiefsten Wunden geschlagen

haben. Dessenungeachtet haben gerade in der mexikanischen Romanliteratur die Beschäftigung mit dem

Christentum und die erzählerische Funktionalisierung religiöser Symbolik bis heute besonderes Gewicht217.

Ein Erzähler, dessen Werk vereinzelt noch dem Zyklus der novela de la revolución mexicana zugeordnet

wird, der aber in Thematik und Stil bereits den Universalismus der 50er Jahre ankündigt, ist José Rubén

ROMERO (1890-1952). Sein berühmtester Roman, La vida inútil de Pito Pérez (1938) steht in der Tradition des

hispanischen Schelmenromans218. Wenn auch aus dem in lyrischem Ton gehaltenen Werk eine Art

franziskanischer Verbundenheit mit der Natur spricht, ist Romeros Haltung gegenüber dem Religiös-Kirchlichen

eher "anticlerical, antirreverente y despectiva"219. Dennoch prägt christliche Metaphorik und Symbolik den

Roman mindestens in dem Maße, wie es der materiellen Omnipräsenz der Religion in der mexikanischen

Wirklichkeit entspricht. Die Figur Christi hat Romero allerdings in einer Weise umgedeutet, die seiner

pessimistischen Sicht der condition humaine entspricht: im leidenden Menschen sieht er den "Cristo de todos los

tiempos, clavado estérilmente sobre la inmunda costra de la tierra."220 In diesem Sinne ist die gesellschaftliche

Randfigur Pito Pérez ein jeglicher Transzendenz beraubter Christus221: in einer entscheidenden Episode des

Romans vollzieht sich an ihm - im Rahmen eines Karfreitagsspiels - eine groteske, parodistische Neuauflage der

Kreuzigung Christi; sie führt dem Leser die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit dieses von Gott und den

Mitmenschen Verlassenen vor Augen222. Der Schluß des Romans stellt die fatalistisch-pessimistische

Grundhaltung hingegen in Frage. In die Tiefen des absoluten desengaño gestürzt, stirbt Pito Pérez zwar einen

sinnlosen und unwürdigen Tod, hinterläßt aber ein apokalyptisches "Testament": "pero del coraje de los

humildes surgirá un día el terremoto, y entonces no quedará piedra sobre piedra."223 Die Diktion beruht

217 M. E. Stephenson nennt zahlreiche, heute zum großen Teil vergessene Erzähler früherer Generationen. 218 Vgl. Wolf LUSTIG, "Lo picaresco en los albores de la Nueva Novela Hispanoamericana: La vida inútil

de Pito Pérez de José Rubén Romero e Hijo de ladrón de Manuel Rojas", in: Iberoromania, 24 (1986), S. 61-77. - Hier finden sich auch weitere Hinweise zur Christus-Symbolik als einem Moment der Universalisierung.

219 Portal, S. 150. 220 Zit. nach Portal, S. 148. 221 Vgl. Cabrera, S. 229; für sie ist Pito Pérez "una especie de Anticristo que señala las lacras de la religión

en su testamento terrible". 222 Großes Gewicht haben die hier bewußt verfremdeten Siete Palabras, unter ihnen besonders das in

vielen modernen Romanen zitierte Eli, Eli, lema sabachtani. Romero hat bereits im Jahre 1912 ein Ge-dicht mit diesem Titel verfaßt.

223 José Rubén ROMERO, La vida inútil de Pito Pérez. Ed. by William O. CORD, Englewood Cliffs (N.J.) 1972, S. 196. - Auf Romeros Antiheld trifft recht genau zu, was Jesus als Weltrichter in diesem Zusammenhang von sich selbst sagt: "Denn ich war hungrig, aber ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, aber ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd, aber ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, aber ihr habt mir keine Kleider gegeben; ich war krank und im Gefängnis, aber ihr habt euch nicht um mich gekümmert." (Mt 25, 42 f.)

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offensichtlich auf Jesu "Weltgerichtsrede" (Mt 24 f.), die heute als wichtigste neutestamentliche Grundlage der

Befreiungstheologie angesehen wird. Romeros tiefe Enttäuschung, unter anderem über die kirchliche und

religiöse Praxis in seinem Land, scheint nicht anders als wiederum in religiöser Sprache zum Ausdruck kommen

zu können.

Einer der Väter der Nueva Novela ist Agustín YAÑEZ (1904-1981), der vor allem durch seinen Roman Al

filo del agua (1947) bekannt wurde. Kirche und Religion erscheinen als die wichtigsten Determinanten der hier

erzählten Wirklichkeit:

La Iglesia, bajo un cura puritano, el padre Dionisio María Martínez, es la principal fuerza del orden y por medio de las Hijas de María imponía "rígida disciplina, muy rígida disciplina en el vestir, en el andar, en el hablar, en el pensar y en el sentir de las doncellas, traídas a una especie de vida conventual, que hace del pueblo un monasterio." El ritmo de la ciudad es el del año litúrgico que dota al lugar de una estabilidad intemporal.224

Biblisch-christliche Symbolik, Volksreligiosität, materielle Präsenz der Kirche - all diese Elemente treten in Las

tierras flacas (1962) noch mehr in den Vordergrund. Besonders auffällig ist die "biblische Atmosphäre", in

welcher der Schauplatz des Geschehens, eine Landgemeinde in der Provinz Jalisco, getaucht scheint: die

