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2. CHRISTENTUM, KIRCHE UND GLAUBE IN DER SPANISCHAMERIKANISCHEN
LITERATUR
2.1 DAS VERHÄLTNIS VON LITERATUR UND RELIGION BIS Z UM ENDE DES 19.
JAHRHUNDERTS
In Anbetracht der engen Verknüpfung von Religion, Kultur und Politik, durch welche die lateinamerikanische
"Christenheit" - wie im vorausgegangenen Kapitel dargestellt - charakterisiert war, verwundert es nicht, wenn
die spanischamerikanische Literatur in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens ganz selbstverständlich
"christlich" ist. Innerhalb des Systems der cristiandad, das ja die kulturelle Situation des europäischen
Mittelalters fortführt, ist in gewisser Weise jegliches Schrifttum "religiöse Literatur". Erst im 19. und 20.
Jahrhundert kommt es zu einer zweifachen Emanzipation der Künste im allgemeinen und der Literatur im
besonderen. In deren Verlauf verlieren christliche Religion bzw. katholischer Glaube für die oft liberal
eingestellten Intellektuellen ihre absolute Verbindlichkeit und werden in Frage gestellt; zum anderen wachsen
die Bemühungen um Loslösung von der Kultur und Ästhetik spanischen bzw. europäischen Ursprungs. Während
die hispanoamerikanische Kolonialliteratur in etwa gleicher Weise religiös war wie die des Mutterlandes, sucht
man nun nach Möglichkeiten einer eigenen, spezifisch hispanoamerikanischen Einstellung gegenüber dem
christlichen Erbe.
Bis ins 19. Jahrhundert - was die im engeren Sinne "religiöse" Literatur betrifft, noch darüber hinaus - ist
das Verhältnis von Religion und Literatur in einer Weise festgelegt, die nur wenig Raum für eigenschöpferische
Neuansätze läßt. Man könnte sogar die Behauptung aufstellen, daß sich die spanischamerikanische Literatur mit
einer eigenen Geschichte und dem Streben nach Autnonomie gegenüber außerliterarischen und
außeramerikanischen Normensystemen erst in unserem Jahrhundert konstituiert. Dennoch erscheint es sinnvoll,
nach der Christlichkeit der frühen hispanoamerikanischen Literatur zu fragen, denn auch bei modernen, gänzlich
"säkularisierten" Autoren wirken die eigenen Traditionen - teilweise kaum bewußt - nach, und sei es als ein eher
lästiges, koloniales Erbe, von dem man sich nun endgültig befreien möchte. Wichtig dürfte die hispanische
Tradition vor allem insofern sein, als sie in religiös geprägten Sprachformen und zu Gemeinplätzen gewordenen
Symbolismen auch dort fortlebt, wo der religiöse Hintergrund verblaßt ist oder sogar bewußt verworfen wird.
Gerade bei modernen Autoren und auch Literarkritikern, deren Areligiosität außer Frage steht, überkommt den
europäischen Leser großes Erstaunen angesichts der "christlichen" Metaphern und Sprachhülsen: ständig ist die
Rede von paraísos und infiernos, von diablos und Cristos.
Spanischamerikanische Literaturkritiker haben der wechselseitigen Beziehung von Literatur und
Christentum bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Am ehesten dürfte sich dieses Verhältnis noch anhand
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des Werks von Rudolf GROSSMANN - Geschichten und Probleme der lateinamerikanischen Literatur1 -
verfolgen lassen. Die in Anbetracht der Stoffülle notgedrungen fragmentarischen Beobachtungen Grossmanns
sollen im folgenden durch - freilich nicht weniger bruchstückhafte - eigene Beobachtungen ergänzt werden.
Die "christliche" Interpretation der Neuen Welt durch spanische Autoren, die zum beträchtlichen Teil selbst eine
Ausbildung als Geistliche genossen hatten, ist das Signum der Literatur des Zeitalters der Entdeckung und
Eroberung. Auch dort, wo es um die Deutung politisch-historischer Ereignisse oder das Verständnis fremdartiger
geographischer oder naturkundlicher Phänomene geht, liefern Bibel und katholische Theologie die Kategorien,
in welchen man das Neue - teils mit größten Schwierigkeiten - zu begreifen sucht. Die Begriffsnot, die viele
Chronisten - etwa Bernal DIAZ del CASTILLO und Juan de CASTELLANOS - bei dem Versuch überkommt,
ihren europäischen Lesern einen Eindruck von der neuen, "wunderbaren Wirklichkeit" zu vermitteln, veranlaßt
sie, auf biblisch-christliche Bildlichkeit als einen "Vergleichscode" zurückzugreifen, der in der Epoche der
Renaissance freilich mit den Mythologien der griechisch-römischen Antike konkurriert. Nicht nur, daß moderne
Romanautoren wie Alejo CARPENTIER und Gabriel GARCIA MARQUEZ die alten Chroniken lesen und
verarbeiten, sondern oft scheinen sie sich auch in der Darstellungsweise an deren Methoden anzulehnen.
Wie im vorigen Kapitel dargestellt wurde, existierte bereits in jener Zeit ein Bewußtsein von dem
Widerspruch zwischen dem angeblich christlichen Unternehmen der Conquista und Kolonialisierung und dem
moralischen Anspruch des Christentums. Chronisten wie LAS CASAS und WAMAN POMA deckten in ihren
Werken die himmelschreiende Diskrepanz zwischen den Forderungen des Evangeliums und der Geschichte der
Eroberung auf.
Hinsichtlich der folgenden Periode hebt Grossmann ausdrücklich den "Primat der christlich-katholischen
Religiosität in der Literatur des Amero-Barock" hervor2. Lyrik, Drama und Epos treten weitgehend in religiöser
Gewandung in Erscheinung. Obwohl diese Literatur, die wie die gesamte Kultur der Epoche im Zeichen der
tridentinischen Gegenreform steht, zum beträchtlichen Teil ein Abklatsch der mutterländischen ist, fehlt ihr die
religiöse Tiefe, die etwa in den Werken der zeitgenössischen spanischen Mystiker spürbar ist. Die große
mexikanische Dichterin Sor JUANA de la CRUZ stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar: sie ist eine der
wenigen Figuren des "Amero-Barock", deren Nachwirkung außer Frage steht. Auch Fray DIEGO de HOJEDA
(1571-1615) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Mit seiner Cristíada (Lima 1611) ist
Spanischamerika - nach Grossmann - "zum Erfinder des christlichen Epos in jener Dimension" geworden, "die
es eines Tages in die europäische Universalität eines Milton oder Klopstock einmünden lassen sollte"3. Wichtig
1 München 1969; sämtliche Kapitel zu den einzelnen Epochen enthalten jeweils einen Abschnitt, der nach dem Stellenwert von "Religion und Transzendenz" in der Literatur der Zeit fragt.
2 Ebd., S. 129 f. 3 Ebd., S. 129; vgl. S. 139.
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und in manchen Aspekten bis ins 20. Jahrhundert hinein relevant ist folgende Beobachtung Grossmanns: "Dank
der Suprematie der kirchlichen Autorität konnte im Barockzeitalter Amerikas das Epos nur dort sein Leben
weiterfristen, wo es zum biblischen oder kirchlichen Stoff hinüberwechselt. Damit verlor es aber vollends seinen
lateinamerikanischen Charakter."4 So tritt bereits im 17. Jahrhundert jenes Dilemma deutlich hervor, dessen
Überwindung den spanischamerikanischen Autoren erst seit wenigen Jahrzehnten ansatzweise gelingt: bis dahin
schien es, als könnte die Literatur der Neuen Welt nur in dem Maße Christliches annehmen bzw. christlich sein,
als sie zugleich ihre amerikanische Identität preisgab.
In der Literaturkritik ist häufig die Rede vom "barocken" Charakter auch der modernen Erzählliteratur,
wobei man an Autoren wie José LEZAMA LIMA, aber auch Carpentier und García Márquez denkt. Auch wenn
dieser Begriff oft allzu leichtfertig und unreflektiert angewandt wird, hat er dort eine gewisse Berechtigung, wo
er auf jenes Streben nach Bedeutungsvielfalt und "Transzendenz" verweist, das auch die neuere Romanliteratur
kennzeichnet. Ein in diesem Sinne "barockes" Stilmittel, das viele Erzähler üppig einsetzen, sind die Metaphern
und verdeckten Anspielungen, die sowohl für die Literatur des hispanischen Barocks als auch für zahlreiche
Nuevas Novelas charakteristisch sind.
Als "la primera novela publicada en América y la primera de un autor posiblemente criollo" bezeichnet
Cedomil GOIC Los sirgueros de la Virgen sin original pecado (1620) des Mexikaners Francisco BRAMON: "si
en el Siglo de Oro de Balbuena era adivinable un simbolismo religioso, en la obra de Bramón estamos en el reino
mismo de la alegoría, del emblema y de las empresas de significación religiosa."5 Selbst wenn Werke wie
dieses in der modernen Literatur nur wenig Spuren hinterlassen haben, ist die metaphernreiche und religiös
getönte Barocklyrik doch unvergessen, und die literarische Sensibilität zahlreicher moderner Romanciers hat
durch sie eine erste Schulung erfahren.
Von Sor Juana abgesehen hat Spanischamerika zwar keine wirklich großen religiösen Autoren
hervorgebracht; dennoch ist seine Literatur im 17. und frühen 18. Jahrhundert möglicherweise "katholischer"
gewesen als die des Mutterlandes. Der Verbreitung allzuweltlicher Literatur - also auch von Romanen wie dem
Don Quijote - waren in der Neuen Welt nämlich durch rigide Einfuhrbestimmungen engere Grenzen gesetzt als
in Spanien6. Sofern man in bezug auf die Kolonialkultur überhaupt von der Existenz eines Lesepublikums
sprechen kann, dürfte - mindestens im gleichen Maße wie im Mutterland - religiöse Erbauungsliteratur, z. B.
gereimte Heiligenlegenden, eine große Rolle gespielt haben.
Für die Literatur des "Amero-Klassizismus" konstatiert Grossmann "aufklärerische Unterwanderung des
christlich-katholischen Gottesbegriffs". Diese Behauptung wird dadurch relativiert, daß das wirklich
4 Ebd., S. 139. 5 Cedomil GOIC, "La novela hispano-americana colonial", in: Luis IÑIGO MADRIGAL [Coordinador],
Historia de la Literatura Hispanoamericana. Tomo I: Época colonial, Madrid 1982, S. 388. 6 Allerdings gab es Möglichkeiten, die Einfuhrbestimmungen zu unterlaufen, die von Literaturbeflissenen
rege genutzt wurden.
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aufklärerische Denken, wie es in Frankreich und England entwickelt wurde und das auch den Keim des
neuzeitlichen Atheismus enthält, in Spanischamerika noch weit weniger Verbreitung finden konnte als in
Spanien. Soweit es zu Kritik und Reformen kam, durchbrachen diese kaum die vom katholischen Glauben und
der Patronatskirche gesetzten Grenzen. El Periquillo Sarniento (erschienen 1816-31) von José Joaquín
FERNANDEZ de LIZARDI - für viele der eigentliche Begründer des spanischamerikanischen Romans - steht
exemplarisch für diese Spielart der "Aufklärung". Der Held fungiert sein Leben lang als recht freidenkerisches
Sprachrohr enzyklopädischer Kritik, verstößt auch selbst ständig gegen die ethisch-sozialen Normen der Zeit;
Reue und Bekehrung setzen aber seinem "Ausbruch" ein Ende: er stirbt im Ruf der Heiligkeit.
Ein noch deutlicheres Beispiel dieser spanischamerikanischen ilustración cristiana ist El Evangelio en
Triunfo o historia de un filósofo desengañado (erschienen 1797/98), eine Art roman larmoyant des Peruaners
José de OLAVIDE: "es la defensa y la alabanza de la religión cristiana en el debate con los filósofos ilustrados,
que conduce a un libertino a la conversión religiosa y a su realización como hombre benéfico"7. Christus und
das Evangelium liefern das Vorbild für die Lebensreform des Protagonisten.
Das Werk leitet bereits zu der romantischen Konzeption des Christentums über, die im Schaffen
CHATEAUBRIANDs ihre Vollendung gefunden hat8. Für die Dichter, die am dogmatischen Gehalt der
christlichen Religion zweifeln, ihn übergehen oder verwerfen, bleibt sie doch die unerschöpfliche Quelle jenes
so poetischen merveilleux chrétien. Christliche Bildlichkeit und die délices de la religion9 gelangten als
Gegengewicht zu einer vom Rationalismus drohenden ästhetischen Austrocknung zu neuem, poetischem
Wert10.
Im 19. Jahrhundert gerät die Einstellung der Schriftsteller zum historischen und geistlichen Erbe, welches
das Christentum auf dem Subkontinent hinterlassen hat, ebenso wie die cristiandad colonial überhaupt, in eine
tiefe Krise. Zwar behalten katholische Tradition und christliches Denken als Inspirationsquellen ihre Kraft, aber
es kommt mehr und mehr zu einer Problematisierung:
En estos escritores el tema del "buen salvaje" está en pugna con el dogma católico. Como los jesuitas, cuyas relaciones misioneras en los siglos XVII y XVIII contribuyeron a propagar la identificación del indio con el hombre natural, estos escritores creían que la civilización corrompe y que los incontaminados indios de las Américas eran por lo tanto potencialmente mejores cristianos que los europeos, que ya habían contraído tantos vicios. Además, como muchos
7 Ebd., S. 396. Mit seinen zahlreichen Auflagen bis weit ins 19. Jahrhundert ist das Werk "un acontecimiento aparentemente sin paralelo en las letras hispánicas" (S. 395).
8 Aurelio FUENTES ROJO, in Kindlers Literatur Lexikon im dtv, Bd. 8, München 1974, S. 3333. 9 So lautete auch der Titel eines französischen Werks, an dem Olavide sich inspirierte. 10 Die Anziehungskraft, die Chateaubriand auf die spanischamerikanischen Intellektuellen der Aufklärung
ausübte, schlägt sich auch in der Gestaltung von Carpentiers Roman El siglo de las luces nieder.
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católicos sinceros, ambos escritores dudaban de la política de colonización y la veían como una fuerza nefasta tanto para el colonizador como para el colonizado.11
In diesem Zusammenhang ist auch der Kolumbianer Jorge ISAACS mit María (1867) zu nennen, dem bis ins 20.
Jahrhundert hinein meistgelesenen spanischamerikanischen Roman. Hier ist es ein ausgeprägter
jüdisch-biblischer Grundton, welcher der Erzählung eine religiöse Dimension verleiht12. Zwar tritt in der
romantischen Literatur Spanischamerikas das dogmatische Christentum mit seinen ethischen Imperativen zurück,
umso stärker verbinden sich aber Gefühl und Religiosität, und ihr bedeutendstes Reservoir ist nun weniger die
Kirche als die Natur: nicht selten scheint sie eine mystische Ausstrahlung zu besitzen.
Das Festhalten am Religiösen verbindet sich in der Epoche der Romantik mit einer nostalgischen Welt-
und Gegenwartsabgewandtheit. Religion wird zur Angelegenheit des subjektiven Gefühls, zur Privatsache13.
Bei manchen Autoren klingt das Ideal eines "retorno a la comunidad primitiva cristiana"14 an, das ja ein
Jahrhundert später zu neuer Aktualität gelangt. Dort wo eine Rückbesinnung auf die Epoche der
Evangelisierung - also der conquista (religiosa) - bzw. auf die präkolumbische Vergangenheit erfolgt, läßt sich
dies als Entsprechung der Wiederentdeckung des Mittelalters durch die europäische Romantik deuten. Nur
wenige Autoren vertreten in Spanischamerika die gesellschaftskritischen Tendenzen, die in Europa eine
wesentliche Strömung innerhalb der romantischen Literatur bestimmen. Eine Ausnahme ist der Argentinier
Esteban ECHEVERRIA (1805-1851). Zwar propagierte er als einer der ersten hispanoamerikanischen
Schriftsteller einen vehementen Antiklerikalismus, in seiner postum erschienenen Erzählung El matadero
verbindet sich die Kritik an der Kirche als Handlanger der politischen Unterdrückung aber mit einer
Christussymbolik, die ihn zum Vorläufer gewisser Tendenzen in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts
macht15.
Bei den meisten der Autoren geht das teilweise unbewußte Festhalten an den katholischen Traditionen
Spanischamerikas mit einer politisch und gesellschaftlich konservativen Haltung einher. Einen scheinbar
endgültigen Einschnitt bringt im Bereich der Literatur erst der Modernismus, jene Strömung, die in
Spanischamerika die moderne Literatur einleitet und mit welcher eigentlich erst eine genuin
hispanoamerikanische Literatur mit einer von Europa weitgehend unabhängigen Geschichte zu entstehen beginnt.
Verschiedene Faktoren, die im vorigen Kapitel Erwähnung fanden, haben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu
11 Jean FRANCO, Historia de la literatura hispanoamericana, Barcelona/Caracas/México 31980, S. 110. Die Autorin bezieht sich hier auf Juan LEON MERA (Ecuador) und Chateaubriand.
12 Fernando ALEGRIA, Nueva historia de la novela hispanoamericana, Hanover 1986, S. 39. S. a. Fuentes Rojo in KLL, 14, S. 6026.
13 Grossmann 1969, S. 213. 14 Franco 1980, S. 115; die Autorin bezieht sich hier auf den Kolumbianer Gregorio GUTIÉRREZ
GONZALEZ (1826-72). 15 Rosa M. CABRERA, "El símbolo de Cristo en la novela hispanoamericana", in: Actas del Cuarto
Congreso Internacional de Hispanistas, Salamanca 1982, Vol. I, S. 225 f.
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einem radikalen Emanzipationsstreben gegenüber der römisch-katholischen Tradition und der Religion
überhaupt geführt16.
Die Autoren des Modernismus nehmen meist ebenso extreme wie zwiespältige Haltungen gegenüber der
Problematik des Christentums und der Religion in der modernen Welt ein17. Ein symptomatischer Vers von
Rubén DARIO wurde bereits zitiert. Ein Teil der Schriftsteller des Fin de siècle bemüht sich in einer fast
verzweifelten Anstrengung um "die Bewältigung der Entzweiung mit der Welt durch den christlichen
Glauben"18. Als Beispiel wären etwa der Kolumbianer José María RIVAS GROOT mit Resurrección (1902)
und Angel de ESTRADA mit Redención (1906) zu nennen. In diesen Romanen geht die Behandlung einer
Glaubensproblematik mit einer teilweise hypertrophen christlich-religiösen Metaphorik und Symbolik einher19.
Biblisch-christliche Symbolismen klingen in den Titeln zahlreicher modernistischer Erzählwerke an; oft geht es
den Autoren dabei lediglich um Ausbeutung des emotiven Potentials, das Symbolfiguren wie "Kain" und dem
"Teufel" innewohnt20.
Die Häufigkeit biblisch-christlicher Symbole im modernistischen Roman ist unübersehbar und bedürfte
einer eigenen Untersuchung. Zum Teil geht sie sicher auf den Einfluß des französischen Symbolismus zurück,
wodurch sich auch ihre primär ästhetische und nur sekundär religiöse Funktion erklärt. Christliche Symbolik
verbindet sich oft mit einer vordergründig antireligiösen Einstellung, die jedoch zugleich gegen eine
eindimensionale positivistische Wirklichkeitsauffassung gerichtet ist. Das Erbe des spanischamerikanischen Fin
de siècle ist auch bei den zu untersuchenden neueren Erzählern noch spürbar. Nicht wenige unter ihnen sind mit
der Literatur jener Epoche aufgewachsen und pflegten in ihren frühen Schaffensperioden einen vom
Modernismus geprägten Stil. Was die Symbolik der Jahrhundertwende ganz entscheidend von derjenigen in
neueren Romanen unterscheidet, ist ihr scheinbar universeller, letztlich aber europäischer Charakter. Wieder sind
es aus Europa importierte literarische Traditionen, die die spanischamerikanische Literatur vor der Erstarrung
bewahren und bereichern sollen. Daß gerade das lateinamerikanische Christentum ein viel lebendigeres, sowohl
literarisches als auch gesellschaftliches und historisches Potential enthält, bleibt den modernistischen Autoren
verborgen. So ist es auch zu erklären, daß nach diesem letzten "Aufbäumen" religiöse und christliche Thematik
und Symbolik vorläufig in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die endgültige Emanzipation der
spanischamerikanischen Autoren von einer als Fessel empfundenen 400jährigen katholischen Tradition scheint
vollzogen.
16 Zum literarisch unbedeutenden "Amero-Realismus" mit seiner oft dogmatischen materialistisch-positivistischen Ausrichtung vgl. Grossmann 1969, bes. S. 268 f.
17 Vgl. ebd., S. 323. 18 Klaus MEYER-MINNEMANN, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, Tübingen 1979,
S. 252 ff. 19 Ebd., S. 261. 20 Vgl. ebd., S. 173, zu Carlos REYLES, La raza de Caín.
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In der Folge beschränkt man sich, nüchtern analysierend, auf das "Reich dieser Welt" und seine in Lateinamerika
von Jahr zu Jahr immer brisantere sozio-ökonomische Problematik. Die neue Sehweise kommt in jenem
sozial-realistischen Erzählstil zum Ausdruck, der in den verschiedenen Kulturbereichen des Subkontinents
unterschiedliche Ausprägungen gefunden hat: in Mexiko und den Andenländern etwa als indigenistischer Roman.
Religiosität und christlicher Glaube, die inzwischen fast nur noch bei Landbevölkerung und Unterschicht zu
finden sind, stehen nach Aussage dieser Werke dem technischen und gesellschaftlichen Fortschritt ebenso im
Wege wie die reaktionären Machenschaften einer Kirche, die sich aus ihrer Bindung an den politischen Status
Quo noch immer nicht befreit hat. Glaube und Kirche werden, ebenso wie der Pfarrer als Träger politischer
Macht, zu distanziert behandelten und beurteilten Themen. Viele der zwischen 1920 und 1960 entstandenen
Romane ähneln soziologischen Untersuchungen zur sozio-ökonomischen und kulturellen Realität
Spanischamerikas. Verständlicherweise ist dies nicht ohne Einfluß auf die Fragestellungen der Literaturkritik
geblieben: der Stellenwert von Christentum und Kirche wurde zum Untersuchungsgegenstand, aber aus einem
ganz anderen Blickwinkel als er hier eingenommen wird21.
Daß das christliche Erbe und insbesondere die biblisch-christliche Symboltradition sich aus einer sozial
engagierten, ja politisch revolutionären Intention heraus neu beleben lassen, wird zunächst möglicherweise gar
nicht in der Literatur, sondern in der modernen Malerei Lateinamerikas - genauer gesagt Mexikos - augenfällig,
wo im Zuge des Säkularisierungsprozesses "christliche Themen und Motive in einen radikal diesseitigen
Zusammenhang gestellt werden und eine Umdeutung erfahren."22
Zum Abschluß dieses Überblicks muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die spanischamerikanischen
Romanciers des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich in der literarischen Tradition ihrer eigenen Kultur gesehen
werden dürfen. Die literarästhetischen Neuerungen, die sich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts in
Hispanoamerika durchsetzen und die Tendenz zu einer symbolischen Schreibweise maßgeblich begünstigen,
gehen auf europäische und nordamerikanische Vorbilder zurück. Die Präsenz christlicher Symbolik und die
Spezifik ihrer Verknüpfung mit dem Romangeschehen steht unter dem Einfluß der großen Neuerer des
"europäischen" Romans, zu dem im weiteren Sinne die russischen Realisten, besonders DOSTOIEVSKI,
gehören, vor allem aber James JOYCE mit Ulysses, Thomas MANN und der Nordamerikaner William
FAULKNER sowie die nicht weniger symbolträchtige existentialistische Erzählliteratur etwa eines Albert
CAMUS. Diese "universelle" Orientierung löst die Determination durch die Literatur des Mutterlandes und
später auch Frankreichs ab, unter der Spanischamerika bis Anfang des 20. Jahrhunderts gestanden hatte.
Vorhandene Querverbindungen werden im Zusammenhang mit den einzelnen Autoren besonders erwähnt
21 Weiteres zu dieser Problematik findet sich in den beiden folgenden Abschnitten. 22 Hans HAUFE, Funktion und Wandel christlicher Themen in der mexikanischen Malerei des 20.
Jahrhunderts, Berlin 1978, S. 8; vgl. S. 162. Zahlreiche Beobachtungen Haufes haben auch für die Literatur volle Gültigkeit. Zu einem großen Teil decken sich die ikonographischen Symbole mit denjenigen, die in den hier untersuchten Romanen Bedeutung erlangen.
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werden. Auf den Gesamtkomplex der "europäischen Filiation" der christlichen Symbolik im
spanischamerikanischen Roman kann und soll hier nicht eingegangen werden. Es sei lediglich erwähnt, daß die
Beziehungen von Christentum und Literatur in Europa gerade auch im 19. und 20. Jahrhundert um ein
Vielfaches unproblematischer und auffälliger zu sein scheinen und dementsprechend auch in größerem Maße
erforscht worden sind23. Die vorliegende Untersuchung richtet sich im wesentlichen auf das spezifisch
Lateinamerikanische in der Gestaltung der biblisch-christlichen Symbolik und des Christentums im Roman und
konzentriert sich daher auf die kulturelle Tradition des Subkontinents, d. h. auf die für das Verständnis der unter-
suchten Romane relevanten literarischen und außerliterarischen Kontexte. In diesem Sinne soll im
folgenden - nach Möglichkeit unter Berücksichtigung der hierzu vorliegenden Forschungsergebnisse - nach dem
Stellenwert gefragt werden, der dem Christentum bzw. der christlichen Symbolik in den verschiedenen
Gattungen der spanischamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, den Roman vorläufig ausgenommen,
zukommt.
2.2 DER LITERARISCHE KONTEXT IM 20. JAHRHUNDERT: DE R STELLENWERT
DES CHRISTLICHEN IN ESSAY, LYRIK, DRAMA UND CUENTO
2.21 Essay
Fast alle bedeutenden spanischamerikanischen Essayisten haben sich bei dem gemeinsamen, mehr oder weniger
expliziten Bemühen um eine Wesensbestimmung der americanidad die Frage nach dem Stellenwert des
Christlichen in ihrer eigenen Kultur gestellt. Da die Bedeutung des Christentums und der Kirche für die eigene
Vergangenheit mit allen negativen und positiven Aspekten außer Frage steht, sind ihre Überlegungen dort am
interessantesten, wo sie über die Möglichkeiten spekulieren, die das christliche Erbe in Lateinamerika angesichts
23 Vgl. z. B. folgende Untersuchungen: Charles MOELLER, Littérature du XXe siècle et christianisme, 5 vols., Paris 1954-1975; Gisbert KRANZ, Europas christliche Literatur von 1500 bis heute, Mün-chen/Paderborn/Wien 1968; Otto MANN [Hg.], Christliche Dichter im 20. Jahrhundert. Beiträge zur europäischen Literatur, München ²1968; Amos N. WILDER, Theology and Modern Literature, Cambridge 1958; Dorothee SÖLLE, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt/Neuwied 1973. - In den letzten Jahren ist das gegenseitige Interesse von Literaturwissenschaft und Theologie in bemerkenswerter Weise gewachsen, nicht zuletzt, weil man die symbolische bzw. "mythische" Dimension der Literatur als Residuum der Transzendenz stärker zur Kenntnis nimmt. Belegt wird diese Tendenz durch Veröffentlichungen wie: Ernst Josef KRZYWON, "Literaturwissenschaft und Theologie. Elemente einer hypothetischen Literaturtheologie", in: Stimmen der Zeit, 99 (1974), S. 108-116, oder einen Sammelband, in dem sich verschiedene deutschsprachige Erzähler über ihr Verhältnis zum Christentum äußern: Karl-Josef KUSCHEL [Hg.], Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, München/Zürich 1985. Ein weiteres Indiz sind interdisziplinäre Veranstaltungen wie das 1984 in Tübingen abgehaltene Symposion "Theologie und Literatur".
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der brennenden soziokulturellen Probleme eröffnet. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Überlegungen
"liberaler", also dem traditionellen Kirchenkatholizismus skeptisch gegenüberstehender Autoren, weil gerade sie
einen auf Erneuerung und aggiornamento zielenden Dialog "zwischen den Lagern" initiieren bzw.
vorwegnehmen.
Einer dieser Essayisten ist der Uruguayer José Enrique RODO (1871-1917). Bekannt ist er vor allem
durch sein Werk Ariel, in dem er von einem materialistischen Positivismus angelsächsischer Prägung abrückt. In
seinem weniger bekannten Mirador de Próspero (1918) meditiert er über Jesus Christus als Niño-Dios, als "Dios
inmanente, en formación, Dios débil e imperfecto que se va desenvolviendo en el mundo y en la conciencia
hacia un porvenir mejor."24 In Liberalismo y Jacobinismo (1906) bezog er bereits energisch Position gegen die
Eliminierung der christlichen Symbole aus einer zugegebenermaßen säkularisierten modernen Kultur und
Gesellschaft. Auch der Freidenker Rodó sah - im Gefolge des von ihm hochverehrten Ernest RENAN - in einem
ganz und gar menschgewordenen Jesus vor allem den einzigartigen Erneuerer: er ist der absolut originelle und
kreative Begründer des abendländischen Ethos25.
