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Kampf um Samara

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Thorin Band 3

Kampf um Samara von Al Wallon

Der Sturm auf die Wüstenstadt beginnt -

und die dunklen Mächte triumphieren

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Jenseits der Todeswüste von Esh erstreckte sich das Fürstentum von Samara - ein kleines Reich, das König Keron und sein Söldnerheer er-obern wollen. Nachdem es Thorin gelungen war, die finsteren Pläne des Magiers Loon zu durchkreuzen, marschierte das Heer aus Kh'an Sor unaufhaltsam weiter und bis jetzt stellten sich ihnen kaum Wider-sacher entgegen.

König Keron war verbittert und voller Hass, denn durch die Ereig-nisse, die sich in der vergessene Ruinenstadt in der Todeswüste zuge-tragen hatten, hatte er seine Schwester Dania verloren - an eine uralte Macht, die durch Danias Ring wieder zum Leben erweckt worden war. Deshalb wollte er Samara erobern und Fürst Dion von seinem Thron stürzen.

Thorin, mittlerweile Hauptmann einer Söldnerlegion, wollte für Ke-ron und für den Sieg kämpfen. Aber Samara wurde schon längst nicht mehr von Fürst Dion beherrscht, sondern von dunklen Kräften, die tief in den Katakomben der Stadt schon lange darauf warten, irgendwann einzugreifen. Dieser Augenblick kam, als der KAMPF UM SAMARA be-gann und eine Stadt zum Untergang verurteilte...

*

Dichter Morgennebel hing über dem Land jenseits der Todeswüste von Esh. Die Sonne war gerade erst über den roten Sandsteinfelsen aufge-gangen, aber ihr Licht wurde von den milchigen Schleiern verschluckt, die es noch nicht einmal zuließen, dass man die weite Ebene sehen konnte. Es war die Jahreszeit, in der solch dichter Nebel von einer Stunde zur anderen auftrat und dann für Stunden das Land ver-schluckte, bis sich schließlich die helle Sonne doch ihren Weg durch die dichten Schleier bahnen konnte.

»Ich kann nichts erkennen!«, schimpfte der Mann, der sich mit seinen Gefährten hier oben in den Felsen postiert hatte und schon seit Stunden darauf wartete, dass sich jenseits des Horizontes endlich das feindliche Heer aus Kh'an Sor zeigte. »Bei dem mächtigen Parr - was ist, wenn wir nicht rechtzeitig bemerken, dass diese Bastarde im An-marsch sind?«

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»Wir werden es bemerken, Trish«, erwiderte einer der Soldaten, die neben ihm standen und ebenfalls hinaus in den Nebel blickten. »Denn ein Heer kommt nicht lautlos heran. Wir müssen eben nur war-ten, bis Loon sie hierher führt - erst dann können wir zuschlagen und sie alle töten.«

»Sie hätten aber schon längst hier sein müssen«, gab der Soldat namens Trish zu bedenken. »Du bist es doch gewesen, der Loon zu-letzt draußen in der Wüste getroffen hat, Imerkan. Was hat er dir denn gesagt?«

»Er hat mir nur berichtet, dass König Keron ihm vollkommen ver-traut und nichts davon ahnt, dass Loon das gesamte Heer in eine töd-liche Falle führen wird«, antwortete Imerkan. »Sie haben einen langen und harten Weg hinter sich, der viel Kraft kosten wird. Niemand wird ahnen, dass am Ende dieses Weges der Tod lauert...« Er lachte gehäs-sig bei den letzten Worten.

»Loon ist ein mächtiger Magier«, sagte Trish gedankenverloren. »Es ist gut, dass er in den Diensten unseres Fürsten steht. Ohne seine Hilfe würde es wahrscheinlich eine Schlacht zwischen den Heeren aus Kh'an Sor und Samara geben, die viele Menschenleben kosten wird.«

»Womit du mehr als recht hast«, pflichtete ihm sein Kamerad bei. »Und jetzt zerbrich dir nicht mehr unnötig den Kopf über Loons Aus-bleiben. Er wird schon bald kommen und bis dahin bleibt uns eben nichts anderes übrig als abzuwarten. Vergiss nicht, wie viel davon ab-hängt, dass die Feinde ahnungslos in die Falle tappen. um so schneller wird der Krieg zwischen Kh'an Sor und Samara beendet sein.«

Trish nickte nur bei diesen Worten. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, wenn sich der Nebel verzogen und er einen klaren Blick über das vor ihm liegende Gelände gehabt hätte. Die Felsenlandschaft süd-westlich von Samara war ziemlich zerklüftet und unübersichtlich dazu. Zahlreiche Schluchten und Wege kennzeichneten dieses Gelände. Hin-ter ihnen befand sich nur wenige Stunden entfernt die Hauptstadt des Fürstentums und vor ihnen in nordwestlicher Richtung erstreckte sich die Todeswüste von Esh, ein dürrer Streifen Landes, das nur ein Ver-rückter allein durchquerte. Hitze, Sand und Wüstenstürme machten einem Reisenden das Leben zur Qual. Ganz zu schweigen von den

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wenigen Quellen, die es dort gab und die einen zum Tode verurteilten, wenn man sie nicht rechtzeitig erreichte. Und ein Heer, das die To-deswüste durchquerte, würde sicherlich ziemlich entkräftet sein, wenn es diesen Landstrich erst einmal hinter sich gebracht hatte. Zumal es ja Loons Absicht gewesen war, das Heer nicht direkt bis hierher zu führen, sondern auf Umwegen!

Fürst Dion hatte eine schlagkräftige Streitmacht hier in den Sand-steinfelsen postiert, die der Armee aus Kh'an Sor dann so zusetzen sollte, dass es anschließend ein leichtes sein würde, sie endgültig zu besiegen. Es waren mehr als hundert Soldaten, die in den zerklüfteten Felsen Posten bezogen hatten und ihre Waffen bereithielten, um dann auf Kommando sofort losschlagen zu können. Unter ihnen befanden sich zwanzig gute und treffsichere Bogenschützen, die sich unmittelbar am Rande des Abgrundes aufhielten, von wo aus sie den gefiederten Tod den Soldaten aus Kh'an Sor entgegenschicken würden, sobald diese in Sicht kamen und dem Weg folgten, der durch eine enge Schlucht führte.

Andere Soldaten wiederum hatten etwas weiter drüben Posten be-zogen und schon seit Stunden Felsen und lockeres Gestein aufgehäuft und dann mittels eines Holzgestelles dort aufgetürmt. Diese Felsbro-cken würden sofort in die Tiefe fallen, sobald die Soldaten die Stricke kappten, mit denen die Holzgestelle verbunden waren. Eine Felsenla-wine würde dann in die Schlucht stürzen und dem Heer den Rückweg versperren. Dann blieb nur noch der Weg nach vorn und das war dann der Moment, wo die Bogenschützen und Lanzenwerfer eingreifen wür-den. Zuletzt blieb dann nur noch der Kampf Mann gegen Mann und wer hier der Sieger sein würde - daran hatte keiner der Soldaten aus Samara ernsthafte Zweifel.

Nur der Nebel, der vor der Morgendämmerung plötzlich aufgetre-ten war - damit hatte niemand gerechnet. Deshalb waren die Worte der Soldaten und zahlreichen Wachposten nun gänzlich verstummt. Stattdessen versuchte jeder der Männer, die vertrauten Geräusche von Hufschlägen zu erkennen. Oder das Klirren von Sattelleder und das Quietschen von Wagenachsen. Alles, was darauf schließen ließ, dass ein Heer im Anmarsch war.

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Aber immer noch blieb alles still und es erschien den Soldaten fast so, als seien sie die einzigen Lebewesen auf der Welt. Samara, die prächtige Stadt am Rande der Wüste, lag hinter ihnen jenseits des Horizontes und dort wartete man schon sehnsüchtig darauf, dass die Soldaten dem Fürsten schon bald meldeten, dass der Plan des Magiers aufgegangen und das Heer König Kerons vernichtet worden war.

Trish zuckte zusammen, als er plötzlich irgendwo drüben am Ein-gang der Schlucht einen Laut vernahm. Unwillkürlich blickte er in diese Richtung, konnte aber natürlich aufgrund des dichten Nebels nichts erkennen.

»Was ist?«, wollte sein Kamerad Imerkan von ihm wissen. »Hast du etwas gehört?«

Trish zögerte mit einer Antwort. »Ich weiß nicht«, erwiderte er unsicher. »Im ersten Moment dach-

te ich, da wäre etwas gewesen. Aber jetzt...« Er zuckte nur mit den Schultern, bevor er fortfuhr. »Dieser Nebel macht mich noch ganz ver-rückt.«

»Bleib ruhig«, sagte Imerkan daraufhin, hielt dann aber auch plötzlich inne, als auch er einen leisen Laut zu hören glaubte. Ein Scharren, wie wenn Fußsohlen auf loses Gestein traten. Dieses Ge-räusch kam seltsamerweise aber nicht aus der Richtung, von wo sie den Feind erwarteten, sondern von weiter oben in den Felsen.

»Du hast auch was gehört, nicht wahr?«, sagte nun Trish, als er den Blick seines Kameraden bemerkte. Imerkan kam jedoch nicht mehr dazu, darauf etwas zu erwidern, denn plötzlich erfüllte ein leises Sirren die morgendliche Stille. Nur Sekundenbruchteile später bohrte sich ein Pfeil in die Kehle des Soldaten aus Samara und stieß ihn nach hinten. Imerkan spürte einen grässlichen Schmerz und seine Augen nahmen einen ungläubigen Ausdruck an.

Er wollte um Hilfe rufen, aber über seine Lippen kam nur ein krächzendes Gurgeln, bevor er schließlich zusammenbrach und starb.

Gellende Kriegsschreie erfüllten die Luft, als sich weiter oben in den Felsen plötzlich die umrisse von Männern abzeichneten, die den Soldaten aus Samara weitere Pfeile entgegenschickten. Und gar man-cher von ihnen traf sein Ziel schon mit dem ersten Schuss.

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Trish war im ersten Augenblick wie gelähmt, als er Imerkan ster-ben sah. Aber dann wurde auch ihm mit einem mal bewusst, was das zu bedeuten hatte. Nicht sie waren es, die die Soldaten aus Kh'an Sor in eine Falle gelockt hatten - sondern es war stattdessen der Feind, der nun den Spieß umgedreht und sich unbemerkt in den Rücken der Samaraner geschlichen hatte!

Trish wollte sich hastig zurückziehen, aber es war schon zu spät dazu. Der Angriff der Feinde aus Kh'an Sor war so plötzlich gekom-men, dass viele Samaraner nicht mehr rechtzeitig reagierten. Die Pfeile der Söldner aus Kh'an Sor brachten den Tod, bevor die Samaraner überhaupt begriffen, wie ihnen geschah. Auch Trish wurde getroffen, bevor er einen schützenden Felsen erreichen konnte. Er schrie auf, als er den heftig brennenden Schmerz im Rücken spürte, der sich schließ-lich über den ganzen Körper ausbreitete und ihn lähmte. Er sah nur noch ganz undeutlich die Gegner, die nun immer näher kamen und seine sich verzweifelt wehrenden Kameraden in arge Bedrängnis brachten. Sekunden später war Trish auch schon tot...

*

Thorin hielt Sternfeuer, die Götterklinge, hoch emporgereckt, als er zusammen mit den Kriegern seiner Legion in den Rücken der Feinde fiel. Der Plan hätte nicht besser sein können. Die Samaraner waren so überrascht von der Tatsache, dass sich die Söldner aus Kh'an Sor un-bemerkt in ihren Rücken geschlichen hatten, dass sie im entscheiden-den Augenblick viel zu spät reagierten. Ein erster Pfeilhagel forderte bereits schon viele Opfer, denn in Thorins Legion befanden sich viele sehr gute Bogenschützen. Deshalb hatte er gerade die Hyrkenier so postiert, dass viele Samaraner den tödlichen Pfeilen nicht mehr entge-hen konnten. Und noch während diese Soldaten sterbend oder schwer verletzt zusammenbrachen, hatten die anderen Krieger bereits ihre Schwerter gezogen, verließen dann ihre Deckung und stürmten auf die Samaraner zu.

Gellende Kampfschreie erfüllten die Luft. Nur wenige Augenblicke später begann ein harter und gnadenloser Kampf Mann gegen Mann.

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Die Samaraner versuchten sich so gut wie möglich zu wehren, aber angesichts der herben Verluste, die sie schon erlitten hatten, war das alles andere als leicht.

Thorin war einer der ersten, die die Gegner jetzt erreicht hatten. Er schwang sein gewaltiges Schwert und drosch damit auf einen der samaranischen Soldaten ein, der natürlich versuchte, diesen Hieb mit seiner eigenen Klinge noch abzuwehren. Aber Thorins Arm führte Sternfeuer so gut, dass der Soldat nicht dagegen ankam. Das Schwert wurde ihm aus den Händen gerissen und nur wenige Atemzüge später bohrte sich Sternfeuer dann in den Magen des Samaraners, der mit einem grässlichen Schrei zurücktaumelte.

Thorin riss die Klinge aus der Wunde des Sterbenden und schenk-te dem zusammenbrechenden Soldaten keinerlei Beachtung mehr. Denn er stand zwei anderen Gegnern gegenüber, die ihn jetzt auf ihn zustürmten.

Thorin parierte den heftig geführten Hieb des ersten Soldaten so-fort und versetzte dem anderen Angreifer dann einen Tritt, der diesen zur Seite stieß. Diese kurze Zeitspanne war ausreichend genug für Thorin, um dem Soldaten, der ihn zuerst angegriffen hatte, den To-desstoß zu versetzen. Noch während der Unglückliche fiel und sein Leben aushauchte, wirbelte der Nordlandwolf auch schon herum.

Gerade noch rechtzeitig, denn in der Zwischenzeit war der zweite Soldat nicht untätig gewesen. Denn er war näher an Thorin herange-kommen als dieser vermutet hatte. Deshalb streifte die Klinge des Gegners Thorin an der Seite und hinterließ dort einen blutigen Strei-fen, der Thorin im ersten Moment zusammenzucken ließ. Dann aber verbiss der Nordlandwolf den Schmerz und drang stattdessen auf den Gegner ein. Mit zwei kräftigen Hieben der Götterklinge gelang es ihm, den Soldaten aus Samara wieder zurückzudrängen.

Der Soldat stieß einen grässlichen Fluch aus, weil er schon ge-glaubt hatte, Thorin mit dem ersten Hieb so geschwächt zu haben, dass dieser unweigerlich diesen Kampf verlieren würde. Allerdings kannte der Soldat nicht den zähen Willen und die Entschlossenheit des Nordlandwolfs, der sich nicht das erste mal in so einer Schlacht befand und deshalb wusste, worauf es ankam. Auch wenn die Wunde, die ihm

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der Soldat aus Samara zugefügt hatte, ziemlich schmerzte, so zeigte er keinen einzigen Moment lang Schwäche. Er holte vielmehr zu einem weiteren Hieb aus, der den Gegner an der Schulter traf. Der Soldat stieß einen lauten Schrei aus und zögerte im entscheidenden Moment. Thorin setzte sofort nach und besiegte den Soldaten dann mit einem gut geführten Hieb, der mitten ins Leben traf. Dann brach der Sama-raner zusammen.

Erneut wirbelte der Nordlandwolf herum, reckte die Klinge empor und hielt Ausschau nach weiteren Gegnern, die es zu besiegen galt. Aber im Augenblick war er sicher davor. Denn wenn es wirklich noch jemanden gab, der mit dem Gedanken gespielt hatte, sich mit dem blonden Hünen auf einen Kampf einzulassen, so war er in den letzten Augenblicken eines Besseren belehrt worden. Denn in dieser Zeit hatte Thorin bereits drei Gegner besiegt und weitere würden folgen, falls es diese wagten, in die Reichweite seiner Klinge zu kommen!

In der Zwischenzeit waren auch die übrigen Männer seiner Legion recht erfolgreich gewesen. Der kleine Polt kämpfte wie ein Berserker und sein Gefährte Jerc, der nur wenige Schritte neben ihm gerade einen Feind bezwungen hatte, stand ihm an Tapferkeit wirklich nichts nach. Die Söldner aus Kh'an Sor drangen mit einer solchen Entschlos-senheit auf die Soldaten aus Samara ein, dass selbst der letzte, noch vorhandene Kampfeswille schon bald im Keim erstickt wurde. Denn nun befanden sich die Samaraner in der Minderzahl und das schwäch-te mit jedem verstreichenden Moment ihre Kampfstärke.

Schließlich gaben die wenigen, noch am Leben gebliebenen Sama-raner auf. Sie warfen ihre Waffen weit von sich, streckten ihre Arme in den Himmel und erflehten die Gnade des Siegers. Das war durchaus ein riskantes Unterfangen, denn in diesen harten und unsicheren Zei-ten hatten sich beide Seiten nichts zu schenken. Aber die Samaraner hatten mehr als nur Glück, dass es Thorin war, der diese Legion an-führte. Denn er beschloss, dass die Samaraner am Leben blieben und hielt deshalb einige hasserfüllte Söldner davon ab, die waffenlosen Feinde jetzt hinzurichten.

»Genug!«, erschallte seine Stimme jetzt. So laut, dass es jeder hö-ren konnte. »Hört auf!«

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Das gab den Ausschlag und rettete die restlichen sieben Samara-ner vor dem Tod durch die Klingen der Söldner aus Kh'an Sor. Mit angsterfüllten Augen starrten die Besiegten nun auf den blonden Krie-ger und erwarteten ihr weiteres Schicksal, während einige der Männer aus Thorins Legion sich nun auf die Leichen der gefallenen Samaraner stürzten, um diese zu plündern. Thorin hielt sie nicht zurück, denn die Männer hatten gut gekämpft und sollten deshalb auch Beute machen können.

»Gnade!«, erklang nun die vor Angst zitternde Stimme eines Sa-maraners, als Thorin mit der vom Blut geröteten Klinge sich den waf-fenlosen Männern näherte. Seine Blicke waren eine Mischung aus Ver-achtung und Abscheu, als er den Söldner um sein Leben betteln hörte. »Lasst uns am Leben!«

Obwohl Thorin wusste, dass keiner der Samaraner gezögert hätte, jeden Besiegten sofort hinzurichten, blieb er bei seiner Entscheidung, das Töten jetzt und hier zu beenden. Denn er wollte die Überlebenden zu König Keron bringen, damit dieser Gelegenheit hatte, die Feinde auszufragen. So würde man ganz sicher vieles erfahren können, was half, die Stadt möglichst rasch zu erobern.

»Ihr werdet leben!«, sagte Thorin. »Zumindest solange, bis ihr vor König Keron steht. Was dann geschieht, hat er zu entscheiden. Bindet diese Hunde!«, befahl er dann zweien seiner Männer, die unmittelbar neben ihm standen. Diese beeilten sich sofort, den Befehl ihres Hauptmanns auszuführen. Sie fesselten die Soldaten aus Samara mit Stricken aus Hanf, die zur Ausrüstung vieler Söldner aus Kh'an Sor gehörten. Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich vonstatten, so dass der eine oder andere der Samaraner voller Schmerz aufstöhnte. Aber Thorin ließ seine Männer jetzt gewähren und blickte stattdessen zurück zu den Felsen.

Von dort waren sie gekommen, nachdem sie zuvor einen großen Bogen geschlagen hatten, um unbemerkt in den Rücken des Gegners zu gelangen. Denn das Spiel des finsteren Loon, der König Kerons Heer hier in eine Falle hatte führen wollen, war aufgedeckt worden und deshalb wusste Keron, was ihn und seine Söldner in der Felsen-wildnis erwartete. Er hatte Thorin und die mutigsten Männer seiner

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Legion losgeschickt und die Soldaten hatten ganze Arbeit geleistet. Auf ihrer Seite hatte es trotz des heftigen Kampfes nur zwei Tote gegeben - aber die Samaraner waren vernichtend geschlagen worden. War das nicht ein gutes Omen für die bevorstehende Eroberung der Stadt? Denn wenn die Feinde so leicht zu besiegen waren, dann würde dieser Krieg ganz schnell beendet sein. Denn schließlich hatte Fürst Dion sei-nen gefährlichsten Mann verloren - nämlich Loon, den finsteren Ma-gier!