Bauernhöfe und Weiler heißen Betania, Belén, Getsemaní und Jerusalén. Nicht nur die meisten Figuren, sondern

selbst die Hunde tragen Namen, die Assoziationen aus dem religiösen Bereich wachrufen; in die Darstellung des

Geschehens, die zumeist aus der Perspektive der Romanfiguren erfolgt, mischen sich all ihre creencias und

supersticiones, die sich stellenweise in refranes und corridos kristallisieren. In Wirklichkeit sind las tierras

flacas aber alles andere als das Gelobte Land: "se acabó en la Tierra Santa la dignidad"225. Wer hätte gedacht,

heißt es anderswo, "que Belén, andando el tiempo, sería tenido por el infierno" (429). Während auf der Ebene

des signifiant ein fast übermächtiges religiöses Fluidum aufgebaut wird, spürt der Leser, daß die bedeutete Welt

mit dem Stigma der Gottverlassenheit behaftet ist226. Die religiöse Symbolik verweist mit einem tragischen

Unterton auf ihre eigene Bedeutungslosigkeit227. Zudem kehrt auch in der Struktur des Geschehens eine

vertraute Motivik wieder, die in biblisch-christlicher Gewandung zum Ausdruck kommt: Hauptfiguren des

Romans sind Don Epifanio, der allmächtige Kazike, der wieder Züge eines alttestamentlichen, "bösen"

Gottvaters aufweist, und sein Sohn Miguel Arcángel, der später den Namen Jacob Gallo annimmt. Höhepunkt

224 Franco 1980, S. 399. - Vgl. Portal, S. 197 ff.: "El verdadero protagonista de la obra es la religión". Ein symbolisches Element liegt etwa in der Figur des Lucas Macías, der stellenweise als "Prophet" und "Evangelist" fungiert.

225 Agustín YAÑEZ, "Las tierras flacas", in: id., Obras escogidas. Prólogo de José Luis MARTINEZ, Madrid: Aguilar, 1979, S. 478.

226 Vgl. S. 389: "este llano de lágrimas, tan dejado de la mano de Dios". 227 Vgl. Grete Evans MILLER, The ironic use of biblical and religious motifs in Las Tierras flacas and

Cien años de soledad, Brown (Diss.) 1976 (Ann Arbor: University Microfilms International, 1979). - Es ist fraglich, ob hier von "Ironie" die Rede sein kann, weil der Autor dem Paradoxon mit Betroffenheit und Trauer, nicht aber distanziert, gelöst oder heiter gegenübersteht, wie es bei García Márquez der Fall ist.

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des Geschehens ist die Rebellion des Sohnes gegen den Vater, die sowohl vor der biblischen Folie des Kampfes

gestaltet wird, den der Erzengel Michael mit Satan ausficht (Dan 12), als auch vor der Auseinandersetzung

Jakobs mit "Gott"228. Für die in archaischem Denken verhafteten Bauern wird Miguel Arcángel zu einer

messianischen Figur229 , denn mit ihm verbinden sich Hoffnungen auf Einführung moderner

landwirtschaftlicher Produktionsweisen. Wichtig ist, daß es sich bei der religiösen Symbolik im wesentlichen um

eine metaphysische Interpretation der Ereignisse von Seiten der Romanfiguren handelt. Die in dem Werk

präsentierten Bauern sind von einer tiefen Religiosität, die allerdings nur äußerlich christlich ist; unter ihrem

Schein-Katholizismus verbirgt sich eine fatalistische, altmexikanischen Kulten verwandte "religión de la tierra"

(534). Daß Agustín Yáñez einem engagierten, lateinamerikanischen Christentum nicht indifferent

gegenübersteht, beweisen indessen die intensiven Studien, die auch er der Figur des Fray Bartolomé de LAS

CASAS gewidmet hat230. Auch für ihn existiert als Gegenentwurf zum tragischen Weltbild der mexikanischen

tierras flacas "la verdadera religiosidad basada en la libertad y en la fe de los tiempos del cristianismo

primitivo."231

Unübersehbar, da schon in den Titeln manifest, ist die biblisch-christliche Symbolik im Erzählwerk von

José REVUELTAS (1914-1976). Das ist umso erstaunlicher, als er seit seiner Jugend, bis 1961, aktives Mitglied

der kommunistischen Partei war. Wie Rosario CASTELLANOS feststellt, weht "ein starker religiöser Atem [...]

durch jede Seite" und läßt die Parteiideologie in den Hintergrund treten232. Vielleicht läßt sich Revueltas'

Haltung als materialismo espiritualista umschreiben233. In seinem bedeutendsten Roman El luto humano

(erschienen 1943) erscheint als mexikanische conditio humana die Entwurzelung, Heimatlosigkeit und

Verzweifelung, die zu jener von der Conquista verursachten Ausrottung echter Religiosität in Beziehung gesetzt

wird: "Algo quedó faltándole al pueblo desde entonces. La tierra, el dios, Tlaloc, Cristo, la tierra, sí."234 Die

Welt des Romans steht damit, wie das so oft bei mexikanischen Erzählern der Fall ist, gänzlich im Zeichen des

228 Vgl.die Verarbeitung des Jakobs-Motivs bei LAFOURCADE und ROA BASTOS. S. a. John S. BRUSHWOOD, "La arquitectura de las novelas de Agustín Yáñez", in: Revista Iberoamericana, 72 (1970), S. 437-451, bes. S. 446 ff.