Ein weiterer liberaler Denker, für den nicht nur der Beitrag des christlichen Erbes zur Kultur der Neuen
Welt außer Frage steht, sondern der auch auf eine kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung Lateinamerikas
auf der Basis eines reinterpretierten Christentums setzt, ist der Mexikaner José VASCONCELOS (1881-1959).
In Indología (1925) stellt auch er den Positivismus als dem lateinamerikanischen Wesen unangemessen und
bereits überwunden dar. Er hofft auf einen "cristianismo libre y fervoroso"26, der endlich auf die Erfordernisse
und Nöte dieser Welt antworten möge. Als Zielvorstellung für die lateinamerikanische Kultur sieht er die
Verwirklichung des "Gesetzes Christi" an:
En el mismo concepto religioso de la vida, juzgo yo que es aquí en nuestra América donde las condiciones sociales y espirituales se han ido combinando de tal modo que por primera vez va a ser posible hacer un ensayo de la ley de Cristo en su interpretación fuerte y sincera. El sincretismo que aquí han operado las circunstancias, la eugenesia y la confusión de los credos, nos va a permitir poner en obra una interpretación de la doctrina cristiana, totalmente distinta de las que se han hecho ley hasta hoy, una interpretación más profunda, por lo mismo que no va a estar alejada de la realidad. ¡Como intento audaz de consumar el reino del Padre en la tierra, así veo yo en ocasiones, la tarea de este ciclo iberoamericano de la civilización! Si trabajamos la realidad con fe, quizás llegaremos a comprobar que el cristianismo no es la teoría de los dos mundos opuestos: el
24 Enrique ANDERSON IMBERT, Historia de la literatura hispanoamericana. I: La Colonia, Cien años de República, México 21970, S. 475.
25 Vgl. José E. RODO, "Liberalismo y Jacobinismo", in: id., Ariel, Valencia: Prometeo, s. d., S. 157 f.: "Exclúyanse - si se quiere -, por legendarias o dudosas, de la vida de Jesús toda determinación biográfica, toda circunstancia concreta: el nacimiento en Belén ó en Nazaret, la visita al Bautista, el grupo de pescadores, la crucifixión en el Calvario... y siempre quedará subsistente la necesidad psicológica de la existencia de la personalidad capaz de haber dado el impulso genial, la forma orgánica de los elementos que compusieron la doctrina é inflamado el fuego del proselitismo. Y siempre subsistirá además la noción fundamental del carácter de esa personalidad, testimoniado por la índole de su obra, de su creación, de su ejemplo, tal como éste toma formas vivas en los actos de sus discípulos y en la moral que prácticamente instituyeron."
26 Vasconcelos, S. 138.
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de la tierra y el del cielo, sino la revelación de una manera divina de la energía, que a la misma realidad la reforma y la adapta al fin superior. Si algo de esto logramos, tendremos derecho para afirmar que representamos una era nueva en el mundo.27
Ebenso wie Rodó und Vasconcelos unternimmt auch der Argentinier Ricardo ROJAS (1882-1957) mit Eurindia
(1924) einen Versuch, die kulturelle Essenz Lateinamerikas zu bestimmen, dem eine halb christlich-religiöse,
halb freimaurerische Sozialdoktrin zugrundeliegt. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang auch sein
Essay El Cristo invisible (1928). In einer Art platonischem Dialog, der sich hier zwischen dem Autor und einem
Bischof entspinnt, scheint ein "unsichtbarer Christus" gegenwärtig zu sein28.
In jüngerer Zeit hat der ebenfalls aus Argentinien stammende Héctor Alvarez MURENA (1923-1975)
sich mit Hilfe einer paratheologischen Begrifflichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Problematik
Lateinamerikas zu nähern versucht. Er stellt dem positivistischen "Objektivismus" einen grenzüberschreitenden
"Transobjektivismus" entgegen, den er unter anderem in den Werken von NERUDA, MALLEA und BORGES
anklingen sieht29. Die Analyse der spirituellen Wirklichkeit Lateinamerikas führt den Autor allerdings zu der
Erkenntnis, daß Christus hier als Mittler zwischen dem Mensch und dem Absoluten negiert wird:
Pues Cristo fue esencialmente el intermediario entre Dios y los hombres, el que quedó como asegurador del restablecimiento de la antigua alianza quebrada por el pecado original, y quien, al soldar de nuevo esa alianza entre Dios y los hombres, dio también forma de doctrina a la alianza entre todos los seres humanos. Y en América esta alianza interhumana ha sido abandonada, pero a causa de que previamente se había dejado de lado, en lo íntimo, la esperanza depositada en el mediador, en Cristo, el Sostén de esa alianza.30
Bemerkenswert ist auch der Vergleich, den der Autor hinsichtlich der Bedeutung des Christentums für die
Künste in Lateinamerika und Europa anstellt:
[...] la prueba de fuego del arte nos dice que la capacidad del cristianismo para satisfacer a las almas se mantiene tan viva que entre los más destacados artistas de la presente hora europea, entre los que se hallan en la vanguardia de la estética europea, figuran muchos que no sólo son cristianos sino católicos, cuyas obras más logradas son aquellas en las que no vacilan en dar tanta primacía al dogma como al arte: lo cual viene asimismo a demostrarnos que ese decaimiento de la fe en general y esas filosofías anticristianas no representan más que un momento de crisis del
27 Ebd., S. 226. 28 Grossmann 1968, S. 88. 29 Héctor Alvarez MURENA, El pecado original de América, Buenos Aires ²1965, S. 203. 30 Ebd., S. 215 f. - Was Murena letztlich kritisiert, ist der "magische" Charakter der lateinamerikanischen
Religiosität. Amerika ist deshalb in die Ursünde zurückgefallen, weil die Natur hier dem Menschen mit einem so überwältigenden Gewicht begegnete, daß ihm die Erlösungsbotschaft Christi einfach unglaubwürdig erschien. So erklärt der Autor auch das Zustandekommen jenes Bildes vom "bösen Gott": "La muerte volvió a mostrarse desnuda y sin atenuantes en la normal, indiferente caducidad provocada por el rodar de ese mundo indomado, y mostró así también el rostro de un Dios que no era el dulce y humanizado que había logrado grabar Cristo en las almas." (S. 218)
53
cristianismo que conserva su posibilidad de vigencia para el espíritu objetivo y que saldrá sin duda de esta instancia fortalecido.31
Für Murena ist das Verblassen des Christussymbols der Beginn allen Übels in Lateinamerika - dennoch bleibt
die Hoffnung auf "una nueva visión de Cristo"32.
Auch Ernesto SABATO und Octavio PAZ berühren in ihren Essays mehrfach die beiden Themenkreise:
den Stellenwert des Christentums und seinen kulturellen Beitrag im heutigen Lateinamerika sowie die neuerliche
Annäherung von Literatur und Religion, die sich aus der gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber einer
eindimensional positivistischen Wirklichkeitsauffassung ergibt.
2.22 Lyrik
Die Person des inzwischen ja auch im deutschen Sprachraum allgemein bekannten Essayisten und Lyrikers
Octavio PAZ kann überleiten zu der Frage nach der Präsenz des Christlichen in der spanischamerikanischen
Poesie. Über die Verwandtschaft, die grundsätzlich zwischen Dichtung und Religion besteht, reflektiert Octavio
Paz in La revelación poética, einem Teil seiner 1952 entstandenen Poetik mit dem Titel El arco y la lira :
"Religión y poesía tienden a realizar de una vez para siempre esa posibilidad de ser que somos y que constituye
nuestra manera propia der ser."33 Vielleicht aus einer spezifisch mexikanischen Erfahrung heraus verbindet sich
dieses Bekenntnis bei Octavio Paz allerdings mit einer deutlich kirchen- und theologiefeindlichen Einstellung34.
Nach seiner Auffassung wird es nicht zu einer Wiederbelebung der Religion im herkömmlichen Sinne kommen;
vielmehr scheint die Dichtung im Begriff zu sein, deren Funktion - unter anderem die des "desafío a la razón" -
zu übernehmen35. Damit steht die Dichtung, die auch das eigentliche Mysterium und Faszinosum der Heiligen
Schriften begründet, für ihn höher als die Religion: "Religión es poesía, y sus verdades, más allá de toda opinión
sectaria, son verdades poéticas: símbolos y mitos"36. Insofern gerade der neuere lateinamerikanische Roman
Symbole und Mythen verarbeitet, also - wie man ja auch oft konstatiert - "poetisch" wird37, geht auch er eine
Wahlverwandtschaft mit dem Phänomen des Religiösen ein.
Prinzipiell kann die Lyrik jedoch als diejenige Ausdrucksform gelten, in der das Religiöse am ehesten
eine literarische Heimstatt findet. Dies liegt u. a. an ihrem tendenziell subjektiveren Charakter und jenem
31 Ebd., S. 217. 32 Ebd., S. 223. 33 Octavio PAZ, El arco y la lira , México 41973, S. 137. 34 Vgl. z. B. S. 156. 35 Ebd., S. 118. 36 Ebd., S. 235. 37 Ebd., S. 225 u. 232.
54
Reichtum an Metaphern und Symbolen oft religiösen Ursprungs, der die moderne Lyrik auch in Lateinamerika
kennzeichnet. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa die beiden chilenischen Nobelpreisträger
Gabriela MISTRAL (1889-1957) und Pablo NERUDA (1904-1973). Gerade letzterer ist ein Beispiel dafür, wie
der massive Einsatz religiös markierten Sprachmaterials mit einer plakativen Irreligiosität einhergehen kann. Zu
religiösen Aspekten im Werk einzelner spanischamerikanischer Autoren liegt eine größere Anzahl von
Einzeluntersuchungen vor38.
Seit den 60er Jahren versuchen verschiedene spanischamerikanische Lyriker zunehmend eine Synthese
von Sozialrevolutionärem und Christlichem, sowohl im Denken als auch in der Bildlichkeit. In seiner
Literaturgeschichte widmet José María VALVERDE den kubanischen Vertretern dieser Richtung, für die José
LEZAMA LIMA ein wichtiges Vorbild ist, einen "Cristianismo y Revolución" betitelten Abschnitt39. Eine oft
religiös getönte Lyrik, deren Autoren freilich nicht in Literaturgeschichten Erwähnung finden, geht aus den
"Lyrikwerkstätten für jedermann", den sogenannten Talleres de poesía hervor, die sowohl in Kuba als auch in
Nicaragua eingerichtet worden sind. Zu ihren Förderern gehört auch der im deutschen Sprachraum wohl
populärste lateinamerikanische Dichter: der nach der Revolution zum Kulturminister ernannte nicaraguanische
Priester Ernesto CARDENAL (*1929)40, der eben aufgrund seiner politischen Aussagen und Aktivitäten mit der
römischen Kirche in Konflikt geraten ist.
Neuerdings hat Franz NIEDERMAYER eine deutschsprachige Anthologie mit dem Titel Gott der Armen
vorgelegt41. Mit Erstaunen nimmt der Leser zur Kenntnis, daß so viele bedeutende lateinamerikanische
Schriftsteller sich in lyrischer Form mit dem Problem "Gott" auseinandergesetzt haben. Neben den bereits
erwähnten findet man Namen wie: Miguel ARTECHE (Chile), Jorge Luis BORGES; Rosario CASTELLANOS
(Mexiko), Roque DALTON (Nicaragua), Carlos DRUMMOND de ANDRADE (Brasilien), José GOROSTIZA
(Mexiko), Ezequiel MARTINEZ ESTRADA (Argentinien), José Emilio PACHECO (Mexiko), Carlos
PELLICER (Mexiko), Gonzalo ROJAS (Chile), Rodolfo USIGLI (Venezuela), César VALLEJO (Peru) und
viele andere, weniger bekannte.
38 Hier sei nur eine Studie genannt, die sich mit der puertorikanischen Dichtung befaßt: Ciriaco PEDROSA IZARRA, Religión y religiones en los poetas. La lírica religiosa en la literatura puertorriqueña del siglo XX, Madrid 1973.
39 José María VALVERDE, La literatura de Hispanoamérica (= Historia de la literatura universal, T. 4), Barcelona ²1977, S. 408-412.
40 Vgl. Eduardo URDANIVIA BERTARELLI, La poesía de Ernesto Cardenal: Cristianismo y revolución. Prólogo de Luis MONGUIO, Lima 1984.
41 Gott der Armen. Religiöse Lyrik aus Lateinamerika. Ausgewählt und übertragen von Franz NIEDERMAYER. Eingeleitet von Erika LORENZ, Düsseldorf 1984. - Franz Niedermayer, aus früheren Veröffentlichungen als politisch konservativer Literaturkritiker bekannt, widmet der kuba-nischen Lyrik besonders breiten Raum; exilierte Autoren haben in der Sammlung allerdings ein deutliches Übergewicht. Der Titel der Anthologie ist ein wenig irreführend, weil sie den falschen Eindruck einer besonderen Affinität mit der Befreiungstheologie entstehen läßt.
55
2.23 Drama
Das Drama scheint die am wenigsten bedeutsame Gattung der spanischamerikanischen Literatur zu sein. Dabei
ist es hier - gleichsam im Verborgenen -, wo sich eine religiöse Problematik (oft in existentialistischer
Gewandung) besonders augenfällig in symbolischen Ausdrucksformen "christlichen" Ursprungs manifestiert.
Mit Vorbehalt christlich ist nämlich die Präsenz des Teufels, die GROSSMANN in den Dramen des Argentiniers
Conrado NALÉ ROXLO (El pacto de Cristina, 1945) und des Guatemalteken Carlos SOLORZANO (La mano
de Dios, Mexiko 1956) aufzeigt42. Solórzano hat sich in dem Stück Las celdas (1971) mit jener Affäre um den
Benediktiner-Abt Lemercier in Cuernavaca befaßt, die auch das Interesse des Mexikaners Vicente LEÑERO ge-
funden hat. Dieser ist selbst Verfasser zahlreicher Dramen, in denen eine religiöse Thematik im Vordergrund
steht. Leñero wird in Kap. 10 als Romancier ausführlich behandelt. V. A. BROWNELL hat den religiösen
Aspekten im modernen Drama Lateinamerikas eine ausführliche Untersuchung gewidmet, aus welcher hervor-
geht, daß die meisten bedeutenden lateinamerikanischen Dramatiker religiös-metaphysische Probleme und
Symbole in ihr Schaffen einbeziehen43. Zu erwähnen wären hier neben den bereits genannten Autoren der
Mexikaner Rodolfo USIGLI, der Argentinier Samuel EICHELBAUM und aus Mexiko Emilio CARBALLIDO
sowie Carlos FUENTES mit seinem Stück El tuerto es rey. Der Einfluß des europäischen Existentialismus ist bei
den meisten von ihnen in der Form spürbar, daß "Gott" seine Rolle zwar noch nicht ausgespielt hat, aber gerade
dabei ist, vom Menschen entthront zu werden.
2.24 Cuento
Die Kurzerzählung, der spanischamerikanische cuento, ist eine weitere in großem Ausmaß gepflegte literarische
Ausdrucksform, in der sich das Interesse der modernen Erzähler am Metaphysisch-Religiösen und an christlicher
Symbolik ablesen läßt. Religiös-symbolische Elemente haben hier oft eine primär ästhetische Funktion zu
erfüllen, indem sie für eine Grenzüberschreitung in Richtung auf das Transrationale und Metaphysische
dienstbar gemacht werden. Das gilt besonders für den cuento "fantástico"; in ihm vermag sich das "Unerhörte"
zu kristallisieren, das viele Autoren mit Hilfe dieser Erzählform aufscheinen lassen möchten44. Als
repräsentativen Autor wird man an erster Stelle den Altmeister der modernen Literatur in Spanischamerika,
42 Grossmann 1973. 43 Virginia Anne BROWNELL, Views of religion in contemporary Spanish American and Brazilian
Drama, Pennsylvania State University (Diss.) 1975. 44 Vgl. Edelweis SERRA, Tipología del cuento literario, Madrid 1978, Kap. V.: "El cuento fantástico".
Noch treffender wäre wohl - auch für das von E. Serra Gemeinte - der Begriff des cuento epifánico. Vgl. hierzu: Lida ARONNE AMESTOY, América en la encrucijada de mito y razón. Introducción al cuento epifánico latinoamericano, Buenos Aires 1976.
56
Jorge Luis BORGES (*1899) nennen müssen. Sein Werk ist zum einen reich an metaphysischen,
"epiphanischen" Erzählungen, zum anderen ist die Bibel in ihm allgegenwärtig, wenngleich der Autor die
Religionen nach eigener Aussage nur wegen ihres ästhetischen Gehalts ehrt45. Auf den gleichen "spielerischen"
Umgang nicht nur mit religiöser Symbolik, sondern mit Erzählstoffen biblischen Ursprungs stößt man in den
Falsificaciones (1966) des gleichfalls argentinischen Erzählers Marco DENEVI (*1922). Ein fast obligatorischer
Kunstgriff ist die Verwendung biblisch-christlicher Stoffe und Symbole in den Kurzgeschichten der chilenischen
Generación del 1950. Ein bedeutender Teil der später zu untersuchenden Romanautoren hat in frühen
Erzählungen Stoffe aus der biblisch-christlichen Tradition verarbeitet (z.B. Manuel ROJAS, Carlos DROGUETT,
Augusto ROA BASTOS und Eduardo CABALLERO CALDERON). In vielen dieser cuentos sind noch
Elemente des Symbolismus und Modernismus erkennbar. Sie entführen den Leser häufig in eine Welt des "ganz
Anderen", die kaum Bezüge zur zeitgenössischen Realität Lateinamerikas aufweist. Für das literarische
Experiment, ein Motiv oder Symbol der biblisch-christlichen Tradition narrativ zu entfalten, stellt die Kurz-
geschichte die ideale Form dar: wesentlich schwieriger ist es, einen solchen Nucleus mit der ausladenden
Handlung eines im lateinamerikanischen Hier und Jetzt spielenden Romans zu verknüpfen. Es leuchtet dem
Leser ein, daß eine kurze Erzählung nicht jenen Gehalt an Welt und Wirklichkeit besitzen muß, ohne den die
Großform nicht auskommen kann.
Am spanischamerikanischen cuento zeigt sich allerdings auch, daß das christliche Erbe auf dem
Subkontinent nicht nur in der universalen "biblischen", also Buch-Form, überliefert wurde. Vielmehr ist bis
heute ein reicher Schatz an mündlich tradierten Erzählungen lebendig, in welchen die Religion eine Hauptrolle
spielt. Das Christentum - freilich nur selten in seiner orthodox-dogmatischen Form - steht hier zumindest
gleichberechtigt neben dem, was sich an präkolumbischen Religionen und Mythen erhalten hat, und beide
Stränge gehen häufig eine synkretistische Verbindung ein. Wiederkehrende Figuren und Motive der cuentos
populares46 sind der Hl. Joseph, Petrus und Jesus, Mariendevotionen sowie der Unterweltsbesuch und die Be-
gegnung mit Toten. Immer wieder haben sich spanischamerikanische Schriftsteller für diese Stoffe interessiert
und sie literarisch kultiviert. Allgemein bekannt ist das Beispiel des guatemaltekischen Nobelpreisträgers Miguel
Angel ASTURIAS, der seine Leyendas de Guatemala (1930) zwar mit hohem literarischem Anspruch, aber aus
dem Geiste der volkstümlichen Literatur heraus verfaßt hat. Asturias ist nur einer unter vielen Romanciers, die
Motive der mündlich überlieferten Literatur in ambitiöse Romane einfließen ließen und damit eine künstlerische
Synthese indigener Mythen mit christlich geprägten Legenden und creencias zu schaffen versuchten.
Die cuentos populares mit ihrem Anteil christlicher Motivik konstituieren für viele lateinamerikanische
Erzähler eine lebendige Erzähltradition, von der sie unmittelbar beeinflußt sind. Von mehreren Autoren, etwa
45 Als Beispiele seien genannt: Tres versiones de Judas (in: Ficciones, 1944) und El Evangelio según Marcos (in: El informe de Brodie, 1970).
46 Vgl. die deutschsprachige Sammlung Märchen aus Mexiko. Herausgegeben und übersetzt von Felix KARLINGER und Maria Antonia ESPADINHA, Düsseldorf/Köln 1978. - Der Band enthält 13 derartige Legendenmärchen, die in leicht abgewandelter Form auch in anderen lateinamerikanischen Ländern erzählt werden.
57
Carlos DROGUETT, Gabriel GARCIA MARQUEZ und José María ARGUEDAS weiß man, daß die abend-
lichen Erzählungen der Eltern, Großeltern und Kinderfrauen den ersten Impuls für die eigenen literarischen
Ambitionen darstellten.
2.3 DER NEUERE SPANISCHAMERIKANISCHE ROMAN
2.31 Ein Forschungsüberblick
Durch seinen Realitätsgehalt und das Totalitätsstreben übertrifft der Roman, zumal in der Form, wie er in
Lateinamerika seit etwa Mitte dieses Jahrhunderts gepflegt wird, alle übrigen literarischen Ausdrucksformen bei
weitem. Es ist zu erwarten, daß sowohl das Christentum als wesentlicher Bestandteil der kulturellen Wirklichkeit
als auch biblisch-christliche Symbolik als ein Mittel zur literarischen Bewältigung dieser Wirklichkeit im Roman
ein besonderes Gewicht erlangen. Die zu dieser Problematik vorliegenden übergreifenden Untersuchungen
vermögen diese Vermutung zunächst nicht zu bekräftigen. Die wenigen Studien, die sich explizit mit der
Thematik befassen, sollen im folgenden kurz dargestellt werden. Spezielle Untersuchungen zu einzelnen
Autoren - im übrigen nicht viel zahlreicher - finden in den betreffenden monographischen Kapiteln
Berücksichtigung. Verstreute und unsystematische Bemerkungen finden sich allenthalben; da sie im allgemeinen
jedoch nicht bibliographisch erfaßt werden, kann in dieser Hinsicht kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben
werden. Gerade die aufschlußreichsten Materialien waren bibliographisch nur schwer zu ermitteln, und nicht
selten ist es dem Zufall zu verdanken, daß sie überhaupt einbezogen werden konnten. Als erschwerender
Umstand tritt hinzu, daß es oft Theologen und Ethnologen sind, die sich dem Gegenstand mit größerer
Aufmerksamkeit und umfassenderem Sachverstand widmen als lateinamerikanische Literaturkritiker und
europäische Literaturwissenschaftler mit ihrem teilweise dogmatischen Desinteresse an allem, was mit Religion
zu tun hat. Als gewichtige Beiträge müssen in Anbetracht dessen einige an nordamerikanischen Universitäten
vorgelegte Dissertationen gewertet werden.
Schon im Vorfeld methodologischer Differenzierungen ist die Feststellung möglich, daß das Interesse der
Literaturkritik sich primär darauf richtet, welchen Stellenwert Religion, Glaube und Kirche in der von den
Romanen dargestellten Wirklichkeit erlangen und welche Bewertung sie erfahren. Das Christentum wird hier als
Teil der soziokulturellen, oft auch politischen Realität Lateinamerikas "behandelt". Eine alternative
Fragestellung, die der Struktur moderner Romane eher angemessen zu sein scheint, zielt darauf ab, in welcher
Beziehung das christliche Erbe Lateinamerikas zur Art und Weise der Wirklichkeitsdarstellung steht - eine
Frage, die ja hinsichtlich des "Mythos" im allgemeinen und der autochthonen Mythologien im besonderen das
Interesse seit langem beansprucht. Die Frage ist, ob Stoffen, Motiven und Symbolen der christlichen Tradition
eine vergleichbare Funktion zukommt.
58
Die erstgenannte Problemstellung ist insofern auch weiterhin von Interesse und in dieser Studie ebenfalls
zu berücksichtigen, als davon ausgegangen werden kann, daß eine christlich geprägte Wirklichkeit christlich
geprägte Erzählformen hervorbringt; d. h. die zweite, interessantere Frage kann nicht ohne die erste beantwortet
werden. Daher verdient auch ein Werk von 1951 wie Mary Ellen STEPHENSONs The treatment of religion in
contemporary Spanish American fiction47 Erwähnung. Die Autorin richtet ihr Hauptaugenmerk auf Romane der
30er und 40er Jahre. Dabei gelangt sie zu dem Schluß, daß die spanischamerikanischen Romanciers, sofern sie
nicht sogar eine "zynische" Haltung gegenüber Glauben und Kirche einnehmen, dem Bereich des Religiösen im
allgemeinen sehr kritisch gegenüberstehen48. Wenn auch das Christentum nie Zentralthema sei, beschäftige sich
doch fast jeder Autor dann und wann mit dem Gegenstand; "the tremendous importance of Church in Spanish
American lives" läßt ihnen keine andere Wahl49. Die private Einstellung der Autoren und ihre explizite
Stellungnahme gegenüber dem Glauben hat bei Stephenson großes Gewicht. Einige Einzelbeobachtungen sind
insofern interessant, als die Tendenz der nach 1950 erschienenen Romane in eine ganz andere Richtung weist:
- in der Welt der von Stephenson behandelten Romane ist das Christentum nur selten Träger eines humanitären Impulses50;
- das Erscheinungsbild des Christentums differiert in den einzelnen Nationalliteraturen nur wenig voneinander51;
- die Volksreligiosität, deren Bedeutung für ganz Lateinamerika konstatiert wird, ist für die literarische Darstellung von geringer Relevanz, vor allem dort, wo individuelles und inneres Geschehen (und nicht kollektives, äußeres) im Vordergrund steht52;
- die Figur Christi ist in der Welt der Romane in auffälliger Weise unterrepräsentiert; wenn überhaupt, findet das Motiv der Kreuzigung, nicht das der Auferstehung, Erwähnung; Jesu Lehre ist bedeutungslos53;
- mit der Bibel scheinen die spanischamerikanischen Romanciers, ebenso wie die breite Masse der Bevölkerung, nur oberflächlich vertraut zu sein54.
Neben zahlreichen heute in Vergessenheit geratenen Autoren berücksichtigt M. E. Stephenson auch Erzähler, die
als Wegbereiter der Nueva Novela weiterhin von Bedeutung sind, wie Miguel Angel ASTURIAS, José Rubén
ROMERO, Eduardo MALLEA und José REVUELTAS. Den komplexen Strukturen, die deren Romane
auszeichnen, wird die Untersuchungsmethode allerdings nicht hinreichend gerecht.
47 Chicago/Illinois (Diss.) 1951. 48 Ebd., S. 320. 49 Ebd., S. 23. 50 Ebd., S. 223. 51 Ebd., S. 327. 52 Ebd., S. 23 f. 53 Ebd., S. 118 ff., vgl. S. 323. 54 Ebd., S. 56 u. 321.
59
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der an der religiösen Thematik der lateinamerikanischen
Literatur Interessierte zahlreiche Anregungen bei Rudolf GROSSMANN findet: etwa die, daß die
Reformbestrebungen des II. Vatikanischen Konzils ihren Niederschlag auch in der Literatur finden und daß der
Widerspruch zwischen Volksfrömmigkeit und institutionalisierter Religion sich immer stärker bemerkbar
macht55. Grossmanns Beobachtungen lassen vermuten, daß der Komplex von christlicher Thematik und
Symbolik in der brasilianischen Literatur noch größeres Gewicht hat als in derjenigen der
spanischamerikanischen Länder, wobei die dortige Berührung mit den afroamerikanischen Kulten allerdings
wesentliche Modifikationen zur Folge hat. Leider illustriert Grossmann seine durchaus glaubwürdigen Hinweise
kaum mit Beispielen aus der neueren spanischamerikanischen Erzählliteratur. Die nach 1950 erschienenen
Romane jüngerer Autoren sind in dem Kapitel zur "jüngsten Gegenwart" (1935-1965) zu knapp vertreten.
Grossmann konzentriert sich weitgehend auf den weltanschaulich-kulturellen Einfluß, der in den einzelnen
Epochen - bis heute - vom Christentum ausgegangen ist und die Autoren, und durch sie die Romane, geprägt hat.
Unter diesem Aspekt steht auch seine kurze, aber für unser Anliegen sehr aufschlußreiche Studie "Das Erbe der
Mönche und Conquistadoren"56.