»Reiten wir zurück zum Heer!«, befahl Thorin dann seinen Söld-nern. »König Keron soll nicht unnötig warten müssen!«

»Bewegt euch, ihr feigen Hunde!«, schrie nun auch Jerc, der eini-gen der eingeschüchterten Soldaten aus Samara Tritte versetzte, als sich diese nicht schnell genug sputeten. Dabei handelte er sich einen strengen Blick Thorins ein. Was Jerc dann dazu veranlasste, die Be-siegten nicht weiter zu peinigen.

Die gefangenen Soldaten wurden nun von den Söldnern aus Kh'an Sor zu der Stelle der Felsen dirigiert, wo sie ihre Pferde zurückgelassen hatten. Natürlich nahmen sie auch die Tiere der Samaraner an sich und ließen nichts am Kampfesort zurück. Nur wenig später saßen Tho-rin und seine Männer auf und ritten los. Zurück blieben die Leichen der getöteten Soldaten und bereits jetzt schon zeigten sich die ersten Vö-gel am Himmel, die sichere Beute witterten...

*

Auch wenn die Sonne die letzten Schleier des Morgennebels erst vor wenigen Stunden verdrängt hatte, so war bereits jetzt schon etwas von der Hitze des bevorstehenden Tages zu spüren. Der Wind war ganz abgeflaut und am Himmel zeigte sich keine einzige Wolke. Der Vormarsch des Heeres aus Kh'an Sor war nordöstlich der Felsenwild-nis, die die Grenze zwischen der Todeswüste von Esh und Samara bil-dete, zum Stehen gekommen. Und während Hauptmann Thorin mit einem Trupp seiner Männer weiter geritten war, um den Hinterhalt der samaranischen Söldner zu zerschlagen, warteten König Keron und der Rest des Heeres auf ihre Rückkehr.

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Der Herrscher von Kh'an Sor hatte sich sehr verändert, seit sich die verhängnisvollen Ereignisse in der Todeswüste von Esh wie ein Schatten über seine Seele gelegt hatten. Er war mit jedem verstrei-chenden Tag immer mürrischer und wortkarger geworden, denn seit er seine Schwester Dania an eine uralte Macht verloren hatte, waren seine Gedanken voller Hass auf Fürst Dion, Samara und dessen Be-wohner. Denn er schob die Schuld Dion und seinem Handlanger Loon zu, dass Dania dieses Schicksal ereilt hatte.

Und diese Gedanken verhärteten sein Herz. Er wurde unbeugsa-mer und entschlossener und duldete nicht die geringste Schwäche unter seinen Söldnern. Er trieb das Heer unbarmherzig an und nahm keinerlei Rücksicht auf die Krieger, denen die Erschöpfung des langen und gefahrvollen Marsches durch die Todeswüste in den Gesichtern geschrieben stand. Deshalb atmeten die Söldner auf, als der König dem Heer wenigstens eine kurze Ruhepause gönnte.

An all dies musste der Wächter jetzt denken, der auf einer der Hügelkuppen verweilte, von denen aus er einen guten Überblick über das vor ihm liegende Gelände hatte. Er ignorierte die Sonnenstrahlen, die ihm bereits jetzt schon die ersten Schweißperlen auf der Stirn er-scheinen ließen, obwohl die Mittagszeit noch weit entfernt war. Statt-dessen ließ er seine Blicke über das Land schweifen - in die Richtung, wo sich jenseits des Horizontes die felsige Landschaft erstreckte, wo die Soldaten aus Samara das Heer von Kh'an Sor in eine Falle locken wollten. Aber Hauptmann Thorin und seine Männer würden schon da-für sorgen, dass es dazu erst gar nicht kam. Der König konnte sich in dieser Hinsicht auf den blonden Krieger voll und ganz verlassen, denn seit er sich dein Söldnerheer angeschlossen hatte, war er immer durch besondere Tapferkeit und Mut aufgefallen. Und dies würde er ganz sicher auch jetzt wieder unter Beweis stellen!

Der Wächter wusste nicht, wie lange er hier oben auf der Anhöhe verweilt hatte, bis er schließlich am fernen Horizont eine Staubwolke erspähte, die rasch größer wurde. Die Reiter, die sich darin abzeichne-ten, konnte er erst erkennen, als sie näher kamen. Freudige Erregung ergriff ihn, als er an der Spitze des Trupps, der sich in der aufwirbeln-den Staubwolke herauskristallisierte, den blonden Hünen erkannte. Die

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Krieger waren also wieder zurückgekommen und nicht einmal allein. Er erkannte die gefesselten Gestalten auf den Pferden, die die Söldner mit sich führten. Sie hatten Gefangene gemacht und das bedeutete nach Lage der Dinge, dass der Plan erfolgreich verlaufen war.

Der Krieger wendete sein Pferd und ritt wieder hinunter zum Heer. Auch die anderen Wächter sahen jetzt die Reiter näher kommen. Gleich würde es auch der König erfahren!

»Thorin!«, erschallte die Stimme des Wächters, während er zu seinen Gefährten ritt und heftig mit den Armen gestikulierte. »Haupt-mann Thorin kommt zurück!«

Diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile im ganzen Heer. Noch während der Krieger sein Pferd zügelte und abstieg, wurde er auch schon von seinen Gefährten umringt. In der Zwischenzeit verließ auch König Keron sein Zelt und blickte den heran reitenden Söldnern entgegen, die jetzt die Hügelkuppe erreicht hatten und dann hinunter zum Heer ritten.

König Kerons Züge waren härter und ausgezehrter geworden, seit er sein Reich verlassen hatte, um das benachbarte Fürstentum von Samara an sich zu reißen. Auch an ihm waren die Strapazen des lan-gen Marsches nicht spurlos vorbeigegangen. Aber wer den Herrscher von Kh'an Sor längere Zeit beobachtete, dem entging ganz sicher nicht der Hass, der in Kerons Augen leuchtete. Ein Hass, der ihn weiter an-trieb und sein Handeln bestimmte.

Mit Genugtuung richtete Keron seine Blicke auf Thorin und seine Krieger, als diese ihre Pferde unweit der Stelle zügelten, wo der Herr-scher sie schon erwartete. Thorin stieg hastig vom Pferd, während Jerc und Polt die gefangenen samaranischen Soldaten ebenfalls zum Ab-steigen zwangen und sie dann in den Staub stießen, wo sie mit ge-senktem Haupt auf ihr weiteres Schicksal harrten.

»Wir haben die Feinde besiegt, mein König«, ergriff Thorin das Wort und verneigte sich kurz vor Keron, um ihm dadurch den notwen-digen Respekt zukommen zu lassen. Denn auch Thorin war es nicht entgangen, wie sehr sich Keron in den letzten Tagen verändert hatte. »Das sind die Überlebenden. Wir haben sie hier hergebracht, damit Ihr sie ausfragen könnt. Wir selbst haben nur zwei Männer verloren - aber

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die anderen waren mehr als hundert. Unsere Bogenschützen haben ganze Arbeit geleistet.«

»Ihr wart sehr tapfer, Männer«, sagte Keron so laut, dass es alle übrigen Männer von Thorins Legion hören konnten. »Wenn Samara erst gefallen ist, dann werde ich mich daran erinnern, wie viel ihr dazu beigetragen habt.« Dann ging er einige Schritte auf die gefesselten Gefangenen zu und blickte sie lange der Reihe nach an, bevor er sich an einen der angsterfüllten Soldaten wandte. »Wie stark ist die Streit-macht von Dion?«, wollte er dann wissen.

Als der Gefragte darauf nicht gleich antwortete, nickte Keron ei-nem seiner Leute nur kurz zu. Der eilte daraufhin auf den Gefangenen zu und trat ihm heftig in die Seite, so dass der arme Kerl laut aufschrie und hilfesuchend um sich sah. Aber es war natürlich niemand da, der ihm beistehen konnte.

»Rede gefälligst, wenn der Herrscher von Kh'an Sor dich etwas fragt, du Hund!«, fuhr ihn der Söldner an.

»Erbarmen, Herr!«, flehte der Gefangene daraufhin. »Ich bin doch nur ein einfacher Krieger und...«

»Wie viele Männer?«, unterbrach ihn Keron und diesmal klang seine Stimme noch einen Ton schärfer.

»Tausend!«, stieß der Gefangene hastig hervor. »Aber dazu zähl-ten auch diejenigen, die draußen in der Felsenwildnis waren. Herr, verschont uns - beim mächtigen Parr!«

»Wolltet ihr denn meine Männer verschonen, wenn sie in diesen Hinterhalt geraten wären?«, stellte Keron die Gegenfrage. »Ihr hättet sie alle niedergemetzelt ohne zu zögern. Und darum werdet auch ihr sterben - bis auf einen, der Dion berichten soll, dass Samara schon bald fallen wird!«

Jubelrufe brandeten auf, als die anderen Soldaten die Worte ihres Königs vernahmen.

Thorin war da allerdings anderer Meinung als seine Gefährten. Im ehrlichen Kampf einen Mann zu töten war etwas anderes als das To-desurteil über einen Besiegten zu sprechen, der um sein Leben bettel-te. Aber diese Gedanken behielt er lieber für sich, denn König Keron würde dafür kein Verständnis haben.

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»Du da!«, fuhr der Herrscher von Kh'an Sor fort und richtete das Wort erneut an den Gefangenen, der so sehr um Gnade gefleht hatte. »Ich will großzügig sein und dein Leben schonen. Reite zurück nach Samara und berichte Fürst Dion, was du gesehen hast. Niemand wird mich noch aufhalten können selbst euer kümmerlicher Gott Parr nicht!« Er nickte einem der Krieger zu, die Fesseln des Gefangenen zu lösen, was dann auch geschah.

»Verschwinde, du armseliger Hund - bevor ich es mir doch noch anders überlege«, sagte Keron grimmig, als er sah, wie der Samaraner sich vor ihm in den Staub werfen wollte. »Samara wird bald fallen!«

Der Soldat griff hastig nach den Zügeln eines der Pferde und saß dann auf. Man ließ ihn unbehelligt ziehen, denn der König hatte es so entschieden. Auch wenn es viele unter den Soldaten aus Kh'an Sor gab, die auch diesen Mann am liebsten tot gesehen hätten. Er mied es, in die Gesichter der anderen Unglücklichen zu sehen, die jetzt nach Kerons Willen sterben sollten. Stattdessen drückte er dem Tier die Hacken in die Weichen und ritt los, ohne sich noch einmal umzusehen. Noch bevor er die Hügelkuppe erreicht hatte, wurde auch schon das Todesurteil vollstreckt, das König Keron gefällt hatte. Die gefangenen Soldaten aus Samara wurden auf sein Geheiß hin rasch mit gezielten Schwerthieben getötet und das Echo der Todesschreie seiner Kamera-den verfolgte den davon reitenden Samaraner ganz sicher noch viele Tage.

Vielleicht sogar bis zu seinem Lebensende! Während die blutigen Leichen der Hingerichteten weggeschafft

wurden, blickte Keron zu Thorin, der alles mit steinerner Miene ver-folgt hatte.

»Deine Blicke gefallen mir nicht, Thorin«, wandte sich Keron nun an seinen Hauptmann. »Hättest du sie vielleicht geschont? Jeder tote Gegner hilft uns, Samara um so schneller zu erobern.«

»Ihr seid der König«, erwiderte Thorin diplomatisch. »Und meine Männer und ich folgen eurem Befehl.«

»Das weiß ich«, erwiderte Keron. »Hätte ich nur hundert Männer wie dich, Thorin - dann wäre Samara schon längst gefallen. Sag den

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Kriegern, dass wir jetzt weiterziehen. Bevor es dunkel ist, will ich mein Heer von den Toren von Samara stehen sehen!«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ließ Thorin zurück, ohne abzuwarten, ob er vielleicht noch etwas zu sagen hatte. Thorin begab sich daraufhin wieder zu den Männern seiner Legion.

»Ihr habt gehört, was der König gesagt hat«, richtete er dann das Wort an die Krieger seiner Legion. »Holt eure Pferde. Wir reiten sofort los!«

Die Hyrkenier in der Truppe, die schon in der Felsenwildnis in vor-derster Fronst gekämpft hatten, waren auch jetzt wieder die ersten im Sattel. Jerc und Polt dagegen, Thorins alte Gefährten, die ihm schon auf dem Weg nach Cor'can begegnet waren, kannten den Nordland-wolf jedoch gut genug, um zu erkennen, dass ihm in diesem Moment ziemlich viel durch den Kopf ging.

»Der König hat sich sehr verändert«, meinte der kleine Polt. »Eine Hinrichtung, wie wir sie gerade erlebt haben, ist eines Herrschers wie Keron nicht würdig...« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme.

»Sei lieber etwas vorsichtiger mit dem, was du sagst, Polt«, warn-te ihn Thorin ebenfalls mit leiser Stimme. »Wenn das in falsche Ohren gerät, dann musst du womöglich auch dafür büßen.«

Polt wurde unwillkürlich eine Spur bleicher und nickte dann. »Aber Polt hat doch recht«, warf nun Jerc ein, der auch nicht

mehr länger schweigen konnte. »Und warum musste der König den Samaraner denn überhaupt noch gehen lassen? um so überraschter wären sie alle gewesen, wenn das Heer ganz plötzlich vor den Toren der Stadt gestanden hätte.«

»Stimmt«, fügte Thorin hinzu. »Aber das muss mit der Feindschaft zwischen dem König und Fürst Dion zusammenhängen. Darüber weiß ich aber nichts. Das einzige, was ich euch beiden sagen kann, ist, dass es sich hier nicht nur um einen Kampf zwischen zwei gegnerischen Armeen handelt, sondern auch um eine persönliche Auseinanderset-zung von zwei Todfeinden. Und hier kann es nur eine Entscheidung geben - nämlich einen Sieger und einen Verlierer. Wie ich den König kenne, wird er alles tun, um zu gewinnen.«

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»Vielleicht hätten wir doch nicht als Söldner anheuern sollen«, gab der kleine Polt zu bedenken. »Ein Fürst, der über solche Männer wie Loon verfügt, hat bestimmt noch ganz andere Mittel, um uns das Le-ben schwer zu machen. So leicht, wie uns die Werber diesen Krieg geschildert haben, ist es nun wirklich nicht - das sehe ich jetzt schon. Und das zu einem Zeitpunkt, wo wir unser Endziel noch gar nicht er-reicht haben...«

»Aber das Geld haben wir angenommen und deshalb werden wir auch zum König halten«, wies ihn Jerc zurecht. »Nicht wahr, Thorin?«

»Natürlich«, pflichtete ihm der Nordlandwolf bei, während er nach den Zügeln seines Pferdes griff und sich dann mit einer geschmeidigen Bewegung in den Sattel zog.

Allerdings sagte er Jerc und Polt nicht, dass es auch noch ganz andere Gründe gab, die ihn nach Samara zogen. Denn seit er die dra-matische Auseinandersetzung mit dem finsteren Magier Loon hinter sich gebracht hatte, quälten ihn jede Nacht eigenartige Träume, die ihn stark beunruhigten - und sie wurden um so intensiver, je näher das Heer aus Kh'an Sor in Richtung Samara zog. Es waren Träume von finsteren Wesen und Gestalten in blutroten Gewändern, die im Traum schon ihre Hände nach Thorin ausgestreckt hatten. Bis jetzt war der blonde Krieger jedes mal noch rechtzeitig aus dem Schlaf geschreckt, weil die Erlebnisse so seltsam wirklich gewesen waren. Im ersten Mo-ment hatte er nie gewusst, ob es nur ein Traum gewesen war. Und auch Sternfeuer, die Götterklinge, hatte immer in dem Moment kurz und hell erstrahlt, wenn Thorin aus seinem Alptraum erwacht war. Ein Zufall konnte das also nicht mehr sein - demzufolge musste das etwas zu bedeuten haben.

Merkwürdig, dass er sich ausgerechnet jetzt wieder an Danias Worte erinnerte, die ihm gesagt hatte, dass jeder seine Bestimmung hatte - somit auch Thorin. Und vielleicht war es ja seine Bestimmung, die er in Samara finden würde - oder den Tod!

Thorin drückte dem Pferd die Hacken in die Weichen und das Tier setzte sich sofort in Bewegung. Das Heer aus Khan Sor setzte nun seinen Weg in Richtung Samara fort, während die Sonne immer weiter nach Süden empor kletterte. Aber König Keron, der an der Spitze sei-

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nes Söldnerheeres ritt, blickte nicht mehr zurück. Für ihn gab es nur einen einzigen Weg - und der endete in der Thronhalle von Fürst Di-on...

*

Das unruhig flackernde Licht brennender Fackeln erhellte die große Tempelhalle nur notdürftig. Auch tagsüber herrschte im Tempel des Gottes Parr ein düsteres Zwielicht, das niemals bis in die Seitenräume und Nischen des großen Steinbaus vordrang. In der Luft hing der Duft von verbrannten Kräutern und Essenzen und es war kalt, obwohl draußen vor den steinernen Toren des Göttertempels die Sonne ihren höchsten Stand schon überschritten hatte und die Wüstenstadt mit ihren wärmenden Strahlen überschüttete.

Der kahlköpfige Priester im blutroten Gewand kniete in stiller De-mut in einem abgeschiedenen Raum, zu dem er nur und die einge-weihten Adepten Zugang hatten. Es war ein Raum, zu dem es keine sichtbaren Türen gab, sondern verborgene Zugänge, die nur die ein-geweihten Mitglieder der Priesterkaste kannten. Den Mittelpunkt des Raums bildete ein Altar aus dunkelgrünem Smaragdstein, der bizarr geformt war und auf dem Dinge standen, die seltsam fremd erschie-nen.

»Mächtiger Modor - gewaltiger Herrscher über die Sümpfe von Cardhor«, erklang die monotone Stimme Hor-Dolans, des obersten Priesters von Samara. »Dein ergebener Diener fleht um deinen Bei-stand...«

Dieses Gebet wiederholte er dreimal mit geschlossenen Augen, während er die Hände zum Altar hoch streckte und den grünen Stein berührte. Er fühlte sich eiskalt an, als handele es sich um gefrorene Smaragde. Aber die Kälte, die von diesem Altar ausging, hatte einen anderen Ursprung. Einen Ursprung, den selbst die eingeweihten Adep-ten des Priesterordens nicht genau überblicken konnten. Denn die Macht, zu der Hor-Dolan betete, war noch viel schrecklicher und grau-samer als sein menschlicher Verstand das überhaupt erfassen konnte.

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Der oberste Priester von Samara war so tief in sein Gebet versun-ken, dass er den Rauch hinter dem Altar erst dann bemerkte, als er den Smaragdstein schon fast ganz eingehüllt hatte. Als Hor-Dolan die Augen dann öffnete und es wagte, den Kopf zu heben, zuckte er im ersten Moment zusammen, als er die schwarze Gestalt bemerkte, de-ren Antlitz von einem bedrohlich wirkenden Helm verborgen blieb. Genauso wie der übrige Rest des Körpers, der in eine schwarze Rüs-tung gehüllt war.

»Modor, der Gott der Finsternis, hat deine Bitte erhört«, murmelte die dunkle Gestalt mit einer tiefen Stimme, die Hor-Dolan einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Es war zwar nicht das erste mal, dass diese Erscheinung sich dem obersten Priester ge-zeigt hatte und zu ihm sprach. Trotzdem war er jedes mal von einem stillen Grauen erfüllt, wenn er zu diesen Mächten betete, in deren Diensten auch der mächtige Loon stand. Aber Loon war schon seit einigen Tagen überfällig und deshalb hatte Hor-Dolan beschlossen, den mächtigen Modor um Hilfe zu bitten.

Er warf sich vor der dunklen Gestalt auf den Boden und zeigte damit seine Ehrerbietung.