229 Am Rande wird Jacob Gallo zu Jesus Christus und dessen Auferstehung in Parallele gesetzt (462 ff.). Anläßlich des Konflikts "Jacobs" mit einem traditionell eingestellten Bruder klingt auch die biblische Figurenkonstellation Adam-Abel-Kain an (492 ff.), wobei "Kain" ironischerweise Jesusito heißt und zum "Judas" seines Bruders wird (all diese Projektionen sind - wenn auch nur punktuell - im Text angelegt!).

230 Agustín YAÑEZ, El conquistador conquistado. Tercera edición conmemorativa del IV centenario de la muerte de Las Casas. México 1966 [11942] und Fray Bartolomé de LAS CASAS, Doctrina. Prólogo y selección de Agustin YAÑEZ, México ²1951.

231 Ramona LAGOS. "Tentación y penitencia en Al filo del agua, de Agustín Yáñez", in: Loveluck, S. 125. 232 Lorenz 1970, S. 297. 233 Emma GODOY, "¿Materialismo espiritualista? Carta a José Revueltas", in: Abside, 33 (1969), S.

291-300. 234 José REVUELTAS, El luto humano, México: Era, ²1981 (Obras Completas de José Revueltas, 2), S.

171; vgl. Trigo 1980, S. 19 f.: "La desposesión como resultado de la conquista espiritual", u. Portal, S. 182 ff.

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Todes. Zentral ist die Figur eines Priesters, der sich der Tragik von Religion und Kirche in Mexiko sehr wohl

bewußt ist. Auch im Denken dieses Geistlichen erscheint Gott als eine ferne, bedrohliche Macht, während an

Christus als dem Gottverlassenen der Ölbergszene festgehalten wird235: "Roma era Dios y Roma era la Iglesia.

Pero aquí había otro Dios y otra iglesia. El Cristo de esta tierra era un Cristo resentido y amargo" (29). Ein

weiteres biblisches Motiv des Romans ist der Exodus, hier als Flucht einer kleinen Gruppe von Menschen vor

einer als diluvio gedeuteten Überschwemmung. Zwar ist der éxodo auch hier potentiell ein Symbol der Hoffnung,

"búsqueda de nuevas tierras" (47), führt nun jedoch fatalerweise in den Tod236. Daneben ziehen sich weitere

biblische Anspielungen durch den Roman, u. a. an Kain und Abel. Am deutlichsten ist aber die Präsenz von

Christus, und zwar als ewig und sinnlos Leidendem. In mehreren wichtigen Romanfiguren begegnet der Leser

"cristos absurdos" (172); Christus wird hier zum Symbol des leidenden mexikanischen Volkes, und in allen Ar-

men, Verzweifelten und Verfolgten nimmt er neue, menschliche Gestalt an237. Eine Ausnahme, Projektion eines

anderen, noch ganz unwirklichen Christus ist der kommunistische líder Natividad, an dem sich besonders viele

Momente der biblischen Jesus-Geschichte wiederholen. An ihn knüpft das Volk eine messianische

Auferstehungshoffung238:

[...] adivinaba lo que era aquel hombre lleno de juventud, de fuerzas nuevas, de poder misterioso. Hombres como Natividad se levantarían una mañana sobre la tierra de México, una mañana de sol. Nuevos y con una sonrisa. Entonces ya nadie podría nada en su contra porque ellos serían el entusiasmo y la emoción definitiva. (179)

Bemerkenswert ist, daß bereits in diesem Werk, das an der Schwelle vom Revolutionsroman zur Nueva Novela

steht239, die christliche Symbolik in eine Richtung weist, die Jahrzehnte später von der Befreiungstheologie

konkretisiert und systematisiert wurde. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Cristianismo y

revolución überschriebene Notas, die Octavio PAZ jeweils 1943 und 1979 zu El luto humano verfaßt hat240.

Zwei wesentliche Züge des Romans wurden auch dem großen Essayisten mit voller Deutlichkeit bewußt: "la

importancia del simbolismo cristiano en la novela" (147) sowie die Tatsache, daß hier ein anderes, auf die

diesseitige Geschichte des Menschen zielendes Christentum in den Blick gerät: "El marxista Revueltas asume

con todas sus consecuencias la herencia cristiana: el peso de la historia de los hombres" (149)241. Die von Marta

235 Auch hier begegnet wieder das allzumenschliche Wort Jesu: Eli, Eli, lema sabachtani (24). 236 "Palabra con esperanza, aunque remota, en los bárbaros y alentadores libros del Viejo Testamento, pero

fría, muerta aquí, en este naufragio sin remedio de hoy." (47) - Vgl. Portal, S. 183. 237 Trigo 1976, S. 247. 238 Vgl. ebd., S. 250 u. Portal, S. 193. 239 Historischer Rahmen der Geschehnisse ist der Cristero-Aufstand. 240 Octavio PAZ, "Cristianismo y revolución: José Revueltas", in: id., Hombres en este siglo, Barcelona

1984, S. 141-155. 241 Octavio Paz stellt Revueltas' "Christentum" in Bezug zum Urchristentum und zu José VASCONCELOS

- erstaunlich ist, daß seine Beobachtungen von 1979 die zeitgenössischen Entwicklungen in der lateinamerikanischen Kirche mit keinem Wort erwähnen.