Es ist verständlich, wenn im deutschen Sprachraum der lateinamerikanische Roman auch als ein Mittel
zur Information über die Wirklichkeit des Subkontinents Interesse findet. Auf der Basis dieser
Erwartungshaltung begreift Ronald DAUS die lateinamerikanische Literatur als eine auf die objektive
Wirklichkeit gerichtete "Selbstdarstellung eines Kontinents"57. Der Rang, den die Beobachtungen zum
Christentum und vor allem zur Rolle der Kirche in Lateinamerika einnehmen, entspricht dem historischen
Gewicht der Institution. Wie Daus deutlich macht, geht es vor allem den Autoren des indigenistischen Romans
um Denunzierung der verderblichen politischen Einflußnahme von Klerus und Kirche58. Verschiedentlich
erwähnt der Autor aber auch andere als negative Spuren des Christentums im lateinamerikanischen Roman; er
verweist auf die kulturelle Integrationsfunktion des katholischen Erbes und stellt im Zusammenhang mit der
kolumbianischen Literatur heraus, daß christliches Denken bei einigen Schriftstellern zum Nährboden sowohl
literarischer als auch ethisch-politischer Kreativität wird59.
Ganz ähnlich konzipiert ist Francisco MORALES PADRONs Untersuchung América en sus novelas60.
Hier werden "superstición, sincretismo y catolicismo" als ein Punkt unter Cuestiones sociales beleuchtet, und
zwar wieder so, als handele es sich um ein Material, das die Romanciers distanziert behandelten. Immerhin
konstatiert Morales Padrón gerade auch für die neueren Romane: "Las novelas se detienen bastante en estos
fenómenos religiosos", und er stellt fest, daß sowohl die Volksreligiosität als auch neuere Tendenzen wie etwa
55 Grossmann 1969 (Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur), S. 530. 56 Grossmann 1968 (op. cit.). 57 Ronald DAUS, Zorniges Lateinamerika. Selbstdarstellung eines Kontinents, Düsseldorf/Köln 1973. 58 Ebd., S. 54 ff. 59 Ebd., S. 230 ff. - Weiteres hierzu in dem Eduardo CABALLERO CALDERON gewidmeten 5. Kapitel. 60 Francisco MORALES PADRON, América en sus novelas, Madrid 1973.
60
die Befreiungstheologie in die Romandarstellung eingehen61. Allerdings zielen seine Beispiele eher auf die
Verarbeitung von magisch-mythischen creencias und Synkretismen in verschiedenen Romanen. Es finden sich
Bemerkungen zu Werken von ASTURIAS, CARPENTIER, RULFO, ARGUEDAS, Rosario CASTELLANOS,
VARGAS LLOSA und anderen.
Wenn "Christentum im Roman" nur als Teilaspekt von Arbeiten erscheint, die die gesamte
lateinamerikanische Literatur berücksichtigen wollen, bleibt es deren Autoren versagt, der Komplexität des
Themas auch nur annähernd gerecht zu werden. Daher sind Untersuchungen, die sich auf einzelne Länder
beschränken, oft aufschlußreicher, selbst wenn auch hier Religion nur als ein Thema unter anderen erscheint:
dies gilt etwa für Marta PORTALs Proceso narrativo de la Revolución mexicana62. Die Autorin stellt fest, daß
Antiklerikalismus und Religiosität in der mexikanischen Literatur komplementäre Größen sind. Die Hinweise
auf die Erscheinungsweise und Funktion des Religiösen in den einzelnen Romanen sind zwar nicht umfangreich,
aber differenziert. Die Autorin unterscheidet zwischen materieller Präsenz der Religion und ihrer Verurteilung
auf der gleichen Ebene, der Glaubensproblematik als Teil der Psychologie der Figuren63 (nicht selten treten
katholische Priester in den Vordergrund) und der Präsenz des Christlichen in der symbolischen Struktur der
verschiedenen Romane. Autoren wie José Rubén ROMERO, José REVUELTAS, Carlos FUENTES, Juan
RULFO und Elena PONIATOWSKA sind für Marta Portal in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse.
Trotz des relativen Gewichts des Christentums in der Literatur zeigt sich auch hier der Prestigeverlust, den der
Glaube als Folge der jahrhundertelangen Verwicklung der Kirche in ungerechte Herrschaftsstrukturen erlitten
hat. Als Resümee dieses Strangs ihrer Untersuchung konstatiert die Autorin eine ausencia de intimismo
religioso64, was bemerkenswerterweise nicht dem Fehlen religiöser Thematik und Symbolik gleichkommt.
Daß das Christentum in Mexiko mit einer Problematik eigener Art behaftet ist, war bereits im vorigen
Kapitel angeklungen. Dies hat Emilio CASTAÑEDA am Beispiel der Romane von Agustín YAÑEZ, José
Rubén ROMERO, Juan RULFO und Carlos FUENTES detailliert untersucht65. Besonderer Wert kommt der Ar-
beit dort zu, wo im Zusammenhang mit dem Werk Juan Rulfos auf die symbolischen Strukturierungen
eingegangen wird, die ihren Ursprung in den typisch mexikanischen creencias haben, in deren "Bann" die
erzählte Wirklichkeit und die Figuren zu stehen scheinen. An den untersuchten Romanen wird vor allem ein
traditioneller Zug des spanischamerikanischen Katholizismus deutlich: daß nämlich Religion hier mehr mit dem
Tod als mit dem Leben zu tun hat66. Mit Rulfos Pedro Páramo scheint der Punkt erreicht, wo christlich
61 Ebd., S. 84. 62 Madrid 1980. 63 Ein "conflicto íntimo religioso" wird etwa in einigen Romanen von Carlos FUENTES durchgespielt,
besonders in Las buenas conciencias (Ebd., S. 242; vgl. u. S. 108 f.). 64 Ebd., S. 344 ff. 65 V. Emilio CASTAÑEDA M., El catolicismo y la revolución. La muerte en 4 novelas mexicanas, Univ.
of New Mexico (Diss.) 1979. 66 Ziel der Arbeit ist es, "to examine the effects produced by a life oriented toward death because of a
religious environment in which people are immersed." (Ebd., S. V.)
61
geprägte Vorstellungen als "Mythos" die Weltsicht des Romans konfigurieren: "La angustia mexicana y la
creencia mexicana en las almas de los difuntos en pena, pasan a la categoría de mitos universales en Pedro
Páramo."67 Man wird sich fragen, ob nicht doch der typisch mexikanische bzw. spanischamerikanische
Charakter dieser Weltsicht überwiegt. Der universelle Gehalt des Christentums - auch des Katholizismus -
kommt in diesen Romanen nicht zum Tragen. Die Lehre der Kirche scheint aus Mexiko und seiner Literatur ein
Reich der Hoffnungslosigkeit gemacht zu haben.
Ein ganz anderes Bild erzeugen die Studien von Román LOPEZ TAMÉS zur Literatur eines anderen
Landes, in dem die katholische Tradition ebefalls sehr großes Gewicht hat, nämlich Kolumbien68. López Tamés
erwähnt zahlreiche Autoren, die Zeugnis davon ablegen, daß das Christentum - freilich erst 15 - 25 Jahre nach
Pedro Páramo - nicht nur Hemmschuh, sondern auch Impulsgeber revolutionärer Entwicklungen sein kann. Die
Figur nicht nur des Priesters, sondern auch des cura revolucionario nach dem Vorbild von Camilo Torres tritt im
kolumbianischen Roman der 60er und 70er Jahre sehr häufig in den Vordergrund69.
Wieder anders schlägt sich das christliche Erbe in der Literatur der La-Plata-Region nieder, die
Gegenstand einer Arbeit von Rose Lee HAYDEN ist70. Es entspricht dem kulturellen Profil dieser Länder, daß
die religiöse Problematik sich hier als psychologische Agonie hochindividualisierter Romanfiguren manifestiert.
Die existentielle Frage nach Sinn und Ziel des menschlichen Daseins stellt sich in ähnlicher Form wie in der
zeitgenössischen, stark existentialistisch beeinflußten europäischen Literatur dar. R. L. Hayden untersucht einige
der mitunter als novelas metafísicas qualifizierten Romane von Eduardo MALLEA, Carlos ONETTI, Ernesto
SABATO und dem weniger bekannten Carlos MAZZANTI. Mehr als einer dieser Autoren gestaltet das Motiv
der metaphysischen Suche unter Rückgriff auf religiöse Symbolik. Was die Frage nach Gott anbelangt, so
unterstreicht die symbolische Gestaltung freilich eher seine Abwesenheit. Aus der Studie geht hervor, daß in
Lateinamerika und besonders im La-Plata-Raum gerade diejenigen existentialistischen Philosophen stark rezi-
piert wurden, die das christliche Erbe und das Postulat der Transzendenz nicht über Bord geworfen haben, wie
etwa Karl JASPERS, HEIDEGGER, Gabriel MARCEL und Nikolai BERDYAEV71. Obwohl im Falle
Mazzantis auch auf eine eventuelle Christus-Symbolik hingewiesen wird, interessiert sich die Autorin primär
dafür, wie in diesen Romanen die Frage nach Gott bzw. dem Sinn der menschlichen Existenz diskutiert wird,
und nicht so sehr für die strukturelle Relevanz religiöser Bildlichkeit und Symbolik.
Wieder ganz anders stellt sich die religiöse Thematik in den Andenländern dar, wo die indigene Kultur
und durch sie das vorchristliche Substrat weiterhin großes Gewicht haben. Den "figuras religiosas en la novela
peruana contemporánea" widmet Miguel VALLE einen überaus informativen Aufsatz, der sich keineswegs - wie
67 Ebd., S. 135 (mit Bezug auf eine Beobachtung Brushwoods). 68 Román LOPEZ TAMÉS, La narrativa actual de Colombia y su contexto social, Valladolid 1975. 69 Vgl. u. S. 95 f. u. Abschn. 5.1. 70 An existential focus on some novels of the River Plate, Michigan State University 1973 (Monograph
Series, 10). 71 Ebd., S. 24.
62
der Titel zunächst vermuten läßt - auf Priesterfiguren beschränkt72. Hier finden Romane von César VALLEJO,
Ciro ALEGRIA, José María ARGUEDAS, Mario VARGAS LLOSA, Julio Ramón RIBEIRO und Alfredo
BRYCE ECHENIQUE Berücksichtigung. Zwar fragt auch Valle in erster Linie nach der Beurteilung, welche
Religion und Kirche als sozio-kulturelle Kraft in der Roman-Wirklichkeit erfahren. Er ist jedoch einer der
wenigen, die erkennen, daß hier auch in der Literatur einiges in Bewegung geraten ist. Seine Untersuchung
beginnt mit dem Abschnitt "La religión bajo el signo de lo mágico" und endet mit "Hacia una religión de
autonomía" und "Religión y liberación". Dabei sind es erstaunlicherweise der bereits 1938 verstorbene, vor-
nehmlich lyrische Dichter César Vallejo und José María Arguedas, die in ihren Werken einer für die Welt
offenen, zukunftsweisenden Religiosität eine Chance geben73.
Von großem Interesse sind die Überlegungen, die von theologischer Seite zu dieser religiös-literarischen
Problematik beigesteuert wurden. Nicht zu unterschätzen ist zunächst die Tatsache, daß Gustavo GUTIÉRREZ,
der ebenfalls peruanische Initiator der Teología de la liberación sein gleichnamiges Hauptwerk mit einem Zitat
von Arguedas einleitet und mehrfach literarische Beispiele in seine Argumentation einfließen läßt74. Später hat
er den religiösen Aspekten in Arguedas' Werk noch einen umfangreichen Essay gewidmet75 .
Verständlicherweise beschäftigt die Theologen vornehmlich die Frage nach dem Glauben oder Unglauben der
Romanfiguren, oder sie interessieren sich für die oft tief verborgene Religiosität einzelner Autoren. In seiner
Untersuchung "La religión en la reciente literatura latinoamericana"76 fragt Fernando GUILLÉN PRECKLER
aus der Perspektive eines zwar wohlwollenden, aber offenbar doch um die einzige Wahrheit wissenden
Katholiken nach dem mehr oder weniger "authentischen" Glauben der Romanfiguren, der "presencia de la
religión" in der dargestellten Wirklichkeit und nach der religiösen oder auch antireligiösen tesis in den Werken
dreier Autoren. Untersucht werden im einzelnen Juan RULFOs El llano en llamas, Carlos FUENTES' Las
buenas conciencias und Alejo CARPENTIERs El siglo de las luces. Aus der abschließend gegebenen Zusam-
menfassung spricht eine gewisse Enttäuschung, denn zu einer Gestaltung des "wirklichen" Christentums, wie es
offenbar der Verfasser selbst vor Augen hat, findet keiner der drei Romanciers. Als mögliche Ursache wird
eingeräumt, daß es sich in der historischen Wirklichkeit Spanischamerikas, welcher sich Guillén Preckler durch
die Erzählwerke hindurch nähern möchte, bisher nicht realisiert haben könnte. Bemerkenswert ist vor allem die
Analyse von El siglo de las luces, weil aus ihr hervorgeht, daß Carpentier mit diesem Werk - Los pasos perdidos
in mancher Hinsicht noch übertreffend - eine Bestandsaufnahme der Kultur, insbesondere der religiösen Kultur,
72 Miguel VALLE, "Las figuras religiosas en la novela peruana contemporánea", in: Latinoamérica (México), 12 (1979), S. 189-208.
73 Ebd., S. 206. - Eine Untersuchung, die sich ausschließlich mit Priesterromanen befaßt, sich aber auf ein breiteres Gebiet und einen früheren Zeitraum bezieht und nicht zuletzt deshalb weit hinter Valle zurück-bleibt, ist: Juan TERLINGEN, "La novela del sacerdote en las literaturas hispanas", in: Clavileño, VII, 39 (1956), S. 14-18; vgl. id., De katolieke literatuur in Spaans-Amerika van 1900 tot beden, Antwerpen 1954.
74 S. o. S. 33 f. 75 Gustavo GUTIÉRREZ, Entre las calandrias (in einem Band mit Trigo 1982). 76 In: Analecta Calasanctiana, XXV, 49 (1983), S. 39-69.
63
Lateinamerikas geliefert hat. Tatsächlich ist es die Aufklärung mit jener "Explosion in der Kathedrale", welche
die scheinbar unüberwindbaren Fronten zwischen "Gläubigen" und "Ungläubigen" geschaffen hat, die als
Wurzel der religiösen Situation im 20. Jahrhundert gelten können. Die Chance eines "reaparecer del
cristianismo"77, die für Guillén Preckler in dem Roman in Symbolen und Metaphern, im unerschütterlichen
Glauben Sofías sowie in der "admiración del autor por el fenómeno en cuanto tal" aufleuchtet, eröffnet daher in
der Diktion des Theologen auch für das heutige Lateinamerika "un horizonte a la verdadera dimensión definitiva
del hombre"78.
Der wohl aufschlußreichste und auch quantitativ bedeutsamste Beitrag, der bisher zu unserer Problematik
geliefert wurde, stammt von dem venezolanischen Jesuitenpater Pedro TRIGO DURA. In seiner Studie "El
cristianismo popular en la nueva novela latinoamericana"79 sammelte und analysierte er die in den Romanen
reichlich präsenten "Datos sobre la religiosidad popular". Als Corpus dienen die wichtigsten Werke von José
REVUELTAS, Juan RULFO, Manuel SCORZA, Juan José ARREOLA, Gabriel GARCIA MARQUEZ, Miguel
Angel ASTURIAS, Mario VARGAS LLOSA und Juan Carlos ONETTI. Nach dem Urteil Trigos erfassen die
Autoren sehr wohl die historisch bedingte Ambivalenz des lateinamerikanischen Christentums und gelangen
teilweise zu einer "captación del espíritu cristiano", auch wenn sich keiner von ihnen als bekennender Christ
bezeichnen würde80. In einigen Romanen spiegele sich sogar "la dura lucha del pueblo por liberarse - con su
horizonte incierto o sombrío, pero con agónica persistencia - como la pasión de Cristo, como un cristo sufriente,
aún sin resurreción, pero sin sumisión tampoco a la fatalidad"81. Der neue Roman ist für Trigo ein privilegiertes
Mittel des Zugriffs auf die intrahistoria des lateinamerikanischen Volkes. Als Theologe interessiert er sich in
erster Linie für die sozioreligiöse Wirklichkeit und beläßt die spezifisch literarische Problematik - ohne sie ganz
zu vernachlässigen - im Hintergrund. Mit dieser Einschränkung hat Trigos 1980 vorgelegte Dissertation zur
Rolle der kirchlichen Institution in der Nueva Novela als wichtigster und auf jeden Fall stoffreichster, wenn auch
etwas unübersichtlicher Beitrag zu gelten82. Von meiner Studie unterscheidet sich Trigos Arbeit vor allem durch
ihre primär thematische Ausrichtung: es geht um die Rolle der Kirche - vornehmlich vertreten durch ihre Priester
- in der von den einzelnen Romanen dargestellten Wirklichkeit. Wenngleich der Verfasser literarkritische
Methoden fruchtbringend anwendet, ist sein Erkenntnisinteresse vornehmlich theologisch-ekklesiologischer
Natur. Aus dieser Warte begibt Trigo sich auf die Suche nach "figuras laceradas, pero fecundas, verdaderos
77 Ebd., S. 63. 78 Ebd., S. 69. 79 In: EQUIPO SELADOC (Ed.), Religiosidad popular, Salamanca 1976 (Urfassung 1973), S. 241-259. 80 Ebd., S. 258. 81 Ebd., S. 258 f. 82 Pedro TRIGO, La institución eclesiástica en la Nueva Novela Latinoamericana, Madrid: Pontificia
Universidad de Comillas, 1980 (unveröffentlichte Dissertation; dank des Entgegenkommens der Universidad de Comillas konnte ich die überaus umfangreiche Arbeit bei einem Besuch in Madrid einsehen).
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centros de solidaridad, capaces de atravesar hasta la misma muerte."83 Wie kaum einer der bisher erwähnten
Kritiker wird er der Tatsache gerecht, daß die Literatur die Möglichkeit besitzt, eine eigene, relativ autonome
Wirklichkeit zu gestalten, so daß das in den Romanen konfigurierte Christentum nicht unbedingt ein Abbild des
religiösen Status Quo Lateinamerikas sein muß: wo Trigo in der Struktur der Romane nach "figuras
cristológicas", dem "paradigma de Jesús", sucht, zielt seine Fragestellung auch auf die christliche Symbolik der
Romane und trifft sich mit der unseren. Aber auch die iglesia liberadora, die in einigen Werken die alte iglesia
moribunda84 zu überwinden beginnt, ist eine solche "christologische Figur". Romane, in denen die Kirche kein
explizites Thema ist, fallen damit freilich heraus. Wichtige Werke, die detailliert untersucht werden, sind
REVUELTAS' El luto humano, ASTURIAS' El señor presidente, ONETTIs Juntacadáveres, ARGUEDAS' El
zorro de arriba y el zorro de abajo, SCORZAs Redoble por Rancas, MARECHALs Megafón und ROA
BASTOS' Hijo de hombre. Nach dem Urteil Trigos spiegelt die Gesamtheit der Romane eine Entwicklung wider,
in deren Verlauf die Kirche zu einer positiveren Einstellung gegenüber dem lateinamerikanischen Volk gelangt:
"muere al orden establecido y resucita al pueblo", wie er es in einer Kapitelüberschrift formuliert.
Einen José María ARGUEDAS gewidmeten Auszug aus seiner großen Arbeit konnte Trigo zusammen
mit dem bereits erwähnten Essay von Gustavo GUTIÉRREZ 1982 in Lima veröffentlichen85. Der Wert des
Bandes liegt vor allem darin, daß er die religiös-theologische Problematik des neueren spanischamerikanischen
Romans langsam auch ins Bewußtsein einer beklagenswert desinteressierten Literaturkritik vordringen läßt.
Mehr als in seinen früheren Studien bringt Trigo in der introducción zu dieser Arbeit zum Ausdruck, daß er der
Erzählliteratur eine theologische Eigendynamik zuerkennt. Zwar wird ein expliziter Bezug zur
Befreiungstheologie hergestellt, aber die Literatur wird nicht als bloßer Reflex der sozioreligiösen Wirklichkeit
begriffen: "La nueva novela y la teología de la liberación serían dos manifestaciones homogéneas en el horizonte
complejo de la liberación latinoamericana."86 Etwas verwundert ist allerdings gerade der theologische Laie
darüber, daß hier von kompetenter Seite so oft und anscheinend überstürzt Berührungspunkte und Parallelen
zwischen mythischem Bewußtsein und religiösem bzw. christlichem Glauben gesehen werden87. Gerade
angesichts der modischen Aktualität des Mythos-Begriffs scheint hier eine vorsichtigere Gangart angebracht.
"Mythos" ist nichtsdestoweniger ebenso wie "Symbol" ein Begriff, der eine Brücke zwischen den
Bereichen der Religion und der Literatur, der Theologie und der modernen Literaturkritik schlägt. Im Gefolge
des neuen Interesses am Mythisch-Symbolischen in der Struktur - also nicht in der dargestellten Wirklichkeit -
neuerer Romane, hat die Literaturkritik auch verstreute Erkenntnisse zu spezifisch literarischen Konsequenzen
des christlichen Erbes in Lateinamerika zutage gefördert. In diesem Zusammenhang darf freilich nicht vergessen
83 Ebd., S. XV. 84 Ebd., S. 31. 85 Arguedas: mito, historia y religión. 86 Ebd., S. 13. 87 Vgl. S. 27: "Mito es, pues, con otra palabra religión". Der "hombre mítico" erscheint als "portador de la
esperanza de la liberación" (S. 270).
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werden, daß das Interesse an Mythos und Magie und an archetypischer Religiosität zwar an Autochthones
anknüpfen kann, aber keine lateinamerikanische Erfindung ist, sondern im wesentlichen aus Europa importiert
wurde. Initialzündungen gingen vom Surrealismus (André BRETON), von der modernen Ethnologie (Claude
LÉVI-STRAUSS) und der vergleichenden Religionswissenschaft (Mircea ELIADE) aus.
Zunächst scheint es daher auch gerechtfertigt, daß Leo POLLMANN den neuen Roman Lateinamerikas
zu dem französischen Nouveau Roman in Beziehung setzt88. Im Verlauf seiner Analyse verschiedener
bedeutender Romane des Zeitraums 1948-196389 stößt Pollmann immer wieder auf eine Symbolik
biblisch-christlichen Ursprungs, wie etwa in El señor presidente, wo sie seiner Deutung nach "zum Aufleuchten
eines magischen Augenblick-Sinns" führt90. Das Christliche erscheint als ein Teil des Tellurisch-Magischen und
als letzter Rest einer zumal in Europa überwundenen Denkweise. Bei den meisten untersuchten Romanautoren
konstatiert Pollmann entweder Anlehnung an oder Auseinandersetzung mit "christlichen Denkstrukturen", zu
denen für ihn offenbar auch das sehr oft verarbeitete Motiv des descensus ad inferos gehört91. Verzerrungen
ergeben sich daraus, daß Pollmann das Christentum a priori mit einem überholten, "konservativen" Bewußtsein
assoziiert. Das zeigt sich an der krassen Fehleinschätzung von Augusto ROA BASTOS' Hijo de hombre: das
Werk wird als christlicher und daher restaurativer Thesenroman abgetan92. Jene Periode, in der besonders viele
von biblisch-christlicher Symbolik getragene Romane entstanden sind - 1956-1959 -, ist für Pollmann die Zeit
der "restaurativen Antithese". In der "großen Synthese", auf die etwa die Romane von Ernesto SABATO und
Carlos FUENTES hinzielen, scheint indessen eine durchaus positiv bewertete "vertikale Transzendenz"
aufzuleuchten93. "In der explizit metaphysischen Sorge in Lateinamerika"94 liegt demnach sogar jene
Gemeinsamkeit, welche die soziologischen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen in den Hintergrund
treten läßt, und zugleich schafft sie eine Brücke zu Europa, insbesondere zu Frankreich und seinem Nouveau
Roman.
In Günter W. LORENZ' Darstellung der zeitgenössischen Literatur in Lateinamerika95 sucht man
vergebens nach einer fundierten Auseinandersetzung mit den Spuren des Christlichen im neueren Roman.
Beobachtungen, die sich angesichts der Werke von CARPENTIER, ROA BASTOS und GARCIA MARQUEZ
88 Leo POLLMANN, Der Neue Roman in Frankreich und Lateinamerika, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968.
89 Eine Beschränkung, die sich der Verfasser auferlegt, liegt in der Konzentration auf die "Höhenkamm-Literatur" Lateinamerikas.
90 Ebd., S. 54. 91 Etwa bei A. Carpentier (S. 91). 92 S. 160 f., vgl. u. S. 435 f. - Dem gleichen Verdikt fällt der große brasilianische Roman von Joao
GUIMARAES ROSA, Grande Sertao. Veredas (1956) zum Opfer, in dem Gott und Teufel wichtige Strukturelemente sind.
93 Ebd., S. 201 u. 209. 94 Ebd., S. 250. 95 Günter W. LORENZ, Die zeitgenössische Literatur Lateinamerikas. Chronik einer Wirklichkeit. Motive
und Strukturen. Tübingen/Basel 1971.
66
aufdrängen, erschöpfen sich in vordergründigen Kategorisierungen wie "magischer Realismus", "Hiobs-Gestalt"
und "biblische" Struktur, obwohl der Untertitel, der auf "Motiven und Strukturen" insistiert, hier ein
differenziertes Interesse vermuten ließe. Wie so viele andere scheint auch Lorenz von dem "mythischen" Gehalt
des lateinamerikanischen Romans so fasziniert, daß das christliche Erbe als wesentlicher Bestandteil auch der
"mestizischen" Kultur nicht der Rede wert zu sein scheint.
Eine Motivstudie, die diese Bezeichnung wirklich verdient und auch die Beziehungen zwischen
literarischer Imagination und der Faktizität der kulturellen Überlieferung berücksichtigt, ist die bereits erwähnte
Arbeit von Rudolf GROSSMANN zum "Teufel in der lateinamerikanischen Literatur" (1973). Nach Grossmanns
Darstellung hat die Rekurrenz des Teufels, die übrigens nicht auf die moderne Literatur Lateinamerikas
beschränkt ist96, ihre Wurzeln sowohl im autochthonen Volksglauben mit seinen magischen Vorstellungen als
auch in der literarisch-kulturellen Tradition Europas. Wie der Autor ebenfalls sieht, gehört der Teufel nur
bedingt zu dem in unserem Sinne relevanten Inventar "christlicher" Symbole, und die Frage nach der
"Christlichkeit" der untersuchten Autoren bleibt auch für Grossmann weiterhin offen.
Daß viele scheinbar christliche Elemente des neueren hispanoamerikanischen Romans eher in der
magisch-mythischen Tradition der Volkskultur des Subkontinents stehen, geht auch aus der Arbeit von Dieter
JANIK (Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts.
Geschichtliches Erbe und kulturelle Tendenz)97 hervor. Hier wird hauptsächlich nach der literarischen
Bedeutung des Magisch-Mythischen in Spanischamerika gefragt: Janik zeigt aber auch, wie religiöse
Ausdrucksformen spanisch-katholischen Ursprungs sich mit magischen Vorstellungen und Praktiken vermischen
und in dieser Form zu Strukturelementen neuerer Romane werden. Einige Erzähler, z. B. Ciro ALEGRIA und
José María ARGUEDAS, gestalten die enge Verbundenheit des andinen Menschen mit der Natur, den
Mitmenschen und dem Kosmos als eine kulturelle Zukunftsperspektive; die Wiederentdeckung einer "religiösen"
Wirklichkeitsauffassung geht also mit einem Strukturwandel im hispanoamerikanischen Roman, dem Übergang
von der "allegorischen" zur "symbolischen" Darstellungsweise einher. Gerade vor dem Hintergrund dieser
Untersuchung wäre nun zu fragen, wie sich denn die konkurrierende oder komplementäre kulturelle Tradition
und Wirklichkeitsauffassung, nämlich die durch das Christentum begründete, im Roman der letzten Jahrzehnte
niedergeschlagen hat und ob auch sie literarische und sozio-kulturelle Zukunftsperspektiven eröffnet.
Auch in der lateinamerikanischen Literaturkritik hat die Frage nach dem "Mythischen" in der eigenen
Literatur Mitte der 70er Jahre starken Auftrieb erhalten. Man erkannte zunehmend die Bedeutung des
Symbolischen für die Nueva Novela, machte sich unter Einfluß der Ideen C. G. JUNGs an die Interpretation
archetypischer Sinnfiguren in den Romanen und entdeckte dabei auch jenen Symbol-Code neu, der seinen
96 Vgl. z. B. José María SOUVIRON, El príncipe de este siglo. La literatura moderna y el demonio, Madrid 1967 (Souvirón ist ein chilenischer Autor, der auch Erzählungen verfaßt hat), und Heinrich SCHIRMBECK, "Der moderne Jesus-Roman. Die Wiederkehr des Teufels", in O. Mann, op. cit., S. 445-463.