»Was willst du, Hor-Dolan?«, richtete nun die dunkle Gestalt das Wort an ihn. »Weshalb hast du nach dem mächtigen Modor gerufen?«

»Unruhe breitet sich unter den Priestern und am Hof des Fürsten aus«, antwortete der kahlköpfige Priester jetzt. »Loon ist noch nicht nach Samara zurückgekehrt, obwohl er schon hier sein müsste. Wir sind verunsichert, was nun getan werden soll...«

»Loon wird nicht mehr kommen!«, schnitt ihm der schwarze Ritter das Wort mit zorniger Stimme ab. »Du musst nun die Entscheidungen für die Priester und für den Fürsten treffen, Hor-Dolan. Der mächtige Modor zählt jetzt auf dich!«

Im ersten Augenblick war Hor-Dolan so sehr schockiert von den Worten des schwarzen Ritters, dass er Mühe hatte, seine Gedanken in Worte fassen zu können.

»Ich bin Modors gehorsamer Diener, mächtiger Orcon Drac«, stammelte er rasch. »Ihr könnt euch meiner Dienste sicher sein.«

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»Das weiß ich«, erwiderte der Ritter der Finsternis und untermalte seine Worte mit einer entsprechenden Geste. »Es geschehen Dinge, die auch unmittelbaren Einfluss auf Samara und Fürst Dion haben. Wenn du und die Adepten jetzt treu zu Modor steht, dann werdet ihr reich belohnt werden, wenn die Stunde gekommen ist. Aber bis dahin stell keine Fragen, sondern führe Loons Erbe fort. Du weißt, um was es geht?«

Hor-Dolan nickte. »Die Schlacht zwischen Kh'an Sor und Samara - sie muss stattfin-

den«, antwortete er. »Nur dann wird der mächtige Modor zufrieden sein. Und diejenigen, die helfen, die Schlacht herbeizuführen, ernten den Dank der Götter. Sie werden weiterleben und keine Sorgen mehr kennen...«

Diese Worte kamen nicht von Hor-Dolan selbst, sondern von Loon. Der dunkle Magier hatte zu ihm und den übrigen eingeweihten Adep-ten oft darüber gesprochen und ihnen gesagt, wie wichtig es war, Mo-dor und den Mächten der Finsternis zu dienen. Denn die alten Götter waren schon längst tot und antworteten nicht mehr. Auch nicht der Gott Parr, in dessen Tempel Hor-Dolan nun zu einer anderen Macht betete. Eine Macht, die lebte und deren Einfluss mit jeder verstrei-chenden Stunde immer stärker wurde.

»Ich sehe, du weißt genau, um was es geht, Hor-Dolan«, erwider-te Orcon Drac. »Deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Fürst Dion den Kampf mit Kh'an Sor sucht. Sein Hass auf König Keron, er muss durch deine Hilfe immer neue Nahrung finden - hast du das verstan-den?«

Hor-Dolan nickte, richtete dann aber erneut das Wort an den Rit-ter der Finsternis.

»Verzeiht mir, mächtiger Orcon Drac - aber ich konnte Loon noch nicht danach fragen. Was ist, wenn die Schlacht beginnt und der Tod reiche Beute hält? Was geschieht dann mit mir und den Adepten?«

Ein höhnisches Lachen erfüllte den Raum und Hor-Dolan zuckte zusammen.

»Du sorgst dich also um dein kümmerliches Leben, Priester!«, stellte Orcon Drac mit verächtlicher Stimme fest. »Zweifelst du immer

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noch an der Macht Modors?« Während er das sagte, wies er mit der behandschuhten Rechten auf Hor-Dolan und dieser spürte auf einmal, wie ihn eine unbeschreibliche Atemnot ergriff, als er die Kälte fühlte, die von dieser Hand ausging. Er schnappte nach Luft und wurde ganz bleich, begann zu zittern.

»Für dich und diejenigen, die Modor treu sind, besteht keine Ge-fahr«, fuhr Orcon Drac nun fort. »Ihr werdet Zuflucht in den Katakom-ben der Stadt finden, wenn Samara erst brennen wird. Der Zugang zu meinem Reich wird euch dann offen stehen - ist es das, was du wissen wolltest, Priester?«

Hor-Dolan nickte und war gleichzeitig sehr erleichtert darüber, als er diese Worte hörte.

»Und nun geh zurück in die Tempelhalle«, forderte ihn Orcon Drac nun auf. »Der Fürst ist bereits auf dem Weg zu dir. Er sucht deinen Rat. Du wirst ihn doch hoffentlich nicht enttäuschen?«

»Gewiss nicht, mächtiger Orcon Drac«, erwiderte Hor-Dolan hastig und verbeugte sich erneut vor dem Ritter der Finsternis. Das war auch der Moment, wo wieder Rauch aufstieg, Orcon Dracs Gestalt einhüllte und sie Sekunden später wieder so plötzlich verschwinden ließ wie sie aufgetaucht war. Hor-Dolan erhob sich nun hastig.

Er hatte es eilig, diesen Ort zu verlassen und die Befehle auszu-führen, die er vom Ritter der Finsternis erhalten hatte. Jetzt, wo er um sein weiteres Schicksal wusste, war er auch fest entschlossen, den Willen des mächtigen Modor zu befolgen. Denn dann würden auch er und die wenigen Adepten innerhalb der Priesterkaste gerettet werden, wenn die Stadt unterging. Und was aus den anderen Narren wurde, die immer noch ehrfürchtig zu Parr beteten, kümmerte ihn nicht.

*

Orcon Dracs Geist kehrte wieder zurück in seinen Körper, den er in der Knochenhöhle tief unterhalb der Stadtmauern von Samara zurückge-lassen hatte. Er brauchte einige Augenblicke, um wieder zu sich selbst zu kommen, denn die Zeit, wo Geist und Körper voneinander getrennt waren, kosteten auch einen wie ihn sehr viel Kraft.

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Ein Lächeln umschlich seine Lippen, als er sich vorstellte, mit wel-chem Eifer Hor-Dolan nun ans Werk gehen würde, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Weil Orcon Drac ihm und den anderen eingeweih-ten Priestern ja versichert hatte, dass ihnen nichts zustoßen würde, wenn die Stadt erst von den feindlichen Truppen erobert werden wür-de. Und dieser Narr Hor-Dolan hatte ihm das wirklich geglaubt. Dabei waren der oberste Priester und die übrigen Adepten für Orcon Drac und die Mächte der Finsternis nur Mittel zum Zweck, um den Plan von der Beherrschung der Welt der Sterblichen ein entscheidendes Stück voranzubringen. Natürlich würde Hor-Dolan seine Belohnung bekom-men, aber auf andere Weise, wie er sich es wahrscheinlich erhoffte. Aber solange er das tat, was Orcon Drac von ihm verlangte, war er zufrieden.

Der Ritter der Finsternis hob seinen Kopf und lauschte in die Dämmerung hinein, denn hier unten in den zahlreichen Höhlen, die die Natur einst vor Äonen geschaffen hatte, als sich hier zahlreiche unter-irdische Flüsse noch einen Weg durchs Gestein gebahnt hatten, herrschte nur ein dämmriges Licht. Ein rötliches Schimmern, das von den Kristallen stammte, die das Gestein durchzogen und somit für ge-nügend Helligkeit sorgten. Jedoch brannte in der Knochenhöhle selbst das kalte Licht des Feueraltars - Tag und Nacht, denn dieser Ort war Orcon Dracs Zuflucht. Nur hier konnte er Verbindung mit Modor und den anderen Mächten der Finsternis aufnehmen und ihre Befehle emp-fangen.

Jenseits der Knochenhöhle hörte Orcon Drac das Tappen zahlrei-cher Schritte und immer wieder das leise Knurren der Echsenkrieger, die Modor ihm geschickt hatte, seit er dem Gott der Sümpfe von dem Sterblichen berichtet hatte, der das Götterschwert trug - genauso wie es in den Schriften von Ushar erzählt wurde. Und deshalb hatte Modor rasch gehandelt und die unheimlichen Echsenkrieger hierher in Orcon Dracs dunkles Reich geschickt, damit sie im entscheidenden Moment eingreifen konnten, wenn dieser Sterbliche mit dem Götterschwert nach Samara kam. Denn die uralten Prophezeiungen durften sich auf gar keinen Fall erfüllen - sonst waren die Mächte der Finsternis ge-fährdet und das wollten die dunklen Götter natürlich verhindern. Des-

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halb musste der Krieger mit dem Götterschwert so rasch wie möglich sterben und dies würde geschehen, sobald er Samara erreicht hatte und für eine Sache kämpfte, die schon längst verloren war. Aber das wussten weder Fürst Dion noch König Keron...

*

Die Leibgarde des Fürsten blieb draußen vor den Toren des Tempels zurück, während Dion einem der asketisch wirkenden Priester auftrug, ihn zu Hor-Dolan zu bringen. Der Mann im blutroten Gewand verbeug-te sich nur kurz vor seinem Fürsten und ging dann wortlos voran. Dion folgte ihm durch eine mächtige Wandelhalle, deren Decke mit unzähli-gen kunstvollen Ornamenten versehen war. Schließlich erreichte er über einen weiteren Gang dann die gewaltige Halle, das Herz des Göt-tertempels, in dem sich auch viele übrige Priester schon versammelt hatten und mit gesenkten Häuptern monotone Gesänge anstimmten, um den Beistand des Gottes Parr zu erflehen.

Dion registrierte das jedoch nur am Rande, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem obersten Priester der Stadt, der jetzt ganz plötzlich aus einer Nische hervortrat. Hor-Dolan verbeugte sich eben-falls kurz vor dem Fürsten und deutete ihm dann mit einer stummen Geste an, ihm in einen Seitenflügel der Tempelhalle zu folgen, damit die übrigen Priester in ihren Gebeten nicht unnötig gestört wurden.

Die Gesänge der Priester und das Echo, das von den steinernen Wänden schwach zurückgeworfen wurde, ebbten schließlich soweit ab, dass Fürst Dion und der oberste Priester der Stadt das nur noch ganz leise wahrnehmen konnten, nachdem sie beide die Tempelhalle verlas-sen hatten.

»Sie beten schon seit Stunden zum mächtigen Parr«, ergriff Hor-Dolan nun das Wort. »Der Gott wird diese Gebete erhören und Samara beschützen - wie er es immer in unsicheren Zeiten getan hat, mein Fürst.«

»Deswegen bin ich auch gekommen, Hor-Dolan«, erwiderte der Fürst, der unter dem roten Umhang, der seine breiten Schultern be-deckte, ein prachtvoll besticktes Gewand trug. »Seit Tagen habe ich

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nichts mehr von Loon gehört. Er hätte längst wieder nach Samara zu-rückkehren müssen.«

Hor-Dolan wich den Blicken des Fürsten in diesem Moment für ei-nige Sekunden aus, bevor er darauf antwortete. Denn natürlich hatte er bereits vom Ritter der Finsternis erfahren, dass Loon nicht mehr zurückkam. Aber getreu den Befehlen des dunklen Ritters hatte er beschlossen, die Wahrheit dem Fürsten zu verschweigen.

»Parr ist auf seiner Seite, Fürst«, sagte er daraufhin. »Und seine treuen Diener beschützt er - auch in der Gefahr. Vertraut auf Parr und seine Macht, denn er wird...«

»Es ist gut, Hor-Dolan!«, unterbrach ihn Dion abrupt. »Ihr müsst mich nicht andauernd daran erinnern, dass ich auf Parr vertrauen soll. Priester, ich weiß um die Macht unseres Gottes. Ich glaube nur nicht, dass es einen Grund dafür gibt, warum Loon noch nicht hier ist. Schließlich ist er doch erst vor wenigen Tagen draußen in der Todes-wüste mit einigen meiner Soldaten zusammengekommen. Und er hat ihnen gesagt, dass er schon bald darauf wieder hier sein wollte.«

»Wenn er es gesagt hat, dann müsst Ihr noch Geduld haben, mein Fürst«, erwiderte Hor-Dolan, während drüben in der Tempelhalle die Gesänge der übrigen Priester schließlich ganz verstummten. Er wollte dem noch etwas hinzufügen, hielt dann aber inne, als er plötz-lich schnelle Schritte von drüben hörte. Sowohl Hor-Dolan als auch Fürst Dion blickten jetzt in diese Richtung und sahen einen jungen Priester heraneilen, der ganz aufgeregt dreinblickte. Er verbeugte sich mit schuldbewusster Miene vor dem Fürsten und dem obersten Pries-ter, während mit stammelnder Stimme dann Worte über seine Lippen kamen, die so unglaublich klangen, dass Fürst Dion im ersten Augen-blick gar nicht wahrhaben wollte, was er dann zu hören bekam.

»Es ist etwas Unfassbares geschehen, mein Fürst«, sagte nun der junge Priester, dessen Miene etwas von dem widerspiegelte, was er jetzt durchmachte. »Einer der Soldaten, die draußen bei den Felsen das feindliche Heer in eine Falle locken sollten, ist zurückgekommen - und er ist der einzige, der noch am Leben ist. Alle anderen sind tot und...«

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»Was?«, entfuhr es nun dem Fürsten. »Bring mich sofort zu ihm!« Nun war es aus und vorbei mit der Ruhe. Dion hatte es jetzt sehr eilig. Auch Hor-Dolan war angesichts dieser schockierenden Nachricht mehr als erstaunt und folgte ebenfalls dem Herrscher. Sie eilten durch die Tempelhalle, bis sie das große Tor erreicht hatten, wo die Leibgarde des Fürsten zurückgeblieben war. Dion erkannte sofort, dass sich die Nachricht bereits unter den Männern herumgesprochen hatte, denn ein kurzer Blick in die Gesichter der Männer sagte Dion mehr als tau-send Worte.

Bei ihnen befand sich nun auch der Soldat, der sich jetzt sofort vor dem Fürsten zu Boden warf. Er war total in Schweiß gebadet und zit-terte noch am ganzen Körper.

»Sie sind... sie sind alle tot, mein Fürst«, sagte der Soldat. »Ich weiß nicht, wie es geschehen ist... aber auf einmal waren die Feinde in unserem Rücken und überrumpelten uns, bevor wir etwas tun konn-ten. Die meisten waren sofort tot und nur eine Handvoll blieb am Le-ben. König Keron hat auch diese Männer dann hinrichten lassen - mich hat er zu Euch geschickt, damit ich Euch eine Botschaft überbringen kann...«

Dion bemühte sich, dass man ihm den Schock nicht ansah, den ihm diese Hiobsbotschaft versetzte. Aber so ganz gelang ihm das nicht. Die Miene des bärtigen Fürsten war von den Dutzenden von Emotionen, die ihn in diesen Sekunden ergriffen hatten, gekennzeich-net.

»Rede!«, forderte ihn der Fürst dann auf. »Was für eine Botschaft ist es?«

»König Kerons Heer zieht weiter nach Samara, mein Fürst«, sagte der erschöpfte Soldat nun. »Er will die Stadt erobern und hat das auch gesagt. Und ich habe von den anderen Söldnern gehört, dass Loon tot ist!«

»Bei dem mächtigen Parr!«, entfuhr es jetzt dem Fürsten. Zornig wandte er sich nun dem obersten Priester zu. »Ist es das, was Ihr mir sagen wolltet, Hor-Dolan? Eure Priester beten doch schon seit Stunden zu Parr - aber er scheint taub zu sein!«

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Er achtete nicht mehr darauf, ob Hor-Dolan darauf etwas zu erwi-dern hatte, weil er keine Zeit mehr hatte, sich auf lange Gespräche einzulassen. Dazu hatte sich die ganze Lage viel zu sehr verschärft. Dion musste etwas unternehmen und zwar noch in dieser Stunde.

»Kümmert euch um diesen Mann!«, befahl Dion den Soldaten und wies auf den ziemlich erschöpften Krieger, der mit schuldbewusster Miene zu Boden blickte, weil ausgerechnet er es gewesen war, der solch schreckliche Nachrichten hatte überbringen müssen. »Und sorgt dafür, dass nicht gleich jeder in der Stadt erfährt, was geschehen ist!«

Er hatte es nun eilig, den Tempelbereich zu verlassen und zu sei-nem Palast zurückzukehren. Während er seine Schritte beschleunigte und ein Teil seiner Leibgarde ihn auf diesem Weg begleitete, nahm er nur am Rande die neugierigen Blicke vieler Stadtbewohner wahr, die sich zu dieser Stunde auf dem großen Platz in der Nähe des Tempels aufhielten und denen natürlich nicht entgangen war, dass sich dort irgend etwas Folgenschweres zugetragen haben musste. Wahrschein-lich würde schon bald ganz Samara wissen, was draußen bei den Fel-sen geschehen war - und deshalb musste der Fürst rasch handeln, bevor sich in der Stadt eine Panik breit machte, die für alle noch ver-hängnisvolle Folgen hatte!

Jetzt war rasches Handeln erforderlich. Auch wenn es dem gegne-rischen Heer gelungen war, seine Krieger vernichtend zu schlagen, so war damit noch nichts verloren. Denn er verfügte noch über genügend tapfere Soldaten, die er dem Feind entgegenschicken konnte, um ihn aufzuhalten. Denn nun musste er Zeit gewinnen, um die Vorbereitun-gen zu treffen, die jetzt notwendig waren, um den Fortbestand seiner Macht zu sichern. Und dazu gehörte auch, dass sich die Stadt notfalls auf eine längere Belagerung einrichtete. König Keron von Kh'an Sor und seinen Söldnern würde es niemals gelingen, die Stadt zu stürmen, denn Samara war von dicken, hohen Mauern umgeben, die für die Ewigkeit gebaut waren. Diese Mauern würden auch diesem Sturm standhalten, wenn es dazu kam. Und dann würde es sich Keron mehr als einmal überlegen, das Leben seiner Söldner zu riskieren, wenn sie sich beim Angriff blutige Köpfe holten.

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Nur dieses Wissen um die relative Sicherheit der Stadt und ihrer Bewohner hinderten den Fürsten jetzt daran, sich vom Zorn über den Verlust seiner Soldaten übermannen zu lassen. Und als er die Tore seines Palastes erreicht hatte, da hatte er auch schon einen Plan ge-fasst!

*

Mit gemischten Gefühlen blickte Lorys vom Fenster ihres Gemaches im Fürstenpalast hinunter auf den großen Platz vor dem Osttor der Stadt, wo gerade ein weiterer Trupp erfahrener Krieger die Stadt verließ und den Feinden entgegen ritt. Die blonde Gemahlin Fürst Dions war von großer Sorge ergriffen, seit ihr Mann aus dem Tempel zurückgekehrt war und ihr die schrecklichen Neuigkeiten berichtet hatte. Nun sah sie zu, wie nur wenige Stunden später Dion bereits seine Truppen aufge-stellt und die Wachen auf den Zinnen der gewaltigen Mauern verstärkt hatte. Jetzt schon waren Boten unterwegs, die hinaus ins Land ritten, um die Menschen in den Dörfern weiter draußen zu warnen. Und so-bald diese Nachricht vom Näher kommen eines feindlichen Heeres in aller Munde war, würden die meisten nach Samara kommen, denn nur innerhalb der starken Mauern konnten sie den Schutz finden, um das Leben ihrer Familien zu sichern.

Lorys spürte die Unruhe, die Samara ergriffen hatte. Sie fühlte ei-ne wachsende Furcht vor der gegnerischen Armee, die den Truppen des Fürsten bereits einen solch harten Schlag versetzt hatte. Und das, obwohl solch ein Mann wie Loon in den Diensten Dions gestanden hatte. Aber selbst er hatte das Unheil, das nun über Samara lastete, nicht aufhalten können.

Nachdem ein weiterer Trupp Krieger aufgebrochen war, schloss sich das gewaltige Tor der Stadt sofort wieder hinter den Männern, während die übrigen Soldaten wieder ihre Posten bezogen. Lorys at-mete erleichtert auf, als sie erkannte, wie sich Dion jetzt zum Eingang des Palastes begab. So hatte sie wenigstens jetzt Gelegenheit, mit ihm einige Worte zu wechseln, denn in der ganzen Aufregung seit dem Eintreffen des Soldaten, der die Schlacht draußen bei den Felsen über-

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lebt hatte, war es ihr nicht möglich gewesen, mit Dion in Ruhe über alles sprechen zu können.