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Portal als "alegoría bíblica" bezeichnete christliche Symbolik242 ist auch für Revueltas' späteres Schaffen

kennzeichnend (für sein Gesamtwerk hatte er den Titel Los días terrenales vorgesehen). Im Verein mit einer sehr

kritischen Sicht von Klerus und Kirche ist sie ein konstantes Element seiner zahlreichen Erzählungen. Ein

explizit auf biblischer Vorlage fußender Roman ist Los motivos de Caín (1957). Er erzählt das Schicksal eines

desertierenden US-Soldaten im Koreakrieg als exemplarische Geschichte von einem "ser que huye"243. Die

Flucht, zugleich Suche nach dem verlorenen Paradies, steht wieder symbolisch für die conditio humana, wobei

stärker als in El luto humano in diesem "internationalen" Roman das Bemühen deutlich wird, die Problematik ins

Universelle auszuweiten: "su restitución propia era la de todos los demás, era rescatar a los hombres [...] del

mundo de desesperanza al que parecían estar condenados sin remedio." (54) Der Versuch, die christliche

Eschatologie durch den Kult des Menschen bzw. ein kommunistisches Gesellschaftsideal zu ersetzen und dabei

die religiöse Diktion beizubehalten, läßt den Roman bisweilen ins Schwülstig-Kitschige abgleiten.

Unbestritten ist indessen die hohe künstlerische Qualität des einzigen und meisterhaften Romans Pedro

Páramo (1955) von Juan RULFO (1918-1985). Das kleine Werk erscheint in seinem Bedeutungspotential schier

unerschöpflich, und so verwundert es nicht, wenn verschiedene Kritiker eine scheinbar christlich-symbolische

Dimension zutage gefördert haben: Infierno, Purgatorio, Paraíso sind Begriffe, die in den Analysen neben dem

Hinweis auf den "eschatologischen" Charakter des Romans244 immer wieder auftauchen. Zweifellos werden sie

durch den ganzen Text provoziert, wo es schon gleich zu Beginn von dem Schauplatz Comala heißt: "Aquello

está sobre las brasas de la tierra, en la mera boca del infierno."245 Tatsächlich ist das Strukturprinzip des

Romans ein descensus ad inferos, vielleicht wieder nach danteskem Schema. Primär handelt es sich aber um eine

archetypische, nicht biblisch-christliche Struktur: "una búsqueda del Paraíso que termina en el infierno de

Comala."246 Wenn Comala von Toten bevölkert ist, so kommt damit aber auch eine Vorstellung der

lateinamerikanischen Volksreligiosität zum Tragen, nämlich der Glaube an die almas en pena, das Fortleben der

Geister der Verstorbenen: sie treten nämlich als die eigentlichen Protagonisten des Romans auf247. Zwar ist der

Katholizismus auch hier mit seinen äußeren Manifestationen allgegenwärtig: der Glaube ist aber wie alles von

242 Portal, S. 184. 243 José REVUELTAS, Los motivos de Caín, México: Era, 1979, S. 22. 244 Vgl. Donald FREEMAN, "La escatología de Pedro Páramo", in: Helmy F. GIACOMAN [Hg.],

Homenaje a Juan Rulfo, Madrid 1974, S. 255-281, u. id., Paradise and fall in Rulfo's Pedro Páramo: archetype and structural unity, Cuernavaca 1970.

245 Juan RULFO, Pedro Páramo, Barcelona: Bruguera, 1981, S. 11. 246 Franco 1980, S. 385. 247 Joseph SOMMERS, "A través de la ventana de la sepultura: Juan Rulfo", in: Loveluck, S. 153-171

(zuerst in id., After the storm, Caracas 1969): "Semejantes creencias populares son una parte tan grande de la estructura y son tan importantes para las concepciones de Rulfo respecto a la existencia, que ellas constituyen la realidad viviente de Pedro Páramo, sobreimponiendo elementos mágicos al proceso narrativo 'realista'." (S. 168) - Nach C. Goic ist der Roman in dieser Hinsicht mit Cien años de soledad und DONOSOs El obsceno pájaro de la noche zu vergleichen (Goic 1972, S. 256). Eine teilweise noch "christlichere" Volksreligiosität ist für eine ganze Reihe der zu untersuchenden Romane strukturell bedeutsam.

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muerte und pecado gezeichnet und gelähmt. Der allmächtige Kazike Pedro Páramo hat auch in diesem

Erzähluniversum die Stelle Gottes eingenommen248. Sehr differenziert gestaltet ist dennoch die Figur des

Dorfgeistlichen Rentería, bei dem das Verlangen nach einem anderen, lebendigen Christentum keineswegs

erloschen ist:

El Padre Rentería es quien expresa con el mayor patetismo la agonía del clero latinoamericano: las amarras viejas de los poderosos, tan difíciles de romper, y el espíritu cristiano que grita cada vez más reciamente la necesidad de un compromiso con los oprimidos.249

Für Trigo ist der Padre Rentería, der sich später entschließt, am bewaffneten Kampf der Cristeros teilzunehmen,

eine Präfiguration des revolutionären Priesters Camilo TORRES.