97 Tübingen 1976.
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Ursprung in der biblisch-christlichen Tradition hat, der nun aber nicht wegen seines spezifisch christlichen
Wertes, sondern wegen seiner mythisch-archetypischen Implikationen interessierte. Neben den Kulturen des
Ostens und Altamerikas erkennt man das (prämoderne) Christentum als eine Tradition, auf deren Basis man der
unter dem Ansturm von Materialismus und Positivismus geistig und geistlich verarmten abendländischen Kultur
entgegentritt. Dieser Haltung sind vor allem zahlreiche Studien zur modernen lateinamerikanischen Literatur
verpflichtet, die seit 1972 in dem Buenosairenser Verlag García Cambeiro in der Reihe Estudios
Latinoamericanos erschienen sind. Ein führender Kopf dieser Gruppe von Kritikern ist Graciela MATURO; als
eine Art Manifest dieser Nueva crítica kann der von ihr herausgegebene Band Hacia una crítica literaria
latinoamericana98 gelten. Graciela Maturo ist zugleich Herausgeberin der seit 1974 erscheinenden Zeitschrift
Megafón, deren Titel die Orientierung an Leopoldo MARECHAL verrät, jenem Wegbereiter des neuen
symbolischen Romans in Hispanoamerika99.
Als Anwendung dieser Konzeption ist Graciela Maturos Interpretation der symbolischen Elemente im
Werk von GARCIA MARQUEZ zu lesen96. Angesichts ihrer Methoden und Ergebnisse melden sich in
zweifacher Hinsicht Bedenken an: zum einen steht spezifisch christliche (z. B. Christus-)Symbolik qualitativ
undifferenziert neben Symbolen anderen religiös-kulturellen (z. B. alchimistischen) Ursprungs. Ziel der Deutung
ist letztlich die Reduktion auf interkulturelle archetypische Strukturen; zum anderen erweist sich gerade im Falle
von García Márquez der Versuch einer exhaustiven Symboldeutung als problematisch: die ernsthafte
Auseinandersetzung mit jeder einzelnen symbolischen Anspielung verführt zu grenzenlosen, oftmals
esoterischen Spekulationen, die dem "Spiel"-Charakter seiner symbolischen Schreibweise unangemessen sind97.
98 Buenos Aires 1976; s. hierin besonders Graciela MATURO, "Sobre la reintegración de la crítica a la cultura latinoamericana". "Reintegration" hat auch eine metaphysische Bedeutung; vgl. auch folgende Einzelbeiträge: Liliana BEFUMO BOSCHI, "Descubrimiento de la realidad latinoamericana"; Eugenio CASTELLI, "Bases semióticas para una crítica hermenéutica"; Graciela RICCI, "La búsqueda del sentido. Cinco momentos y un método". Sämtliche Aufsätze weisen auf das Gewicht des Symbolischen in den neueren Romanen hin und unterstreichen seine "transzendierende" Funktion.
99 Folgende Passage aus dem Vorspann der Zeitschrift Megafón erhellt das Selbstverständnis dieser literarkritischen Strömung:
"¿Y no han sido en medio de todo las intuiciones arquetípicas de la humanidad, los grandes mitos culturales por ellas engendrados, los que han venido conduciendo un proceso de sentido, la única posibilidad de sentido rescatable en nuestro convulso acontecer? O la historia es un proceso mecánico y desprovisto de finalidad, o bien las escrituras proféticas (tanto judías como de los otros pueblos, en distintos grados de la revelación que se va abriendo a los hombres) adquieren peso y real virtualidad histórica.
A esa posibilidad de futuro hemos apostado en estos tiempos de tiniebla. Hemos recogido la antigua predicción de una última tierra destinada a generar un nuevo tiempo. Sentimos ser la nueva tierra y el nuevo cielo del que hablan los profetas bíblicos. Pero también hallamos esas resonancias lejanas en nuestros propios pensadores, poetas y conductores próximos. Está en el pensamiento de San Martín y de Bolívar, en el de Martí y Rubén Darío, en el de Ugarte y Rodó, en el de Octavio Paz, Marechal y Sábato."
96 Claves simbólicas de García Márquez, Buenos Aires 21977 (11972). 97 Ähnliches gilt für die Werke von MARECHAL, LEZAMA LIMA, CARPENTIER und CORTAZAR.
Eine ausschließlich werkimmanente Symbolanalyse führt bei diesen Autoren ins Uferlose. Die
68
Das Verdienst größerer thematischer Kohärenz und stärkerer Konzentration auf ein Zentralmotiv kommt
Fernando AINSAs Studie Los buscadores de la utopía. La significación novelesca del espacio latinoamericano
zu98. Sie ist symptomatisch für die Methode zahlreicher nicht nur lateinamerikanischer Literaturkritiker, die in
einzelnen Romanen archetypische Motivstrukturen aufdecken und diese dann mit Begriffen wie Paradies,
Himmel, Hölle, Antichrist und Apokalypse fassen, die für den abendländischen Leser zwar "christlich"
markiert sind, hier aber etwas rein Strukturelles, religiös gänzlich Neutrales bezeichnen99.
Nur ausnahmsweise befassen sich Literaturkritiker - am wenigsten solche aus Spanischamerika - mit der
explizit christlichen Symbolik im neueren Roman. Wenn, dann geschieht es im Zusammenhang mit Autoren,
bei denen etwa eine Christussymbolik absolut unübersehbar ist wie bei Augusto ROA BASTOS. Im Rahmen
seiner Analyse von dessen Werk hat David William FOSTER zwar zu einer übergreifenden Erforschung der
Christusmotivik und -symbolik im spanischamerikanischen Roman angeregt100; von der theologisch
ausgerichteten Studie TRIGOs abgesehen, liegt dennoch bisher nur ein Versuch vor, die Christussymbolik in
mehreren Romanen parallel zu untersuchen, nämlich der zitierte Aufsatz von Rosa M. CABRERA aus dem Jahre
1982. Hier finden folgende Erzählwerke Erwähnung: Esteban ECHEVERRIA, El matadero; Eduardo CABA-
LLERO CALDERON, El Cristo de espaldas; Augusto ROA BASTOS, Hijo de hombre; José Rubén ROMERO,
La vida inútil de Pito Pérez; Gabriel GARCIA MARQUEZ, Cien años de soledad und Severo SARDUY, De
dónde son los cantantes. In einer Studie so beschränkten Umfangs war es der Autorin freilich nicht möglich, ihre
Beobachtungen in angemessener Weise methodologisch zu fundieren, so daß hier Christus-Symbolismen
heterogener Struktur und unterschiedlichen Stellenwerts nebeneinanderstehen und auch nicht viel mehr als ihre
Existenz konstatiert werden kann. Eine literargeschichtliche oder kulturelle Interpretation erfolgt nicht. Aus ihrer
Analyse zieht die Autorin lediglich den Schluß, daß das Christus-Symbol in der neueren Literatur nicht nur in
den von der Glaubenstradition vorgegebenen Schemata gedeutet wird; seine Verarbeitung in der Literatur
entspreche vielmehr der "conflictiva identidad que aflige al hombre de Hispanoamérica"101.
Interpretation darf die jeweiligen außerliterarischen, z. B. religiös-kulturellen oder biographischen Kon-texte nicht aus den Augen verlieren.
98 Caracas 1977. 99 Nur eine Passage sei zur Illustration dieser Kritik zitiert: "Latinoamérica cumple en esta novelística del
movimiento centrípeto parte de un mito bíblico: trata de dar forma, transformando y adaptando a la escala de las conciencias de sus héroes esta turbulencia caótica que sigue siendo la raíz de su identidad. Esto se llama Génesis [...]" (ebd., S. 272; Hv. n. o.). Die Erwähnung von Bibel und Genesis hat hier eine metaphorische Funktion. Bezeichnend ist auch das mythische Verständnis der Bibel, das ihrer religiösen, christlichen Interpretation jedoch gänzlich zuwiderläuft, wenngleich nicht bezweifelt werden kann, daß sie mythologische Stoffe und Motive enthält.
100 The myth of Paraguay in the fiction of Augusto Roa Bastos, Chapel Hill 1969, S. 25 (Anm. 8). 101 Cabrera, S. 233.
69
2.32 Christentum und religiöse Symbolik im Schaffen moderner spanischamerikanischer
Erzähler: eine Hinführung auf die Problematik in Kurzanalysen
Die zweite Abteilung der soeben besprochenen Forschungsbeiträge umfaßte Arbeiten, die durch eine neue,
symbolische und transgressive, nicht mehr nur auf die sozioökonomische Faktizität gerichtete Erzählweise
stimuliert wurden. Spätestens seit den 50er Jahren wird sie von immer mehr lateinamerikanischen Romanciers
angestrebt. Obwohl das Panorama der Forschung dies nur unzureichend widerspiegelt, stellt die
biblisch-christliche Tradition für sie einen Symbol-Code dar, der mindestens gleichbedeutend neben Mythen und
magischen creencias steht, die ihren Ursprung entweder auf südamerikanischem Boden oder in der
Bildungstradition des Abendlandes haben. Um zunächst nur einmal einen Eindruck von der rein quantitativen
Bedeutung des Christlich-Religiösen in der neueren spanischamerikanischen Erzählliteratur zu vermitteln,
werden im folgenden ca. 40 Autoren in knapper Form vorgestellt und die Präsenz des christlichen Elements in
ihrem Werk kurz charakterisiert. Es leuchtet ein, daß nur eine kleine Auswahl der in Betracht kommenden
Autoren mit ihren Romanen einer detaillierten Analyse unterzogen werden kann. Andererseits gestattet es die
Komplexität des Problems nicht, auf ein sehr differenziertes Vorgehen zu verzichten. Eine methodologisch
strenge Analyse und Deutung der Werke von acht Autoren, die hinsichtlich Funktion und Stellenwert der christ-
lichen Symbolik in ihrem Schaffen tatsächlich vergleichbar sind, erfolgt im Hauptteil dieser Arbeit. Dort werden,
besonders im Falle Kolumbiens und Chiles, weitere Autoren erwähnt, sofern deren Werk als
literargeschichtlicher Kontext für die eingehender behandelten Romanciers von Bedeutung ist. Das folgende
Repertorium der im weiteren Sinne bei unserer Fragestellung interessierenden Autoren erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, wenngleich auffallen wird, daß auch weniger bekannte bzw. in Europa kaum gelesene Ro-
manciers Erwähnung finden. Bewußt wurde auf die Nennung einer Vielzahl weiterer Autoren verzichtet, deren
Werke in bundesdeutschen Bibliotheken nicht verfügbar sind und über die in Literaturgeschichten nichts zu
erfahren war102. Auch die zu den neuesten Autoren gegebenen bibliographischen Angaben bedürfen zweifellos
der Ergänzung. Unsere Auflistung, die ja erst zur Gewinnung thematischer und struktureller Kriterien hinführen
soll, folgt der Einfachheit halber einem geographischen (nach Regionen und Ländern) und einem
chronologischen Schema (nach Geburtsjahren der Autoren bzw. dem Zeitpunkt ihres Hervortretens als
Romanautoren). Der Schaffensschwerpunkt der meisten hier interessierenden Erzähler liegt nach 1925. Obwohl
sich bereits in jenen Jahren hier und dort (etwa bei Miguel Angel ASTURIAS) eine Überwindung der
traditionell-realistischen Schreibweise ankündigt, arbeiten viele der erwähnten Autoren weiterhin mit den
überkommenen Darstellungsmitteln; es werden somit Romane, in denen Christentum, Kirche und Glauben als
Thema behandelt werden, neben solchen genannt werden, in denen christliche Symbolismen verschiedenster
Natur Bedeutung erlangen.
102 Über sie informieren neben Verlagsankündigungen auch die kurzen Inhaltsangaben im Handbook of Latin American Studies.
70
2.321 Argentinien
Daß Jorge Luis BORGES (1899-1986) als Altmeister der modernen Literatur in Lateinamerika in seinem
vielfältigen Schaffen gerne auf biblisch-christliche Stoffe und Symbole zurückgreift, um sie in
spielerisch-unorthodoxer, aber nicht areligiöser Manier zu verarbeiten, wurde bereits im Zusammenhang mit
dem cuento angesprochen. Der Verweis auf das Trans-Reale geschieht in seinem Werk kraft einer Imagination,
die Versatzstücke der Universalkultur - unter anderem Biblisches und Theologisches - frei kombiniert, ja "fin-
giert"103. Borges' literarisches Vermächtnis dürfte die Präsenz biblisch-christlicher Symbolik in der modernen
Literatur Lateinamerikas wesentlich beeinflußt haben.
Neben Kolumbien ist Argentinien das Land, wo der traditionelle, kirchliche Katholizismus den größten
kulturellen Einfluß besessen hat; hier ist nicht die Volksreligiosität der bedeutendste Träger des Glaubens,
sondern es gibt bzw. gab auch unter den Intellektuellen und bedeutenden Schriftstellern gläubige Katholiken.
Einer von ihnen ist Manuel GALVEZ (1882-1962). In seinen Romanen, etwa El mal metafísico (1916) und
Miércoles Santo (1930) wird "ein von der Kirchenlehre gelöster Katholizismus erkennbar". Oft werden seine
Protagonisten in unaufdringlicher Weise dem Glauben zugeführt104. Sein Einfluß auf andere Romanciers, etwa
den Uruguayer Francisco ESPINOLA, ist beachtlich.
Hugo WAST (d. i. Gustavo MARTINEZ ZUVIRIA, 1882-1962) hat von einem festen katholischen
Standpunkt aus an die 50 Romane verfaßt. Er dürfte einer der meistgelesenen argentinischen Autoren sein; 1957
waren 2,5 Millionen Exemplare seiner Romane und Erzählungen verkauft; sein Werk ist auf der Grenzlinie zur
Konsum- und Trivialliteratur anzusiedeln105 (wie übrigens viele Romane anderer, wenig bekannter Autoren,
die schon im Titel auf Biblisches oder Religiöses anspielen und damit offenbar ihren Verkaufserfolg steigern)
und umfaßt Titel wie: Espera contra toda esperanza (1944), Lo que Dios ha unido (1945), ¿Le tiraría usted la
primera piedra? (1955) und 666106 (1942), eine Vision von der Herrschaft des Antichrist im Jahr 2000, wo
103 Vgl. Vicente CANTARINO, "Borges, filósofo de Dios: argumentum ornithologicum", in: Thesaurus, 31:2 (1976), S. 288-299; Leo POLLMANN, "El espantoso Redentor. La póetica inmanente de Historia universal de la infamia", in: Revista Iberoamericana, 108/09 (1979), S. 459-73; Oswaldo ROMERO, "Dios en la obra de Jorge Luis Borges: su teología y su teodicea", in: Revista Iberoamericana, 100/101 (1977), S. 465-501; Emma Susanna SPERATTI PIÑERO, "Judas en la obra de Borges", in: Homenaje al Instituto de Filología y Literaturas Hispánicas. Dr. Amado Alonso en su Cincuentenario, 1923-1973, Buenos Aires 1975, S. 401-409; Carter WHEELOCK, The mythmaker: a study of motif and symbol in the short stories of Jorge Luis Borges, Austin (Texas) 1969.
104 Grossmann 1969, S. 422 u. 417 f.; vgl. Donald F. Brown, "The catholic naturalism of Manuel Gálvez", in: Modern Language Quarterly, 9 (1948), S. 165-176; G. ARNOLD CHAPMAN, "Manuel Gálvez y Eduardo Mallea", in: Revista Iberoamericana, 37 (1953), S. 71-78; Myron A. LICHTBLAU, Manuel Gálvez, New York 1972; Terlingen 1956; Esther H. TURNER, "The religious element in the works of Manuel Gálvez", in: Hispanófila, 38 (1970), S. 59-67.
105 Vgl. Grossmann 1969, S. 474, der Wasts Schreibweise allerdings gegen den Vorwurf der Trivialität in Schutz nimmt. Vgl. Robert Stanley WHITEHOUSE, "Amistades literarias: Hugo Wast", in: Revista Iberoamericana, 17 (1951/52), S. 109 u. 108.
106 666 ist in der Offenbarung des Johannes (13, 18) die Zahl des Antichrist.
71
eine schöne Frau versucht, die Geistlichkeit zur Apostasie zu verführen. Hugo Wasts Beispiel zeigt, wie
Biblisches und Religiöses auch eingesetzt werden können, um dem Sensationsbedürfnis einer breiten Lesermasse
entgegenzukommen.
Anders als die beiden letztgenannten Autoren zählt Eduardo MALLEA (1903-1970), der mit Gálvez
freilich einiges gemeinsam hat107, zu den Wegbereitern der Nueva Novela108, die sich im La-Plata-Raum
zunächst als novela metafísica manifestiert. Der Titel und die Motti seines berühmtesten Romans Todo verdor
perecerá (1941) sind biblischen Ursprungs109. Es sind prophetische Texte, die von drohendem Unheil künden;
in ihnen kristallisiert sich die Atmosphäre der existentiellen Auswegs- und Hoffnungslosigkeit, die über dem
eher statischen als dynamischen Romangeschehen liegt. Die Bibel ist nicht nur in der Sprache, sondern auch in
der erzählten Wirklichkeit präsent: das dichterische Wort der Propheten ist für den Vater der Hauptfigur - selbst
ein "ateo evangelizante" - "el eco de una distante, ininteligible poesía". In ihr findet seine "existencia gris y
pasiva" einen "vuelo ampuloso"110. Das Religiöse ist in Form zahlreicher biblischer Anspielungen gegenwärtig,
weist aber in paradoxer Weise gerade auf seine eigene ausencia hin. Gerade dadurch, daß Gott ständig
beschworen wird, erweist sich in tragischer Weise seine Abwesenheit: das Leben ist der verdorrte Feigenbaum
aus dem Lukas-Evangelium, aber es besteht keine Hoffnung auf neue Fruchtbarkeit111. Das Leiden an dieser
Tragik läßt sich dennoch als prophetisches Vorzeichen einer "nueva transcendencia" deuten, als Suche nach
einem "nuevo Dios desconocido"112. Zu Malleas 1953 erschienenem Roman Chaves bemerkt PICON SALAS:
"el protagonista se nos trueca en una especie de Cristo popular cuyo dolor y cuyo amor son un símbolo de la
humanidad entera."113
Nicht weniger bedeutend und fast von monumentalem Charakter ist das Werk von Leopoldo
MARECHAL (1900-1970). Sein wichtigster und größter Roman Adán Buenosayres (1948) ist eine Art
107 Vgl. Chapman. 108 Vgl. John S. BRUSHWOOD, The Spanish American Novel, Austin/London 1978, S. 131-134. 109 Jes 15, 6; als zweites Motto folgt ein Spruch aus dem Ekklesiastes (Kohelet) 9, 12: "No sabe el hombre
su fin: sino que como los peces son cazados en el anzuelo y las aves aprehendidas con el lazo, así los hombres son cazados en el tiempo malo cuando de improviso les sobreviniere".
110 Eduardo MALLEA, Todo verdor perecerá, in: id., Obras completas, I, Buenos Aires 1961, S. 1004 f. 111 Für Luis B. EYZAGUIRRE ist Malleas Roman das pessimistische Gegenstück zu Manuel ROJAS' Hijo
de ladrón (s. u., Kap. 6); so wie dort die Hoffnung das Lemma der menschlichen Existenz sei, so bei Mallea die Angst. Beiden Romanen wird eine existentialistische Filiation bescheinigt.
112 Mario PICON SALAS, "Prólogo", in: Mallea, Obras completas, S. 20 u. 17; vgl. Emilio SOSA LOPEZ, La novela y el hombre, Madrid 1968, bes. S. 121 f. (hier finden sich Hinweise zum symbolischen Charakter von Malleas Romanfiguren und zur religiösen Dimension seines Denkens und Schreibens im allgemeinen). Die Bibliographie zu Mallea ist reichhaltig; eine kommentierte Bibliographie, die mehrere in unserem Zusammenhang interessierende Titel aufweist, findet sich in Hispania, 62 (1979), bes. S. 444. Hervorhebung verdienen die Arbeiten von Herbert GILLESSEN (Themen, Bilder und Motive im Werke Eduardo Malleas, Genf 1966) und Porfirio SANCHEZ, "Aspectos bíblicos en Todo verdor perecerá", in: Romance Notes, 14 (1973), S. 469-475.
113 Picón Salas, S. 10; vgl. Sosa López, S. 135, wo es heißt: "tiene [...] la simplicidad y la plenitud de una narración evangélica".
72
rioplatensischer Ulysses. Der immer wieder durchscheinende, mit dem Geschehen korrelierte "Mythos" inspiriert
sich jedoch nicht so sehr an dem homerischen Epos als an DANTEs Divina Commedia und ist schon dadurch mit
der christlichen Tradition innig verbunden114. Sofern es sich um einen "Schlüsselroman" handelt, wird man sich
fragen, ob das Werk nicht eher allegorischen Charakter trägt115. Auch wenn in dem Roman die abendländische
Bildungstradition in ihrer ganzen Vielfalt verarbeitet zu sein scheint, so dominieren doch die Verweise auf einen
christlichen Neuplatonismus, als dessen thesenhafte Illustration der Roman streckenweise anmutet116. Adán
Buenosayres ist der initiatorische Roman einer metaphysischen Suche. Die erzählte Wirklichkeit und die
Sprache, in der sie vermittelt wird, konstituieren einen wahren Wald von Symbolen und Metaphern117, in deren
"Lektüre" der Protagonist Adán eingeführt wird; seine Bestimmung ist, als "Leser der Welt" (350) zur
Erkenntnis der "cosas de allende" (334) zu gelangen. Sein Weg durch Buenos Aires ist eine
kontinuierliche : die Johannes-Apokalypse ist denn auch neben der Genesis einer der von Anfang an
präsenten biblischen Texte (z. B. 14 u. 72). Auch Christus ist ein Leitmotiv des Romans und zwar zunächst in
Form einer Statue des Cristo de la Mano Rota, für die sich in der Stadt außer Adán allerdings kaum noch jemand
interessiert (78). Christus scheint ohnmächtig geworden zu sein; seine Bedeutung wird unter der lauten,
modernen Massenkultur begraben: darauf weist die Evokation jener biblischen Szene hin, in welcher der Pöbel
von Pilatus die Kreuzigung Jesu fordert (312). Neben dem biblisch-christlichen werden noch weitere
Symbol-Codes aktiviert; die antike Mythologie ist präsent, von Kabbala und Alchimie ist die Rede, vom
Judentum und vom Islam: der Roman ist in ähnlicher Weise ein symbolischer fourre-tout wie die großen Werke
von LEZAMA LIMA, CARPENTIER und CORTAZAR. Marechals 1966 erschienener Roman El banquete de
Severo Arcángel bestärkt noch diese in Spanischamerika recht seltene Tendenz zum ausgesprochen religiösen,
vom katholischen Glauben inspirierten Roman118. 1970, in Marechals Todesjahr, erschien Megafón, von dessen
Wirkung auf die Literaturkritik bereits die Rede war. Pedro Trigo hat gezeigt, daß in diesem Roman, in dem sich
Mystik und Politik verbinden, ein Motiv Gewicht erlangt, das ihn mit verschiedenen anderen Werken verbindet,
in welchen auf symbolischer Ebene die Problematik des lateinamerikanischen Christentums zum Ausdruck
kommt: während die offizielle Kirche im Kult eines toten Christus zu erstarren droht, erscheint gleichzeitig die
Vision eines lebendigen Christus, der sich von seinem Kreuz befreit119. Ein Bischof verbindet gar den in dieser
Weise auferstehenden Erlöser mit einer eindeutig politischen - in diesem Fall der peronistischen - Option und
114 Reminiszenzen an das Dantesche Epos finden sich in vielen neueren spanischamerikanischen Romanen, bzw. die Kritik wird nicht müde, auf Parallelen hinzuweisen. Dem allzu häufigen Schlagwort von den infiernos dantescos wird man zunächst allerdings besser mit Skepsis begegnen.
115 Vgl. die "Aufschlüsselung", die der Autor selbst nachgeliefert hat: Leopoldo MARECHAL, Las claves de Adán Buenosayres, Mendoza 1966.
116 Franco 1980, S. 361 f. 117 Vgl. Leopoldo MARECHAL, Adán Buenosayres, Buenos Aires: Sudamericana, 1966, S. 333 (weitere
Belegstellen in Klammern). 118 Vgl. Franco 1980, S. 352 u. Dieter REICHARDT, Schöne Literatur lateinamerikanischer Autoren. Eine
Übersicht der deutschen Übersetzungen mit biographischen Angaben, Tübingen 1971, S. 100. 119 Trigo 1980, S. 113 f.
73
gerät dadurch in Konflikt mit der Hierarchie120. Der historische Irrtum, dem Marechal gemeinsam mit diesem
Bischof und dem argentinischen Volk unterlegen ist, wurde dem ebenso großen wie problematischen Romancier
nicht selten zur Last gelegt.
Manuel MUJICA LAINEZ (*1910) verlegt das Geschehen seiner Romane mit Vorliebe in andere
Epochen, oft auch in andere Länder und Erdteile. Im Laufe der Jahre tritt das Mythische und Symbolische in
seinem Werk immer mehr in den Vordergrund. Die Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen
Wirklichkeit Lateinamerikas sind allerdings spärlich. Mythos und Symbol fungieren eher als literarästhetische
Mittel zur Erzeugung einer Aura des Mysteriösen und Phantastischen121. In El viaje de los siete demonios (1974)
strukturiert das theologische Konzept der sieben Todsünden, vertreten von sieben durch die Weltgeschichte
reisenden Teufeln, das Romangeschehen. Die ausführlich geschilderte Hölle ist ebenfalls ohne Dante nicht
denkbar und spielt auf die politischen Zustände in Argentinien und Lateinamerika an. Das Werk ist eine weitere
Illustration der Popularität des Teufels in der spanischamerikanischen Literatur und verweist in
humorvoll-ironischer Weise auf einige creencias der Volksreligiosität.
Ernesto SABATO (*1911), ursprünglich selbst ein bedeutender Naturwissenschaftler, ist als Schriftsteller
zum entschiedenen Gegner einer szientistisch-positivistischen Wirklichkeitsauffassung geworden und trat auch
als Theoretiker einer neuen novela metafísica hervor122. Aus verschiedenen Interviews geht hervor, daß Sábato
in seinen Romanen das Mythische und Religiöse bewußt zur Überwindung einer "realistischen Schreibweise"
einsetzt. Ähnliche Funktionen erfüllt bei ihm die Verwendung von Traumbildern, in denen sich das Irrationale
und Unterbewußte der menschlichen Existenz spiegelt123. Es ist symptomatisch, daß die etablierte Kirche für
ihn eher ein Element der Desakralisierung ist. Was er vor Augen hat, ist "cierto tipo de religioso (quizá el más
profundo) que es, que tiene que ser anticlerical. Las iglesias objetivan la religión y la pervierten. Los místicos
tienen que volver a las fuentes."124 Sábatos Romane mit ihrer oft schwer faßbaren Symbolik sind in diesem
Sinne ein Hort der stets entgleitenden Transzendenz. In Sobre héroes y tumbas (1961) - besonders in dem
Informe sobre ciegos, das im Mittelpunkt des Romans steht - wird der Leser immer wieder mit Reflexionen über
Gott und das Religiöse im allgemeinen konfrontiert125: der Weg des Protagonisten stellt sich hier zwar als ein
"Höllenabstieg" dar, ist aber zugleich ein "peregrinaje hacia la deidad" (386). Der 4. Teil ist El Dios desconocido
überschrieben. Die vielfältigen symbolischen Elemente des Romans sind allerdings nicht ausschließlich und
120 Ebd., S. 116 f. 121 Kessel SCHWARTZ, A New History of Spanish American Fiction. Volume II: Social Concern,
Universalism and the New Novel, University of Miami Press 1971, S. 239 ff. 122 Vgl. seinen Aufsatz von 1966 Por una novela novelesca y metafísica. 123 "Ernesto Sábato", in: Günter W. LORENZ, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen/Basel 1970, S. 124 ff.,
und Javier CRISTALDO, "Entrevista a Sábato", in: Khipu, 8 (1981), S. 36-42. 124 Ebd., S. 40. 125 Ernesto SABATO, Sobre héroes y tumbas, Barcelona: Planeta, 1968, S. 263, 265 u. 293.
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primär christlich, sondern entstammen den verschiedensten Traditionen126. Explizit auf biblischer Bildlichkeit
fußt der 1974 erschienene Roman Abaddón el exterminador. Titel und Motto entstammen der
Johannes-Apokalypse (9, 11). Der apokalyptischen Bedrohung, die über dem Roman ebenso schwebt wie über
der gesamten modernen Zivilisation, vermag Sábato, der selbst eine Figur des Romans ist, allerdings nichts
weiter entgegenzusetzen als die ästhetische Wirklichkeit dieses und des "metaphysischen" Romans überhaupt127.