»Es sind unruhige Zeiten«, murmelte Lorys, als sie sich wieder vom Fenster abwandte. Gleichzeitig tastete sie mit der Hand über ih-ren Bauch, in dem sich neues Leben regte. Sie wusste es erst seit zwei Tagen und hatte beschlossen, Dion es erst jetzt zu sagen. Aber dann war alles anders gekommen...

Vielleicht würde ihr Sohn diese Welt gar nicht mehr erleben - viel-leicht würden sie alle sterben, wenn das feindliche Heer die Stadt er-oberte und sie dann bis auf die Grundmauern nieder brannte. Schreck-liche Ängste peinigten Lorys seit der Stunde, seit sie aus dem Munde des Fürsten erfahren hatte, welches schlimme Schicksal den Samara-nern bevorstand. Und deshalb hatte sie geschwiegen, um Dion nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.

Ihre Gedanken brachen ab, als sie draußen auf dem Gang Schritte vernahm. Nur wenige Augenblicke später betrat Fürst Dion das Ge-mach seiner Frau. Seine Züge wirkten angespannt und blieben das auch jetzt noch. Obwohl er in diesen Räumlichkeiten die Probleme und Sorgen eines Herrschers bisher immer hatte vergessen können.

»Sie werden König Kerons Heer aufzuhalten versuchen«, murmel-te Dion, während er den Helm vom Kopf nahm und achtlos auf das Lager am Fenster warf. »Wir brauchen noch einige Tage, um die Stadt so zu befestigen, dass wir keine böse Überraschung erleben. Und mit den Menschen, die dann Flucht in der Stadt suchen werden, bekom-men wir auch neue Kämpfer, die uns helfen, Samara zu verteidigen.«

»Und neue Münder, die es zu stopfen gilt«, sagte Lorys daraufhin. »Die Kornkammern sind noch voll, Dion - aber irgendwann werden auch diese Vorräte einmal zu Ende gehen und das weißt du. Woher willst du wissen, wie lange die Belagerung dauern wird? Was ist, wenn Keron nicht so schnell aufgibt? Wer vom Hass getrieben wird, der ist um so entschlossener...«

»Wir haben genügend Vorräte und das Wasser in den unterirdi-schen Brunnen der Stadt reicht noch für Jahre«, hielt ihr Dion entge-gen. »Und meine Soldaten werden alles tun, um Kerons Söldner an der Erstürmung der Stadt zu hindern.«

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»Das weiß nur der allmächtige Parr«, sagte Lorys. »Ich werde zu ihm beten, dass er uns vor Kerons Mördern beschützt. Samara muss weiterleben - auch dein Sohn...«

Zuerst hatte sie gezögert, aber nun war es heraus. Im ersten Mo-ment begriff Dion nicht, was ihm Lorys jetzt zu verstehen geben woll-te, aber dann verstand er es doch. Ein kurzes Leuchten trat in seine dunklen Augen, als er dann rasch auf sie zuging und sie in die Arme schloss und so fest an sich drückte, als wolle er sie nie wieder loslas-sen.

»Seit wann weißt du es?«, murmelte er leise an ihrem Ohr. »Seit zwei Tagen«, erwiderte Lorys. »Ich hatte es dir heute sagen

wollen, aber dann kam die Nachricht von der Vernichtung deiner Sol-daten. Ich wollte dich jetzt damit nicht belasten, denn schließlich ging es doch um das Schicksal der ganzen Stadt.«

»Jetzt nicht mehr«, fügte Dion hinzu und sah ihr bei diesen Wor-ten besonders lange in die großen blauen Augen. »Nun geht es auch um die Zukunft des Thronerben, dem ich mein Vermächtnis hinterlas-sen will. Und er soll ein Reich bekommen, das nicht aus Trümmern besteht. Schon allein deswegen darf Keron niemals siegen, verstehst du?«

»Ich werde zu Parr beten, dass dies so sein wird«, murmelte Lo-rys, die sich von den Worten Dions noch nicht so ganz überzeugen ließ. »Aber ich habe Angst, Dion...«

»Vertrau auf den Kampfeswillen meiner Soldaten und die Stärke der Stadtmauern«, riet ihr Dion. »Samara steht schon seit vielen Gene-rationen und die Stadt wird immer noch hier sein, wenn Keron und seine Nachkommen schon längst zu Staub zerfallen sind. Und dieses Wissen wird uns stark machen, wenn die Gefahr naht. Glaub mir, Lo-rys - es ist nicht so schlimm, wie du jetzt vielleicht denken magst...«

Natürlich wusste Dion, dass sich die Situation schon ein wenig an-ders darstellte als er sie ihr jetzt geschildert hatte. Aber er wollte seine Frau nicht jetzt schon beunruhigen. Vor allem, seit er jetzt wusste, dass er einen Sohn bekommen würde...

*

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Misstrauisch ließ Thorin seine Blicke über die verlassenen Häuser des kleinen Bauerndorfes schweifen. Die Bewohner schienen ihre Behau-sungen erst vor kurzem verlassen zu haben, denn in manchen Hütten waren noch die Reste glimmender Feuer zu erkennen. Es erschien ihm fast so, als wenn diese Menschen wirklich Hals über Kopf geflohen waren, um so wenigstens ihr Leben noch retten zu können. Aber alles andere würde nun den Söldnern aus Kh'an Sor in die Hände fallen.

Viel war es allerdings nicht, denn das Dorf sah nicht danach aus, als wenn hier große Reichtümer zu holen waren. Das erkannten die Männer aus Thorins Legion sehr schnell, als sie von den Pferden stie-gen und mit gezogenen Waffen in die Hütten eilten, um sie zu durch-suchen. Aber außer einigen Töpfen und Krügen erbeuteten sie nichts - und deshalb ließen sie auch das liegen.

Mittlerweile würde man auch in Samara wissen, dass das Heer König Kerons auf dem Weg zur Wüstenstadt war. Und deshalb galt es keine unnötige Zeit mehr zu verlieren, denn Fürst Dion würde gewiss nicht tatenlos zusehen, dass das feindliche Heer ohne Gegenwehr in die Nähe von Samara kam. Sie mussten also damit rechnen, dass sich ihnen Krieger entgegenstellten - vielleicht sogar in einem Moment, wo sie am wenigsten damit rechneten. Und für diesen Fall mussten sie dann gewappnet sein!

»Thorin!«, riss ihn die Stimme eines hyrkenischen Söldners aus seinen Gedanken. »Hier ist noch jemand - sieh doch!«

Der Nordlandwolf wandte den Kopf und sah nun, wie der Hyrke-nier einen schmächtigen weißhaarigen Mann aus einer der schäbigen Hütten zerrte und ihm dann einen Stoß versetzte, der den Mann tau-meln ließ. Er konnte sich nicht mehr halten und stürzte deshalb zu Boden, blickte ängstlich in die grimmigen Gesichter der Krieger, die ihn mit gezogenen Schwertern bereits eingekreist hatten und ganz den Eindruck erweckten, als wollten sie diese Waffen auch jeden Moment benutzen um nämlich zu töten!

»Halt!«, erklang Thorins laute Stimme, weil er wohl ahnte, welche Gedanken seinen Söldnern durch den Kopf gingen. »Lasst diesen ar-men Teufel zufrieden!«

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Er stieg nun rasch vom Pferd und näherte sich der Stelle, wo der Weißhaarige am Boden kauerte und auf den Tod wartete.

»Ihr werdet nichts mehr finden«, murmelte der Schmächtige mit zitternder Stimme. »Sie sind alle auf und davon - nach Samara, wo sie Schutz erhoffen vor euch.«

»Und warum bist du nicht mitgegangen?«, wollte Thorin nun von ihm wissen. »Oder bist du so mutig, dass du allein ein ganzes Dorf verteidigen willst?«

Raues Gelächter erschallte aus den Kehlen der umstehenden Söldner, als sie die Worte ihres Hauptmanns vernahmen.

»Ich bin alt und krank«, erwiderte der Weißhaarige daraufhin. »Bis nach Samara hätte ich es nicht mehr geschafft - also bin ich hier geblieben. Und wenn ihr mich jetzt töten wollt, dann bringt es endlich hinter euch. Viel Mut gehört ja wohl nicht dazu...«

»Schweig, Alter!«, fuhr ihn Thorin an, so dass der Weißhaarige sichtlich zusammenzuckte. »Wir kämpfen nicht gegen Alte und Kranke. Deshalb wirst du am Leben bleiben...«

Er wollte noch mehr sagen, hielt dann aber inne, als Hufschläge an sein Ohr drangen, die sich dem Dorf näherten. Ein ganzer Reiter-trupp kam von Norden her auf das Dorf zu und an der Spitze der Söld-ner ritt König Keron selbst. Offensichtlich hatte er sich ein Bild von dem Dorf machen wollen, von dem ihm die Späher berichtet hatten. Deshalb waren Thorin und seine Männer bereits vorausgeritten, aber wie sie mittlerweile selbst erkannt hatten, drohte ihnen an diesem Ort keine Gefahr mehr.

Thorin wartete ab, bis der König sein Pferd zügelte und ihn ansah. Erst dann ergriff er das Wort.

»Die Bewohner sind geflohen bis auf den einen hier!«, sagte Tho-rin und wies auf den Weißhaarigen. »Die anderen sind auf und davon nach Samara, um dort Schutz zu suchen.«

»Diese Sicherheit wird nur solange anhalten, bis unser Heer vor den Toren der Stadt steht, Thorin«, erwiderte König Keron spöttisch. »Und in der Zwischenzeit werden wir dafür sorgen, dass hier nichts zurückbleibt, was dieses jämmerliche Dorf noch bewohnbar machen könnte. Los, zündet die Hütten an! Ich will, dass alles niedergebrannt

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wird - und den Rauch der Flammen soll man hoch emporsteigen sehen - vielleicht sogar in Samara!«

Der weißhaarige Dorfbewohner senkte den Kopf, als er König Ke-rons Worte vernahm. Weil jetzt zur Gewissheit wurde, was viele der geflohenen Dorfbewohner im stillen schon vermutet hatten - nämlich dass das gegnerische Heer mit besonderer Härte und Rücksichtslosig-keit in Fürst Dions Reich eingefallen war.

»Worauf wartet ihr noch?«, erklang König Kerons ungeduldige Stimme. »Nun los, zündet die Hütten an - wir wollen weiter!«

Daraufhin eilten einige der Söldner ins Innere der Häuser und hol-ten dort glimmende Holzstücke hervor. Da die Dächer der meisten Häuser mit Stroh gedeckt waren, bedurfte es keiner großen Anstren-gung, hier ein Feuer zu entfachen. Nur wenige Augenblicke später stiegen bereits die ersten züngelnden Flammen aus den Dächern der Hütten empor, gefolgt von dichtem Rauch. Die Söldner jubelten beim Anblick dieser Zerstörung, während der Weißhaarige heftig schluchzte und das Gesicht in den Händen vergrub. Aber um ihn kümmerte sich jetzt niemand mehr, denn der König hatte den Aufbruch befohlen.

Thorin ließ deshalb die Krieger seiner Legion rasch wieder aufsit-zen und stieg dann selbst auch in den Sattel. Dichter Rauch aus den brennenden Hütten legte sich auf seine Atemwege und reizte seine trockene Kehle, ließ seine Augen tränen. Deshalb war er sehr erleich-tert, aus der Nähe der brennenden Hütten zu kommen.

»Weiter nach Samara!«, rief König Keron so laut, dass es alle Söldner hören konnten. Und auch wenn der Herrscher von Kh'an Sor sich in den letzten Tagen als besonders hart und rücksichtslos gezeigt hatte, so gelang ihm in diesem Moment eines vortrefflich - nämlich den Kampfeswillen seiner Söldner erneut zu stärken. Es gab keinen unter den Kriegern, der dem König den Gehorsam verweigert hätte. Verbrannte Erde und zerstörte Hütten gehörten nun einmal zu einem Feldzug wie das Singen der Schwerter und die Kriegsschreie der tap-fersten Männer!

Sie ließen das brennende Dorf hinter sich und keiner blickte mehr zurück. Stattdessen zogen sie rasch weiter nach Süden und hofften

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alle, bald vor den Toren der Wüstenstadt zu stehen und zu sehen, wie diese samaranischen Hunde vor Angst zitterten!

*

Der Kriegertrupp tauchte überraschend hinter einer Anhöhe auf und griff sofort die linke Flanke von König Kerons Heer an. Todesmutig stürzten sich die samaranischen Kämpfer auf ihre Gegner. Sie wurden dabei von Bogenschützen unterstützt, die in sicherer Deckung lauerten und ihre todbringenden Geschosse den Söldnern aus Kh'an Sor entge-genschickten. Dieser Angriff war so plötzlich gekommen, dass zehn Krieger unter den Pfeilen ihr Leben aushauchten, bevor die Söldner aus Kh'an Sor sich schließlich auf den Feind einstellen konnten.

Aber während der größte Teil der Söldner, die von den Samara-nern nun am ärgsten bedrängt worden waren, sich in eine schützende Deckung begab und andere wiederum das Risiko auf sich nahmen, ebenfalls Pfeile auf die heranstürmenden Samaraner abzufeuern, ge-schah etwas, was auch einen erfahrenen Krieger wie Thorin sehr ver-wunderte, als er sah, wie sich die Gegner nun auf einmal zurückzogen und jede weitere Kampfeshandlung aufgaben. Sie trieben stattdessen ihre Pferde an und verschwanden wieder so plötzlich wie sie aufge-taucht waren, bevor sich ein Trupp aus König Kerons Heer an ihre Ver-folgung machen konnte.

»Was sollen wir tun, Thorin?«, erkundigte sich nun einer der Hyr-kenier, der zwei seiner Gefährten bei diesem überraschenden Überfall verloren hatte. »Wenn wir jetzt los reiten, dann können wir diese Hun-de noch einholen und sie...«

»Nein!«, entschied Thorin. »Das ist es wohl, was die Samaraner bezwecken. Sie wollen unseren Marsch nach Samara aufhalten und Zeit gewinnen. Nur das steckt hinter diesen Überfällen aus dem Hin-terhalt. Sie brauchen Zeit, um sich in der Stadt auf eine Belagerung einzurichten.«

»Bei dem mächtigen Baa'Lan!«, entfuhr es dem Hyrkenier. »Also sollten wir zusehen, dass wir schnellstens weiterkommen.«

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»So ist es«, pflichtete ihm Thorin bei und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass auch andere Söldner das Heer nicht verlie-ßen, um die Verfolgung des flüchtenden Gegners aufzunehmen. Auch König Keron hatte wohl längst die wahren Absichten der Samaraner erkannt und handelte jetzt danach - indem er nämlich das Heer wei-terziehen ließ. Die Gefallenen unter die Erde zu bringen - dafür blieb nun keine Zeit mehr. Weiter nach Samara hieß die Lösung und selbst wenn sich ihnen noch weitere Krieger entgegenstellen würden, so än-derte das doch nichts an der Tatsache, dass es den Samaranern nicht gelingen würde, König Kerons Heer aufzuhalten. Ohne die magischen Kräfte des finsteren Loon war selbst ein Herrscher wie Fürst Dion ziemlich hilflos...

Es blieb nicht bei diesem einen Überfall aus dem Hinterhalt. Nur zwei Stunden später kam es zu einem erneuten Zusammenstoß mit weiteren Samaranern. Diesmal kamen sie genau von der anderen Sei-te, gingen dabei aber nicht so geschickt ans Werk wie ihre Gefährten zuvor. Keron hatte diesmal nämlich zwei Spähtrupps ausgesandt, de-nen es gelungen war, auf die Fährte des Feindes zu stoßen, die die Samaraner nicht gut genug verwischt hatten. So wussten sie natürlich, was sie erwartete und als die Feinde dann schließlich aus dem Hinter-halt herausstürmten, um die Söldnerarmee anzugreifen, da wurden sie bereits von einem Trupp Lanzenreiter erwartet, die mit ihnen kurzen Prozess machten. Es war ein harter, gnadenloser Kampf, der nicht lange dauerte - und als er vorbei war, lagen zwanzig Gegner tot im Sand und der Rest hatte die Flucht ergriffen!

Jubelschreie erklangen unter den Söldnern, als sie ihren Sieg über den Gegner feierten und dann weiter zogen.

Auf ihrem Vormarsch zur Wüstenstadt stieß das Söldnerheer aus Kh'an Sor noch auf das eine oder andere verlassene Gehöft. Sicher hatten sich die Bewohner auch längst nach Samara geflüchtet. König Keron setzte auch hier seine konsequente Politik der verbrannten Erde fort und ließ auch diese Behausungen von seinen Kriegern anzünden und niederbrennen, bevor sie weiter zogen.

Jeder der Krieger im Heer schien zu spüren, dass sie nun fast am Ziel waren. Eine Euphorie breitete sich unter den Söldnern aus, die

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kaum zu beschreiben war. Vergessen waren die Strapazen des langen und qualvollen Marsches durch die Todeswüste von Esh. Dies und die dramatischen Ereignisse um den finsteren Magier Loon schienen end-gültig der Vergangenheit anzugehören. Kriegsgesänge erschallten aus den Kehlen der Männer und jeder von ihnen fieberte förmlich danach, die Wüstenstadt zu stürmen und reichlich Beute zu machen - und ge-nau das hatte ihnen der König auch versprochen.

Zwar brannte die Sonne immer noch heiß vom Himmel, obwohl sie schon ein ziemliches Stück nach Westen gewandert war, aber keiner der Söldner beklagte sich mehr. Vor allen Dingen dann nicht, als sich in der Ferne die Silhouette der Wüstenstadt Samara abzuzeichnen be-gann.

Thorin hielt unwillkürlich den Atem an, als er die Stadt im Licht der Nachmittagssonne erkannte und bemerkte, dass Samara von einer hohen und starken Mauer umgeben war. Nur die Türme und Zinnen der höchsten Gebäude der Stadt überragten diesen steinernen Wall. Alles andere entzog sich den Blicken der Krieger.

»Endlich«, murmelte der kleine Polt, der die letzte Stunde neben Thorin geritten und natürlich erleichtert darüber war, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

»Haltet euch bereit!«, rief Thorin der Legion zu, als er sah, wie das Heer allmählich seinen Marsch zu stoppen begann.

»Hauptmann Thorin zum König!«, war dann der Befehl zu hören und dem musste sich Thorin fügen. Er dirigierte sein Pferd rasch zu der Stelle, wo ihn König Keron bereits erwartete.

»Ich brauche drei tapfere Männer«, wandte sich Keron nun an ihn. »Sie sollen als Unterhändler in die Stadt reiten und von Fürst Dion die Übergabe verlangen. Wenn Dion darauf eingeht, wird es keinen Kampf um Samara geben - aber er muss sich noch heute entscheiden. Hauptmann Thorin!«, wandte er sich dann an den Nordlandwolf. »Dei-ne Männer gehören zu den Tapfersten des ganzen Heeres - das haben sie schon mehr als einmal bewiesen. Suche drei Männer aus. Haupt-mann Ravon wird mit ihnen reiten und meine Forderungen überbrin-gen!«

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»Wie ihr befehlt, mein König«, antwortete Thorin rasch. Weil auch er in dieser Entscheidung eine Chance sah, den Krieg rasch zu been-den und dennoch gute Beute zu machen. Denn die Plünderung der Stadt war natürlich beschlossene Sache - selbst wenn der Fürst ihnen Samara kampflos übergeben würde.

Deshalb wendete er rasch sein Pferd, ritt zurück zu den Kriegern seiner Legion und sah sie alle der Reihe nach an, während er den Be-fehl des Königs bekannt gab.

»Ich reite los!«, rief der kleine Polt und hob die rechte Hand. Dem wollte sich auch sein Gefährte Jerc anschließen, aber ein bulliger Krie-ger aus Cor'can sowie ein Hyrkenier waren schneller gewesen als er. Thorin hätte die Männer selbst nicht besser auswählen können und er war um so erleichterter darüber, dass sie sich freiwillig gemeldet hat-ten.