Ein Altersgenosse Rulfos, dessen Schaffen in ganz anderer Weise um "la teología, el infinito, en general

los problemas metafísicos" kreist250, ist Juan José ARREOLA (*1918). Sein Werk hat augenscheinlich eine

"universellere" Ausrichtung als dasjenige von Juan Rulfo, mit dem er diesbezüglich in den 50er Jahren eine

Polemik ausfocht. Durch ein taller literario, das er längere Zeit in der Hauptstadt unterhielt, hat er maßgeblich

auf jüngere Autoren, unter ihnen Vicente LEÑERO, gewirkt251. In Kurzgeschichten wie El silencio de Dios, En

verdad os digo und El converso252 behandelt er die Glaubensproblematik des modernen Menschen und

verarbeitet Motive aus dem Neuen Testament. Arreolas bisher einziger Roman La feria (1963) widmet sich dem

religiösen und gesellschaftlichen Leben einer imaginären Stadt in Jalisco und verarbeitet dabei biblische Motive,

vor allem aus dem Werk der Propheten253. Die Erzählung spiegelt die Existenz zweier verschiedener Formen

des Christentums, die "realidad de una institución eclesiástica dividida". Für die Kirche gilt die Alternative: "con

los pobres o con los ricos."254 Angesichts des traditionellen Desinteresses, das die Kirche für die Belange der

comunidad indígena zeigt, kommunizieren die ihr zugehörigen campesinos ohne deren Vermittlung mit dem Hl.

Joseph als der Symbolfigur und dem Befreier der arbeitenden Bevölkerung255.

248 Zur "unión de los dos poderes: el del cacique y el religioso" vgl. Manuel Antonio ARANGO, "Correlación social entre el caciquismo y el aspecto religioso en la novela Pedro Páramo de Juan Rulfo", in: Cuadernos Hispanoamericanos, 114 (1978), S. 401-412. Arango beschäftigt sich ferner ausführlich mit der Figur des Padre Rentería.

249 Trigo 1976, S. 252. 250 Emanuel CARBALLO, zit. nach Schwartz, S. 293. 251 Vgl. u. S. 496 f. 252 In Confabulario (1952); Neuauflage als: Obras de Juan José Arreola, II , México: Mortiz, 51976. In der

Einleitung zu dieser Sammlung ("De memoria y olvido") spielt Arreola, der Jesaja als eines seiner literarischen Vorbilder nennt, auf den prophetischen Anspruch seiner schriftstellerischen Aktivität an. Seine Hoffnungen legt er in die jungen mexikanischen Autoren: "[...] en ellos delego la tarea que no he podido realizar. Para facilitarla, les cuento todos los días lo que aprendí en las pocas horas en que mi boca estuvo gobernada por el otro. Lo que oí un solo instante, a través de la zarza ardiente." (S. 10 f.)

253 Vgl. Schwartz, S. 294 f. 254 Trigo 1980, S. 81; vgl. Trigo 1976, S. 251 f. 255 Vgl. Trigo 1976, S. 252.

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Als Schrittmacher und Exponent des boom nicht unerwähnt bleiben darf Carlos FUENTES (*1928). Im

Mittelpunkt seines frühen, noch ganz auf herkömmliche Weise erzählten Romans Las buenas conciencias (1959)

steht die religiöse Krise eines Heranwachsenden im bürgerlichen Milieu einer Provinzstadt. Sie wird dadurch

ausgelöst, daß er in der "religiosidad externa y moralizante" seiner Familie eine "caricatura del verdadero

cristianismo" erkennt256. In dem Jungen wächst ein - allerdings ephemerer - Drang, seine Verwandtschaft

religiös zu "reformieren", worin er durch die Figur eines "wirklich" christlichen Priesters bestärkt wird (ihm steht

im Roman ein weiterer, weniger positiv gezeichneter Geistlicher gegenüber). Jaime gewinnt zeitweise ein

Bewußtsein davon, daß Christus der Impuls einer Beunruhigung oder gar der Rebellion gegen das Etablierte sein

könnte; seine Entwicklung endet aber in der Anpassung, für die jener andere, erstarrte Christus der buenas con-

ciencias steht. Auch in Carlos Fuentes' bekanntestem Roman La muerte de Artemio Cruz (1962) sind Kirche und

Religion wesentliche Bestandteile der dargestellten Wirklichkeit, und zwar allein schon deshalb, weil der Roman

eine literarische Aufarbeitung der mexikanischen Geschichte ist. Das mexikanische Christentum erscheint

weitgehend in negativem Licht257 und jener Vergangenheit zugehörig, die in dem Roman zusammen mit der

Hauptfigur langsam dahinstirbt. - Als einen "antichristlichen", "blasphemischen" und "ketzerischen" Roman hat

zumindest die spanische Zensurbehörde den 1967 erschienenen Roman Cambio de piel aufgefaßt258. Dieses

Urteil trifft freilich nicht die Intention des Romans: er ist ein Beispiel jener "mythischen" Erzählweise, in der

Christliches als "Mythos" - in Parallele zu altamerikanischen Vorstellungen - verarbeitet und auf modernes