Es ist freilich kein christlicher Glaube128, sondern eine satanisch-luziferische Mythologie, die hier als Bollwerk
gegen einen Rationalismus etabliert wird, der die Menschheit in den Untergang zu führen droht129.
Symbolismen verschiedenster Provenienz hat auch Julio CORTAZAR (1914-1984) in seinem nicht
weniger metaphysischen Hauptwerk Rayuela (1963) verarbeitet130 . Auch wenn der Zielpunkt der
metaphysischen Suche der Hauptfigur mitunter als cielo oder paraíso erscheint, ist es - wie Wiltrud IMO gezeigt
hat - eben die Metaphorik des Zen-Buddhismus, in welcher die "immanente Religiosität" des Romans zum
Ausdruck kommt131. In der Erzählung El perseguidor steht hingegen der biblische Symbol-Code im
Vordergrund132. Hier werden - wie bei Sábato, aber konsequenter - Bilder aus der Johannes-Apokalypse in
Korrelation zum Geschehen gesetzt. Die biblische, transzendierende Symbolik illustriert hier die Suche nach
dem "Zugang zu einer Wirklichkeit, die über die sichtbare, erklärbare Wirklichkeit hinausgeht"133. Aber auch
eine ausgesprochene Christus-Symbolik ist in dieser Erzählung präsent134. Selbst wenn man sich fragen mag,
ob dies alles, ebenso wie Cortázars Verwendung des Ausdrucks mi prójimo, in diesem Zusammenhang den
Rückschluß auf eine intensive Beschäftigung mit dem Christentum zuläßt, wäre zumindest zu ergänzen, daß
Cortázar in späteren Jahren seinem Interesse an der Praxis eines "anderen" Christentums literarische Gestalt
gegeben hat. Die apokalyptische Bedrohung ist allerdings auch dort spürbar, wo Cortázar - wie in dem cuento
126 Vgl. Lilia DAPAZ STROUT, "Sobre héroes y tumbas: Mito, realidad y superrealidad", in: Actas del Cuarto Congreso [...] Vol. I, S. 365; s.a. ead., "Sobre héroes y tumbas: Misterio ritual de purificación. La resurrección de la carne", in: Juan LOVELUCK, Novelistas hispanoamericanos de hoy, Madrid 1976, S. 197-235.
127 Vgl. Gustav SIEBENMANN, "Ernesto Sábato", in: Wolfgang EITEL [Hg.], Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1978, S. 87; Siebenmann sieht in dem Roman einen "Gegenmythos".
128 Auch hier wird das kirchliche Christentum verworfen, nicht aber der religiöse Impuls, der durch dieses nur verdeckt wird: "el arte, los sueños, el mito, el espíritu religioso" bilden eine "revolutionäre" Einheit (Sábato, Abaddón el exterminador, Barcelona: Seix Barral, 1984, S. 197).
129 Vgl. Karl KOHUT, "Una novela para defender la novela: Abaddón, de Ernesto Sábato", in: Iberoromania, 5 (1976 [erschienen 1980]), S. 82-111.
130 Für Graciela Maturo liegt dem Werk Cortázars die gleiche spirituelle Symbolik zugrunde, wie sie von ihr bei García Márquez untersucht worden ist (Maturo 1977, S. 158).
131 Wiltrud IMO, Wirklichkeitsaufssung und Wirklichkeitsdarstellung im Erzählwerk Julio Cortázars. Con un resumen en español, Frankfurt/M. 1981, S. 223 ff.
132 Ebd., S. 96-103. 133 Ebd., S. 99. 134 Ebd., S. 101. - Das nicht nur apokalyptische, sondern auch evangelische Symbol der puerta wird von
Carlos DROGUETT in El compadre in ähnlicher Weise verwendet (s. u. S. 395).
75
mit dem Titel Apocalipsis de Solentiname - von seinem Besuch bei Ernesto Cardenal und seiner comunidad
erzählt135.
Der besonders als Essayist bekannte und bereits erwähnte Héctor Alvarez MURENA (1923-1975) hat
auch in seinen Romanen und Erzählungen Christlich-Symbolisches verarbeitet. In der Erzählung El centro del
infierno (1956) erlangt Judas als Verräter Christi gottähnliche Macht. In Murenas gesamtem Erzählwerk
illustriert eine Bildlichkeit christlicher Herkunft - es überwiegen die düsteren Elemente wie Teufel, Hölle, Judas
und Kain - die demonización de la tierra136. Seinem tiefen, heillosen Pessimismus verleiht der Autor auch in
dem Roman Caína muerte (1971) Ausdruck. Hier wird in extrem grotesker Weise die Vision eines Dorfes
entworfen, das gänzlich der Macht von Tod und Teufel verfallen ist. Auch die Welt dieses Romans wird Opfer
eines apokalyptischen Untergangs. Abgesehen von dem dämonisierenden Grundtenor wird keine durchgehende
Symbolik des Geschehens konstruiert. Im Vordergrund steht der skurrile und teilweise obskure Redefluß des
Erzählers, in dem religiöse Reminiszenzen in Form metaphorischer Streiflichter aufblitzen137. Bei zahlreichen
Romanen basiert zwar nicht die Strukturierung des Geschehens auf biblisch-christlichen Erzählstoffen oder
Vorstellungen, wohl aber ist die Ebene des Diskurses von den religiösen Traditionen des christlichen
Abendlandes deutlich beeinflußt. Hier wirken die im Katholizismus überlieferten Verhaltensmaßstäbe und
Wertvorstellungen fort, die wiederum die Psychologie der Handelnden und eventuell der Erzählerfigur
mitprägen. Dies wäre ein Teilaspekt im Erzählwerk von Manuel PUIG (*1931). Im Vordergrund steht bei ihm
allerdings die weltanschauliche Konditionierung der argentinischen Unterschicht durch die moderne
Massenkultur. Für Elías Miguel MUÑOZ ist indessen Sangre de amor correspondido (1982) eine
Infragestellung des "discurso religioso judeocristiano que ha predominado en Occidente desde tiempo
inmemorial"138. Ebenso wie die in Puigs gesamtem Romanwerk vom Medium Kino vermittelten Wert- und
Verhaltensklischees sei hier die Bibel sprachliches Werkzeug der Oppression. Mittels parodistischer Gestaltung
werde vom Autor eine Aufdeckung dieser Mechanismen angestrebt. Wenn Gott als "peligro público número
135 In: Julio CORTAZAR, Alguien que anda por ahí, Barcelona: Bruguera, 1980, S. 77-88 (entstanden 1976; ebenfalls enthalten in: J. C., Nicaragua tan violentamente dulce, Barcelona 1984).
136 Aínsa, S. 403; vgl. Manuel VIRASORO, "El cristianismo en un libro de Murena", in: Estudios, 533 (1962), S. 189-198.
137 La metáfora y lo sagrado ist denn auch der Titel einer 1974 in Buenos Aires erschienenen Aufsatzsammlung, die sich allerdings besonders auf die lyrische Rede bezieht.
138 Elías Miguel MUÑOZ, "Sangre de amor correspondido y el discuro del poder judeocristiano", in: Revista Iberoamericana, 130/131 (1985), S. 74. - Darüber hinaus glaubt Múñoz eine auf der Bibel basierende "mythische" und zyklische Struktur des Geschehens ausmachen zu können. Hier liegt wieder jene weitverbreitete Fehlinterpretation der Bibel vor, bei der sich zudem zwei verschiedene "Mythos"-Begriffe vermischen, nämlich der des narrativen "Monomythos", wie er von Joseph CAMPBELL dargestellt wurde, und der des "ideologischen" Mythos, wie er bei Roland BARTHES begegnet. Für Múñoz ist die Bibel Garant des eterno retorno - ein ihrer Intention fundamental entgegensetztes Verständnis. Das gleiche Prinzip erkennt der Kritiker in Puigs früherem Roman La traición de Rita Hayworth (1981). Die im großen und ganzen überzogenen Behauptungen von Múñoz erhellen weniger Puigs Erzählweise als seine persönlichen Vorurteile und Mißverständnisse gegenüber dem Christentum. - Der Roman spielt im übrigen in Brasilien und hat es somit mit einer christlichen Tradition ganz eigener Art zu tun.
76
uno" denunziert wird, so steht dahinter wieder das Zerrbild des mythischen "bösen Gotts", welcher der
Selbstverwirklichung des Menschen im Wege steht139. Judeocristianismo wird fälschlicherweise mit "Mythos"
gleichgesetzt, und als solcher ist er hier eine die Unterdrückung festschreibende, nicht eine befreiende Kraft.
2.322 Uruguay
Die Themen und Motive der Literatur des Nachbarlands Uruguay, die ebenfalls einen ausgeprägt urbanen
Charakter hat, unterscheiden sich kaum von denen der argentinischen Romane. Bemerkenswert ist allerdings
auch, daß Uruguay als das "säkularisierteste" aller lateinamerikanischen Länder gilt140. Ein frühes Beispiel für
ein Werk, das eine strukturell relevante Christussymbolik enthält, ist Sombras sobre la tierra (1933) von
Francisco ESPINOLA (1901-1973). Für Alberto ZUM FELDE ist der Held dieses dostoievskihaft metaphysi-
schen Romans ein "Cristo en el prostíbulo"141. Tatsächlich weisen nicht nur seine Initialen (Juan Carlos) auf
die Ähnlichkeit mit Jesus Christus hin; das Motto aus dem Lukas-Evangelium orientiert bereits die
Wahrnehmung des Lesers: "Y como llegó cerca, viendo la ciudad, lloró sobre ella." Die moderne Großstadt - la
ciudad pulpo - und das Bordell als symbolhafte Verdichtung ihrer düsteren Seiten sind gleichsam die "Hölle",
der sich die christusähnliche Hauptfigur voller Mitleiden nähert, zugleich erfüllt von dem Streben, die "ge-
fallenen" Mitmenschen zu erlösen. Gleichzeitig klingt die tragische Gottesferne des modernen Menschen in dem
refrainartig wiederkehrenden Eli, Eli, lema sabachtani an. Als Gegenpol tritt aber auch der ebenso unorthodoxe
wie innige, mit messianischen Elementen durchsetzte Glaube der Armen in Erscheinung, und stellenweise sieht
es so aus, als sei hier eine fast schon befreiungstheologische "revolutionäre" Auferstehung möglich, inspiriert
von Bibel und Volksglauben142. Die aufflackernde Hoffnung wird in diesem Roman allerdings auf fatale Weise
von der Realität niedergewalzt - nicht zuletzt als Folge des Versagens von Juan Carlos: er erscheint als
halbherziger bürgerlicher Rebell aus der "Oberwelt". Francisco Espínola ist einer der Exponenten des Wandels,
nicht nur der uruguayischen, sondern der hispanoamerikanischen Literatur überhaupt. Besonderes Interesse
verdient Sombras sobre la tierra wegen der durchgängigen Präsenz einer symbolischen - nach Aínsa "allegori-
139 Múñoz, S. 81 f.; der Kritiker zitiert hier zum Beleg eine Passage aus Rita Hayworth: "tal vez Dios sea una fuerza sádica que se regocija en contemplar el sufrimiento".
140 Rama, S. 111. 141 Alberto ZUM FELDE, Indice crítico de la literatura hispanoamericana. La narrativa, t. 2, México
1959, S. 448 f. - Vgl. Jorge RUFFINELLI, "Paco Espínola, un buceador de almas", in: id., Crítica en marcha, México 1979, S. 228-233, bes. S. 231, u. Aínsa, S. 383-398. - Das Titelbild der hier zitierten Ausgabe (Montevideo 1969) zeigt die Holzplastik eines leidenden Christus.
142 Eine dynamische Verarbeitung der volkstümlichen "ritual superstición" versucht Espínola auch in seinen cuentos; vgl. hierzu Mario BENEDETTI, "Francisco Espínola: el cuento como arte", in: id., Literatura uruguaya siglo XX, Montevideo/Buenos Aires 1963, S. 57-61.
77
schen" - Dimension143. Streckenweise bleibt der Roman freilich einem naturalistischen Gut-Böse-Schema
verhaftet, in dem sich Hell und Dunkel, "the spirit and the flesh"144, ihr ewiges Duell liefern.
Das Werk von Juan Carlos ONETTI (*1909), der anders als sein Landsmann Espínola bereits zu den
Hauptautoren der Nueva Novela zählt, hat in weitaus größerem Maße das Interesse der Literaturkritik auf sich
gezogen. Die recht deutliche Präsenz einer anscheinend christlichen Symbolik, vor allem in seinen Romanen El
astillero (1961) und Juntacadáveres (1964) - die biblischen Namen der Hauptfiguren etwa und die Aktivitäten
eines Priesters - haben unterschiedliche Interpretationsversuche herausgefordert145. Zunächst handelt es sich
wohl um nicht mehr als um den Reflex eines seiner ursprünglichen Funktion und Wahrhaftigkeit beraubten
"katholischen Substrats"146, das nun in grotesken Widerspruch zu einer jeglichen Sinns und aller Transzendenz
beraubten Wirklichkeit tritt: die Funktion der religiösen Symbolik scheint gerade im Hinweis auf ihre
Unangebrachtheit zu bestehen. Damit läge eine ironische Verwendung biblisch-christlicher Symbole vor147. Die
Sakralisierung des Bordells als "Kirche" bzw. als Ort, an dem paradoxerweise eine urkirchliche Solidarität und
Unschuld herrscht, hat Onetti mit Espínola und zahlreichen anderen lateinamerikanischen Autoren
gemeinsam148. Vor allem läßt sich aber mit EYZAGUIRRE die Werft, eine "impotente, aunque difunta
empresa", deren Gründer den Namen "Jeremías Petrus" trägt, als Symbol der römisch-katholischen Kirche oder
143 Aínsa, S. 385; "allegorisch" ist hier wohl kaum als Gegenbegriff zu einer möglichen symbolischen Erzählweise zu verstehen, sondern verweist auf die Korrelierung mit dem biblischen Christus-Geschehen, welche der etwas chaotischen Erzählung eine strukturelle Achse verleiht: "el símbolo es lo más real de este mundo entre dos luces" (Valverde, S. 378).
144 Schwartz, S. 167. 145 Vgl. Emir RODRIGUEZ MONEGAL, "Onetti oder die Entdeckung der Stadt", in: Mechtild
STRAUSFELD [Hg.], Materialien zur lateinamerikanischen Literatur, Frankfurt 1977, S. 183: "die allegorische Dichte der Erzählung selbst [...] regen [sic!] irgendwie dazu an, hinter der Handlung von Die Werft nach christlichen Symbolen zu suchen".
146 Jaime CONCHA, "Sobre Tierra de nadie de Juan Carlos Onetti", in: Loveluck, S. 78: "Con esto, es legítimo ir sospechando que, tras la obra de Onetti, actúan determinaciones de una conciencia religiosa cuyos lejanos estertores resuenan, como en ecos truculentos, en estas escenas de horror y de pesadilla. El catolicismo ha sabido contaminar a las sensibilidades de Hispanoamérica y de cualquier parte con morbosas, contradictorias experiencias de delectación y pánico ante la carne dañada. El sentimiento bíblico de la enfermedad como castigo por el pecado, la impregnación obsesiva de la fantasía infantil por un Infierno cuya única misión es torturar al cuerpo, el régimen cotidiano de postrimerías a que la Iglesia por largo tiempo sometió a sus fieles, son algunos elementos que operan, indirecta y subrepticiamente, sobre la concepción del escritor uruguayo." - Auf Tierra de nadie bezieht sich auch Katalin KULIN, "The myth of Job in the works of Juan Carlos Onetti and Salvador Espriu", in Actes du 9e Congrès de l'Association Internationale de Littérature Comparée (Innsbruck 1979), T. 4, Innsbruck 1982 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 53), S. 397-402.
147 Franco 1980, S. 391 f. ("lo puro es impuro, lo impuro es inocente"). Nach Franco kämpfen in Santa María unter anderem der Positivismus gegen die "Religion"; doch die beiden Mächte unterscheiden sich hier kaum.
148 Lloyd Hughes DAVIES, "Use of irony in Juan Carlos Onetti's El astillero", in: Iberoromania, 17 (1983), S. 121-130; Luis Mario SCHNEIDER, "La iglesia de Onetti: el prostíbulo", in: Texto Crítico, 18-19 (1980), S. 87-89; in Juntacadáveres versucht eine Romanfigur - Marcos (!) Bergner - eine "urchristliche Gemeinde" zu gründen. Vgl. Gordon BROTHERSTON, The emergence of the Latin American Novel, Cambridge University Press 1977, S. 69.
78
des religiösen Glaubens überhaupt deuten149. Indessen tritt bei Onetti ja auch die reale Kirche in die Handlung
ein, wo sie sich eindeutig gegen das Volk mit der Macht kompromittiert150. Zusammen mit der recht stringent
eingesetzten christlichen Symbolik weist alles "Kirchliche" bei Onetti letzten Endes auf eine mala fe, wenngleich
das Bedürfnis des Menschen nach Glauben und Sinn ernst genommen wird.
2.323 Chile
Die neuere Geschichte des Christentums und der Kirche in Lateinamerika weist Chile als einen Sonderfall
aus151. Die Ausnahmestellung, durch welche das Land im Rahmen dieser Untersuchung besondere
Aufmerksamkeit verdient, spiegelt sich auch in der Literatur und gipfelt in der symbolischen Darstellungweise,
die als fast durchgängiges Strukturmerkmal der in den 50er Jahren verfaßten Romane hervortritt. Erzähler wie
Manuel ROJAS und Carlos DROGUETT sowie Autoren der sogenannnten Generación del 50 greifen vielfach
auf biblische Stoffe und Motive zurück, und nicht wenige von ihnen bemühen sich um eine Auseinandersetzung
mit der Figur Christi und ihren symbolischen Implikationen, wobei eine ausgesprochen "katholische"
Perspektive durchaus die Ausnahme bleibt. Den Autoren dieser Strömung wird im Hauptteil dieser Arbeit ein
eigenes Kapitel gewidmet, in dessen Rahmen auch die literarische Vorgeschichte Berücksichtigung findet. Hier
sollen lediglich zwei Romanciers erwähnt werden, deren Schaffensschwerpunkt in die Zeit nach diesem boom
der biblisch-christlichen Symbolik fällt.
Da wäre zum einen José DONOSO (*1925) zu nennen, der im weiteren Sinne ebenfalls der Generation
von 1950 zuzurechnen ist. Ein Strukturprinzip von El lugar sin límites (1966) ist das "correlato mítico cristiano",
jedoch in Form einer Inversion152. Hauptfiguren und Pole des Geschehens sind der Transvestit Manuela in
seinem Bordell einerseits und der Kazike und Weingutsbesitzer Don Alejo Cruz andererseits. Er trägt zahlreiche
Züge des biblischen Gottes, ist jedoch in Wirklichkeit Garant einer infernalischen Ordnung, eine weitere
literarische Inkarnation des "bösen Gottes"153. Die sprachliche Darbietung intensiviert die religiöse Überhöhung
149 Eyzaguirre, S. 258. - Im Romantext wird die Werft explizit als "templo desertado de una religión extinta" bezeichnet (Juan Carlos ONETTI, El astillero, Ed. de Juan Manuel GARCIA RAMOS, Madrid: Cátedra, 1983, S. 198).
150 Trigo 1976, S. 249. 151 S. o. S. 22 f. sowie die "Zwischenbemerkung", S. 268 f. 152 Marcelina Elvira ALAVIA TICONA et al., Aproximación a la temática de José Donoso, Antofagasta
1980; vgl. Fernando MORENO TURNER, "La inversión como norma. A propósito de El lugar sin límites", in: José Donoso. La destrucción de un mundo, Buenos Aires 1975, S. 73-100.
153 José DONOSO, El lugar sin límites, Barcelona: Seix Barral, 1981, S. 11: "Hasta la cara de tatita Dios tenía". - Für Aínsa (S. 162 f.) ist Don Alejo Cruz "como un Dios del Antiguo Testamento: crea y destruye, bendice y es iracundo". - Für Alavia Ticona "no es el Dios cristiano, sino el Dios Saturno que devora a sus hijos, es el Dios de la violencia" (S. 20). - Das Motto aus MARLOWEs Faust weist darauf
79
der feudalistischen Unterdrückungsstrukturen, wie sie sich in der Vorstellung der Dorfbewohner eingenistet hat.
Leben und Arbeiten sind geprägt vom Weinbau: aber die viña del Señor erscheint hier eben unter eindeutig
negativen Vorzeichen. Die von Manuel verkörperte Un-Ordnung wird angesichts der "geometrischen"
Herrschaft Don Alejos zu einem revolutionären Potential154. Ein weiterer Agent der Rebellion ist die
luziferische Figur des Pancho Vega, der sich als Gottes- und Vatermörder gegen Don Alejo auflehnt155. Eine
wirkliche Befreiung erfolgt dennoch nicht; der infernalische Zyklus der Gewalt ist ebenfalls sin límites, und die
Hoffnung auf Erlösung ist es gerade, was ihn so unerträglich macht156. So mag man den Roman zwar als
"moderne Allegorie" bezeichnen157, die biblisch-christliche "Mythen" verarbeitet; der Bezug zum Christentum
ist jedoch rein materieller Natur; von christlichem Denken und Glauben ist die Welt dieses Romans weit
entfernt.
Einer jüngeren Autorengeneration gehört Jorge GUZMAN (*1930) an, der mit seinem 1968 erschienenen
Roman Job-Boj ein uraltes, immer wieder literarisch bearbeitetes biblisches Thema neu aufgreift158. Die
Lebensgeschichte des biblischen Hiob, der Weg von der jugendlichen Unbeschwertheit durch eine tiefe
existentielle Krise bis zu einer neuen Lebenszuversicht klingt in dem unkonventionell gestalteten Roman als
verhaltener Unterton an. Wenn man von einigen wenigen direkten Anspielungen und expliziten Erwähnungen
der biblischen Fabel durch den Erzähler absieht159, scheinen sich die Parallelen in einer stimmungsmäßigen
Analogie zu erschöpfen. Ein genauer Blick auf den biblischen Text läßt indessen vermuten, daß Guzmán sich
intensiv damit auseinandergesetzt hat, denn Hiobs existentielle und "psychologische" Situation ist tatsächlich
hin, daß der Ort des Geschehens eine Hölle - lugar sin límites - ist. Damit wird zugleich die Bedeutung des Erzählten ins Universell-Symbolische ausgeweitet.
154 Herausstechendes Merkmal der Weinberge ist ihr "ordenamiento"(125). 155 José PROMIS OJEDA, "La desintegración del orden en la novela de José Donoso", in: La novela
hispanoamericana. Descubrimiento e invención de América, Valparaíso 1973, S. 205-228, bes. S. 224: "Esta inversión de los valores - Dios vencido y Luzbel triunfante - provoca la caída del orden establecido por don Alejo en su mundo creado". Nach Promis verwendet Donoso hier "el correlato mítico cristiano" (S. 223).
156 Folgende Worte der "japonesita" stehen am Ende des Romans: "Las cosas que terminan dan paz y las cosas que no cambian comienzan a concluirse, están siempre concluyéndose. Lo terrible es la espe-ranza."(137)
157 HLAS, 30 (1968), S. 264, vgl. S. 273 f. (Nr. 3472). 158 Vgl. Hernán LOYOLA, "Job-Boj, novela de Jorge Guzmán", in: Mapocho, 19 (1969), S. 199-204;
Michael J. DOUDOROFF, "Coordinate design in a Chilean Nueva Novela. Job-Boj by Jorge Guzmán", in: Latin American Literary Review, 3 (1975), S. 23-29; José PROMIS, La novela chilena actual, Buenos Aires 1977, S. 163 ff. - Ariel DORFMAN, "Temas y problemas de la narrativa chilena actual", in: Aníbal PINTO et al., Chile hoy, México 1970, S. 393. Die Bezüge zur biblischen Hiob-Figur werden in den kritischen Beiträgen, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.
159 Jorge GUZMAN, Job-Boj, Barcelona: Seix Barral, ²1971, S. 251 u. 264. - Interessant ist jene Episode, in welcher der Ich-Erzähler einen schreibenden Freund besucht, der sich neuerdings wieder mit der Frage nach Gott beschäftigt und das Buch Hiob literarisch bearbeitet: der Autor scheint eine mise en abyme seiner selbst vorgenommen zu haben.
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detaillierter umgesetzt, als es zunächst den Anschein hat160. Die Hiob-Geschichte ist bekanntlich einer der am
meisten behandelten Bibelstoffe in der Weltliteratur und hat besonders im Gefolge existentialistischer
Daseinsdeutungen neuen Aufschwung erfahren161. Umso bemerkenswerter ist es, daß Job-Boj bei Guzmán
nicht der totalen Verzweiflung und Gottesferne verfällt. Ohne daß damit in irgendeiner Weise ein explizit
christlicher Glaube insinuiert würde, nehmen die beiden Erzählstränge des Romans einen von Ungewißheit zwar
nicht freien, aber hoffnungsvollen Ausgang162.
2.324 Paraguay
Die bisher behandelten Beispiele aus der argentinischen, uruguayischen und chilenischen Literatur stellen
gleichsam eine Hinführung auf Romane aus jenen Ländern dar, in deren Kultur das europäisch-hispanische
Element zugunsten des spezifisch Indoamerikanischen zurücktritt, dessen Verständnis den europäischen Leser
mit wesentlich größeren Problemen konfrontiert. Als erstes jener Länder, in denen das indigene Erbe - hier das
der Guaraní-Kultur - bis heute lebendig geblieben ist, wäre Paraguay zu nennen. Da aber die Vitalität der
autochthonen Kulturtraditionen oft nur die andere Seite eines Zustandes ist, den man aus der "modernen" Sicht
der Industrienationen als wirtschaftliche, kulturelle und politisch-soziale Rückständigkeit interpretiert, hat gerade
Paraguay, ebenso wie Bolivien, die Dominikanische Republik und die meisten mittelamerikanischen Staaten nur
wenige bedeutende Romanciers hervorgebracht. Allerdings ist dieses Land die Heimat von Augusto ROA
BASTOS (*1917), des Verfassers von Hijo de hombre (1960), dem wohl bedeutendsten der im Hauptteil
eingehend untersuchten Romane. Schon der Titel weist darauf hin, daß es eine auf Christus verweisende
Symbolik ist, welche die Bedeutungsstruktur des Werks mitbegründet163.
2.325 Peru
In den indigenistischen Romanen Perus und der angrenzenden Andenländer gelangen sowohl die religiöse
Vorstellungswelt der Indios als auch das Christentum in Form der katholischen Kirche und ihrer Repräsentanten
160 Primär "psychologische" Motiventsprechungen liegen in der Hoffnungslosigkeit, der Angst, dem Todesverlangen, der subjektiv empfundenen Sinnlosigkeit des Lebens, physischen Schmerzen, Schlaflosigkeit, Ekel vor dem Leben etc.
161 Elisabeth FRENZEL, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 61983, S. 326.
162 Promis 1977, S. 174 ff. 163 S. u. Kap. 9.
81
zur Darstellung: daß der Dorfpfarrer als oft geradezu diabolischer Agent der Macht und Unterdrückung
gezeichnet wird, ist zum Topos dieser Romangattung geworden. Als Beispiel sei nur Huasipungo (1934) von
dem Ecuadorianer Jorge ICAZA (1902-1978) genannt164. Ciro ALEGRIA (1909-1967) beginnt indessen die
ideologische und literarästhetische Beschränkung des Indigenismus zu überwinden.
Als Krönung seines Gesamtwerks plante er seit Anfang der 50er Jahre einen dreiteiligen
Monumentalroman mit dem Titel Resurrección:
"En ella narro el desarrollo de una revolución americana y trato de captar esos sentimientos confusos, esas acciones que responden a oscuros motivos, esos pintorescos personajes que les dan su tónica peculiar a las insurrecciones en nuestros países."165
Die einzelnen Teile hatte der Autor nach folgendem Strukturschema konzipiert:
I. Dolor y Esperanza
II. Lucha y Agonía
III. Muerte y Resurrección
Das Auferstehungs-Motiv erscheint hier primär ins Politisch-Soziale ("Aufstand" und Revolution) gewendet, ist
aber von mythisch-religiösen Anklängen nicht frei166. Es ist der Versuch, eine romanhafte Geschichte von der
Unterdrückung und Befreiung des peruanischen Volkes zu schreiben. Nur den ersten Teil konnte Alegría vor
seinem Tod zur Ausführung bringen. Er trägt den Titel Lázaro und verweist somit auf jene in der
lateinamerikanischen Literatur übrigens recht häufig zitierte Figur des Lazarus167, dessen Auferstehung in
Analogie zu derjenigen Christi gedeutet wird. Leiden, Hoffnung und vor allem die Auferstehung sind Leitmotive
in Lázaro: verschiedene Romanfiguren erleben in äußerster Bedrängnis resurrecciones, ohne daß sich das
Schicksal des biblischen Lazarus an einer bestimmten Figur konsequent und in allen Details nachvollziehen
würde. Bemerkenswert ist, daß hier der arme und gelähmte bzw. aussätzige Lazarus als Symbol der
164 Trigo, der diesen Roman stellvertretend für viele andere erwähnt, moniert hier "la pobreza analítica con que aparece descrita la religión" (Trigo 1980, S. 7).