»Zeigt keine Furcht!«, rief ihnen Thorin nach, als die Krieger ihre Pferde antrieben und unter Hauptmann Ravons Kommando auf eines der Stadttore zuritten. Ravon war ein erfahrener Mann und gehörte zu den besonnensten in König Kerons Heer. Deshalb hatte ihn der Herr-scher von Kh'an Sor auch mit dieser wichtigen Aufgabe betraut. Denn von dieser Mission würde es abhängen, ob die Waffen weiter ihr tödli-ches Lied sangen oder stattdessen schwiegen...

*

Je näher die vier Männer auf das gewaltige Stadttor zuritten, umso mehr Einzelheiten konnten sie erkennen. Natürlich hatte man sie drü-ben von den Zinnen der Stadt schon längst bemerkt. Polt sah zahlrei-che Soldaten auf den Mauern, die man dort postiert hatte und er er-kannte auch die vielen Bogenschützen, die bereits in ihre Richtung zielten und scheinbar nur noch auf einen Befehl warteten, um die tod-bringenden Pfeile in ihre Richtung zu senden.

Polt spürte auf einmal die Gefahr, die immer stärker wurde und nun ertappte er sich bei dem Gedanken, dass es vielleicht doch so keine gute Idee gewesen war, sich so überstürzt als Freiwilliger zu melden. Aber nun war es zu spät dazu - es gab jetzt kein Zurück

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mehr! Auch der bullige Krieger - sein Name war Gontor - und der Hyr-kenier hatten die zahlreichen Krieger oben auf den Zinnen der Mauern schon längst erspäht, ebenso Hauptmann Ravon. Doch alle behielten ihre Gedanken für sich und blickten stattdessen auf das große Stadt-tor.

In diesem Augenblick erschallte eine laute Stimme oben von den Mauern.

»Bis hierher und nicht weiter!«, drohte sie. »Wenn ihr unbedingt sterben wollt, dann kommt nur weiter heran!«

Hauptmann Ravon ließ sich nicht anmerken, was er von dieser Drohung hielt. Stattdessen blickte er hinauf zu den Zinnen und erhob seine Stimme.

»Bist du der Herrscher dieser Stadt, dass du über das Leben von Kriegern entscheidest, die den Tod vieler Unschuldiger verhindern können?«, rief er dann. »Wir wollen mit Fürst Dion sprechen - König Keron von Kh'an Sor schickt uns!«

Für einige Augenblicke lang geschah gar nichts und diese Minuten erschienen den vier Unterhändlern wie Ewigkeiten. Erst als oben auf den Zinnen der laute Befehl erschallte, die Bögen nicht mehr auf die Gegner zu richten, erkannten sie, dass ihre Worte offensichtlich auf Gehör gestoßen waren. Das war auch der Moment, wo sich das große Stadttor öffnete.

Hauptmann Ravon nickte den übrigen Söldnern zu, ihm nun zu folgen und passierte als erster das gewaltige Tor, das aus massivem Eisen erbaut worden war. Es bedurfte mehr als zehn Krieger, um die schweren Flügel überhaupt öffnen zu können. Das registrierten sie aber nur am Rande, denn ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt ver-ständlicherweise den zahlreichen Kriegern, die nun die Straße vor ih-ren Augen säumten. Sie waren alle gut bewaffnet, aber der Befehl von vorhin schien immer noch Wirkung zu zeigen. Keiner erhob seine Hand gegen sie.

»Was will Keron von mir?«, erklang auf einmal eine Stimme weiter oben. Der kleine Polt, der seine Blicke die ganze Zeit über in die Runde hatte schweifen lassen, sah nun den großen Mann in der prächtigen Rüstung und dem wallenden umhang zuerst. Auch wenn er Fürst Dion

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noch nie zuvor gesehen hatte, so wussten er und seine Gefährten doch instinktiv, dass dieser Mann der Herrscher von Samara sein musste.

Nun war der entscheidende Moment gekommen, von dem soviel abhing. Deshalb blickte Polt nun gespannt zu Hauptmann Ravon, der König Kerons Botschaft zu überbringen hatte. Gleichzeitig bemerkte Polt den kahlköpfigen, asketisch wirkenden Mann, der nur wenige Schritte vom Herrscher entfernt stand. Die kalten Augen des Mannes im blutroten Gewand richteten sich unangenehm lange auf die Unter-händler und sie blieben kalt. Oder redete sich das Polt nur ein, weil er innerlich mit jeder verstreichenden Minute immer unruhiger wurde?

»Ich bin Hauptmann Ravon!«, nannte dieser nun seinen Namen. »König Keron verlangt die Übergabe von Samara. Dies kann auch ohne Tod und Kampf erfolgen, Fürst Dion. Es liegt bei Euch, ob Ihr auf die-ses Angebot eingehen wollt. Dann - aber nur dann - wird es keinen Krieg geben!«

Fürst Dion warf einen kurzen Blick zu dem Mann im blutroten Ge-wand und dieser nickte kurz, ohne die Miene zu verändern. Erst dann wandte sich Dion wieder den Unterhändlern zu.

»Wer ist euer König eigentlich, dass er so selbstherrlich über Le-ben und Tod anderer Menschen entscheiden will?«, fragte er mit spöt-tischer Stimme. »Er ist in mein Reich eingefallen und hat viel Leid über diejenigen gebracht, die nach Samara geflohen sind, um hier Schutz zu suchen - und den werden sie auch bekommen. Wie jeder andere, der vor den Hunden eurer Söldnerarmee fliehen muss! Ihr lügt, wenn ihr sagt, dass ihr Frieden wollt. Alles nur leere Worte - und deshalb gehe ich erst gar nicht darauf ein. Stattdessen werde ich eurem König zeigen, was ich von seinem Vorschlag halte. Packt diese Hunde!«

Noch ehe die letzten Worte des Herrschers verklungen waren, stürzten sich die Krieger, die Hauptmann Ravon und den anderen Söldnern am nächsten standen, auf sie.

Das alles geschah so plötzlich, dass weder der kleine Polt noch die anderen sich wehren konnten. Polt hatte zwar schon etwas geahnt, als er die Worte des Fürsten vernommen hatte, hatte aber dennoch auf

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eine friedliche Lösung gehofft. Stattdessen wurden die Männer nun von den Pferden gerissen.

Polt stieß einen grässlichen Fluch aus und trat um sich. Es gelang ihm, einen der Soldaten nach hinten zu stoßen, aber das verschaffte ihm gerade einen Atemzug Luft. Dann waren schon die anderen über ihm und verpassten ihm harte Schläge, packten ihn fest an den Ar-men, rissen ihn wieder hoch. Genauso erging es auch den übrigen Unterhändlern. Hauptmann Ravon hatte einige hatte Schläge ins Ge-sicht abbekommen, denn seine rechte Wange blutete stark.

»Bringt sie hinauf zur Stadtmauer!«, erklang nun die Stimme des Fürsten. »König Keron soll zusehen, was mit seinen Unterhändlern geschieht!«

Unter dem lauten Jubel der umstehenden Soldaten wurden Polt, Gontor, der Hyrkenier und Hauptmann Ravon gezwungen, die Treppe zur Stadtmauer hinaufzugehen. Dabei gingen die Samaraner nicht ge-rade zimperlich mit ihnen um, denn sie handelten sich weitere schmerzhafte Schläge und Tritte ein, als sie die Stufen hinaufstolper-ten. Oben wurden sie dann von weiteren Soldaten bereits in Empfang genommen, die sie gleich wieder packten und ihnen ihre Dolche und Schwerter an die Kehlen setzten.

Polt war kreidebleich, denn er spürte, dass er nun gleich sterben würde. Er verfluchte mehr als einmal den Moment, wo er sich zu die-ser Mission gemeldet hatte. Aber woher hätten er und die anderen denn ahnen sollen, dass Fürst Dion jetzt so starrköpfig reagierte und jedes Angebot einer friedlichen Übergabe der Stadt einfach ignorierte?

In diesem Augenblick wuchs der kleine Polt über sich selbst hin-aus. Denn er wusste, dass er seine Gefährten draußen vor den Toren der Stadt niemals wieder sehen würde.

»Verflucht sollst du sein!«, schrie Polt so laut, dass es alle anderen hören konnten. Auch die Soldaten unten auf der Straße. »Verflucht dafür, dass du nun das Leben vieler Unschuldiger aufs Spiel setzt!«

»Tötet sie und stürzt sie von der Mauer!«, schnitt nun Fürst Dions zornige Stimme dem kleinen Söldner das Wort ab. Und damit war das Todesurteil gefällt!

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Hauptmann Ravon war der erste, dem die Kehle durchgeschnitten wurde. Er war schon tot, als ihn die Soldaten packten und einen Stoß versetzten. Der leblose Körper fiel von den Zinnen und landete unten im Staub mit einem dumpfen Geräusch. Der bullige Gontor dagegen versuchte sich noch zu wehren, während der Hyrkenier dagegen be-reits mit seinem Leben abgeschlossen hatte und einen monotonen Todesgesang anstimmte, wie er ihn aus den alten Überlieferungen seines Volkes kannte. Aber selbst Gontor konnte sein Schicksal nicht mehr hinauszögern, denn ein Schwertstreich traf ihn in den Rücken und verletzte ihn so schwer, dass er sofort zusammenbrach. Ein weite-rer Hieb beendete das Leben das bulligen Söldners. Seine Leiche und die des Hyrkeniers wurden gleichzeitig von den Zinnen gestürzt und nun kam Polt als letzter an die Reihe. Er spürte den kalten Stahl an seiner Kehle, während er seine Augen über die Zinnen richtete und versuchte, noch einen letzten Blick auf König Kerons Heer zu erha-schen.

Aber dann spürte er auf einmal den scharfen unbeschreiblichen Schmerz und fühlte, wie er keine Luft mehr bekam. Ein lautes Gurgeln entrang sich seiner Kehle, während die Augen weit aus den Höhlen hervortraten. Dann starb der kleine Söldner, der sich dem Heer mit so vielen Hoffnungen angeschlossen hatte. Auch sein Leichnam wurde von den Zinnen gestürzt und landete unten im Staub.

»Das ist das Schicksal eines jeden Feindes von Samara!«, rief der Fürst mit triumphierender Stimme und seine Soldaten jubelten bei die-sen Worten. Sie würden sich von niemandem in die Knie zwingen las-sen - erst recht nicht von König Kerons Söldnerheer.

Hätte Fürst Dion in diesen Minuten dem kahlköpfigen Hor-Dolan mehr Aufmerksamkeit geschenkt, so wäre ihm sicher das Aufleuchten in dessen Augen nicht entgangen. Der oberste Priester der Stadt fühlte innerlich eine große Genugtuung darüber, dass es ihm gelungen war, den Fürsten davon zu überzeugen, dass er in diesem Moment Stärke nach außen demonstrieren musste. Indem er den Tod der Unterhänd-ler befahl - und genau das war jetzt geschehen.

»Der mächtige Parr hält seine schützende Hand über Samara!«, meldete sich Hor-Dolan nun mit lauter Stimme zu Wort, weil dieser

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Moment jetzt ideal dazu war, die Soldaten davon zu überzeugen, dass der Gott auf ihrer Seite war. Und die Worte des obersten Priesters ver-fehlten ihre Wirkung nicht. Die Soldaten und auch zahlreiche Bewoh-ner, die sich jetzt hier versammelt hatten und Zeuge dieser Hinrich-tung geworden waren, jubelten Fürst Dion und ihm zu.

Aber die Frau des Fürsten, die oben von den Fenstern ihrer Gemä-cher aus mit schreckgeweiteten Augen diese Hinrichtung fassungslos verfolgt hatte, wandte sich nun schaudernd ab. Es war einfach unfass-bar, was gerade geschehen war und sie begriff nicht, warum Dion so gehandelt hatte. Stille Furcht schlich sich in ihr Herz, denn die Rache König Kerons würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und das bedeutete den Tod für die Stadt und alle ihre Bewohner...

*

Voller Entsetzen sahen die Söldner aus König Kerons Heer, wie ihre Gefährten von den Samaranern vor ihren Augen grausam hingerichtet wurden. Zuerst wollten sie gar nicht glauben, was dort geschah, aber dann wurde jedem klar, dass Fürst Dion so verblendet vor Hass war, dass er jedes weitere Angebot von vornherein ablehnte. Dafür konnte es nur eine einzige Antwort geben - nämlich den bedingungslosen Kampf und die Zerstörung der Stadt!

Thorin brauchte nur in die Gesichter der Männer seiner Legion zu blicken, um darin die Wut über den feigen Mord an den Unterhändlern zu erkennen. Die Söldner hatten ihre Schwerter schon griffbereit und warteten jetzt nur noch auf ein Zeichen des Königs. Er selbst trauerte um Polt, denn der kleine Söldner war ein guter Gefährte gewesen, seit Thorin das Reich von Kh'an Sor betreten hatte. Und Jerc erging es nicht anders. Sein Gesicht war eine Mischung aus Trauer und Hass und auch er würde sicher in vorderster Front stehen, wenn es darum ging, die Stadt zu erobern.

Nur wenig später begann sich das Söldnerheer auch schon zu formieren. König Keron verlor keine Zeit mehr. Er teilte das Heer in vier gleichgroße Gruppen auf, die die Stadt nun aus allen vier Him-melsrichtungen stürmen und die Verteidiger dadurch um so mehr in

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Bedrängnis bringen sollten. Das Heer teilte sich daraufhin rasch auf und Thorins Legion hatte die Aufgabe übernommen, dieses Tor zu stürmen. Unter dem Schutz guter Bogenschützen, die die Verteidiger oben auf den Zinnen so lange wie möglich in Deckung zwingen sollten. Ob dieser Plan funktionierte, würde sich sehr bald zeigen.

Dann setzten sich die verschiedenen Gruppen des Söldnerheeres auch schon in Bewegung. Oben von den Zinnen der Stadt erschallten schmetternde Hornsignale und die Posten gerieten in ziemliche Aufre-gung, als auch sie erkannten, dass die Stadt nun von allen Himmels-richtungen angegriffen wurde.

Thorin schickte noch ein Stoßgebet zu Odan, dem Weltenzerstö-rer, bevor er seinem Pferd die Zügel freigab und in der Rechten Stern-feuer hoch emporreckte. Das war das Zeichen zum Angriff. An der Spitze seiner Krieger ritt er los, näherte sich todesmutig dem großen Tor, das es zu erobern galt. Schon jetzt wurden den heranstürmenden Gegnern Pfeile entgegengeschickt, aber die meisten trafen ihre Ziele nicht, weil sie viel zu überhastet losgeschickt worden waren. Thorins Krieger nutzten diesen Moment, um noch näher heranzukommen.

Nun eröffneten auch die Bogenschützen aus den eigenen Reihen ihr tödliches Spiel. Sie schickten die gefiederten Todesboten auf ihre Reise und streckten einige der Wachposten oben auf den Zinnen, in unmittelbarer Nähe des Tores nieder. Das ermutigte die anderen, jetzt nicht nachzugeben, sondern weiter voranzustürmen.

Drei der Hyrkenier schwangen bereits ihre Seile, an deren anderen Enden sich jeweils ein Anker befand, der sich dann zwischen den Zin-nen festhaken sollte. Einer der Krieger hatte schon beim ersten Wurf Glück, seine Gefährten schafften es erst beim dritten Versuch. Wäh-rend die Bogenschützen weiter dafür sorgten, dass den Hyrkeniern bei ihrem Versuch, auf diese Weise die Mauern zu erstürmen und dann in einem wagemutigen Handstreich das Tor von innen für ihre Gefährten zu öffnen, auch nichts zustieß, musste sich Thorin dagegen tief über den Hals seines Pferdes ducken, als von weiter drüben erneut Pfeile abgeschossen wurden.

Einer dieser Pfeile streifte schmerzhaft den linken Arm des Nord-landwolfs, richtete aber zum Glück sonst keinen weiteren Schaden an.

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Ein anderer Krieger, der dicht neben Thorin ritt, hatte nicht so viel Glück. Er wurde von einem Pfeil in die Brust getroffen und fiel leblos vom Pferd.

Unterdessen hatten zwei der Hyrkenier schon mit dem Erklimmen der Mauern begonnen und waren nur noch eine Mannslänge von den Zinnen entfernt. Genau in diesem Moment ergoss sich über den Rand der Mauern eine dampfende Wasserflut und traf die mutigen Hyrke-nier. Schreckliche Schreie erfüllten die Luft, als die Unglücklichen in siedendem Wasser gebadet wurden. Im selben Moment ließen die Hyrkenier die Seile los und stürzten dann hinunter in die Tiefe. Das kochende Wasser hatte sie schwer verbrüht und der Sturz vernichtete sie schließlich ganz. Aber nicht nur die Hyrkenier waren von dem sie-denden Wasser getroffen worden, sondern auch einige mutige Reiter und Bogenschützen, die den sicheren und raschen Aufstieg ihrer Ge-fährten hatten ermöglichen wollen. Auch sie spürten nun am eigenen Leibe den unbeschreiblichen Schmerz des heißen Wassers, der ihnen jeden weiteren Gedanken entzog. Diesen Moment der Schwäche nutz-ten die bedrängten Soldaten oben auf den Zinnen natürlich aus und schickten weitere Pfeile los. Und diesmal trafen sie weitaus besser als beim ersten mal.

Jercs Pferd wurde von einem Pfeil in die Kehle getroffen. Das Tier wieherte gequält auf, als es von einem Augenblick zum anderen mit den Vorderläufen plötzlich einbrach und dann stürzte. Jerc konnte sich nicht mehr im Sattel halten und wurde einige Schritte weit wegge-schleudert, wo er dann unsanft zu Boden stürzte. Aber der Söldner rollte sich geschmeidig ab wie eine Katze und kam so wieder rasch auf die Beine. Trotzdem traf ihn dann ein Pfeil in den Unterschenkel, der ihn ins Taumeln brachte. Sicher hätte er nicht lange überlebt, wenn Thorin das nicht gesehen hätte. Jedoch bemerkte der Nordlandwolf rechtzeitig, in welcher Gefahr sich Jerc nun befand.

»Komm!«, schrie er Jerc zu, während er sich im Sattel duckte und gleichzeitig eine Hand ausstreckte, als sich das Tier das Stelle näherte, wo Jerc gestürzt war. Der Söldner begriff sofort und humpelte auf Thorin zu. Seine Finger umschlossen Thorins Hand und dann zog er sich auf den Rücken des Tieres, wo er sich gut festhielt. Der Nord-

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landwolf wendete rasch sein Pferd und entfernte sich dann wieder aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Gerade noch rechtzeitig, denn die Stelle, wo er sich eben noch befunden hatte, wurde jetzt mit Pfeilen und Lanzen förmlich gespickt. Aber die Götter schienen auch diesmal auf seiner Seite zu sein - vielleicht lag es auch an Sternfeuer, denn die Klinge hatte mehrmals kurz aufgeglüht, als er in die Nähe des Stadtto-res gekommen war und das hatte Thorin natürlich bemerkt.

Trotzdem brach der weitere Ansturm der Söldner jetzt zusammen. Notgedrungen mussten sie nun den Rückzug antreten. Mehr als fünf-zehn Männer hatten ihr Leben verloren. Die Leichen der von Pfeilen getroffenen und vom siedenden Wasser verbrühten Söldner blieben am Fuße der Stadtmauer zurück, während Thorins Legion den Rückzug antrat. Die verspottenden Rufe der Soldaten oben auf den Zinnen hall-ten in ihren Ohren, als sie sich erst einmal zurückzogen.

Aber auch die übrigen Teile des Heeres schienen beim ersten ve-hementen Ansturm auf Samara kein Glück gehabt zu haben, denn Thorin erkannte aus den Augenwinkeln, dass auch diese Truppen ihren Ansturm stoppten und zurück ritten.

Es verging einige Zeit, bis sich das Heer des Königs wieder for-miert hatte. Der Schrecken über den Tod vieler Gefährten stand den Männern noch im Gesicht geschrieben, aber darauf nahm König Keron jetzt keine Rücksicht. Ohnmächtiger Zorn hatte ihn ergriffen, als die Verteidiger das siedende Wasser eingesetzt hatten - aber es hatte ge-nau das bezweckt, was es sollte. Nämlich den Angriff des Söldnerhee-res erst einmal im Keim zu ersticken!