Geschehen projiziert wird259. In dem Mythenkonglomerat des Romans spiegelt sich die mexikanische als eine

synkretistische Kultur, wobei ein archetypischer Kern, z. B. der Ritus des Opfers, sich unter

austauschbaren - altmexikanischen oder christlichen - "Häuten" verbergen kann. In diesem Sinne wird der

Erzähler Lambert sowohl mit Xipe Totec als auch mit Christus identifiziert. Bemerkenswerterweise ist Christus

hier allerdings nicht nur die symbolische Inkarnation des Opfers, sondern auch der Archetyp des Rebells:

And the narrator also identifies with Christ, whom he evokes not in his role of Messiah or Saviour, but as an intrepid iconoclast. For Lambert, Christ is the revolutionary who challenged the

256 Guillén Preckler, S. 47; hier findet sich eine ausführliche Analyse. Als Hinweis auf die symbolische Bedeutung der Hauptfigur können wieder die Anfangsbuchstaben seines Namens verstanden werden (Jaime Ceballos). In einer Karfreitagsszene kommt es zu einer Art unio mystica zwischen Jaime und dem Christus des Volkes (vgl. ebd., S. 50). - Marta Portal (S. 242 ff.) stellt ebenfalls fest, daß die fe der Protagonisten ein wesentliches Motiv bei Carlos Fuentes ist; bei ihm werde erstmals ein "conflicto íntimo religioso" außerhalb eines vordergründig religiösen Kontexts gestaltet. - Vgl. Lavin A. GYURKO, "The self as ironic hero in Fuentes' Las buenas conciencias", in: Horizontes, 16: 31-32 (1973), S. 95-118.

257 Tatsache ist, daß die Auseinandersetzung mit dem Christentum Fuentes' ganzes Werk unterschwellig durchzieht, wobei blasphemische Seitenhiebe vielleicht auf ganz persönliche biographische Motive zurückgehen. Vgl. Jesús GUISA y AZEVEDO, "Le falta talento a Carlos Fuentes para ser blasfemo", in: Lectura, 4 (1967), S. 99-104. Fuentes sieht sich selbst auf der Suche nach einer "nueva herejía", was allerdings nicht primär religiös gemeint sein dürfte (Luis HARSS, "Carlos Fuentes, o la nueva herejía", in: id., Los nuestros, Buenos Aires 1971, S. 380).

258 Zit. nach Eyzaguirre, S. 310 f. (Nota 26). 259 Vgl. Schwartz, S. 310 f.

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established order of his time, who undercut the sanctimoniousness of the Pharisees: 'el primer tipo verdaderamente desordenado de la historia, que hoy andaría en moto y bailaría watusi nomás para darle en la chapa a los beatos, y que eso de resucitar muertos y caminar en el agua y llevarse a todo trapo con las troneras del barrio era una manera de escandalizar, porque no hay otra manera de consagrar.264

Trotz dieser hoffnungsvollen Akzente und Ausblicke siegt in der Realität des Romans nicht die Frühlingsgottheit,

die hier durch das Christussymbol vertreten wird, sondern der Mensch bleibt im fatalen Zyklus des Todes

gefangen265. In der erzählten Welt, die ein Abbild des modernen Mexikos, wenn nicht der modernen Zivilisa-

tion überhaupt sein möchte, wird dem Christentum seine Ambiguität zum Verhängnis:

Lo chingón de un buen evangelio es que también tiene dos caras y sólo sobrevive si puedes jugar voladas con él [...] ¿Sabes que el propio testamento de tus rucasianaos dice: "No seguirás a la multitud? Qué tal si el güerito J. C., nuestro primer rebeldazo, hace las paces con roma y se dedica a jugar al tute con Iscariote [...].266

Vicente LEÑERO (*1933) ist einer der jungen mexikanischen Autoren, die der Post-boom-Generation

angehören. Wie nur wenigen anderen hispanoamerikanischen Romanciers gelingt ihm die ästhetisch und

gedanklich ansprechende Synthese von offenem Bekenntnis zu einem realitätsbezogenen christlichen Glauben

und modernen literarischen Ausdrucksformen. Seinem Werk wird daher ein eigenes Kapitel gewidmet.

2.3210 Kuba

Die bedeutendsten modernen Erzähler aus Kuba bedienen sich in ihren großen Romanen durchgängig einer an

universellen Symbolen überreichen Darstellungsweise. Der wohl bekannteste unter ihnen ist Alejo

CARPENTIER (1904-1980). Besonders Los pasos perdidos (1953) ist ein Roman, der mit seinem Rückgriff auf

Mythen sowohl aus der biblisch-christlichen als auch anderen Kulturtraditionen für die zeitgenössischen Autoren

Signalwirkung gehabt hat - vor allem, weil bei ihm der Bezug zu den spezifisch lateinamerikanischen contextos

immer gewahrt bleibt. Auch ihm wird daher im Hauptteil ein eigenes Kapitel gewidmet.