165 Henry BONNEVILLE, "Prólogo a Lázaro", in: Ciro ALEGRIA, Lázaro, Buenos Aires: Losada, 1973, S. 12; vgl. Bonneville, "Mort et résurrection de Ciro Alegría", in: Bulletin Hispanique, 70 (1968), S. 12-33; André JANSEN, La novela hispanoamericana actual y sus antecedentes, Barcelona 1973, S. 36. - Zu El mundo es ancho y ajeno, Alegrías bedeutendstem Roman, s. Manuel M. ALVAREZ de TOLEDO, Religión y superstición en El mundo es ancho y ajeno, México 1963; Francis T. McGOURN, "The priest in El mundo es ancho y ajeno", in: Romance Notes, 9 (1968), S. 224-233.
166 "- ¿Y por qué el título de Lázaro? - Es que en esos momentos la vida humana está entregada al azar, vivimos y morimos, y a veces resucitamos, sin explicación posible. En esta novela aparecen esos casos de hombres que mueren todos los días, y de otros que el pueblo cree que todavía viven, a pesar de haber muerto". (Aus einem Interview mit C. Alegría [1954], zit. nach Bonneville 1973, S. 12 f.). - Als sich bei ihm der Plan zu Resurrección verdichtete, hatte er gerade die kubanische Lyrikerin Dora VARONA (*1932) geheiratet, die eine christlich inspirierte Dichtung verfaßte (vgl. Gott der Armen, S. 131 f.).
167 Joh 1, 11-46; die johanneische Figur wird oft mit dem gleichnamigen gelähmten Bettler kontaminiert, der in einem Gleichnis des Lukas-Evangeliums (16, 19-31) genannt wird.
82
Auferstehung gewählt wurde und nicht Christus - wohl weil seine Person, zumal in Lateinamerika, als zu
weltenthoben und "jenseitig" empfunden wurde. Ciro Alegría ist nichtsdestoweniger der erste
hispanoamerikanische Romancier, der eine diesseitige Interpretation der wohl unbestreitbar christlichen
Vorstellung von der Auferstehung versucht. Bei dem peruanischen Autor läßt sich eine Akzentuierung
vernehmen, die auch in der Teología de la liberación wiederkehrt, etwa bei Jon SOBRINO mit der Botschaft: "el
resucitado es el crucificado" - nur dort, wo Armut und Leiden ist, kommt es zur Auferstehung. Auf die
"Reichen" wird in Lázaro weder eine christliche Symbolik projiziert, noch finden sich bei ihnen Spuren eines
echten religiösen Empfindens. Sie dienen weiterhin der Illustration einer reaktionären Pseudoreligiosität.
Eher als Kuriosum sei an dieser Stelle ein Roman des bereits genannten Philosophen Alberto WAGNER
de REYNA (*1915) erwähnt: die kulturphilosophische Problematik der Prägung des heutigen Lateinamerikas
durch das abendländische christliche Erbe ist auch Thema seines Romans La fuga von 1955168. Das Bekenntnis
zum Christentum nicht unbedingt "como religión sino como realizador de cultura" (95) steht in Opposition zu
kultur- und gesellschaftspolitischen Strömungen des Indigenismus. Die Auseinandersetzung wird im Roman in
Zusammenhang mit der peruanischen Universitätsreform der 30er Jahre gestaltet. Im Vordergrund steht
allerdings der psychologische Konflikt eines jungen Studenten der Universität San Marcos, der von einer
oberflächlichen traditionellen Religiosität, die nichts anderes als eine fuga vor der Wirklichkeit gewesen war169,
zu einem auf das Diesseits und die eigene Existenz bezogenen Glauben findet. Die innere Wandlung wird stark
beeinflußt durch eine "discusión sobre temas cruciales", die der Protagonist - er trägt den symbolischen Namen
Pablo - mit einem Priester führt (229). Der Bezug zur Parábola del Hijo pródigo wird explizit hergestellt (245).
Reflexionen des Erzählers vertiefen die philosophisch-theologische Problematik: culpa, castigo, redención
erscheinen als existentielle Erfahrungen, die der Mensch nicht nur spirituell, sondern durch sein Erleben und
Handeln - agónicamente (248) - bewältigen muß170.
Eine herausragende Figur der peruanischen Literatur ist der 1969 durch Freitod ums Leben gekommene
José María ARGUEDAS (*1911). Er führt die von Ciro Alegría eingeleitete "Universalisierung" der
indigenistischen Schreibweise fort. Die Darstellung und strukturelle Verarbeitung der religiösen Welt der
Andenbewohner ist ein hervortretendes Merkmal seines Gesamtwerks. Dabei scheint es zunächst, als komme in
seinem Werk primär oder ausschließlich die magisch-mythische Vorstellungswelt und Wirklichkeitsauffassung
der Indios zum Tragen171. Interessant ist aber, wie Arguedas gleichsam aus indigenistischer Perspektive
168 Alberto WAGNER de REYNA, La fuga, Santiago: Zig-Zag, 1955. - Bezeichnenderweise ist der Roman in Chile erschienen, bei einem Verlag, der mehrere jener Autoren herausgebracht hat, die in Kap. 7 besondere Beachtung finden werden.
169 Das Motiv ist letztlich das gleiche wie in CARPENTIERs Los pasos perdidos und Enrique LAFOURCADEs Para subir al cielo.
170 Unschwer läßt sich hier der Reflex einer christlich inspirierten Existentialphilosophie (KIERKEGAARD und UNAMUNO) erkennen.
171 Vgl. Janik 1976, S. 136-153.
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langsam, aber stetig zu einer Neubewertung des lateinamerikanischen Christentums hinfindet172. Die
Religiosität des andinen Menschen ist für ihn einer der "tiefen Flüsse", die diese Kultur durchströmen und die für
die Indios die Solidarität mit ihren Mitmenschen und mit der Natur zu etwas Selbstverständlichem machen. Die
in Arguedas' Romanen, vor allem seit Los ríos profundos (1958), dargestellte Wirklichkeit ist voller religiöser
Symbole, die auf die Romanfiguren wirken und sie in eine Ordnung einbinden173. In Arguedas' Darstellung ist
die andine Religiosität zugleich ein politisches Potential, aus dem die Menschen Kraft zum Widerstand gegen
Unterdrückung und Unrechtsstrukturen schöpfen. Während in Los ríos profundos noch eine deutliche
Abgrenzung und Opposition zwischen der (positiven) autochthonen magisch-mythischen Religiosität und dem
(negativen) kirchlichen Christentum zu erkennen ist, rückt in Todas las sangres (1964) ein christlicher "Gott der
Armen" ins Blickfeld, den die offizielle Kirche - den Gott der Reichen verehrend - bisher gar nicht gekannt zu
haben scheint174 . Explizit gestaltet wird die Möglichkeit eines engagierten, ja revolutionären
Christentums - hier gebunden an die Gestalt eines nordamerikanischen Priesters - in Arguedas' letztem,
fragmentarischem Roman El zorro de arriba y el zorro de abajo (1971), der als ergreifendes Dokument einer
Hoffnung zu lesen ist, die aus tiefster Verzweiflung erwächst175.
Hier ist der Ort, auf zwei peruanische Erzähler hinzuweisen, die die Figur Christi in Kurzerzählungen
symbolisch verarbeitet haben. Carlos E. ZAVALETA (*1925), der sich intensiv mit FAULKNER und JOYCE
beschäftigt hat und vielleicht dadurch Anregungen für eine symbolische Schreibweise erhielt, ist unter anderem
durch seine Erzählung El Cristo Villenas (1955) bekannt geworden176. Es ist die Geschichte eines leutseligen
und vitalen hacendado, der bei einem Fest in einen Kessel mit kochender Chicha stürzt, dabei schwerste,
entstellende Verwundungen erleidet, aber noch einmal voller Todesverachtung vom Sterbebett aufsteht, um
seine Geliebte zu besuchen; damit überwindet er wie Jesus Christus - aber aus ganz diesseitigen Motiven - den
Tod. Im Glauben und der Imagination des Volkes wird er denn auch zu einem Cristo, hinter dem die Erinnerung
172 Zur Affinität von Arguedas' Werk mit der Befreiungstheologie s. a. oben, S. 33. 173 Vgl. Tomás G. ESCAJADILLO, "Los señales de un tránsito a la universalidad", in: Juan LARCO (Ed.),
Recopilacíon de textos sobre José María Arguedas, La Habana 1978, S. 90 ff.; id., "Tópicos y símbolos religiosos en el primer capítulo de Los ríos profundos", in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, 5:9 (1979), S. 57-68; María Ofelia IBAÑEZ, "La cosmovisión sacralizada en Los ríos profundos", in: Megafón, 3:6 (1977), S. 119-133; José Luis ROUILLON, "José María Arguedas y la religión", in: Páginas, 15 (5/1978), S. 11-30.
174 Vgl. die in Theologie der Befreiung von Gutiérrez zitierte Passage aus dem Roman (s. o. S. 33). 175 Trigo 1982, S. 198 ff. und Valle, S. 190 ff. Am Ende des Romans, der zugleich das Ende von Arguedas'
Leben und Schaffen ist, wendet er sich direkt an Gustavo Gutiérrez als den Theologen eines Dios liberador, der dem traditionellen Dios inquisidor entgegengesetzt ist (J. M. ARGUEDAS, El zorro de arriba y el zorro de abajo, Buenos Aires: Losada, 31972, S. 69); vgl. folgende Passage (S.270): "... Quizá conmigo empieza a cerrarse un ciclo y a abrirse otro en el Perú y lo que él representa: se cierra el de la calandria consoladora, del azote; del arrieraje, del odio impotente, de los fúnebres alzamientos, del temor a Dios y del predominio de ese Dios y sus protegidos, sus fabricantes; se abre el de la luz y de la fuerza liberadora invencible del hombre de Vietnam, el de la calandria de fuego, el del dios liberador, Aquel que se reintegra. Vallejo era el principio y el fin."
176 Zuerst erschienen in der gleichnamigen Sammlung (México 1956); hier zitiert nach José Miguel OVIEDO [Hg.], Narradores peruanos, Caracas 1976, S. 73-85.
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an jenen anderen, historischen Jesus Christus verblaßt. Seine Geschichte verbreitet sich in Form verschiedener
"Evangelien" schnell in der ganzen Gegend. Nach seinem Tod "kehrt er heim" zu seinem Vater, "muerto Él
también hacía mucho tiempo" (80). Der diesseitige, lebensfrohe Cristo Villenas löst damit den Glauben an den
jenseitigen, von Priestern und Religionslehrern verkündeten alten Christus ab. Ein Fremder erscheint
abschließend als "Apostel" und Theologe des neuen Glaubens:
No creo en esa buena historia que resulta mezclada en todo y que impide a un hombre, sea o no Villenas, tener una vida propia. Me disgusta una historia que por vieja dependa de mí para que no muera. (83)177
Die Befreiung von der Erinnerung an den "alten Christus" erscheint hier als Lösung aus einer entfremdenden
Religion und Hinwendung zur Fülle des diesseitigen Lebens.
Eleodoro VARGAS VICUÑA (*1924) erzählt in Taita Cristo (1964)178 von einer Begebenheit, die in
den Rahmen einer Karfreitagsprozession in einem Indiodorf projiziert wird. Das Christus-Geschehen der
Evangelien mit den Elementen des Leidens, des Todes, der Auferstehung und sogar einem Anklang an die
Niederkunft des Heiligen Geistes wiederholt sich hier in einem Andendorf. Die Sinngebung erfolgt aber weniger
aus theologischer, denn aus einer existentiellen Perspektive, die in dieser Form nur vor dem Hintergrund der au-
tochthonen Religiosität möglich ist. Um bewußt eine kollektive Schuld zu sühnen, nimmt die Hauptfigur das
Kreuz auf sich und stirbt dabei. Für die Dorfbewohner ist dieser heroische Akt ein glaubwürdiges Symbol der
redención und impliziert zugleich das Gefühl einer Auferstehung: "una esperanza en el renacer del hombre
andino, en cuya hombría pone el autor toda su fe."179 Ebenso wie bei Arguedas erfolgt hier also eine
zukunftsweisende Überblendung autochthoner, "mythischer" und christlicher Religiosität.
Ähnliches gilt für Manuel SCORZA (1928-1984), insbesondere seinen Roman Redoble por Rancas
(1970), wenngleich hier bereits explizit zum Ausdruck kommt (besonders an der Figur des Padre Chasán), daß
Teile des peruanischen Klerus den Widerstand der Indios gegen die strukturelle Ungerechtigkeit nicht nur
unterstützen, sondern daß der christliche Glaube einem fatalistischen Ertragen jeglicher Unterdrückung
entgegengesetzt ist180. Auf die Frage, warum Gott die Bewohner von Rancas so hart strafe (ein
nordamerikanischer Bergbaukonzern hat die zum Dorf gehörigen Ländereien widerrechtlich für sich eingezäunt),
antwortet der Priester: "El Cerco no es obra de Dios, hijitos, es obra de los americanos. No basta rezar. Hay que
pelear."181 Später predigt er mit den Worten der Bibel: "Los abusadores y los violentos rodarán en la ceniza.
Los bienaventurados y los mansos, los pobrecitos sin tierra, los pisoteados, los despojados, ellos se sentarán a la
177 Der Fremde bezieht sich auf die Geschichte des Jesus von Nazareth. 178 Lima: Populibros Peruanos, 1964. Eine Interpretation, auf die hier weitgehend Bezug genommen wird,
liefert Marguerite C. SUAREZ-MURIAS, "Arquetipos míticos y existencialistas en Taita Cristo (de Eleodoro Vargas Vicuña)", in: Explicación de Textos Literarios, 10:1 (1981), S. 15-21.
179 Suárez-M., S. 21. 180 Vgl. hierzu den M. Scorza gewidmeten Abschnitt in Trigo 1980 sowie Trigo 1976, S. 257 f. 181 Manuel SCORZA, Redoble por Rancas, Barcelona: Plaza & Janés, 1983, S. 117.
85
diestra de Dios Padre" (163). Auf symbolischer Ebene erscheint das gedemütigte Volk als gekreuzigter Christus,
und zwar in der Figur des alten Fortunato, der sich den Handlangern der Minengesellschaft beharrlich und
schließlich erfolgreich widersetzt, aber dafür brutal mißhandelt wird. Als Gekreuzigter verfolgt er einen Wächter
im Traum (121 ff., 145). Durch seine Opferbereitschaft und sein Leiden wird Fortunato zum prophetischen
Vorkämpfer einer Rebellion (149). Nachdem er und seine Mitkämpfer bei einem Gemetzel mit der
Ordnungsmacht gefallen sind, führen sie ihr Gespräch im Grab fort: mit ihrem Tod ist die Geschichte der
Befreiung nicht zuende.
Mario VARGAS LLOSA (*1936) als der jüngste und auch in Europa bekannteste der hier vorgestellten
peruanischen Autoren räumt in seinen Werken der Kirche und dem religiösen Phänomen schlechthin breiten
Raum ein. Er tut dies allerdings aus einer radikal aufgeklärten Perspektive. Von jener Faszination durch das
Mythische und Religiöse, die vor allem aus dem Werk Arguedas' spricht, ist bei ihm ebensowenig zu spüren wie
von einer strukturell bedeutsamen christlichen Symbolik. Die Bedeutung des Religiösen in der lateinameri-
kanischen Kultur und Gesellschaft wird indessen sehr wohl behandelt, wobei aber primär der entfremdende
Charakter jeglicher creencias denunziert wird. Unterschwellig stellen sich solche "Glaubensreste" als Folge der
soziokulturellen Rückständigkeit des Subkontinents dar. Vargas Llosa widmet sich mit Vorliebe der Darstellung
sektiererischer religiöser Massenbewegungen, an denen die vom Irrationalen ausgehende Faszination besonders
auffällig ist. Religiöser Fanatismus spielt bereits in La casa verde (1966) eine Rolle182. In Pantaleón y las
visitadoras (1973) geht es um einen fanatischen Kult des Gekreuzigten, ja der Kreuzigung überhaupt, dessen
Anhänger zunächst alle erreichbaren Tiere und schließlich sogar vier Menschen kreuzigen183. Die "wahre Ge-
schichte" einer apokalyptisch-messianischen Bewegung aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts ist Gegenstand
von La Guerra del Fin del Mundo (1981). Ein fast schon obsessives Leitmotiv in Vargas Llosas gesamtem Werk
ist das Bemühen um eine "Entthronung Gottes"184. Transzendenz und Religiosität sind für ihn noch immer der
Garant eines "falschen Bewußtseins".
182 Vgl. Cedomil GOIC, Historia de la novela hispanoamericana, Valparaíso 1972, S. 282. Wie Goic darstellt, erscheint die Kirche hier als (negativer) Repräsentant der rationalen städtischen Ordnung, das Bordell hingegen als anarchischer Ort der Befreiung.
183 Vgl. Valle, S. 200 f.; hier finden sich auch Bemerkungen zum Stellenwert des Religiösen in den übrigen Romanen von Vargas Llosa.
184 Sehr viel über Vargas Llosas eigene Weltanschauung sagt sein García-Márquez-Essay Historia de un deicidio. Vgl. auch Ernesto GONZALEZ BERMEJO, "Mario Vargas Llosa o la suplantación de Dios", in: id., Cosas de escritores, Montevideo 1971, S. 53-89.
86
2.326 Ecuador
Als Vertreter des neueren Romans in Ecuador wurde bereits Jorge ICAZA genannt, der auch in späteren Werken
z. B. der Trilogie Atrapados. Tríptico (1972) an seiner antiklerikal-antireligiösen Position festhält. In eine ganz
andere Richtung weist der Roman Juyungo (1943) des schwarzen Autors Adalberto ORTIZ (*1918). Die ganze
Erzählung ist von einer Aura magisch-mythischer Religiosität185 durchflutet, die ihr - ungeachtet des
sozialkritischen Gehalts - einen sehr poetischen Charakter verleiht. Zahlreiche synkretistische creencias sind in
die Geschichte eingearbeitet. Archetypische Symbolik, die teilweise in christlichen Ausdrucksformen wie
"Taufe" und "Sintflut" Gestalt annimmt, ist ein Strukturelement des Romans. Schon der Name des Protagoni-
sten - Ascensión Lastre - weist auf den initiatorischen Sinn seiner Lebensgeschichte hin. Obwohl ihm
Christliches in Gestalt verschiedener "gläubiger" Figuren begegnet, ist sein Weg auch eine Befreiung von
jeglichem Aberglauben186.
Biblisch-christliche Bildlichkeit hat - auch als Träger revolutionärer Impulse - großes Gewicht im Werk
von Pedro Jorge VERA (*1914), der neben dem Roman La semilla estéril (1962) Erzählungen mit Titeln wie
Los mandamientos de la ley de Dios (1972) und Jesús ha vuelto (1975) auch zahlreiche Theaterstücke mit
ähnlicher Ausrichtung verfaßt hat187.
Demetrio AGUILERA MALTA (*1905) wird ebenso wie Adalberto Ortiz dem Grupo de Guayaquil
zugeordnet. In den Romanen dieser Autoren, die in den 30er Jahren zu publizieren beginnen, verbinden sich
gesellschaftliche Analyse und Kritik mit einer oft symbolisch überhöhten Darstellungsweise188. In Aguilera
Maltas 1970 erschienenen Roman Siete lunas y siete serpientes sind bereits die stilistischen und
erzähltechnischen Neuerungen der Nueva Novela eingegangen. Trotz des ernsten Anliegens ist die Geschichte
humorvoll und poetisch erzählt, wodurch zahlreiche "wunderbare" Unwirklichkeiten aufgefangen werden. Mit
den Stilmitteln des "magischen Realismus" arbeitend, verwendet der Autor hier nicht nur die Elemente des
indianischen, afrikanischen und christlichen Volksglaubens (insbesondere das Motiv des Teufelspakts)189,
185 Im Text wird sie einmal als "actitud franciscana, panteísta" charakterisiert (Adalberto ORTIZ, Juyungo. Historia de un negro, una isla y otros negros. Prólogo de José Carlos MAINER, Barcelona/Caracas/México: Seix Barral, 1976, S. 141). Dies ist nur einer von vielen Fällen, wo der Versuch, die magisch-mythische Wirklichkeitsauffassung "christlich" zu begreifen, dazu führt, daß von "Franziskanismus" gesprochen wird.
186 Renaud RICHARD, "Juyungo, de Adalberto Ortiz, ou De la haine raciale à la lutte contre l'injustice", in: Bulletin Hispanique, 72 (1970), S. 152-170, bes. S. 156.
187 Vgl. Pedro SHIMOSE [Hg.], Diccionario de autores iberoamericanos, Madrid 1982, S. 436 f., u. Schwartz, S. 43 f.
188 Vgl. Schwartz, S. 19. 189 Weil hier der synkretistische Charakter der lateinamerikanischen Kultur zu literarischer Gestaltung
gelangt, vergleicht Seymour Menton den Roman mit Severo SARDUYs De dónde son los cantantes (s. u. S. 111 ff.; Seymour MENTON, "Demetrio Aguilera Malta: Siete lunas y siete serpientes" [Rezension], in: Revista Iberoamericana, 36 [1970], S. 677-680); vgl. Antonio FAMA, Realismo mágico en la narrativa de Aguilera Malta, Madrid 1977, bes. S. 98 ff.; Marta MORELLO-FROSCH,
87
sondern hier begegnet der Leser auch einer "Kirche der Armen", die im Geiste der Befreiungstheologie zu
wirken beginnt. Der Impuls geht von einem revolutionären Christus aus - el Cristo Quemado -, der, als das
Unrecht unerträglich wird, von seinem Kreuz in der Dorfkirche herabsteigt, den Pfarrer in Diskussionen
verwickelt und zu einem "alternativen", engagierten Christentum bekehrt; es steht unter der Devise "Déjate de
milagros y ponte a trabajar"190. Wie kaum in einem anderen neueren hispanoamerikanischen Roman wird hier
die Opposition aufgedeckt und gestaltet, die zwischen einem zu gesellschaftlichem Handeln veranlassenden
christlichen Glauben und einer magisch-mythischen Wirklichkeitsauffassung besteht. In deren Bereich sind hier
die Kräfte des Bösen beheimatet, wenngleich dies nicht in Form eines platten Manichäismus geschieht. Daß die
Dorfbewohner in engem Kontakt mit der sie umgebenden Natur leben, ja sogar mit ihr "kommunizieren", wird
positiv bewertet - schließlich gelingt es einem brujo sogar, ein Rudel Affen zur Beteiligung an einem
Selbsthilfeprojekt zu bewegen (302 f.); auf der anderen Seite gibt es einen cura der "alten Garde", der mit den
teuflischen Mächten im Bunde steht. Ihm wirft der Cristo Quemado vor: "has dado la espalda191 a los tuyos, a
los de abajo" (314). Gegen Ende des Romans wird die hoffnungsvolle Vision eines neuen Christus, der auf der
Seite der Armen steht, so formuliert: "Se ha vuelto un gigante [...]. Una fuerza germinal. ¿Estará resucitando
nuevamente? [...] Cristo está ardiendo. Es una antorcha." Selbst ein Arzt, der vorher als ungläubiger Vertreter
eines städtischen Rationalismus gezeichnet worden war, "oyó, dentro de sí mismo, la Voz" (336). Ein
Christentum, das zur offiziellen Kirche in kritische Distanz tritt, sich aber gleichzeitig der autochthonen Kultur
öffnet, beweist in diesem Roman seine integrierende und befreiende Kraft.
2.327 Kolumbien
Das Nachbarland Kolumbien ist derjenige lateinamerikanische Staat, in dem die katholische Kirche das
gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben am nachhaltigsten geprägt hat. Von der Präsenz der Kirche und
des Christentums schlechthin wird im 5. Kapitel im Zusammenhang mit der Analyse von Eduardo
CABALLERO CALDERONs (*1910) Roman El Cristo de espaldas (1952) ausführlich die Rede sein; es ist die
Geschichte eines christusähnlichen Priesters, der in einem von der violencia geschüttelten Bergdorf mit seiner
Predigt der Nächstenliebe eine Niederlage erlebt.
"El realismo integrador de Siete lunas y siete serpientes de Demetrio Aguilera Malta", in: Donald A. YATES [Hg.], Otros mundos - otros fuegos. Fantasía y realismo mágico en Iberoamérica. Memoria del XVI Congreso Internacional de Literatura Iberoamericana, Pittsburgh 1975, S. 387-392; Clementine Christos RABASSA, Demetrio Aguilera Malta and social justice. The tertiary phase of epic tradition in Latin American Literature, London 1980.
190 Demetrio AGUILERA MALTA, Siete lunas y siete serpientes, México: Fondo de Cultura Económica, 1970, S. 63.
191 Diese Formulierung ist nicht das einzige, was in diesem Roman an Eduardo CABALLERO CALDERONs El Cristo de espaldas erinnert (s. u. Kap. 5).
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Hier ist indessen der Ort für einige Bemerkungen zum Werk des Nobelpreisträgers Gabriel GARCIA
MARQUEZ (*1928), insbesondere zu seinem Meisterroman Cien años de soledad (1967). Diesem Werk ein
"biblisches Fluidum" zu bescheinigen, ist bereits ein Gemeinplatz der Forschung geworden192. G. W. LORENZ
liefert ein stichwortartiges Inventar der seinem Eindruck zufolge verarbeiteten biblischen "Mythen":
Genesis und Unschuld des Schöpfungstages, Sündenfall, Sintflut, die sieben Plagen, Absage an das Schöpfungsprinzip, Herrschaft des zerstörerischen Bösen und schließlich Apokalypse wiederholen sich in den Buendías, von Ursula-Eva und José Arcadio-Adam über die Auflehnung des Obersten Aureliano-Kain, die sündhafte Verstrikkung, die Selbstherrlichkeit der dritten und vierten Generation bis zur Einlösung der Schuld im "siebenten Glied" [...].193
Hinzuzufügen wäre das recht gewichtige Motiv vom Exodus des Erwählten Volkes194. Nur selten wird die
besondere Funktionalisierung der biblischen und religiösen Elemente genau bestimmt, wobei mit dem Begriff
"Mythos" etwas vorsichtiger umzugehen wäre195. Indessen vertieft die Präsenz der Bibel hier tatsächlich den
mythischen Charakter der Geschichte Macondos. Die zahlreichen Anspielungen an biblische Geschehnisse
unterstreichen, daß sich hier das ereignet, was "schon immer" so geschehen ist. Die biblische Folie
verstärkt - entgegen der Zielsetzung der biblischen Religion - den zyklischen und damit fatalen Charakter der
Handlungsabläufe. Nur wenn man einen "Gott" als Garanten dieser Fatalität annimmt, ist der Roman La historia
de un deicidio, wie ihn VARGAS LLOSA und andere in seinem Gefolge interpretieren196. Eine solche Deutung
ist die Konsequenz jenes bereits mehrfach erwähnten korrumpierten Gottesbildes. In der Tat zielt der Roman
nicht auf eine Affirmation, sondern auf eine Befreiung aus dem mythischen Kreislauf, in dem "die Götter" den
Menschen scheinbar gefangen halten. Im Prinzip ist dies genau eine Forderung, die aus dem biblisch-christlichen
Glauben erwächst; es wäre aber verfehlt, diesen in García Márquez' Erzählweise am Werk zu sehen. Fraglich ist,
ob es eine sinnvolle Lösung darstellt, wenn man das Werk in Anbetracht seiner Option gegen das Fatum und für
192 Vgl. Pollmann 1968, S. 246; K. Schwartz konstatiert zu diesem Roman: "[it] seems to be almost the Biblical story from the creation to the apocalypse" (144). - In kaum einer der zahllosen Untersuchungen wird die Problematik nicht in irgendeiner Form erwähnt; andererseits gibt es kaum Versuche, sich dem Phänomen mit methodischer Strenge zu nähern.
193 Vgl. Lorenz 1971, S. 219. 194 Vgl. Katalin KULIN, "Mito y realidad en Cien años de soledad de Gabriel García Márquez", in: Actas
del Cuarto Congreso, Vol. II, S. 95 ff.; zu El otoño del patriarca (1975), wo die Autorin Christus-Symbolik feststellen zu können glaubt, s. ead., "García Márquez: The fall of the patriarch", in: Neohelicon, 4 (1970), S. 147-169, bes. S. 157; zu biblischen Motiven in Cien años s. a. Goic 1972, S. 256, und Aínsa, S. 179 ff.