»Alle Hauptmänner zu mir!«, befahl der König nun seinen Führern. Ein Zeichen dafür, dass es zumindest jetzt erst einmal keinen zweiten, ebenfalls überhasteten Angriff geben würde. Denn der würde be-stimmt genauso verheerend enden wie der erste...

Thorin ließ den verletzten Jerc vorsichtig vom Pferd steigen und gab einem der Söldner den Befehl, sich um Jercs Wunde zu kümmern. Mehr Zeit blieb ihm nicht mehr, denn König Keron erwartete ihn jetzt. Ihn und die anderen Heerführer.

*

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Orcon Drac blickte in die kalten Flammen des flackernden Feuers und sah im Schein des Feuers das Bild der Schlacht, die draußen vor den Toren der Stadt gerade begonnen hatte. Kraft seines Geistes verfolgte er den Kampf der Söldner, die versuchten, die Stadttore zu stürmen, nachdem sie die Hinrichtung ihrer Gefährten hatten mit ansehen müs-sen.

Der dunkle Ritter lächelte wissend, weil alles, aber auch wirklich alles genauso ablief, wie er es geplant hatte. Nun begann der Kampf um Samara und es würden noch mehr Söldner sterben!

Dann verblasste das Bild der Schlacht zwischen den befeindeten Völkern, als Orcon Drac seine Gedanken nun in eine ganz andere Rich-tung schickte - nämlich an einen Ort, der viele Tage von hier entfernt war und den bisher nur wenige Sterbliche zu Gesicht bekommen hat-ten. Und diejenigen, die schon einmal diesen Ort betreten hatten, konnten nichts mehr darüber berichten, denn ihre Seele gehörte seit diesem Zeitpunkt dem mächtigen Gott der Sümpfe.

Die Sümpfe von Cardhor - das war das Reich von Modor, dem schrecklichen Dämonenherrscher. Und jenseits der Sümpfe wartete das Heer der finsteren Kreaturen und Echsenkrieger darauf, die Welt der Sterblichen zu erobern und untertan zu machen. Dieser Zeitpunkt rückte immer näher. Wenn Samara erst gefallen war, dann würde auch das Reich Kh'an Sor untergehen. Aber davon wusste dieser dum-me König noch nichts - dabei war sein Schicksal schon längst be-schlossen von Mächten, die ein menschlicher Geist kaum begreifen konnte...

»Mächtiger Modor«, murmelte Orcon Drac, während er seine Ge-danken konzentrierte. »Der Kampf hat begonnen...«

Augenblicke vergingen, in denen gar nichts geschah. Aber dann war auf einmal ein leises Flüstern in der Knochenhöhle zu vernehmen, das rasch an Lautstärke gewann. Schließlich wurde daraus eine tiefe, grauenhaft klingende Stimme, die unsagbar alt wirkte und deren Echo von den Felswänden verzerrt zurückgeworfen wurde.

ICH HÖRE DICH, ORCON DRAC, hallte es von den Wänden wider. WAS HAST DU ZU BERICHTEN?

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»Die Stadt wird bald fallen, mächtiger Modor«, antwortete der Rit-ter der Finsternis. »Bald gehört auch dieses Reich zum Einflussbereich Eurer Herrschaft.«

DIE HORDEN SIND BEREIT, fuhr die alte Stimme nun fort. SIE WOLLEN TÖTEN...

»Nur noch ein paar Tage«, erwiderte Orcon Drac, um die Unge-duld des Gottes der Sümpfe zu besänftigen. »Dann ist der Zeitpunkt gekommen.«

TU DEIN WERK, ORCON DRAC, fuhr die furcht erregende Stimme fort. DU BIST DER VASALL DER MÄCHTE DER FINSTERNIS - VERGISS DAS NIE!

»Gewiss nicht, mächtiger Modor«, versicherte ihm der dunkle Rit-ter rasch und er spürte die Kälte, die auf einmal in der Knochenhöhle herrschte. »Ihr und die anderen Götter könnt euch auf meine Treue verlassen.«

Falls er gehofft hatte, darauf noch eine Antwort zu bekommen, dann sah er sich stattdessen getäuscht. Die Stimme des Gottes der Sümpfe war von einem Atemzug zum anderen wieder verstummt. Auch wenn Orcon Drac schon sehr oft mit dem mächtigen Modor ge-sprochen und einmal sogar in sein entsetzliches Antlitz geschaut hatte, ohne dabei wahnsinnig zu werden, so überfiel ihn immer wieder ein kalter Schauer, wenn er die Nähe des finsteren Gottes spürte. Aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Schließlich ließ auch wieder die Kälte in der Höhle nach - als hätte sie nie existiert.

Der Ritter der Finsternis erhob sich vor dem Altar und verließ die Höhle wieder. Draußen warteten bereits die Echsenkrieger auf ihn, die auch danach dürsteten, schon bald in die Geschehnisse einzugreifen, die sich oben in der hellen Welt, fernab der Katakomben abspielten...

*

Auch im Tempel des Gottes Parr hatten sich zu dieser Stunde Hor-Dolan und die wenigen Adepten der Priesterkaste versammelt, die die wirklichen Zusammenhänge kannten.

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Draußen in der weiten Tempelhalle hatten sich die anderen Pries-ter versammelt und beteten zu ihrem Gott Parr, hofften auf seine Hilfe. Und hier in den verborgenen Räumen, zu denen nur Hor-Dolan und die Adepten Zugang hatten, berichtete der oberste Priester den anderen nun von seiner Begegnung mit dem Ritter der Finsternis und dem Ver-sprechen, das er Hor-Dolan gegeben hatte.

»Die Katakomben«, murmelte einer der rot gekleideten Adepten, dessen Gewand eine Spur heller als das des obersten Priesters war. »Keiner von uns weiß, was uns dort erwartet. Können wir wirklich si-cher sein, dass dort nicht noch schlimmere Dinge auf uns harren als der Tod durch das Schwert?«

Hor-Dolan warf dem Adepten einen zornigen Blick zu, der diesen zusammenzucken ließ.

»Für diese Zweifel hättest du in Orcon Dracs Gegenwart schon den Tod verdient, elender Narr!«, wies ihn Hor-Dolan zurecht. »Der Ritter der Finsternis hat uns sein Wort gegeben - und das bedeutet mehr als alles andere.«

Die anderen Adepten schienen dem obersten Priester nun doch Glauben zu schenken. Sie nickten nur.

»Fürst Dion wird nach Sonnenuntergang erneut in den Tempel kommen, um zu beten«, fuhr Hor-Dolan daraufhin fort. »Es wird unse-re Aufgabe sein, den Hass des Fürsten noch zu verstärken - habt ihr das verstanden?«

Keiner der anderen Priester hatte dem etwas entgegenzuhalten. Denn sie alle wussten, wie wichtig es war, die Befehle der Mächte der Finsternis zu befolgen. Somit war für Hor-Dolan alles geklärt. Er nickte den Adepten zu, ihn jetzt allein zu lassen und die Priester zogen sich daraufhin rasch zurück, gingen hinüber in die Tempelhalle, um ihre ahnungslosen Brüder im Gebet zu Parr zu unterstützen. Zumindest gaben sie das vor. Aber Parr war schon lange tot und schwieg...

Aber die dunklen Götter lebten - sie hatten schon immer gelebt und sprachen jetzt wieder zu denjenigen, die ihr Schicksal in deren Hände legten. Und die Mächte des Lichts konnten nichts dagegen tun, wenn die alten dunklen Götter mit jedem verstreichenden Tag immer mehr an Boden und Einfluss hinzugewannen. Die Welt der Menschen -

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sie wurde zu einem Spielball von Ereignissen, die jetzt schon ihre ers-ten Schatten warfen!

*

Das Heer aus Kh'an Sor hatte in Sichtweite der Stadt ein großes Lager aufgeschlagen und sich nun auf eine längere Belagerung eingerichtet. Zelte wurden aufgestellt, Gräben ausgehoben und all das begonnen, was sonst noch erforderlich war, um eine solch große Armee zu ver-pflegen.

König Kerons Späher waren inzwischen wieder unterwegs, um das unmittelbare Umland von Samara zu erkunden. Denn es war wichtig, herauszufinden, ob nicht doch noch ein bisher unbekannter Gegner dem Heer auf einmal in den Rücken fiel, wenn die Söldner am wenigs-ten damit rechneten. Aber das war nicht der Fall, wie die Späher dem König wenig später meldeten.

Nach dem ersten Sturm von gestern wurden die Verwundeten erst einmal versorgt, damit sie schon bald wieder in den Kampf eingreifen konnten, wenn der König die Männer zum Angriff rief. Für manche der Krieger war die Schlacht um Samara aber bereits gelaufen, denn ihre Verletzungen waren so schwer, dass es fraglich war, ob sie überhaupt am Leben blieben. Auch wenn sich erfahrene Wundärzte um diese Unglücklichen kümmerten und versuchten, wenigstens die schlimms-ten Schmerzen zu lindern - Wunder konnten sie auch nicht bewirken!

Thorin hörte das Stöhnen der Verletzten aus den Zelten, als er daran vorbeiging und dann die Stelle des Lagers erreichte, die man von der Stadt aus nicht sehen konnte. Die Männer seiner Legion hat-ten die ganze Nacht über gearbeitet, um hier einen hohen Sandwall aufzuwerfen, der verhindern sollte, dass man von den Zinnen der Stadt aus erkannte, was hier geschah.

Und dafür gab es auch einen guten Grund, denn in der vergange-nen Nacht hatte König Keron einen Trupp Krieger nach Norden ge-schickt, wo sich nur zwei Stunden entfernt ein kleines Wäldchen be-fand, das die Armee gestern auf dem Marsch nach Samara passiert

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hatte. Dort gab es genau das, was Keron jetzt benötigte - nämlich Holz!

Während andere Krieger damit begannen hatten, den Sandwall zu errichten, kehrten die anderen Söldner im Schutze der Nacht rechtzei-tig zurück. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, bevor die Sonne aufging und die Ebene mit ihren wärmenden Strahlen überzog. In schweißtreibender Arbeit hatten die Krieger Bäume gefällt und zogen sie nun mit Hilfe ihrer Pferde wieder zurück ins Lager. Das war eine Arbeit gewesen, die den Männern wirklich das Letzte abverlangt hatte, denn sie hatten schnell handeln müssen. Deshalb wurden sie auch abgelöst und andere setzten nun das fort, was sie begonnen hatten.

König Keron ließ Kriegstürme errichten, mit denen er dann die Stadttore ohne große Verluste erstürmen wollte. Sie würden die Pfeile und Lanzen der Verteidiger abhalten und somit die Söldner nicht ver-letzen, wenn sie mit diesen Türmen so nah an die Stadtmauer heran-kamen, damit sie sie erklimmen und die Samaraner vernichtend schla-gen konnten. So hatte es der König jedenfalls beschlossen.

Thorin hörte das Hämmern und Sägen der Söldner, die auf Geheiß Kerons nun die Türme bauten. Keiner von ihnen beklagte sich über die harte Arbeit, denn die Verluste im ersten Sturm auf die Stadtmauern hatte noch jeder vor Augen.

Der Nordlandwolf erreichte jetzt den Sandwall, den die Männer er-richtet hatten. Er stieg hinauf und blickte dann hinüber zur Stadt, wäh-rend hinter den Hügeln die Sonne unterging. Je länger er auf die ge-waltigen Mauern und Zinnen der Stadt blickte, um so mehr spürte er die dumpfe Ahnung von etwas Bösem und Grausamen - ohne dass er genau sagen konnte, warum das so war. Vielleicht war es ja wirklich sein Schicksal, jetzt und zu dieser Stunde an diesem Ort zu sein, weil es die Götter so entschieden hatten. Und wenn das so war dann muss-te es etwas zu bedeuten haben. Etwas, was Thorin noch herausfinden wollte!

Schließlich wandte er sich wieder ab und ging zurück zu den Zel-ten, wo ihm dann vier Söldner begegneten, die gerade ihre Gefährten beim Turmbau ablösen wollten. Ihre Mienen waren verbittert, weil sie einige Freunde unter den Gefallenen und Verletzten hatten. Deshalb

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hatten sie allen Samaranern bittere Rache geschworen. Sie gingen jetzt besonders emsig ans Werk, um beim Bau der Kriegstürme zu helfen und so wie ihnen erging es auch vielen übrigen Söldnern.

Thorins Gedanken brachen ab, als er hinter sich hastige Schritte hörte.

»Hauptmann Thorin - der König will dich sehen!«, erklang dann die Stimme eines Kriegers, der wohl schon längere Zeit nach ihm ge-sucht zu haben schien.

Deshalb beeilte sich Thorin jetzt, dem Söldner zu folgen. Wenige Augenblicke später betrat er dann König Kerons Zelt und blickte den Herrscher von Kh'an Sor fragend an.

»Ihr wolltet mich sprechen, mein König?« »Komm näher, Thorin«, forderte ihn Keron nun auf. »Ich möchte

etwas mit dir besprechen, Hauptmann. Du und deine Krieger, ihr habt gekämpft wie die Löwen. Ich bin stolz auf euch und deswegen setze ich auch darauf, dass ihr ein zweites mal alles gebt.«

Thorin zögerte noch mit einer Antwort, weil er noch nicht genau wusste, worauf Keron hinauswollte. Aber dann erfuhr er es.

»Deine Legion wird einen der Türme bekommen und damit das Stadttor stürmen«, klärte ihn der Herrscher von Kh'an Sor auf. »Ich erwarte von euch besondere Stärke, wenn ihr gegen den Feind kämpft. Du und deine tapferen Krieger - ihr seid jetzt meine Speerspit-zen im Kampf gegen die Samaraner, Thorin. Ich möchte, dass du das weißt.«

»Die Mauern sind stark«, erwiderte Thorin. »Es wird nicht leicht sein, sie zu erklimmen, denn die Samaraner werden sicher nicht taten-los zusehen.«

»Zweifelst du, Thorin?«, fragte Keron nun in scharfem Ton und blickte ihn dabei an.

»Ich habe viele Krieger sterben sehen, mein König«, antwortete Thorin und hielt dem prüfenden Blick Kerons stand. »Und ich will ver-hindern, dass noch weitere einen sinnlosen Tod sterben.«

»Gut, dann führe meinen Befehl aus«, meinte der König darauf-hin. »Ich verlasse mich auf dich. Und jetzt geh - du wirst noch einige

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Stunden Schlaf brauchen, bevor du mit deinen Kriegern in den Kampf ziehst.«

Für ihn war dieses Gespräch damit beendet. Thorin nickte dem König noch kurz zu und verließ dann rasch das Zelt. Man hatte Keron ansehen können, unter welchem Druck er stand. Er wollte mit allen Mitteln Samara erobern und deshalb verlangte er von seinen Söldnern fast unmögliches. Erst recht von Thorin, den ihn erwartete jetzt eine gefährliche Aufgabe!

Und das konnte ihn unter umständen das Leben kosten. Aber Ke-ron erwartete von allen seinen Söldnern bedingungslosen Gehorsam erst recht von den Führern seines Heeres und dazu zählte der Nord-landwolf.

*

Lorys spürte die wachsende Unruhe tief in ihrem Inneren, die einfach nicht weichen wollte und mit jeder verstreichenden Minute immer stär-ker wurde. Als sie Dion in den Göttertempel begleitet hatte, wo der Fürst anschließend die Tempelhalle aufgesucht hatte, um zusammen mit den Priestern für einen Sieg über das Heer der Feinde zu beten, da hatte sie nichts gefühlt von der Zuversicht, die Hor-Dolan und einige andere Priester dem Fürsten und dem Volk verkündet hatten. Statt-dessen breitete sich Furcht in ihrem Herzen aus. Furcht und Sorge vor dem Fall der Stadt. Zwar hatten die Feinde noch keinen zweiten An-griff unternommen, aber jeder konnte sehen, dass König Keron und seine Söldner sich auf eine längere Belagerung einrichteten. So lange, bis die Samaraner aufgaben oder die Stadt erobert worden war...

Natürlich hatte Fürst Dion schon längst erkannt, welche Gedanken Lorys beschäftigten, aber er wartete ab, bis sie wieder in den Palast zurückgekehrt waren und sprach sie dann erst darauf an.

»Parr wird uns beschützen - das haben uns die Priester verspro-chen«, versuchte Dion die Fürstin zu beruhigen. »König Kerons erster Angriff wurde von unseren tapferen Soldaten abgeschlagen - und das wird auch beim zweiten mal so sein«, versicherte er ihr dann.

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»Dion«, wandte sich Lorys dann mit flehender Stimme an ihren Mann und ging einige Schritte auf ihn zu. »Ich verstehe dich nicht mehr. Fühlst du denn nicht das Böse, das in den Mauern der Stadt lauert? Ich spüre sie jedenfalls nicht - die Zuversicht, von der die Priester gesprochen haben. Und es gibt ganz sicher viele Menschen in der Stadt, die sich von diesen Worten haben nicht überzeugen lassen. Dieser Krieg ist doch der pure Wahnsinn, Dion - warum musste es denn überhaupt soweit kommen?«

»Ich habe diesen Feldzug nicht begonnen, sondern versuche viel-mehr, mein Volk so gut wie möglich zu schützen, Lorys«, antwortet Dion etwas heftiger als er das eigentlich beabsichtigt hatte. »Männern wie Loon hat Samara sehr viel zu verdanken. Denn er war doch der erste, der uns vor König Keron gewarnt hat. Oder hast du das schon vergessen Lorys? Wäre Loon nicht gewesen, dann hätten uns König Kerons Söldner wahrscheinlich schon längst getötet - ohne dass wir etwa davon geahnt hätten.«

»Woher weißt du das denn so genau?«, hielt ihm seine Frau ent-gegen. »Hast du denn überhaupt schon jemals versucht, mit Keron zu verhandeln? Zu einem Zeitpunkt, wo er sein Heer noch nicht auf den Weg nach Samara geschickt hatte? Stattdessen wurde die Grenze zu beiden Ländern mit Truppen verstärkt, bis es zu den ersten Auseinan-dersetzungen kam und dann...«

»Mit Keron kann man nicht verhandeln, Lorys!«, unterbrach sie Dion. »Loons Boten haben mir rechtzeitig genug von den finstere Plä-nen dieses Tyrannen berichtet - und dieser Mann war einmal mein Freund. Aber das ist sehr, sehr lange her...« Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, wie unten auf dem Hof des Palastes gerade eine Wachablösung erfolgte. »Aber diese Streitigkeiten an der Grenze hat Kh'an Sor begonnen - und nicht Samara. Und das konnte ich nicht hinnehmen, verstehst du, Lorys?«

»Ich verstehe dich schon, Dion«, antwortete Lorys daraufhin. »A-ber du anscheinend mich nicht! Bin ich denn wirklich der einzige, der an so etwas überhaupt denkt? Daran, dass im Grunde genommen kei-ner darüber nachgeprüft hat, ob Loon wirklich die Wahrheit gesagt hat?« Sie hielt einen Augenblick inne, als sie den überraschenden Blick

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in den Augen des Fürsten sah und fuhr dann fort. »Was ist denn, wenn diese Schlacht zwischen Samara und Kh'an Sor schon von An-fang an geplant war und hinter all dem ein Dritter steht, von dem wir noch nichts wissen?«

»Und wer soll das sein, Lorys?«, stellte Dion die Gegenfrage. »Ich wüsste niemanden, dem es nützen würde, wenn Kh'an Sor und Sama-ra sich bekämpfen. Außerdem vergisst du wohl ganz, dass Loon sein Leben für uns einsetzt. Er riskiert sehr viel...«

»Und warum ist er immer noch nicht zu uns zurückgekommen?«, wollte Lorys wissen. »Er hätte uns doch warnen müssen vor dem Heer Kerons.«

»Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen«, meinte Dion. »Dann wer-den es diese Hunde doppelt büßen - das verspreche ich dir. Aber noch hoffe ich, dass Loon wiederkommen wird. Er steht doch im Bunde mit dem mächtigen Parr.«

»Das waren seine Worte, Dion«, sagte Lorys. »Trotzdem habe ich Loon nie gemocht. Er strahlt eine eigenartige Kälte aus, die ich nicht beschreiben kann.«

»Er ist eben ein besonderer Mensch, Lorys«, erwiderte Dion. »Ein Mensch, dem Samara sehr viel zu verdanken hat - genauso wie den Priestern Parrs. Es bleibt dabei, was ich gesagt habe - und Parr ist nach wie vor auf unserer Seite.«

»Dion, du bist so sehr mit deinem Hass auf Kh'an Sor und Keron beschäftigt, dass du gar nicht mehr bemerkst, was ein Großteil des Volkes denkt«, hielt ihm Lorys jetzt vor.