Dem Werk Carpentiers in mancher Hinsicht vergleichbar ist dasjenige von José LEZAMA LIMA

(1912-1976). Schon der Titel seines großen Romans Paradiso (1966), der mit Adán Buenosayres und Rayuela in

eine Reihe zu stellen ist, weist darauf hin, daß hier "biblische Mythen" verarbeitet werden, allerdings teilweise

tatsächlich mit christlich-religiöser Intention. Es handelt sich um einen jener metaphernreichen, oft als "lyrisch"

264 Lavin A. GYURKO, "Autonomous characters and the victimized narrator in Cambio de piel", in: Iberoromania, 5 (1976), S.161. Wie Gyurko darstellt, wird das Christusgeschehen auf mehrere Figuren des Romans projiziert und verbindet sich zudem mit der symbolischen Gestalt des Lazarus (S.184f.).

265 Ebd., S.187. 266 Carlos FUENTES, Cambio de piel, Barcelona: Seix Barral, 21980, S. 299.

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und "barock" bezeichneten Total-Romane: an ihm läßt sich ablesen, daß Lezama Lima in den 40er Jahren als

Herausgeber der Zeitschrift Orígenes hermetische Dichtung, "impregnada de misticismo católico" verfaßt

hatte260. Ähnlich wie das Hauptwerk von Leopoldo MARECHAL ist Paradiso ein Initiationsroman, dessen

Symbol-Codes die Bibel, die christliche Theologie und DANTEs Divina commedia sind. Mehr noch als Adán

Buenosayres ist der wieder durch seine Initialen gekennzeichnete Protagonist José Cemí261 eine

christusähnliche Figur, wobei die Parallelen sich aber auf die metaphysisch-mystische Ebene beschränken. Die

symbolische Struktur mit den Stationen Kindheit ("Paradies"), Passion und Auferstehung verleiht dem

zunächst chaotisch anmutenden Roman eine freilich zerbrechliche Kontinuität und Ordnung. Die "Auferstehung",

die als Leitmotiv des Romans hervortritt, bleibt ein auf die Innerlichkeit des Individuums beschränktes

Phänomen262. Ähnliches gilt für den postum erschienenen Roman Oppiano Licario (1977)263, der

verschiedene Motive aus Paradiso, insbesondere das der resurrección, weiterführt. Lezama Lima geht es nicht

um eine Veränderung der Wirklichkeit aus der Perspektive des Glaubens, sondern um eine neue Sehweise und

Interpretation eben dieser Wirklichkeit, die als "Epiphanie" begriffen wird. Obwohl sein geistiger Standpunkt

unzweifelhaft im vorrevolutionären Kuba liegt, hat Lezama Lima später ein positives, wenn auch

"metaphysisches" Verhältnis zur Revolution gefunden:

Er preist sie als die neue Ära einer positiven, fast christlichen Armut. "Die kubanische Revolution bedeutet, daß alle negativen Beschwörungen enthauptet worden sind [...]. Der Stil der Armut, die unerhörten Möglichkeiten der Armut haben bei uns wieder eine wirkende Fülle erlangt".264

Lezama Lima hat auf zahlreiche jüngere Autoren maßgeblichen Einfluß ausgeübt: einer der bedeutendsten, die

aus seiner Schule hervorgingen, ist Severo SARDUY (*1937). Dessen Roman De dónde son los cantantes (1967)

ist ebenso wie die Werke von Carpentier und Lezama Lima eine Synthese der verschiedenen Überlieferungen,

welche die kubanische Kultur - stellvertretend für diejenige des gesamten Lateinamerika - geprägt haben. Diesen

260 Franco 1980, S. 357 f.; zu seiner "katholischen Poetik" s. Armando ALVAREZ BRAVO, "Interview mit José Lezama Lima", in: Mechtild STRAUSFELD [Hg.], Aspekte von José Lezama Lima 'Paradiso', Frankfurt/M., 1979, S. 159-172, bes. S. 162 ff., u. Emir RODRIGUEZ MONEGAL, "Paradiso in seinem Umfeld", ebd., S. 48-58.

261 Cemí ist zugleich aber auch eine autochthone Gottheit (vgl. Juan José ARROM in Revista Iberoamericana, 92/93 (1971), S. 470. - Zur christlichen Symbolik s. a. Candido PANEBIANCO, "Il Paradiso esoterico di Lezama Lima", in: Studi di letteratura ispanoamericana, 9 (1979), S. 71-112, bes. S. 91 f.

262 Claudia Joan WALLER, "José Lezama Lima's Paradiso: the theme of light and the resurrection", in: Hispania, 56 (1973), S. 275-282. Vgl. Jean FRANCO, "Lezama Lima im Paradies der Poesie", in: Strausfeld 1979, S. 86-109; die Autorin hebt hervor, daß Lezama den Menschen in Opposition zu HEIDEGGER als "Sein-zur-Auferstehung" versteht und diesen Gedanken in seinem Werk "allegorisch" verarbeitet (S. 86 u. 91).

263 Oppiano Licario, eine in Paradiso verstorbene Figur, erlebt hier die "Auferstehung". Vgl. Rosario FERRE, "Oppiano Licario oder die Auferstehung durch das Bild", in: Strausfeld 1979, S. 183-194.

264 Nach Horst ROGMANN, "José Lezama Lima", in: Eitel, S. 260.

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Wurzeln nachzuspüren und sie mit modernsten erzählerischen Mitteln zu gestalten, ist das Hauptanliegen von

Sarduys Roman.