195 Den "Elementos religiosos y literarios" widmet einen eigenen Abschnitt: Joaquín MARCOS, "Gabriel García Márquez y sus Cien años de soledad", in: Gabriel GARCIA MARQUEZ, Cien años de soledad, Madrid: Espasa Calpe, 1982, S. 33-40. - Wenn von "biblischem Mythos" die Rede ist, liegt meist jenes von Northrop FRYE entwickelte Konzept zugrunde, das mit dem christlichen Verständnis der Bibel nichts zu tun hat und primär archetypisch orientiert ist; so etwa bei Germán Darío CARRILLO, La narrativa de Gabriel García Márquez. Ensayos de interpretación, Madrid 1975.
196 René JARA CUADRA, "Las claves del mito en Cien años de soledad", in: La novela hispanoamericana, S. 207; Jorge GUZMAN, "Cien años de soledad: en vez de Dioses, lenguaje", in: Acta Literaria, 7 (1982), S. 17-49.
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die vom Menschen verantwortete Geschichte - wie René JARA CUADRA197 - als moderne Umsetzung eines
anderen, des Prometheus-Mythos, auffaßt.
Vor jeglicher symbolischer oder "mythischer" Deutung von Cien años de soledad wie auch der übrigen
Werke von García Márquez muß man sich vor Augen halten, daß eine großzügige "Garnierung" der Erzählungen
mit symbolischen Signalen ein vom Autor oft ganz einfach spielerisch eingesetztes Stilmittel ist: es verleiht dem
Roman eine größere Sinntiefe, ohne daß damit eine kohärente Strukturierung des gesamten Textes angestrebt
wird198. Als Beispiel für eine eher unverbindliche Symbolik sei nur die Redewendung vom "huracán bíblico"
erwähnt. Das Adjektiv unterstreicht hier mehr die schicksalshafte Bedeutung des Sturms, als daß es einen
expliziten und eindeutigen Bezug zur Bibel herstellt199. Auf jeden Fall ist es ein bodenloses Unterfangen, die
Gesamtheit der tatsächlich vorhandenen und vom professionellen Leser entdeckten biblisch-christlichen und auf
andere Traditionen zurückgehenden Symbole als ein zusammenhängendes und stimmiges System deuten zu
wollen - wenngleich der Roman zu einer Entschlüsselung der Claves míticas, wie sie Graciela MATURO
versucht hat200, geradezu herausfordert. Auf größte Schwierigkeiten stößt Rosa CABRERA mit ihrem Bemühen,
in dem Roman eine ausgesprochene Christus-Symbolik201 aufzudecken. Auch wenn José Arcadio an einen
árbol crucifical gekreuzigt wird und die auf das -Symbol verweisenden goldenen Fischlein mehrfach
erwähnt werden, ist Christus nur eine symbolische Anspielung unter Hunderten von anderen.
Die Präsenz christlicher Symbolik und des Religiösen in diesem Roman hat noch eine weitere Ursache:
nämlich den hohen Stellenwert von Religion und Kirche, christlichen Glaubensvorstellungen und supersticiones
in der Alltagswirklichkeit Kolumbiens. Wenn Remedios la bella gleich der Jungfrau Maria in den Himmel
auffährt, dann einfach deshalb, weil ein solches Vorkommnis für den kolumbianischen Volksglauben durchaus
im Rahmen des Möglichen liegt202. Genauso ist die katholische Kirche mitsamt ihren hohen und niedrigen
Würdenträgern eine maßgebliche Größe in der Erzählwelt von García Márquez. Vargas Llosa behandelt diesen
Aspekt recht ausführlich203 und sieht an Macondo die Geschichte von Religion und Kirche in Lateinamerika
197 "Prometeo es el mediador entre el dios y el hombre. El dios - Zeus - lejano, traicionero, acecha la oportunidad de aplastar el mundo postrado e indefenso del hombre. El destino humano consiste en rebelarse contra esta tiranía. Y Prometeo - el mito - resuelve la lucha a favor del hombre enseñándole a manejar sus energías y sus armas en la lucha contra el dios." (Op. cit., S. 207.)
198 Vgl. Vargas Llosa 1971, S. 538. 199 In der Bibel drohen die Propheten verschiedentlich den Sturm als göttliches Strafgericht an (Jer 23,19;
Jes 28,2; Sir 39, 28). Sowohl beim Autor als auch beim Leser wird man aber nicht mehr als ein vages Erinnern an diese Passagen voraussetzen können. - Vgl. auch die lebensgeschichtliche Deutung des Sturm-Motivs in einem Aufsatz von Dieter JANIK: "Drei Zentralmotive der dichterischen Einbildungskraft des Erzählers Gabriel García Márquez: La casa - El huracán - La muerte", in: José Manuel LOPEZ de ABIADA/Titus HEYDENREICH [Hg.], Iberoamérica. Historia-sociedad-literatura. Homenaje a Gustav Siebenmann, Tomo I (Lateinamerika-Studien, 13/1), München 1983, S. 371-387.
200 Maturo 1977. 201 Cabrera, S. 230 f. 202 Die hier noch lebendigen creencias sind somit auch Stimulans eines real maravilloso, wie es von
Carpentier näher bestimmt wurde. 203 Vargas Llosa 1971, S. 262 ff. und 514 ff.
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exemplarisch gestaltet. An der wohlwollenden Behandlung, die García Márquez zumindest einigen Dorfpfarrern
zukommen läßt, kann man ablesen, daß die Metapher vom "Gottesmörder" oder suplantador de Dios zu weit
greift: sie ist Symptom einer für lateinamerikanische Kritiker und manche Autoren charakteristischen Ver-
krampfung in religiösen Dingen. García Márquez ist indessen weder ein antireligiöser Eiferer noch Anhänger
einer esoterischen Privatreligion.
Wesentlich greifbarer ist das Verhältnis von (spezifisch) christlicher Symbolik und Christentum in García
Márquez' vorletztem Roman Crónica de una muerte anunciada (1981). Schon der Titel, der das Kernmotiv des
Romans benennt, weist auf einen gewissen Parallelismus mit den Evangelien hin, die ebenfalls mehrere anuncios
de la pasión enthalten, welche den baldigen Tod Jesu vorwegnehmen. Das unschuldige Opfer Santiago Nasar
verweist nicht nur durch seinen Namen auf die Bibel, sondern es gibt noch weitere Indizien, die seinen Tod als
Nachgestaltung desjenigen Jesu von Nazareth erscheinen lassen und den Erzähler als einen Evangelisten204.
Wie so oft bei García Márquez hat die christliche Symbolik allerdings auch einen ironischen Effekt205. Dieser
"Chronik" läßt sich recht deutlich die beunruhigende Botschaft entnehmen, daß der Tod Santiago Nasars eben
keinem göttlichen Heils- oder Unheils-Plan, keiner divina providencia entsprach, wie es der Erzähler mitunter
insinuiert, sondern daß die scheinbar so christlichen Menschen hier versäumt haben, in den "fatalen" Ablauf der
Ereignisse einzugreifen. Ein weiterer ironischer Zug der Erzählung ist nämlich, daß Santiago nicht zuletzt
deshalb getötet werden konnte, weil die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner sich gänzlich auf die Ankunft eines
Bischofs richtete, der hier das genaue Gegenteil christlicher Nächstenliebe verkörpert. Eine rituelle Religiosität,
die sich mit dem Glauben an die Unabänderlichkeit traditioneller - unmenschlicher - Verhaltensmuster
vortrefflich verbindet, läßt diesen Tod geschehen, obwohl er angekündigt war206.
204 Vgl. Myrna SOLOTOREVSKI, "Crónica de una muerte anunciada: la escritura de un texto irreverente", in: Revista Iberoamericana, 128/129 (1984), S. 1077-1091, bes. S. 1084; vgl. Anneliese BOTOND, "Der Alptraum wird Tragikomödie. Gabriel García Márquez erhält den Nobelpreis für Literatur", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton), 22.10.1982: "So wie die grausame Hinrichtung des in Wahrheit unschuldigen Mannes als die parodistische Wiederholung des Todes Christi erscheint, ein kollektiver Mord, begangen nicht von Heiden, sondern von gutgläubigen Katholiken, so hat García Márquez dieser 'Chronik' auf subtilste Weise seine Kritik am Christentum eingeschrieben. Kritik nicht an der Gestalt Christi, sondern an seiner Kirche, die seine Lehre pervertiert hat zur politischen Praxis der Gewalt des Starken über den Schwachen, des Mannes über die Frau, des Reichen über den Armen." Der Roman hat ferner manche Ähnlichkeit mit den ebenfalls christlich-symbolischen Mordgeschichten von Carlos DROGUETT und Vicente LEÑERO (s. u., Kapitel 8 u. 10).
205 Besonders auffällig ist die Ironie in den allzuchristlichen Namen der meisten Romanfiguren. 206 In dieser Hinsicht wiederholt die Chronik die Motivstruktur von Cien años de soledad: der "Tod"
Macondos im "viento final" ist ebenfalls von Anfang an prophezeit. Schuld und Versäumnis der Macondinos liegen darin, daß auch sie sich nicht zur Solidarität durchgerungen und ihre Geschichte nicht selbst in die Hand genommen haben. Vgl. hierzu: Josefa SALMON, "El poder de la anunciación en Cien años de soledad y Crónica de una muerte anunciada", in: Discurso Literario, 1 (1963), S. 67-77.
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2.328 Guatemala (Miguel Angel Asturias)
Als Vertreter der kleineren mittelamerikanischen Staaten soll hier lediglich ein Autor genannt werden, der
freilich zugleich der erste Exponent der neueren lateinamerikanischen Romanliteratur schlechthin war: gemeint
ist der aus Guatemala stammende Nobelpreisträger Miguel Angel ASTURIAS (1899-1974), nach Grossmann
übrigens ein "überzeugter Katholik"207. Sein 1946 erschienener, aber schon in den 30er Jahren entstandener
Roman El señor presidente ist das erste große Werk, dem die Kritik eine magisch-realistische oder auch
"mythische" Schreibweise bescheinigte. Von allen Implikationen, die man diesen schillernden Begriffen
beigelegt hat, ist in diesem Zusammenhang am wichtigsten, daß es hier in der Tat ein (in der abendländischen
Kultur) überlieferter Mythos ist, der die Geschehensstruktur stützt: die Auflehnung Miguel Cara de
Angels - "bello y malo como Satán" - gegen den Diktator steht primär in Analogie zur Rebellion Luzifers, was
im Text auch explizit anklingt. Daneben verarbeitet Asturias auch eine Bildlichkeit, die ihm vom autochthonen
guatemaltekischen Volksglauben und aus seinem intensiven Studium mythologischer Texte der Mayas vertraut
ist208. Sofern man den Luzifer-Mythos überhaupt als "biblisch-christlich" bezeichnen möchte209, erfolgt in
dem Roman seine Bewertung genau umgekehrt zu jener der christlichen Tradition: der Diktator ist wieder die
Verkörperung des "bösen Gottes", der den Menschen in Unfreiheit hält, so daß die Rebellion Luzifers zur Tat
eines positiven Helden wird. In diesem Fall ist die Vorstellung vom "bösen Gott" ein deutlicher Reflex der
präkolumbischen Religion, deren blutrünstige Gottheiten nach Menschenopfern verlangten210. Der Fall des
Günstlings stellt sich als ein "Adynaton" dar, als eine caída del mal al bien211. Dies gilt freilich nur auf der
moralischen Ebene, denn für den in Ungnade gefallenen Cara de Angel wird das Leben tatsächlich zur Hölle.
Kirchliches und Christliches ist in dem Roman - gerade auf der sprachlichen Ebene mit ihrer ausufernden
Metaphorik - allgegenwärtig; die Funktion dieser Elemente ist jedoch äußerst zwiespältig: von ihnen geht eine
Art dämonischer Zauber aus, und nur selten deuten sie auf eine heilvolle transzendente Ordnung. Auch hier
unterstreicht die massive Präsenz des Religiösen in Sprache und Objektwelt des Romans gerade die Abwesenheit
von Glaube und christlichem Ethos. Die von Asturias gezeichnete Hölle ist die Konsequenz einer Vergötzung
der Herrschaft:
207 Grossmann 1969, S. 475. 208 Luis LEAL bemerkt zu Cara de Angel und dessen Verhältnis zu dem Diktator (dem señor presidente)
folgendes: "Se le asocia a la mitología cristiana. Los dos personajes son simbólicos de la lucha entre las dos culturas"; demnach handelt es sich um eine Verflechtung "de las dos mitologías" (L. Leal, Breve historia de la literatura hispanoamericana, New York 1971, S. 285).
209 Die Gleichsetzung Luzifers mit Satan beruht auf einer altkirchlichen Kontamination und gehört sicher nicht zum Kern christlicher Glaubensvorstellungen (vgl. Reclams Bibellexikon, hg. v. Klaus KOCH u.a., Stuttgart 31982, S. 311 u. 439).
210 Vgl. den Essay von M. A. Asturias, El "Señor presidente" como mito, Milano 1967. 211 Humberto E. ROBLES, "Perspectivismo, yuxtaposición y contraste en El señor presidente", in:
Loveluck, S. 110 ff. Zugleich erfolgt eine Deutung der Romanwelt als "infierno dantesco" mit einem "Gott" als Präsidenten.
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Es una demostración de lo que le ocurre al hombre cuando sus relaciones no pueden desarrollarse naturalmente; cuando, para sustituir a la unidad familiar o a la fe religiosa, sólo es posible la adhe-sión al estado, que se encarna en la persona de un loco.212
In die gleiche Richtung zielt der 1969 erschienene Roman Maladrón. Es ist die phantastische Geschichte eines
Haufens von Conquistadoren, der sich, von der Gier nach Gold und Abenteuer getrieben, durch den
mittelamerikanischen Urwald kämpft. Die Eroberer hängen dem "sadduzäischen"213 Kult des Maladrón an, des
Bösen Schächers, der zusammen mit Christus gekreuzigt wurde: seine Religion ist die Leugnung jeglicher
Transzendenz, ein dogmatischer Materialismus. Der Roman ist einerseits als literarische "Mythenschöpfung"
interessant, die ihren Ausgangspunkt im Neuen Testament nimmt, wobei Asturias zugleich den Mythos und die
an ihn "glaubende" religiöse Bewegung darstellt. Zugleich entlarvt der Roman aber auch die religiöse Struktur
von Atheismus, Materialismus und Positivismus - jener philosophischen Strömungen, die in Lateinamerika seit
Ende des 19. Jahrhunderts den Ton angeben und deren Keim Asturias bereits im Unternehmen der Conquista
bloßlegt214. Der Autor scheint die Entthronung Gottes durch moderne Götzen zu beklagen, weil sie eine Ent-
menschlichung bedeutet:
Las viejas religiones tienen muchas veces un subfondo antihumano, pero al mismo tiempo confieren al hombre un sentido y esperanza de vivir. Las nuevas religiones cuya base es neomística o ateísta, llevan al hombre a la perdición del mundo de los sueños, el mundo de los espejos y de las esperanzas, es decir de todas las relaciones humanas con miras espirituales.215
Miguel Angel Asturias' positive Bewertung eines in Lateinamerika bisher leider kaum zum Durchbruch
gelangten Christentums wird durch sein Interesse an der Figur des Bartolomé de LAS CASAS belegt. Er wird
nicht nur in Maladrón erwähnt, sondern der Autor widmete ihm 1957 auch ein Theaterstück mit dem Titel La
audiencia de los confines, das allerdings bezeichnenderweise als kommunistisches Pamphlet gegen Kirche und
Oberschicht denunziert wurde216.
212 Franco 1980, S. 371. - Die Darstellung entspricht dem "theokratischen" Charakter, den zahlreiche diktatorische Regimes in Lateinamerika sich selbst zu geben versuchen (vgl. Grossmann 1968, S. 90).
213 Die "Sadduzäer", mit deren Glaubensauffassung Asturias den Maladrón verknüpft, leugneten die Auferstehung. Sie hingen einer rein innerweltlichen Glaubenshaltung an und stellten in Jerusalem zur Zeit Jesu die Priesteraristokratie (Reclams Bibellexikon, S. 433).
214 Nahum MEGGED, "Maladrón o la religión del materialismo", in: Texto Crítico, 14 (1979), S. 117-131; vgl. Aínsa, S. 263 f.
215 Megged, S. 131. 216 Miguel Angel ASTURIAS, Maladrón, Buenos Aires: Losada, 1969, S. 150. - Vgl. Reichardt, S. 481 f. -
Eine der frühen Erzählungen von Asturias gestaltet im Stil seiner Leyendas eine Episode aus dem Leben Jesu: "Una desobediencia de Jesús (Leyenda de los tiempos en que pasó el Salvador)" [1933], in: M. A. Asturias, Novelas y cuentos de juventud, recogidos y presentados por Claude COUFFON, Paris 1971, S. 245-261.
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2.329 Mexiko
Mexiko ist das Land, in dem Antiklerikalismus und Religionsfeindlichkeit die tiefsten Wunden geschlagen
haben. Dessenungeachtet haben gerade in der mexikanischen Romanliteratur die Beschäftigung mit dem
Christentum und die erzählerische Funktionalisierung religiöser Symbolik bis heute besonderes Gewicht217.
Ein Erzähler, dessen Werk vereinzelt noch dem Zyklus der novela de la revolución mexicana zugeordnet
wird, der aber in Thematik und Stil bereits den Universalismus der 50er Jahre ankündigt, ist José Rubén
ROMERO (1890-1952). Sein berühmtester Roman, La vida inútil de Pito Pérez (1938) steht in der Tradition des
hispanischen Schelmenromans218. Wenn auch aus dem in lyrischem Ton gehaltenen Werk eine Art
franziskanischer Verbundenheit mit der Natur spricht, ist Romeros Haltung gegenüber dem Religiös-Kirchlichen
eher "anticlerical, antirreverente y despectiva"219. Dennoch prägt christliche Metaphorik und Symbolik den
Roman mindestens in dem Maße, wie es der materiellen Omnipräsenz der Religion in der mexikanischen
Wirklichkeit entspricht. Die Figur Christi hat Romero allerdings in einer Weise umgedeutet, die seiner
pessimistischen Sicht der condition humaine entspricht: im leidenden Menschen sieht er den "Cristo de todos los
tiempos, clavado estérilmente sobre la inmunda costra de la tierra."220 In diesem Sinne ist die gesellschaftliche
Randfigur Pito Pérez ein jeglicher Transzendenz beraubter Christus221: in einer entscheidenden Episode des
Romans vollzieht sich an ihm - im Rahmen eines Karfreitagsspiels - eine groteske, parodistische Neuauflage der
Kreuzigung Christi; sie führt dem Leser die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit dieses von Gott und den
Mitmenschen Verlassenen vor Augen222. Der Schluß des Romans stellt die fatalistisch-pessimistische
Grundhaltung hingegen in Frage. In die Tiefen des absoluten desengaño gestürzt, stirbt Pito Pérez zwar einen
sinnlosen und unwürdigen Tod, hinterläßt aber ein apokalyptisches "Testament": "pero del coraje de los
humildes surgirá un día el terremoto, y entonces no quedará piedra sobre piedra."223 Die Diktion beruht
217 M. E. Stephenson nennt zahlreiche, heute zum großen Teil vergessene Erzähler früherer Generationen. 218 Vgl. Wolf LUSTIG, "Lo picaresco en los albores de la Nueva Novela Hispanoamericana: La vida inútil
de Pito Pérez de José Rubén Romero e Hijo de ladrón de Manuel Rojas", in: Iberoromania, 24 (1986), S. 61-77. - Hier finden sich auch weitere Hinweise zur Christus-Symbolik als einem Moment der Universalisierung.
219 Portal, S. 150. 220 Zit. nach Portal, S. 148. 221 Vgl. Cabrera, S. 229; für sie ist Pito Pérez "una especie de Anticristo que señala las lacras de la religión
en su testamento terrible". 222 Großes Gewicht haben die hier bewußt verfremdeten Siete Palabras, unter ihnen besonders das in
vielen modernen Romanen zitierte Eli, Eli, lema sabachtani. Romero hat bereits im Jahre 1912 ein Ge-dicht mit diesem Titel verfaßt.
223 José Rubén ROMERO, La vida inútil de Pito Pérez. Ed. by William O. CORD, Englewood Cliffs (N.J.) 1972, S. 196. - Auf Romeros Antiheld trifft recht genau zu, was Jesus als Weltrichter in diesem Zusammenhang von sich selbst sagt: "Denn ich war hungrig, aber ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, aber ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd, aber ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, aber ihr habt mir keine Kleider gegeben; ich war krank und im Gefängnis, aber ihr habt euch nicht um mich gekümmert." (Mt 25, 42 f.)
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offensichtlich auf Jesu "Weltgerichtsrede" (Mt 24 f.), die heute als wichtigste neutestamentliche Grundlage der
Befreiungstheologie angesehen wird. Romeros tiefe Enttäuschung, unter anderem über die kirchliche und
religiöse Praxis in seinem Land, scheint nicht anders als wiederum in religiöser Sprache zum Ausdruck kommen
zu können.
Einer der Väter der Nueva Novela ist Agustín YAÑEZ (1904-1981), der vor allem durch seinen Roman Al
filo del agua (1947) bekannt wurde. Kirche und Religion erscheinen als die wichtigsten Determinanten der hier
erzählten Wirklichkeit:
La Iglesia, bajo un cura puritano, el padre Dionisio María Martínez, es la principal fuerza del orden y por medio de las Hijas de María imponía "rígida disciplina, muy rígida disciplina en el vestir, en el andar, en el hablar, en el pensar y en el sentir de las doncellas, traídas a una especie de vida conventual, que hace del pueblo un monasterio." El ritmo de la ciudad es el del año litúrgico que dota al lugar de una estabilidad intemporal.224
Biblisch-christliche Symbolik, Volksreligiosität, materielle Präsenz der Kirche - all diese Elemente treten in Las
tierras flacas (1962) noch mehr in den Vordergrund. Besonders auffällig ist die "biblische Atmosphäre", in
welcher der Schauplatz des Geschehens, eine Landgemeinde in der Provinz Jalisco, getaucht scheint: die
Bauernhöfe und Weiler heißen Betania, Belén, Getsemaní und Jerusalén. Nicht nur die meisten Figuren, sondern
selbst die Hunde tragen Namen, die Assoziationen aus dem religiösen Bereich wachrufen; in die Darstellung des
Geschehens, die zumeist aus der Perspektive der Romanfiguren erfolgt, mischen sich all ihre creencias und
supersticiones, die sich stellenweise in refranes und corridos kristallisieren. In Wirklichkeit sind las tierras
flacas aber alles andere als das Gelobte Land: "se acabó en la Tierra Santa la dignidad"225. Wer hätte gedacht,
heißt es anderswo, "que Belén, andando el tiempo, sería tenido por el infierno" (429). Während auf der Ebene
des signifiant ein fast übermächtiges religiöses Fluidum aufgebaut wird, spürt der Leser, daß die bedeutete Welt
mit dem Stigma der Gottverlassenheit behaftet ist226. Die religiöse Symbolik verweist mit einem tragischen
Unterton auf ihre eigene Bedeutungslosigkeit227. Zudem kehrt auch in der Struktur des Geschehens eine
vertraute Motivik wieder, die in biblisch-christlicher Gewandung zum Ausdruck kommt: Hauptfiguren des
Romans sind Don Epifanio, der allmächtige Kazike, der wieder Züge eines alttestamentlichen, "bösen"
Gottvaters aufweist, und sein Sohn Miguel Arcángel, der später den Namen Jacob Gallo annimmt. Höhepunkt
224 Franco 1980, S. 399. - Vgl. Portal, S. 197 ff.: "El verdadero protagonista de la obra es la religión". Ein symbolisches Element liegt etwa in der Figur des Lucas Macías, der stellenweise als "Prophet" und "Evangelist" fungiert.
225 Agustín YAÑEZ, "Las tierras flacas", in: id., Obras escogidas. Prólogo de José Luis MARTINEZ, Madrid: Aguilar, 1979, S. 478.
226 Vgl. S. 389: "este llano de lágrimas, tan dejado de la mano de Dios". 227 Vgl. Grete Evans MILLER, The ironic use of biblical and religious motifs in Las Tierras flacas and
Cien años de soledad, Brown (Diss.) 1976 (Ann Arbor: University Microfilms International, 1979). - Es ist fraglich, ob hier von "Ironie" die Rede sein kann, weil der Autor dem Paradoxon mit Betroffenheit und Trauer, nicht aber distanziert, gelöst oder heiter gegenübersteht, wie es bei García Márquez der Fall ist.
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des Geschehens ist die Rebellion des Sohnes gegen den Vater, die sowohl vor der biblischen Folie des Kampfes
gestaltet wird, den der Erzengel Michael mit Satan ausficht (Dan 12), als auch vor der Auseinandersetzung
Jakobs mit "Gott"228. Für die in archaischem Denken verhafteten Bauern wird Miguel Arcángel zu einer
messianischen Figur229 , denn mit ihm verbinden sich Hoffnungen auf Einführung moderner
landwirtschaftlicher Produktionsweisen. Wichtig ist, daß es sich bei der religiösen Symbolik im wesentlichen um
eine metaphysische Interpretation der Ereignisse von Seiten der Romanfiguren handelt. Die in dem Werk
präsentierten Bauern sind von einer tiefen Religiosität, die allerdings nur äußerlich christlich ist; unter ihrem
Schein-Katholizismus verbirgt sich eine fatalistische, altmexikanischen Kulten verwandte "religión de la tierra"
(534). Daß Agustín Yáñez einem engagierten, lateinamerikanischen Christentum nicht indifferent
gegenübersteht, beweisen indessen die intensiven Studien, die auch er der Figur des Fray Bartolomé de LAS
CASAS gewidmet hat230. Auch für ihn existiert als Gegenentwurf zum tragischen Weltbild der mexikanischen
tierras flacas "la verdadera religiosidad basada en la libertad y en la fe de los tiempos del cristianismo
primitivo."231
Unübersehbar, da schon in den Titeln manifest, ist die biblisch-christliche Symbolik im Erzählwerk von
José REVUELTAS (1914-1976). Das ist umso erstaunlicher, als er seit seiner Jugend, bis 1961, aktives Mitglied
der kommunistischen Partei war. Wie Rosario CASTELLANOS feststellt, weht "ein starker religiöser Atem [...]
durch jede Seite" und läßt die Parteiideologie in den Hintergrund treten232. Vielleicht läßt sich Revueltas'
Haltung als materialismo espiritualista umschreiben233. In seinem bedeutendsten Roman El luto humano
(erschienen 1943) erscheint als mexikanische conditio humana die Entwurzelung, Heimatlosigkeit und
Verzweifelung, die zu jener von der Conquista verursachten Ausrottung echter Religiosität in Beziehung gesetzt
wird: "Algo quedó faltándole al pueblo desde entonces. La tierra, el dios, Tlaloc, Cristo, la tierra, sí."234 Die
Welt des Romans steht damit, wie das so oft bei mexikanischen Erzählern der Fall ist, gänzlich im Zeichen des
228 Vgl.die Verarbeitung des Jakobs-Motivs bei LAFOURCADE und ROA BASTOS. S. a. John S. BRUSHWOOD, "La arquitectura de las novelas de Agustín Yáñez", in: Revista Iberoamericana, 72 (1970), S. 437-451, bes. S. 446 ff.
229 Am Rande wird Jacob Gallo zu Jesus Christus und dessen Auferstehung in Parallele gesetzt (462 ff.). Anläßlich des Konflikts "Jacobs" mit einem traditionell eingestellten Bruder klingt auch die biblische Figurenkonstellation Adam-Abel-Kain an (492 ff.), wobei "Kain" ironischerweise Jesusito heißt und zum "Judas" seines Bruders wird (all diese Projektionen sind - wenn auch nur punktuell - im Text angelegt!).
230 Agustín YAÑEZ, El conquistador conquistado. Tercera edición conmemorativa del IV centenario de la muerte de Las Casas. México 1966 [11942] und Fray Bartolomé de LAS CASAS, Doctrina. Prólogo y selección de Agustin YAÑEZ, México ²1951.
231 Ramona LAGOS. "Tentación y penitencia en Al filo del agua, de Agustín Yáñez", in: Loveluck, S. 125. 232 Lorenz 1970, S. 297. 233 Emma GODOY, "¿Materialismo espiritualista? Carta a José Revueltas", in: Abside, 33 (1969), S.
291-300. 234 José REVUELTAS, El luto humano, México: Era, ²1981 (Obras Completas de José Revueltas, 2), S.
171; vgl. Trigo 1980, S. 19 f.: "La desposesión como resultado de la conquista espiritual", u. Portal, S. 182 ff.