»Was meinst du damit?«, fragte er scharf. »Während du damit zugange warst, deine Soldaten zu formieren,

sie den Feinden entgegenzuschicken und dann die Mauern ebenfalls mit Kriegern zu besetzen, hatte ich Zeit genug, die Menschen hier zu beobachten. Sie haben Angst, Dion - Angst um ihre Familien und Kin-der, die wieder einmal die Leidtragenden dieses irrsinnigen Krieges sind. Niemand hat sie nach ihrer Meinung gefragt. Die Gesichter dieser Menschen sprechen mehr als viele Worte, Dion. Du solltest dir einmal Zeit nehmen, um das zu beobachten.«

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»Das Volk hat den Willen seines Fürsten zu befolgen!«, rief Dion nun heftig und erhob sich hastig. Seine Augen blitzten wütend auf, als er fortfuhr. »Wir müssen alle zusammenhalten, wenn wir diesen Krieg und die Belagerung durchstehen wollen. Gut, ich gebe zu, dass wir draußen in der Wüste schlimme Niederlagen hinnehmen mussten. We-der ich noch die Priester haben das wohl voraussehen können. um so wichtiger ist es, dass die Stadt ein Bollwerk gegen Kh'an Sor bildet. Und die Stadt - das sind nicht nur der Fürst und seine Soldaten, son-dern auch alle anderen Bewohner! Mein Zorn wird die treffen, die noch zweifeln, Lorys - denn ich habe keine Zeit mehr für Feiglinge. Ich will, dass mein Sohn einmal ein starkes und intaktes Reich übernehmen soll - und deswegen erwarte ich, dass vor allen Dingen du treu zu mir stehst und dich nicht von anderen Gedanken vergiften lässt. Denke darüber nach!«

Er wartete nicht mehr ab, ob Lorys darauf etwas zu erwidern hat-te, sondern verließ den Raum, schlug die Tür heftig hinter sich zu.

»Ich denke mehr darüber nach als du vermutest, Dion«, flüsterte Lorys mit tränenerstickter Stimme. »Aber du hinterlässt deinem Sohn nur noch die Trümmer eines Reiches - denn es wird schon bald nicht mehr sein...«

*

Am Horizont zeigten sich allmählich die ersten rötlichen Schimmer der bevorstehenden Morgendämmerung. Die beiden samaranischen Solda-ten, die auf dem westlichen Teil der Stadtmauer Wache schoben, spür-ten noch die Kälte der Nacht in ihren Knochen und warteten sehnsüch-tig auf ihre Ablösung. Aber noch war es nicht soweit. Erst wenn die Sonne aufgegangen war, würden sie in ihre Unterkünfte zurückkehren können, um einige Stunden Schlaf zu finden. Sofern man von Ruhe in dieser angespannten Situation überhaupt sprechen konnte.

»Ich möchte wissen, was diese Hunde im Schilde führen«, brummte ein olivehäutiger Soldat, dessen markante Züge von einem dichten schwarzen Bart umgeben wurden. »Seit Stunden schon ist alles ruhig - zu ruhig, wenn du mich fragst.«

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Sein Gefährte lachte kurz auf und winkte ab, bevor er dann das Wort ergriff.

»Wenn du mich fragst, Norlan - dann haben diese Bastarde Angst, sich ein zweites mal blutige Köpfe zu holen. Wahrscheinlich haben sie sich diesen Feldzug leichter vorgestellt.«

»Ich wünschte, ich könnte das auch glauben«, erwiderte sein Ge-fährte und ließ seine Blicke über die Stadtmauer in Richtung des feind-lichen Lagers schweifen. »Die haben etwas vor, sage ich dir - und ich würde eine Menge dafür geben, wenn ich wüsste, was es ist...«

»Wahrscheinlich reden sie sich die Köpfe heiß, wie sie am besten gegen die Stadtmauern anstürmen sollen«, meinte der andere darauf-hin. »Sollen sie doch - es wird nichts dabei herauskommen!«

Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber ausgerechnet in diesem Augenblick, als hinter den fernen Hügeln der rote Ball der auf-gehenden Sonne die Schatten der letzten Nacht vertrieb und die Ebene mit ihren hellen Strahlen überschüttete, geschah plötzlich auch etwas hinter dem großen Sandwall, den die Feinde sehr zum Erstaunen ihrer Verteidiger dort aufgeschüttet hatten. Warum, das hatte niemand der Samaraner begriffen aber jetzt erkannten sie plötzlich, warum das so war.

Norlan zuckte zusammen, als er die hölzernen Türme erkannte, die die Armee nun in Bewegung setzte.

»Kriegstürme!«, stieß er dann aufgeregt hervor und warf seinem Gefährten einen besorgten Blick zu, der mehr sprach als tausend Wor-te.

»Alarm!«, erschallte dann die Stimme des zweiten Soldaten, der alle anderen wachhabenden Männer sofort aus der trügerischen Ruhe riss. Einer der Soldaten riss nun sein Horn heraus, hielt es an die Lip-pen und blies ein Warnsignal, dessen Echo von den Mauern der nahen Häuser zurückgeworfen wurde. Nur wenige Augenblicke später er-wachte die Stadt auch schon wieder zum Leben. Laute Stimme erklan-gen, gemischt mit den ängstlichen Rufen von Frauen und Kindern in den benachbarten Häusern, die angesichts des lauten Hornsignals nun mit einem erneuten Angriff des Gegners rechneten. Was ja auch so

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war - allerdings weitaus gefährlicher als die Samaraner vermutet hat-ten!

Eine befehlsgewohnte Stimme schickte alle verfügbare Soldaten auf ihre Posten auf den Stadtmauern, während ein Bote bereits auf dem Weg zum Fürstenpalast war, um dem Herrscher die schlimme Nachricht zu überbringen. Fürst Dion hatte wahrscheinlich auch eine unruhige Nacht verbracht, denn nur wenig später, nachdem die Solda-ten die Kriegstürme erblickt hatten, war der Herrscher bereits zur Stel-le.

Er zuckte zusammen, als er die vier Kriegstürme sah, die hinter dem Sandwall aufgetaucht waren und sich nun teilten. Zwei der Türme bewegten sich auf dieses Stadttor zu, während die anderen das andere Tor zum Ziel hatten. Unbändige Wut ergriff Fürst Dion, als er sah, wie beweglich diese Türme waren. König Kerons Männer waren sehr ge-schickt ans Werk gegangen - indem sie nämlich einfach die Wagen des Trosses genommen und sie so befestigt hatten, dass daraus fahrbare Türme geworden waren. Groß genug, um vielen Kriegern im Inneren Schutz zu bieten, damit sie nicht von Pfeilen oder Lanzen getroffen werden konnten - denn diese würden wirkungslos an den starken Holzbalken abprallen!

Gleichzeitig ertönte plötzlich ein eigenartiges Geräusch, über des-sen Ursprung sich weder Fürst Dion noch die Soldaten auf der Stadt-mauer ein Bild machen konnten. Weil sie noch zu sehr im Banne der Kriegstürme standen, die sich langsam aber sicher den Toren von Sa-mara näherten und bereits jetzt schon fast die Hälfte der Distanz zwi-schen Sandwall und Stadtmauer hinter sich gebracht hatten.

Das Geräusch wurde nun zu einem lauten Heulen und endete schließlich in einem donnernden Krachen, als auf einmal eine unsicht-bare Faust gegen die Stadtmauer prallte und direkt unterhalb von zwei Soldaten eine Bresche in das Gestein riss. Das geschah mit so heftiger Wucht, dass die Soldaten nach hinten gestoßen wurden und schreiend von der Brüstung stürzten.

»Katapulte!«, erklangen nun die beängstigenden Rufe einiger Sol-daten, die auf einmal begriffen hatten, dass bereits eine zweite Gefahr drohte. Aber da landete bereits das zweite Geschoß im Ziel und richte-

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te ebenfalls einen ziemlichen Schaden im Mauerwerk an, während die Kriegstürme immer näher auf die Tore zukamen. Und in ihrem Schat-ten kamen ebenfalls die ersten feindlichen Fußsoldaten!

*

Genugtuung erfüllte Thorin, als er sah, wie das erste Geschoß des Ka-tapultes die Stadtmauer traf und dort eine große Bresche riss. Die Söldner seiner Legion, von denen sich ein Teil mit ihm im Inneren des Kriegsturmes aufhielt, stießen anfeuernde Rufe aus, als auch sie sa-hen, wie hart das Geschoß eingeschlagen hatte. Und nur wenig später folgte schon das zweite und richtete ebenfalls ein Werk der Zerstörung an.

Diesen Moment der Verwirrung mussten die Söldner nutzen, um den samaranischen Hunden eine entscheidende Schlappe zu verset-zen. Während die stärksten Männer in die Speichen der Räder griffen und den schweren Turm unter Aufbietung sämtlicher Kräfte weiter auf das Stadttor zuschoben, begannen bereits die ersten Bogenschützen, Pfeile auf die Soldaten oben auf den Zinnen abzuschießen. Die Sama-raner waren von den ersten aufschlagenden Katapultgeschossen so entsetzt, dass einige von ihnen für winzige Momente lang vergessen hatten, dass erst recht von den Kriegstürmen Gefahr drohte. Pfeile wurden den Samaranern entgegengeschickt und viele davon trafen ihr Ziel. Gar mancher der Soldaten auf den Zinnen hauchte sein Leben aus und stürzte dann hinab in die Tiefe, während andere bereits ihren Platz einnahmen und nun begriffen, wie gefährlich sich ihre Lage auf einmal darstellte.

»Weiter, Männer!«, feuerte Thorin die Krieger seiner Legion an. »Wir haben das Tor gleich erreicht!« Seine Worte spornten die Söldner noch mehr an, alles zu geben.

Wahrscheinlich spürten die Krieger in Thorins Legion, wie wichtig dieser Moment der Verwirrung war. Sie mussten ihn nutzen, denn die Gegner würden sich schon sehr bald wieder zu wehren wissen - und deshalb mussten sie jetzt umso härter kämpfen!

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Das war der Augenblick, wo der Kriegsturm gegen das schwere Stadttor stieß. Thorins Krieger schossen verstärkt Pfeile auf die Solda-ten ab, die sich nun oben auf den Zinnen in unmittelbarer Nähe des Stadttores zusammengefunden hatten, um die Feinde am weiteren Vordringen mit allen Kräften zu hindern.

Nun griffen auch die Krieger ein, die den Turm bis hierher ge-schoben hatten. Eine starke Schutzwand aus Holz, die jeweils an den Rädern der Wagen angebracht worden war, hatte verhindert, dass sie von Bogenschützen der Samaraner getroffen wurden. Und jetzt, wo die ersten beiden Kriegstürme das Stadttor erreicht hatten, griffen auch diese Männer in den Kampf mit ein. Sie griffen nach ihren Bogen und schossen Pfeile auf die Samaraner, während ihre Gefährten im Inneren der Kriegstürme, deren Spitzen fast an die Zinnen der Stadt-mauern stießen, sich zum Angriff bereitmachten.

»Vorwärts!«, rief Thorin so laut, dass es jeder seiner Männer hö-ren konnte. »Für König Keron und Kh'an Sor!«

Begeistert nahmen die anderen Söldner den Ruf des Nordlandwol-fes auf. Sie zückten ihre Schwerter und kletterten nun aus dem oberen Teil des Turms, zogen sich dann rasch und geschickt bis zu den Zinnen herauf, während ihre Gefährten dafür sorgten, dass die Samaraner in diesem entscheidenden Moment erst einmal in Deckung gehen muss-ten, wenn sie von den Pfeilen nicht getroffen werden wollten. Und diese kurze Zeitspanne reichte für Thorin und die mutigsten Krieger aus, die Zinnen zu erreichen.

Thorins Blicke schweiften umher, während er Sternfeuer fest in den Händen hielt - jederzeit auf einen Angriff gefasst. Jerc und drei Hyrkenier erreichten wenig später ebenfalls den Mauersims.

Thorin hörte die wütenden Schreie der samaranischen Soldaten, als diese sahen, wie weit der Feind schon vorgedrungen war. Sofort verließen die Soldaten ihre Deckung und stürzten sich den Eindringlin-gen entgegen auch wenn sie damit riskierten, von den Pfeilen der Feinde getroffen zu werden.

Der blonde Krieger reckte sein Schwert zwei Samaranern entge-gen, die ebenfalls mit gezogenen Klingen heraneilten. Den ersten Hieb des Gegners konnte Thorin sofort abwehren, während er wenig später

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dem Stoß des zweiten Soldaten auswich und ihm dagegen einen schmerzhaften Schlag mit der Breitseite des Götterschwertes versetz-te. Das kam so hart, dass der Soldat ins Taumeln geriet und für einen winzigen Moment nicht darauf achtete, dass der Mauersims nicht breit genug war. Thorin reagierte rascher und stieß mit der Klinge vor, traf den Soldaten in die Brust. Er schrie auf und fiel dann hinunter. Das Geräusch das harten Aufschlages unten auf den Steinen hörte Thorin jedoch nicht mehr, denn mittlerweile war ihm der andere Soldat ge-fährlich nahe gekommen und hätte es beinahe sogar geschafft, Thorin mit seinem Schwert zu verwunden. Aber der Nordlandwolf ahnte im letzten Moment die Absicht des Gegners, duckte sich und entging so dem tödlich geführten Schwerthieb.

Thorin riss Sternfeuer hoch, blockte den zweiten Schlag des Geg-ners ab und traf nun selbst. Sternfeuer verwundete den Soldaten an der Schulter und schwächte ihn. Ein Tritt Thorins stieß ihn dann zur Seite, wo er genau in die Klinge Jercs taumelte, der Thorin hatte bei-stehen wollen. Aber Thorin hätte diese Situation auch allein bewältigen können!

Jerc und Thorins Blicke trafen sich für Sekunden - zu mehr blieb keine Zeit. Dann mussten sich die beiden und ihre Gefährten auch schon wieder gegen weitere samaranische Soldaten zur Wehr setzen. Wahrscheinlich hatten die Verteidiger begriffen, was auf dem Spiel stand und wie wichtig es war, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Feinde es schafften, das Stadttor zu stürmen. Todesverachtend warfen sich die samaranischen Soldaten den Eindringlingen entgegen. Laute Kriegsschreie erklangen, mischten sich mit dem berstenden Krachen weiterer einschlagender Geschosse aus den Katapulten, die erneut Gestein aus der Stadtmauer rissen und bei jedem Aufprall Staub und Steinbrocken hoch empor wirbelten.

Wie es drüben beim anderen Stadttor aussah, konnten Thorin und seine Krieger nur ahnen. Fern drangen ebenfalls Kampfeslärm und laute Kriegsschreie an seine Ohren - aber das nahm er nur am Rande wahr. Denn er hatte alle Hände voll zu tun, um sich gegen die Schwerthiebe der Samaraner zu wehren, die ihre Waffen gut einzuset-zen wussten. Einige von Thorins Kriegern, die sich zu weit vorgewagt

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hatten, hatten diesen Wagemut bereits mit ihrem Leben bezahlen müssen. Ihre blutigen Körper lagen reglos auf dem Wehrgang, wäh-rend ihre Gefährten verbissen gegen die Samaraner kämpften und sie zu rächen versuchten.

In diesem Kampfesgetümmel überragte der Nordlandwolf die meisten Männer um Haupteslänge. Mit starkem Arm führte er Stern-feuer und seine Feinde spürten am eigenen Leibe, was für ein Kämpfer Thorin war. Jeder, der sich zu nahe an die Götterklinge heranwagte, musste bei diesem Versuch sein Leben lassen. Thorin selbst hatte sich natürlich auch kleinere Schnittwunden zugezogen, die heftig brannten - aber er ignorierte das und drang stattdessen weiter vor. Wenn er und seine Krieger es schafften, das Stadttor für den Rest des Heeres zu öffnen, dann war dieser Kampf ein für allemal entschieden. Aber noch war es nicht soweit, denn Thorin und die anderen Krieger hatten doch mehr Probleme mit den Samaranern als sie in dieser Lage vermu-tet hatten. Denn obwohl auch weiterhin Katapultgeschosse in die Mau-ern einschlugen, hielt das keinen der Verteidiger davon ab, alles zu geben. Und mit dem Mut der Verzweiflung schaffte man manchmal auch ausweglose Situationen!

Laute Stimme unten aus den Gassen der Stadt drangen zu Thorin empor. Kurz darauf ertönten Schritte und dann erklangen erneut be-fehlsgewohnte Stimmen. Thorin wandte rasch den Kopf und erkannte zu seinem Entsetzen, dass weitere Soldaten nun ihren bedrängten Gefährten zu Hilfe gekommen waren. Genau in dem Moment, wo drü-ben beim zweiten Stadttor der Kampfeslärm abgeflaut war. Das konnte nur eins bedeuten - nämlich dass es den anderen Söldnern nicht ge-lungen war, soweit wie Thorin und seine Männer vorzudringen. Die Samaraner mussten sie in die Flucht geschlagen haben und eilten nun hierher, um in die Geschehnisse einzugreifen. Ein Kommando erschall-te und noch bevor es verstummt war, wurden zahlreiche Pfeile den Eindringlingen entgegengeschickt. Einer der Hyrkenier wurde sofort getroffen und starb mit einem Pfeil in der Kehle, bevor er überhaupt begriff, wie ihm geschah. Zwei weitere Söldner stürzten in die Tiefe, als der gefiederte Tod sie ereilte, während Thorin erkannte, dass sich das Blatt buchstäblich im letzten Augenblick noch gewendet hatte. Nun

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waren er und seine Krieger in arge Bedrängnis geraten, denn die Ver-teidiger waren jetzt wirklich in der Überzahl. Da half nur noch eins - nämlich der Rückzug. Bevor noch weitere gute Krieger sinnlos starben.

Denn die anderen Soldaten kamen soeben auf den Wehrgang ge-rannt, um ihren Kameraden beizustehen. Wenn Thorin und seine Krie-ger also nicht durch die Schwerter der Feinde fallen wollten, mussten sie fliehen!

*

Fürst Dion erkannte mit Schrecken, wie die Feinde den Kriegsturm verließen und die Zinnen der Mauern stürmten. Rasch reagierte er darauf und schickte den Feinden zwanzig seiner besten Männer entge-gen. Ein gnadenloser Kampf Mann gegen Mann entbrannte, während der Fürst hier auf dieser Seite der Stadtmauer alle Hände voll zu tun hatte, um sich gegen die weiteren Angreifer zu wehren, die das Stadt-tor noch nicht ganz erreicht hatten.

Siedendes Öl stand bereit und Dion wartete nur noch auf den Moment, um es einzusetzen. Während drüben auf der anderen Seite die Geschosse aus den Katapulten einschlugen und die Mauern er-schütterten, gab der Fürst jetzt den Befehl, das Öl über die Mauern zu schütten. Genau in dem Moment, als der erste der beiden Türme in unmittelbare Nähe des Tores vorgedrungen war. Dions Miene war vol-ler Genugtuung, als sich das heiße Öl über die Türme ergoss und die Krieger in deren Inneren gequält aufschreien ließ. Viele von ihnen starben einen schrecklichen Tod oder wurden zumindest so schwer verletzt, dass sie jeden weiteren Gedanken an eine Eroberung des Stadttores sofort aufgaben. Und diejenigen, die sich vor dem sieden-den Öl noch in letzter Minute hatten in Sicherheit bringen können, dankten den Göttern dafür und zogen sich hastig zurück. So war dieser Angriff abgewehrt worden und die Männer auf den Zinnen der Mauern stießen laute Freudenrufe aus, während sie den Flüchtenden noch ei-nige Pfeile hinterherschickten, von denen einige auch ihr Ziel trafen.