Drei locker verknüpfte phantasmagorische Erzählungen, die jeweils das chinesische, das afrikanische und

das spanisch-christliche Kulturelement verarbeiten, werden einer "metaphorischen Synthese" zugeführt265.

"Mortal Pérez", eine Figur, die jeweils ihre kulturelle Identität wechselt, hält die drei Geschichten zusammen.

Abschließend erscheint er als eine hölzerne Christus-Statue, an der sich in grotesker Umkehrung der Leidensweg

des biblischen Jesus nachvollzieht. Desgleichen tauchen Personen auf, die an die biblischen Marienfiguren und

den leprösen Lazarus erinnern. Nicht zuletzt in Anbetracht der schwül-erotischen Atmosphäre, die über dem

ganzen Geschehen liegt, mag man in ihm nichts anderes als eine blasphemische Parodie der biblischen Er-

eignisse und katholischen Glaubensvorstellungen sehen266. Neben dem parodistischen verbirgt der Roman

allerdings auch einen utopisch-konstruktiven Gehalt, der wieder einmal in der Forderung nach einem

menschlichen Christus als Alternative zu einem standbildhaft erstarrten Fetisch besteht: "solamente la

humanización de Cristo podrá lograr una segunda redención de la humanidad."267 Bemerkenswert ist, daß in

diesem Roman - ähnlich wie bei Demetrio AGUILERA MALTA, aber mit parodistischem Akzent - eine

Umkehrung jenes literarischen Kunstgriffs vorliegt, der so viele auf Christus-Symbolik beruhende Romane

kennzeichnet. Überhaupt scheint es sich um den Versuch zu handeln, all die "metaphysischen Romane", die

durch Metaphern und Symbole eine zweite Wirklichkeit erzählerisch zu etablieren versuchen, ad absurdum zu

führen. Nach Roland BARTHES zeigt der Roman gerade, "que no hay nada que ver detrás del lenguaje"268.

Zwar ist auch bei Sarduy eine Romanfigur christusähnlich geworden: "¡he aquí la carne hecha verbo!"; im

Vordergrund steht aber die "Entmetaphorisierung": immer wieder wird der Leser auf die erschreckend

fleischliche Natur der Christusfigur "Mortal Pérez" verwiesen. Damit ist allerdings die wenig hoffungsvolle

Konsequenz verknüpft, daß er danach endgültig ins Jenseits befördert wird: die in Anklang an den triumphalen

Einzug in Jerusalem La Entrada de Cristo en La Habana überschriebene Geschichte endet mit "La entrada de

Cristo en la muerte". Doch wird der hölzerne Christus, dessen Gestalt Mortal Pérez angenommen hatte, nicht

gekreuzigt, wenn auch die Golgatha-Szene mit den Siete Palabras anklingt, sondern er zerfällt ganz einfach: "Se

vio desmoronar. Cayó en pedazos con un quejido" (148). Zweifellos ist hierin auch eine Anspielung an das

Schicksal eines überalterten lateinamerikanischen Christentums zu sehen.

Auch wenn bei Severo Sarduy das christliche Kulturerbe ein für allemal in die Brüche zu gehen scheint

und der Roman versucht, mit der hypertrophen Metaphorik und Symbolik, wie sie gerade für einige kubanische

265 Severo Sarduy, zit. nach Schwartz, S. 211. 266 Vgl. Alicia RIVERO POTTER, "Algunas metáforas somáticas-erótico-escripturales - en De dónde son

los cantantes y Cobra", in: Revista Iberoamericana, 123-124 (1983), S. 497-507, bes. S. 505. 267 Dies ist nach R. M. Cabrera (S. 231 f.) "el propósito claro" des Romans - wohl eine etwas zu

apodiktische Formulierung, wenn man den spielerischen, "unmoralischen" Charakter des ganzen Romans bedenkt. Von dem "Christus" Mortal Pérez geht lediglich eine erotische Wirkung aus.

268 Roland BARTHES, "La faz barroca", in: Severo SARDUY, De dónde son los cantantes, Barcelona 1980, S. 5.

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103

Autoren kennzeichnend ist, abzurechnen, bleibt der Eindruck bestehen, daß das Christentum in den

unterschiedlichen Formen, welche es in einem Roman anzunehmen vermag, weiterhin ein wichtiges literarisches

Potential darstellt. Darüber hinaus hat die christliche Tradition wesentlichen Anteil an den vielfältigen Entwür-

fen, mit denen hispanoamerikanische Autoren Antworten auf die Frage nach der gesellschaftlichen und

kulturellen Zukunft des Subkontinents zu geben versuchen. Der Überblick hat gezeigt, daß das Christentum zwar

massiv, aber auch in mannigfaltigen, kaum miteinander vergleichbaren Formen zutage tritt. Selbst die

Phänomene, die sich unter "spezifisch christlicher Symbolik" zusammenfassen ließen, sind unter sich noch zu

heterogen, um eine kohärente Deutung zu gestatten, ja sie lassen gerade erst die Problematik dieses Begriffs als

Instrument der literarischen Analyse aufscheinen. Die Konzentration auf eine Auswahl strukturverwandter

Werke, bei denen Christentum bzw. christliche Symbolik mehr als nur unreflektierte und zufällige Accessoires

sind, wird somit zur unabdingbaren Voraussetzung jeglicher vergleichenden Deutung.