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Todes. Zentral ist die Figur eines Priesters, der sich der Tragik von Religion und Kirche in Mexiko sehr wohl
bewußt ist. Auch im Denken dieses Geistlichen erscheint Gott als eine ferne, bedrohliche Macht, während an
Christus als dem Gottverlassenen der Ölbergszene festgehalten wird235: "Roma era Dios y Roma era la Iglesia.
Pero aquí había otro Dios y otra iglesia. El Cristo de esta tierra era un Cristo resentido y amargo" (29). Ein
weiteres biblisches Motiv des Romans ist der Exodus, hier als Flucht einer kleinen Gruppe von Menschen vor
einer als diluvio gedeuteten Überschwemmung. Zwar ist der éxodo auch hier potentiell ein Symbol der Hoffnung,
"búsqueda de nuevas tierras" (47), führt nun jedoch fatalerweise in den Tod236. Daneben ziehen sich weitere
biblische Anspielungen durch den Roman, u. a. an Kain und Abel. Am deutlichsten ist aber die Präsenz von
Christus, und zwar als ewig und sinnlos Leidendem. In mehreren wichtigen Romanfiguren begegnet der Leser
"cristos absurdos" (172); Christus wird hier zum Symbol des leidenden mexikanischen Volkes, und in allen Ar-
men, Verzweifelten und Verfolgten nimmt er neue, menschliche Gestalt an237. Eine Ausnahme, Projektion eines
anderen, noch ganz unwirklichen Christus ist der kommunistische líder Natividad, an dem sich besonders viele
Momente der biblischen Jesus-Geschichte wiederholen. An ihn knüpft das Volk eine messianische
Auferstehungshoffung238:
[...] adivinaba lo que era aquel hombre lleno de juventud, de fuerzas nuevas, de poder misterioso. Hombres como Natividad se levantarían una mañana sobre la tierra de México, una mañana de sol. Nuevos y con una sonrisa. Entonces ya nadie podría nada en su contra porque ellos serían el entusiasmo y la emoción definitiva. (179)
Bemerkenswert ist, daß bereits in diesem Werk, das an der Schwelle vom Revolutionsroman zur Nueva Novela
steht239, die christliche Symbolik in eine Richtung weist, die Jahrzehnte später von der Befreiungstheologie
konkretisiert und systematisiert wurde. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Cristianismo y
revolución überschriebene Notas, die Octavio PAZ jeweils 1943 und 1979 zu El luto humano verfaßt hat240.
Zwei wesentliche Züge des Romans wurden auch dem großen Essayisten mit voller Deutlichkeit bewußt: "la
importancia del simbolismo cristiano en la novela" (147) sowie die Tatsache, daß hier ein anderes, auf die
diesseitige Geschichte des Menschen zielendes Christentum in den Blick gerät: "El marxista Revueltas asume
con todas sus consecuencias la herencia cristiana: el peso de la historia de los hombres" (149)241. Die von Marta
235 Auch hier begegnet wieder das allzumenschliche Wort Jesu: Eli, Eli, lema sabachtani (24). 236 "Palabra con esperanza, aunque remota, en los bárbaros y alentadores libros del Viejo Testamento, pero
fría, muerta aquí, en este naufragio sin remedio de hoy." (47) - Vgl. Portal, S. 183. 237 Trigo 1976, S. 247. 238 Vgl. ebd., S. 250 u. Portal, S. 193. 239 Historischer Rahmen der Geschehnisse ist der Cristero-Aufstand. 240 Octavio PAZ, "Cristianismo y revolución: José Revueltas", in: id., Hombres en este siglo, Barcelona
1984, S. 141-155. 241 Octavio Paz stellt Revueltas' "Christentum" in Bezug zum Urchristentum und zu José VASCONCELOS
- erstaunlich ist, daß seine Beobachtungen von 1979 die zeitgenössischen Entwicklungen in der lateinamerikanischen Kirche mit keinem Wort erwähnen.
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Portal als "alegoría bíblica" bezeichnete christliche Symbolik242 ist auch für Revueltas' späteres Schaffen
kennzeichnend (für sein Gesamtwerk hatte er den Titel Los días terrenales vorgesehen). Im Verein mit einer sehr
kritischen Sicht von Klerus und Kirche ist sie ein konstantes Element seiner zahlreichen Erzählungen. Ein
explizit auf biblischer Vorlage fußender Roman ist Los motivos de Caín (1957). Er erzählt das Schicksal eines
desertierenden US-Soldaten im Koreakrieg als exemplarische Geschichte von einem "ser que huye"243. Die
Flucht, zugleich Suche nach dem verlorenen Paradies, steht wieder symbolisch für die conditio humana, wobei
stärker als in El luto humano in diesem "internationalen" Roman das Bemühen deutlich wird, die Problematik ins
Universelle auszuweiten: "su restitución propia era la de todos los demás, era rescatar a los hombres [...] del
mundo de desesperanza al que parecían estar condenados sin remedio." (54) Der Versuch, die christliche
Eschatologie durch den Kult des Menschen bzw. ein kommunistisches Gesellschaftsideal zu ersetzen und dabei
die religiöse Diktion beizubehalten, läßt den Roman bisweilen ins Schwülstig-Kitschige abgleiten.
Unbestritten ist indessen die hohe künstlerische Qualität des einzigen und meisterhaften Romans Pedro
Páramo (1955) von Juan RULFO (1918-1985). Das kleine Werk erscheint in seinem Bedeutungspotential schier
unerschöpflich, und so verwundert es nicht, wenn verschiedene Kritiker eine scheinbar christlich-symbolische
Dimension zutage gefördert haben: Infierno, Purgatorio, Paraíso sind Begriffe, die in den Analysen neben dem
Hinweis auf den "eschatologischen" Charakter des Romans244 immer wieder auftauchen. Zweifellos werden sie
durch den ganzen Text provoziert, wo es schon gleich zu Beginn von dem Schauplatz Comala heißt: "Aquello
está sobre las brasas de la tierra, en la mera boca del infierno."245 Tatsächlich ist das Strukturprinzip des
Romans ein descensus ad inferos, vielleicht wieder nach danteskem Schema. Primär handelt es sich aber um eine
archetypische, nicht biblisch-christliche Struktur: "una búsqueda del Paraíso que termina en el infierno de
Comala."246 Wenn Comala von Toten bevölkert ist, so kommt damit aber auch eine Vorstellung der
lateinamerikanischen Volksreligiosität zum Tragen, nämlich der Glaube an die almas en pena, das Fortleben der
Geister der Verstorbenen: sie treten nämlich als die eigentlichen Protagonisten des Romans auf247. Zwar ist der
Katholizismus auch hier mit seinen äußeren Manifestationen allgegenwärtig: der Glaube ist aber wie alles von
242 Portal, S. 184. 243 José REVUELTAS, Los motivos de Caín, México: Era, 1979, S. 22. 244 Vgl. Donald FREEMAN, "La escatología de Pedro Páramo", in: Helmy F. GIACOMAN [Hg.],
Homenaje a Juan Rulfo, Madrid 1974, S. 255-281, u. id., Paradise and fall in Rulfo's Pedro Páramo: archetype and structural unity, Cuernavaca 1970.
245 Juan RULFO, Pedro Páramo, Barcelona: Bruguera, 1981, S. 11. 246 Franco 1980, S. 385. 247 Joseph SOMMERS, "A través de la ventana de la sepultura: Juan Rulfo", in: Loveluck, S. 153-171
(zuerst in id., After the storm, Caracas 1969): "Semejantes creencias populares son una parte tan grande de la estructura y son tan importantes para las concepciones de Rulfo respecto a la existencia, que ellas constituyen la realidad viviente de Pedro Páramo, sobreimponiendo elementos mágicos al proceso narrativo 'realista'." (S. 168) - Nach C. Goic ist der Roman in dieser Hinsicht mit Cien años de soledad und DONOSOs El obsceno pájaro de la noche zu vergleichen (Goic 1972, S. 256). Eine teilweise noch "christlichere" Volksreligiosität ist für eine ganze Reihe der zu untersuchenden Romane strukturell bedeutsam.
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muerte und pecado gezeichnet und gelähmt. Der allmächtige Kazike Pedro Páramo hat auch in diesem
Erzähluniversum die Stelle Gottes eingenommen248. Sehr differenziert gestaltet ist dennoch die Figur des
Dorfgeistlichen Rentería, bei dem das Verlangen nach einem anderen, lebendigen Christentum keineswegs
erloschen ist:
El Padre Rentería es quien expresa con el mayor patetismo la agonía del clero latinoamericano: las amarras viejas de los poderosos, tan difíciles de romper, y el espíritu cristiano que grita cada vez más reciamente la necesidad de un compromiso con los oprimidos.249
Für Trigo ist der Padre Rentería, der sich später entschließt, am bewaffneten Kampf der Cristeros teilzunehmen,
eine Präfiguration des revolutionären Priesters Camilo TORRES.
Ein Altersgenosse Rulfos, dessen Schaffen in ganz anderer Weise um "la teología, el infinito, en general
los problemas metafísicos" kreist250, ist Juan José ARREOLA (*1918). Sein Werk hat augenscheinlich eine
"universellere" Ausrichtung als dasjenige von Juan Rulfo, mit dem er diesbezüglich in den 50er Jahren eine
Polemik ausfocht. Durch ein taller literario, das er längere Zeit in der Hauptstadt unterhielt, hat er maßgeblich
auf jüngere Autoren, unter ihnen Vicente LEÑERO, gewirkt251. In Kurzgeschichten wie El silencio de Dios, En
verdad os digo und El converso252 behandelt er die Glaubensproblematik des modernen Menschen und
verarbeitet Motive aus dem Neuen Testament. Arreolas bisher einziger Roman La feria (1963) widmet sich dem
religiösen und gesellschaftlichen Leben einer imaginären Stadt in Jalisco und verarbeitet dabei biblische Motive,
vor allem aus dem Werk der Propheten253. Die Erzählung spiegelt die Existenz zweier verschiedener Formen
des Christentums, die "realidad de una institución eclesiástica dividida". Für die Kirche gilt die Alternative: "con
los pobres o con los ricos."254 Angesichts des traditionellen Desinteresses, das die Kirche für die Belange der
comunidad indígena zeigt, kommunizieren die ihr zugehörigen campesinos ohne deren Vermittlung mit dem Hl.
Joseph als der Symbolfigur und dem Befreier der arbeitenden Bevölkerung255.
248 Zur "unión de los dos poderes: el del cacique y el religioso" vgl. Manuel Antonio ARANGO, "Correlación social entre el caciquismo y el aspecto religioso en la novela Pedro Páramo de Juan Rulfo", in: Cuadernos Hispanoamericanos, 114 (1978), S. 401-412. Arango beschäftigt sich ferner ausführlich mit der Figur des Padre Rentería.
249 Trigo 1976, S. 252. 250 Emanuel CARBALLO, zit. nach Schwartz, S. 293. 251 Vgl. u. S. 496 f. 252 In Confabulario (1952); Neuauflage als: Obras de Juan José Arreola, II , México: Mortiz, 51976. In der
Einleitung zu dieser Sammlung ("De memoria y olvido") spielt Arreola, der Jesaja als eines seiner literarischen Vorbilder nennt, auf den prophetischen Anspruch seiner schriftstellerischen Aktivität an. Seine Hoffnungen legt er in die jungen mexikanischen Autoren: "[...] en ellos delego la tarea que no he podido realizar. Para facilitarla, les cuento todos los días lo que aprendí en las pocas horas en que mi boca estuvo gobernada por el otro. Lo que oí un solo instante, a través de la zarza ardiente." (S. 10 f.)
253 Vgl. Schwartz, S. 294 f. 254 Trigo 1980, S. 81; vgl. Trigo 1976, S. 251 f. 255 Vgl. Trigo 1976, S. 252.
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Als Schrittmacher und Exponent des boom nicht unerwähnt bleiben darf Carlos FUENTES (*1928). Im
Mittelpunkt seines frühen, noch ganz auf herkömmliche Weise erzählten Romans Las buenas conciencias (1959)
steht die religiöse Krise eines Heranwachsenden im bürgerlichen Milieu einer Provinzstadt. Sie wird dadurch
ausgelöst, daß er in der "religiosidad externa y moralizante" seiner Familie eine "caricatura del verdadero
cristianismo" erkennt256. In dem Jungen wächst ein - allerdings ephemerer - Drang, seine Verwandtschaft
religiös zu "reformieren", worin er durch die Figur eines "wirklich" christlichen Priesters bestärkt wird (ihm steht
im Roman ein weiterer, weniger positiv gezeichneter Geistlicher gegenüber). Jaime gewinnt zeitweise ein
Bewußtsein davon, daß Christus der Impuls einer Beunruhigung oder gar der Rebellion gegen das Etablierte sein
könnte; seine Entwicklung endet aber in der Anpassung, für die jener andere, erstarrte Christus der buenas con-
ciencias steht. Auch in Carlos Fuentes' bekanntestem Roman La muerte de Artemio Cruz (1962) sind Kirche und
Religion wesentliche Bestandteile der dargestellten Wirklichkeit, und zwar allein schon deshalb, weil der Roman
eine literarische Aufarbeitung der mexikanischen Geschichte ist. Das mexikanische Christentum erscheint
weitgehend in negativem Licht257 und jener Vergangenheit zugehörig, die in dem Roman zusammen mit der
Hauptfigur langsam dahinstirbt. - Als einen "antichristlichen", "blasphemischen" und "ketzerischen" Roman hat
zumindest die spanische Zensurbehörde den 1967 erschienenen Roman Cambio de piel aufgefaßt258. Dieses
Urteil trifft freilich nicht die Intention des Romans: er ist ein Beispiel jener "mythischen" Erzählweise, in der
Christliches als "Mythos" - in Parallele zu altamerikanischen Vorstellungen - verarbeitet und auf modernes
Geschehen projiziert wird259. In dem Mythenkonglomerat des Romans spiegelt sich die mexikanische als eine
synkretistische Kultur, wobei ein archetypischer Kern, z. B. der Ritus des Opfers, sich unter
austauschbaren - altmexikanischen oder christlichen - "Häuten" verbergen kann. In diesem Sinne wird der
Erzähler Lambert sowohl mit Xipe Totec als auch mit Christus identifiziert. Bemerkenswerterweise ist Christus
hier allerdings nicht nur die symbolische Inkarnation des Opfers, sondern auch der Archetyp des Rebells:
And the narrator also identifies with Christ, whom he evokes not in his role of Messiah or Saviour, but as an intrepid iconoclast. For Lambert, Christ is the revolutionary who challenged the
256 Guillén Preckler, S. 47; hier findet sich eine ausführliche Analyse. Als Hinweis auf die symbolische Bedeutung der Hauptfigur können wieder die Anfangsbuchstaben seines Namens verstanden werden (Jaime Ceballos). In einer Karfreitagsszene kommt es zu einer Art unio mystica zwischen Jaime und dem Christus des Volkes (vgl. ebd., S. 50). - Marta Portal (S. 242 ff.) stellt ebenfalls fest, daß die fe der Protagonisten ein wesentliches Motiv bei Carlos Fuentes ist; bei ihm werde erstmals ein "conflicto íntimo religioso" außerhalb eines vordergründig religiösen Kontexts gestaltet. - Vgl. Lavin A. GYURKO, "The self as ironic hero in Fuentes' Las buenas conciencias", in: Horizontes, 16: 31-32 (1973), S. 95-118.
257 Tatsache ist, daß die Auseinandersetzung mit dem Christentum Fuentes' ganzes Werk unterschwellig durchzieht, wobei blasphemische Seitenhiebe vielleicht auf ganz persönliche biographische Motive zurückgehen. Vgl. Jesús GUISA y AZEVEDO, "Le falta talento a Carlos Fuentes para ser blasfemo", in: Lectura, 4 (1967), S. 99-104. Fuentes sieht sich selbst auf der Suche nach einer "nueva herejía", was allerdings nicht primär religiös gemeint sein dürfte (Luis HARSS, "Carlos Fuentes, o la nueva herejía", in: id., Los nuestros, Buenos Aires 1971, S. 380).
258 Zit. nach Eyzaguirre, S. 310 f. (Nota 26). 259 Vgl. Schwartz, S. 310 f.
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established order of his time, who undercut the sanctimoniousness of the Pharisees: 'el primer tipo verdaderamente desordenado de la historia, que hoy andaría en moto y bailaría watusi nomás para darle en la chapa a los beatos, y que eso de resucitar muertos y caminar en el agua y llevarse a todo trapo con las troneras del barrio era una manera de escandalizar, porque no hay otra manera de consagrar.264
Trotz dieser hoffnungsvollen Akzente und Ausblicke siegt in der Realität des Romans nicht die Frühlingsgottheit,
die hier durch das Christussymbol vertreten wird, sondern der Mensch bleibt im fatalen Zyklus des Todes
gefangen265. In der erzählten Welt, die ein Abbild des modernen Mexikos, wenn nicht der modernen Zivilisa-
tion überhaupt sein möchte, wird dem Christentum seine Ambiguität zum Verhängnis:
Lo chingón de un buen evangelio es que también tiene dos caras y sólo sobrevive si puedes jugar voladas con él [...] ¿Sabes que el propio testamento de tus rucasianaos dice: "No seguirás a la multitud? Qué tal si el güerito J. C., nuestro primer rebeldazo, hace las paces con roma y se dedica a jugar al tute con Iscariote [...].266
Vicente LEÑERO (*1933) ist einer der jungen mexikanischen Autoren, die der Post-boom-Generation
angehören. Wie nur wenigen anderen hispanoamerikanischen Romanciers gelingt ihm die ästhetisch und
gedanklich ansprechende Synthese von offenem Bekenntnis zu einem realitätsbezogenen christlichen Glauben
und modernen literarischen Ausdrucksformen. Seinem Werk wird daher ein eigenes Kapitel gewidmet.
2.3210 Kuba
Die bedeutendsten modernen Erzähler aus Kuba bedienen sich in ihren großen Romanen durchgängig einer an
universellen Symbolen überreichen Darstellungsweise. Der wohl bekannteste unter ihnen ist Alejo
CARPENTIER (1904-1980). Besonders Los pasos perdidos (1953) ist ein Roman, der mit seinem Rückgriff auf
Mythen sowohl aus der biblisch-christlichen als auch anderen Kulturtraditionen für die zeitgenössischen Autoren
Signalwirkung gehabt hat - vor allem, weil bei ihm der Bezug zu den spezifisch lateinamerikanischen contextos
immer gewahrt bleibt. Auch ihm wird daher im Hauptteil ein eigenes Kapitel gewidmet.
Dem Werk Carpentiers in mancher Hinsicht vergleichbar ist dasjenige von José LEZAMA LIMA
(1912-1976). Schon der Titel seines großen Romans Paradiso (1966), der mit Adán Buenosayres und Rayuela in
eine Reihe zu stellen ist, weist darauf hin, daß hier "biblische Mythen" verarbeitet werden, allerdings teilweise
tatsächlich mit christlich-religiöser Intention. Es handelt sich um einen jener metaphernreichen, oft als "lyrisch"
264 Lavin A. GYURKO, "Autonomous characters and the victimized narrator in Cambio de piel", in: Iberoromania, 5 (1976), S.161. Wie Gyurko darstellt, wird das Christusgeschehen auf mehrere Figuren des Romans projiziert und verbindet sich zudem mit der symbolischen Gestalt des Lazarus (S.184f.).
265 Ebd., S.187. 266 Carlos FUENTES, Cambio de piel, Barcelona: Seix Barral, 21980, S. 299.
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und "barock" bezeichneten Total-Romane: an ihm läßt sich ablesen, daß Lezama Lima in den 40er Jahren als
Herausgeber der Zeitschrift Orígenes hermetische Dichtung, "impregnada de misticismo católico" verfaßt
hatte260. Ähnlich wie das Hauptwerk von Leopoldo MARECHAL ist Paradiso ein Initiationsroman, dessen
Symbol-Codes die Bibel, die christliche Theologie und DANTEs Divina commedia sind. Mehr noch als Adán
Buenosayres ist der wieder durch seine Initialen gekennzeichnete Protagonist José Cemí261 eine
christusähnliche Figur, wobei die Parallelen sich aber auf die metaphysisch-mystische Ebene beschränken. Die
symbolische Struktur mit den Stationen Kindheit ("Paradies"), Passion und Auferstehung verleiht dem
zunächst chaotisch anmutenden Roman eine freilich zerbrechliche Kontinuität und Ordnung. Die "Auferstehung",
die als Leitmotiv des Romans hervortritt, bleibt ein auf die Innerlichkeit des Individuums beschränktes
Phänomen262. Ähnliches gilt für den postum erschienenen Roman Oppiano Licario (1977)263, der
verschiedene Motive aus Paradiso, insbesondere das der resurrección, weiterführt. Lezama Lima geht es nicht
um eine Veränderung der Wirklichkeit aus der Perspektive des Glaubens, sondern um eine neue Sehweise und
Interpretation eben dieser Wirklichkeit, die als "Epiphanie" begriffen wird. Obwohl sein geistiger Standpunkt
unzweifelhaft im vorrevolutionären Kuba liegt, hat Lezama Lima später ein positives, wenn auch
"metaphysisches" Verhältnis zur Revolution gefunden:
Er preist sie als die neue Ära einer positiven, fast christlichen Armut. "Die kubanische Revolution bedeutet, daß alle negativen Beschwörungen enthauptet worden sind [...]. Der Stil der Armut, die unerhörten Möglichkeiten der Armut haben bei uns wieder eine wirkende Fülle erlangt".264
Lezama Lima hat auf zahlreiche jüngere Autoren maßgeblichen Einfluß ausgeübt: einer der bedeutendsten, die
aus seiner Schule hervorgingen, ist Severo SARDUY (*1937). Dessen Roman De dónde son los cantantes (1967)
ist ebenso wie die Werke von Carpentier und Lezama Lima eine Synthese der verschiedenen Überlieferungen,
welche die kubanische Kultur - stellvertretend für diejenige des gesamten Lateinamerika - geprägt haben. Diesen
260 Franco 1980, S. 357 f.; zu seiner "katholischen Poetik" s. Armando ALVAREZ BRAVO, "Interview mit José Lezama Lima", in: Mechtild STRAUSFELD [Hg.], Aspekte von José Lezama Lima 'Paradiso', Frankfurt/M., 1979, S. 159-172, bes. S. 162 ff., u. Emir RODRIGUEZ MONEGAL, "Paradiso in seinem Umfeld", ebd., S. 48-58.
261 Cemí ist zugleich aber auch eine autochthone Gottheit (vgl. Juan José ARROM in Revista Iberoamericana, 92/93 (1971), S. 470. - Zur christlichen Symbolik s. a. Candido PANEBIANCO, "Il Paradiso esoterico di Lezama Lima", in: Studi di letteratura ispanoamericana, 9 (1979), S. 71-112, bes. S. 91 f.
262 Claudia Joan WALLER, "José Lezama Lima's Paradiso: the theme of light and the resurrection", in: Hispania, 56 (1973), S. 275-282. Vgl. Jean FRANCO, "Lezama Lima im Paradies der Poesie", in: Strausfeld 1979, S. 86-109; die Autorin hebt hervor, daß Lezama den Menschen in Opposition zu HEIDEGGER als "Sein-zur-Auferstehung" versteht und diesen Gedanken in seinem Werk "allegorisch" verarbeitet (S. 86 u. 91).
263 Oppiano Licario, eine in Paradiso verstorbene Figur, erlebt hier die "Auferstehung". Vgl. Rosario FERRE, "Oppiano Licario oder die Auferstehung durch das Bild", in: Strausfeld 1979, S. 183-194.
264 Nach Horst ROGMANN, "José Lezama Lima", in: Eitel, S. 260.
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Wurzeln nachzuspüren und sie mit modernsten erzählerischen Mitteln zu gestalten, ist das Hauptanliegen von
Sarduys Roman.
Drei locker verknüpfte phantasmagorische Erzählungen, die jeweils das chinesische, das afrikanische und
das spanisch-christliche Kulturelement verarbeiten, werden einer "metaphorischen Synthese" zugeführt265.
"Mortal Pérez", eine Figur, die jeweils ihre kulturelle Identität wechselt, hält die drei Geschichten zusammen.
Abschließend erscheint er als eine hölzerne Christus-Statue, an der sich in grotesker Umkehrung der Leidensweg
des biblischen Jesus nachvollzieht. Desgleichen tauchen Personen auf, die an die biblischen Marienfiguren und
den leprösen Lazarus erinnern. Nicht zuletzt in Anbetracht der schwül-erotischen Atmosphäre, die über dem
ganzen Geschehen liegt, mag man in ihm nichts anderes als eine blasphemische Parodie der biblischen Er-
eignisse und katholischen Glaubensvorstellungen sehen266. Neben dem parodistischen verbirgt der Roman
allerdings auch einen utopisch-konstruktiven Gehalt, der wieder einmal in der Forderung nach einem
menschlichen Christus als Alternative zu einem standbildhaft erstarrten Fetisch besteht: "solamente la
humanización de Cristo podrá lograr una segunda redención de la humanidad."267 Bemerkenswert ist, daß in
diesem Roman - ähnlich wie bei Demetrio AGUILERA MALTA, aber mit parodistischem Akzent - eine
Umkehrung jenes literarischen Kunstgriffs vorliegt, der so viele auf Christus-Symbolik beruhende Romane
kennzeichnet. Überhaupt scheint es sich um den Versuch zu handeln, all die "metaphysischen Romane", die
durch Metaphern und Symbole eine zweite Wirklichkeit erzählerisch zu etablieren versuchen, ad absurdum zu
führen. Nach Roland BARTHES zeigt der Roman gerade, "que no hay nada que ver detrás del lenguaje"268.
Zwar ist auch bei Sarduy eine Romanfigur christusähnlich geworden: "¡he aquí la carne hecha verbo!"; im
Vordergrund steht aber die "Entmetaphorisierung": immer wieder wird der Leser auf die erschreckend
fleischliche Natur der Christusfigur "Mortal Pérez" verwiesen. Damit ist allerdings die wenig hoffungsvolle
Konsequenz verknüpft, daß er danach endgültig ins Jenseits befördert wird: die in Anklang an den triumphalen
Einzug in Jerusalem La Entrada de Cristo en La Habana überschriebene Geschichte endet mit "La entrada de
Cristo en la muerte". Doch wird der hölzerne Christus, dessen Gestalt Mortal Pérez angenommen hatte, nicht
gekreuzigt, wenn auch die Golgatha-Szene mit den Siete Palabras anklingt, sondern er zerfällt ganz einfach: "Se
vio desmoronar. Cayó en pedazos con un quejido" (148). Zweifellos ist hierin auch eine Anspielung an das
Schicksal eines überalterten lateinamerikanischen Christentums zu sehen.
Auch wenn bei Severo Sarduy das christliche Kulturerbe ein für allemal in die Brüche zu gehen scheint
und der Roman versucht, mit der hypertrophen Metaphorik und Symbolik, wie sie gerade für einige kubanische
265 Severo Sarduy, zit. nach Schwartz, S. 211. 266 Vgl. Alicia RIVERO POTTER, "Algunas metáforas somáticas-erótico-escripturales - en De dónde son
los cantantes y Cobra", in: Revista Iberoamericana, 123-124 (1983), S. 497-507, bes. S. 505. 267 Dies ist nach R. M. Cabrera (S. 231 f.) "el propósito claro" des Romans - wohl eine etwas zu
apodiktische Formulierung, wenn man den spielerischen, "unmoralischen" Charakter des ganzen Romans bedenkt. Von dem "Christus" Mortal Pérez geht lediglich eine erotische Wirkung aus.
268 Roland BARTHES, "La faz barroca", in: Severo SARDUY, De dónde son los cantantes, Barcelona 1980, S. 5.
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Autoren kennzeichnend ist, abzurechnen, bleibt der Eindruck bestehen, daß das Christentum in den
unterschiedlichen Formen, welche es in einem Roman anzunehmen vermag, weiterhin ein wichtiges literarisches
Potential darstellt. Darüber hinaus hat die christliche Tradition wesentlichen Anteil an den vielfältigen Entwür-
fen, mit denen hispanoamerikanische Autoren Antworten auf die Frage nach der gesellschaftlichen und
kulturellen Zukunft des Subkontinents zu geben versuchen. Der Überblick hat gezeigt, daß das Christentum zwar
massiv, aber auch in mannigfaltigen, kaum miteinander vergleichbaren Formen zutage tritt. Selbst die
Phänomene, die sich unter "spezifisch christlicher Symbolik" zusammenfassen ließen, sind unter sich noch zu
heterogen, um eine kohärente Deutung zu gestatten, ja sie lassen gerade erst die Problematik dieses Begriffs als
Instrument der literarischen Analyse aufscheinen. Die Konzentration auf eine Auswahl strukturverwandter
Werke, bei denen Christentum bzw. christliche Symbolik mehr als nur unreflektierte und zufällige Accessoires
sind, wird somit zur unabdingbaren Voraussetzung jeglicher vergleichenden Deutung.