Fürst Dion erkannte sofort, dass ihnen von dieser Stelle aus zu-mindest jetzt keine Gefahr mehr drohte und handelte deshalb unver-

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züglich. Ohne weitere Zeit zu verlieren, schickte er noch einmal fünfzig weitere Bewaffnete zum anderen Stadttor, wo der Kampfeslärm jetzt an Heftigkeit zugenommen hatte. Er selbst eilte mit diesen Soldaten zum Ort des Geschehens, weil er sich selbst von der Lage ein Bild ma-chen wollte.

Fürst Dion zuckte zusammen, als er dann mit eigenen Augen sah, wie weit die Feinde schon vorgedrungen waren. Er machte sich selbst nun bittere Vorwürfe, dass er nicht schnell genug reagiert und zusätz-liche Männer zum Stadttor auf dieser Seite geschickt hatte. Spätestens in dem Augenblick, wo die Katapulte ihre Geschosse abfeuerten, hätte er wissen müssen, dass dieses Tor besonders gefährdet war. Aber es nützte nichts mehr, darüber noch lange nachzudenken, denn die Fein-de hatten bereits die Mauer erklommen und lieferten sich nun mit den Verteidigern einen gnadenlosen Kampf, bei dem es bereits die ersten Toten auf beiden Seiten gegeben hatte.

Aber nun griffen Dions Soldaten in die Auseinandersetzung ein. Dion erkannte einen der Angreifer, einen großen blonden Krieger, der mit seinem gewaltigen Schwert in den Reihen seiner eigenen Soldaten wütete wie ein Berserker und ihnen dadurch schwere Verluste bereite-te. Selbst als drei Gegner gleichzeitig auf ihn eindrangen, wich er nicht zurück, sondern stellte sich dem Kampf und schaffte es tatsächlich, schließlich mit Hilfe eines anderen Söldners, die Gegner zu bezwingen. Was für ein Glück, dass in diesem Moment die übrigen Soldaten zur Stelle waren und ihren bedrängten Gefährten halfen!

Sonst hätten es die Feinde womöglich doch noch geschafft, dieses Tor zu erobern und so dem übrigen Heer zu ermöglichen, in die Stadt einzudringen. Dion dankte im stillen Parr dafür, dass es nicht soweit gekommen war und wenn es seine Soldaten nun schafften, die Feinde zurückzudrängen, dann schuldete er dem Gott Dank dafür.

Mit vereinten Kräften stürzten sich die Soldaten auf die Eindring-linge und trieben sie wieder zurück. Selbst der blonde Krieger, der so vortrefflich mit seinem Schwert umgehen konnte, musste einsehen, dass er jetzt den Rückzug antreten musste. Es gelang ihnen auch wie-der, den Turm zu erreichen und mit Hilfe der anderen Söldner sich vor den Samaranern in Sicherheit zu bringen. Dutzende von Pfeilen wur-

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den ihnen nachgeschickt und erneut stimmten die Soldaten ein Freu-dengeheul an, als auch diese Gegner in die Flucht geschlagen waren. Zwar hatten sie selbst große Verluste hinnehmen müssen und die Stadtmauer war an dieser Stelle stark in Mitleidenschaft gezogen wor-den - aber es zählte jetzt nur eins. Sie hatten auch den zweiten Angriff der Gegner abwehren können!

*

Orcon Drac spürte die Kräfte des Todes, der nun unter Angreifern und Verteidigern auf den Wehrgängen der Mauern reiche Ernte hielt. Er blickte in die kalten Flammen des flackernden Feuers und sah, wie zahlreiche Samaraner starben, als die Söldner aus Kh'an Sor ihre tod-bringenden Katapultgeschosse abfeuerten. Ein harter Kampf entbrann-te, als es den Angreifern gelang, ihre Türme zu verlassen und die Mauern zu erreichen.

Der Ritter der Finsternis fuhr zusammen, als er jetzt wieder den blonden Krieger inmitten des Kampfgetümmels sah, den er schon ein-mal erblickt hatte - kurz nachdem sein treuer Helfershelfer Loon den Tod gefunden hatte. Er sah, wie der blonde Hüne sein Schwert führte und damit den Verteidigern der Stadt den Tod brachte. Er kämpfte wie ein Berserker und schien überhaupt keine Furcht zu kennen.

Das Schwert des Kriegers war es auch, das die Aufmerksamkeit Orcon Dracs erregte. Vor allen Dingen als er sah, dass die Waffe für wenige Augenblicke lang kurz aufglühte. Für Bruchteile von Sekunden erblasste er, als er an die alten Schriften von Ushar und deren Prophe-zeiungen dachte. Der Götterkrieger er war hier in der Stadt! Das konn-te kein Zufall sein. Ob er wusste, dass sich die Kräfte der dunklen Mächte tief unter den Mauern von Samara mit jedem Tag mehr zu manifestieren begannen? War er deshalb gekommen, um das zu ver-hindern?

Das waren Fragen, auf die Orcon Drac jetzt keine Antwort be-kommen konnte, aber er sah mit großer Erleichterung, wie nun weite-re samaranische Soldaten in das Kampfgeschehen eingriffen und es schafften, die Eindringlinge mit vereinten Kräften zurückzudrängen.

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Auch der blonde Krieger musste jetzt weichen und es gelang ihm auch, bevor er von den Gegnern so eingekesselt wurde, dass ihm der Rück-zug nicht mehr möglich war. Die Verteidiger schlugen die Angreifer nun schließlich in die Flucht.

Orcon Drac hatte genug gesehen. Es war Zeit, etwas gegen die-sen blonden Krieger zu unternehmen, bevor er mit seiner Götterwaffe noch mehr Unheil anrichtete. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, je-mals die Katakomben zu erreichen - was Orcon Drac aber keinesfalls glaubte - so würde er hier auf Gegner treffen, in denen er seinen Meis-ter finden würde.

Die Waffen der Echsenkrieger waren aus dem roten Stahl der Ber-ge jenseits der Sümpfe geschmiedet und hatten bisher jedem anderen Stahl trotzen können. Und Orcon Dracs eigene Klinge - sie stammte aus dem Hort der Finsternis selbst. Was bedeutete dann schon die Waffe eines einzelnen Sterblichen - selbst wenn die Mächte des Lichts sie gesegnet hatten?

*

Das unruhig flackernde Licht der brennenden Kerze erhellte den hinte-ren Teil des Raumes nur notdürftig. Aber das störte die Männer nicht, die sich zu dieser späten Stunde dort versammelt hatten. Sie sprachen leise, jederzeit bedacht, dass niemand mitbekam, was sie zu bereden hatten. Auch wenn Mitternacht schon vorüber war und die meisten der Stadtbewohner nun schliefen - falls man angesichts dieser ausweglo-sen Lage das überhaupt noch tun konnte - so war doch die notwendi-ge Vorsicht geboten. Denn das, weswegen diese Männer hier zusam-mengekommen waren, hätte unter normalen Umständen schon als Verrat gegolten.

»Es kann nur noch wenige Tage dauern«, meinte ein untersetzter Kaufmann namens Gerken, dessen Haus von den Katapultgeschossen ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. »Es sind schon zu viele gestorben. Wollen wir weiter untätig zusehen, was hier ge-schieht?«

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»Große Worte sind das, Gerken!«, gab der schwarzhaarige Bundar zu bedenken. »Wir sind nur wenige. Wie wollen wir das überhaupt bewirken? Wir können doch nicht einfach die Stadttore öffnen und den Feind hineinlassen? Dann würden nur Tod und Gewalt über uns kom-men...«

»Es geht jetzt nicht darum«, hielt ihm Gerken entgegen und sah, wie auch die anderen drei Männer zu seinen Worten nickten. »Viel-mehr hört unser Fürst zu sehr auf die Priester. Ich war im Tempel, als der Fürst und seine Frau erschienen, um zu Parr zu beten. Einige von euch waren ja auch dort. Dann habt ihr bestimmt Hor-Dolans Worte nicht vergessen. Kein Wort von Verhandlungen ist dort gefallen - nur von Kampf und Entschlossenheit war die Rede!«

Bundar zuckte unwillkürlich zusammen, als er den untersetzten Kaufmann so reden hörte. Unter normalen umständen hätte das allein schon ausgereicht, um Gerken in den Kerker werfen zu lassen. Denn wer die Macht und die Ratschläge der Priester anzuzweifeln begann, der zweifelte auch an der Macht Parrs!

»Es gibt mehr Menschen in Samara, die so denken wie wir«, mel-dete sich nun der weißblonde Kellyn zu Wort, dem die Schmiede un-terhalb der Straße gehörte. »Aber keiner von ihnen traut sich, das zu tun, was eigentlich getan werden muss. Ich glaube, wenn der Fürst wüsste, wie sein Volk denkt, dann würde er vielleicht doch noch ein-lenken und versuchen, mit dem Feind zu verhandeln. Selbst wenn er ihnen dafür als Preis die Stadt übergeben muss - aber wenigstens hört dann dieses Morden und Töten auf...« Seine Stimme war dunkel vor Trauer, als er fortfuhr. »Der Sohn meines Bruders war einer der Wäch-ter oben auf den Zinnen. Jetzt ist er tot!«

Das Gespräch der Männer brach ab, als sich die Tür öffnete und Kellyns Frau eintrat. Sie blickte die Anwesenden alle der Reihe nach an.

»Ihr solltet langsam zum Schluss kommen«, sagte sie mit besorg-ter Stimme. »Denn wenn ihr jetzt nicht nach Hause geht, dann werden die Soldaten noch misstrauisch - jetzt, wo die Schänken schon ge-schlossen haben...«

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»Lena hat recht«, sagte Kellyn und erhob sich schließlich. »Also lassen wir es für heute gut sein. Redet mit denjenigen darüber, denen ihr vertrauen könnt - und dann treffen wir uns morgen Abend wieder hier. Sofern Samara dann noch nicht erobert worden ist...«

Seine Miene war ernst bei diesen Worten und auch die anderen Männer wussten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Denn mit jedem verstreichenden Tag wurde die Situation immer gefährlicher. Zweimal hatten die Samaraner die Feinde zurückschlagen können aber ob dies auch bei einem erneuten Sturm auf die Stadt noch so sein würde, das wusste wohl nur Parr...

Die Männer wollten gerade die Kammer verlassen, als draußen vor dem Haus plötzlich polternde Schritte zu vernehmen waren. Augenbli-cke später schlug eine harte Faust gegen die Haustür.

»Los, öffnet die Tür!«, erklang eine befehlsgewohnte Stimme. »Kellyn, hast du gehört?«

»Das ist Hauptmann Dolor«, stammelte Lena voller Angst. »Ich erkenne seine Stimme. Was sollen wir tun?«

»Einen Moment!«, rief Kellyn und verstellte seine Stimme so, als habe er gerade noch geschlafen. »Ich komme gleich!« Unterdessen nickte er seinen Gefährten zu, zur Hintertür zu gehen. Aber als sie diese öffneten, blickten sie in die zornigen Gesichter weiterer Soldaten, die ihre Schwerter auf sie gerichtet hatten und nun ins Haus eindran-gen. Lena schrie erschrocken auf, als ihr bewusst wurde, was das be-deutete. Ein Gedanke jagte den anderen, während einer der Soldaten nun auch die vordere Tür öffnete und seinem Hauptmann Zugang ver-schaffte.

Dolor war ein muskulöser Mann, der in seinen Händen ebenfalls ein Schwert hielt und nun seine Blicke im Raum schweifen ließ. Er blickte die Männer einen nach dem anderen lange an, bevor er schließ-lich dann das Wort ergriff. Seine Stimme klang gefährlich leise, als er Kellyn und seine Frau anschaute.

»Ihr habt noch Besuch, wie ich sehe«, sagte er mit spöttischer Stimme. »Zu solch später Stunde?«

»Ist es denn verboten, Besuch zu empfangen, Hauptmann?«, stellte Kellyn die Gegenfrage und handelte sich dafür einen schmerz-

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haften Stoß mit dem Schwertknauf ein. Kellyn fuhr stöhnend zusam-men und hielt sich die Seite, während seine Frau auf ihn zueilte, um ihn zu stützen.

»Lügner!«, schrie ihn Hauptmann Dolor dann an, während seine Augen wütend aufblitzten. »Ihr habt euch hier nicht einfach so getrof-fen, um zu plaudern. Verräter seid ihr alle! Ihr wollt das Volk gegen den Fürsten aufhetzen!«

»Wer sagt das?«, wollte Lena nun wissen. »Ihr und eure Soldaten dringt in unser Haus einfach ein, als seien wir Todfeinde von Samara. Denkt einmal darüber nach, bevor Ihr solche Anschuldigungen äu-ßert...«

»Schweig, Weib!«, fuhr sie Dolor an. »Es ist die Wahrheit und da-für wird es nur eine Strafe geben - nämlich den Tod. Von mir aus könnt ihr weiter lügen. Wir wissen genau, dass ihr eine Verschwörung plant, denn es gibt zum Glück noch Bürger in der Stadt, die dem Fürs-ten treu ergeben sind. Nicht wahr, Bundar?«

Der Angesprochene schlug die Augen nieder, weil er den entsetz-ten Blicken der anderen nicht mehr länger standhalten konnte. Gerken war es, der nun zuerst begriff, was die Äußerung des Hauptmanns zu bedeuten hatte.

»Elender Verräter!«, entfuhr es dem untersetzten Kaufmann. »Wie konntest du nur...?«

»Ich musste es tun, Gerken«, verteidigte sich Bundar heftig, weil ihm das schlechte Gewissen im Gesicht geschrieben stand. »Wenn das Volk nicht eins ist, dann ist es am Ende...«

»Verflucht seiest du dafür!«, ergriff Kellyn erneut das Wort und handelte sich für diese Kühnheit einen weiteren Stoß ein.

»Genug jetzt!«, entschied Hauptmann Dolor und gab seinen Sol-daten ein Zeichen. »Packt diese Verräter und bringt sie hinaus. Sie werden schon bald Gelegenheit haben, zu sehen, wie einig ein ganzes Volk sein kann - nämlich dann, wenn es jubelnd einer Hinrichtung von Verrätern zusieht.«

Er lachte gehässig, während die Soldaten die Männer und die Frau grob an den Armen packten und sie hinaus ins Freie stießen. Keiner leistete jetzt noch Widerstand, denn sie hatten begriffen, wie sinnlos

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das geworden war. In den anderen Häusern der Straße hatte man natürlich bemerkt, was hier vor sich ging. Einige Gesichter spähten neugierig hinunter und sahen dann die Soldaten mit ihren Gefangenen.

»Ja, schaut nur alle hierher!«, erklang nun die laute Stimme des Hauptmanns. »Diese Hunde hier sind Verräter an dem Fürsten und seinem Volk. Sie wollten dem Feind das Stadttor öffnen - und dafür werden sie ihre Strafe erhalten!«

Dolor hatte seine Worte bewusst so gewählt. Weil er genau wuss-te, dass sich dies in Windeseile in der ganzen Stadt herumsprechen und für Aufregung sorgen würde.

»Was ist?«, wandte er sich dann an den immer noch ängstlichen Bundar, der zusah, wie seine einstigen Freunde von den Soldaten ab-geführt wurden. »Geh mir endlich aus den Augen, du Ratte!«, drohte er dem schwarzhaarigen Mann. »Bevor ich es mir noch anders überle-ge und dich ebenfalls in den Kerker werfen lasse!«

Bundar wurde noch eine Spur blasser als er ohnehin schon war und suchte dann hastig das Weite. Seine schnellen Schritte verstumm-ten schon bald. Hauptmann Dolor schenkte dem Verräter keine weitere Beachtung mehr und folgte nun ebenfalls den Soldaten, die mit den Verrätern auf dem Weg zum Fürstenpalast waren. Der Herrscher wür-de ganz sicher hart vorgehen, wenn er erfuhr, welche Verschwörung hier im Gange war! Und Hauptmann Dolor hatte sie aufgedeckt...

*

Hor-Dolan blickte hinunter auf den großen Platz vor dem Tempel, wo sich bereits eine beachtliche Menschenmenge angesammelt hatte. Alle erwarteten nun, dass Fürst Dion, der sich mit den Priestern jetzt ins Innere des Tempels zurückgezogen hatte, gleich das Urteil sprechen würde. Das Urteil für diejenigen, die ganz Samara den Feinden hatten ausliefern wollen. So jedenfalls hatte es Dion in der Stadt verbreiten lassen und der oberste Priester von Samara war mit diesen Entwick-lungen ganz zufrieden. Natürlich hatte Hor-Dolan geahnt, dass es im-mer Menschen gab, die in Zeiten des Krieges mit allen Mitteln Frieden zu erreichen versuchten. Da waren auch diese Narren keine Ausnah-

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me. Aber anstatt mit ihren Bemühungen etwas zu bewirken, würden sie nun dafür sterben!

Als Hor-Dolan von der Festnahme der vier Männer und der Frau durch die Soldaten des Fürsten erfahren hatte, da hatte er sofort die verborgenen Räume innerhalb des Tempels aufgesucht, um den Rat des Ritters der Finsternis einzuholen. Der allwissende Sendbote der dunklen Mächte hatte daraufhin den Tod der Verräter beschlossen und Hor-Dolan befohlen, so lange auf Fürst Dion einzuwirken, bis dieser das Todesurteil fällte. Und für den obersten Priester war es gar nicht schwer gewesen, Fürst Dion schließlich in seinem und Orcon Dracs Sinne handeln zu lassen.

Hor-Dolan lächelte voller Triumph, während er ein letztes mal hin-unter zu der Menge sah, die schon gierig auf das Spektakel der Hin-richtung wartete, die nun schon bald stattfinden würde. Fürst Dion glaubte immer noch daran, dass er jederzeit die Situation voll unter Kontrolle hatte. Dabei war ihm schon längst das Zepter der Macht ent-rissen worden. Andere Mächte entschieden über die Geschicke der Stadt und der Fürst ahnte das noch nicht einmal!

Schließlich wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten hin-über in die Tempelhalle, wo ihn der Fürst und einige andere Priester bereits erwarteten. Hor-Dolan hatte sich noch einmal zurückziehen und in aller Stille den Rat Parrs erflehen wollen - so hatte er es dem Fürs-ten jedenfalls gesagt und Dion hatte das geglaubt. Deshalb richteten sich nun die Blicke Dions auf den obersten Priester.

»Parr verlangt den Tod der Verräter«, sagte Hor-Dolan nun zu dem Fürsten. »Wir werden ihn gnädig stimmen, wenn wir ihm diese Hunde opfern!«

Er trug das mit solcher Selbstverständlichkeit vor, dass Fürst Dion niemals auf den Gedanken gekommen wäre, dass Hor-Dolan selbst ein Verräter an der Stadt und dem ganzen Volk war. Aber der kahlköpfige Priester übte dieses verantwortungsvolle Amt schon so lange aus, dass niemand an seiner Beurteilung zweifelte - zumal er ja Zwiesprache mit dem mächtigen Parr gehalten hatte.

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»Gut, dann soll es im Namen unseres Gottes geschehen!«, erwi-derte der Fürst. »Bringt die Verräter herbei - das Volk soll zusehen, wie sie Parr übergeben werden!«

Drei Soldaten eilten daraufhin in einen der hinteren Räume des Tempels, wo man die vier Männer und die Frau kurz nach ihrer Gefan-gennahme eingesperrt hatte. Inzwischen ließ Hor-Dolan das Haupttor des Tempels öffnen und die Stimmen der Menschenmenge wurden nun noch lauter. Die Stimmen verstummten erst dann, als der oberste Priester selbst ins Freie trat und schon mit einer einzigen Handbewe-gung dafür sorgte, dass es draußen auf dem großen Platz ganz still wurde. Für die meisten Bewohner der Stadt lebten die einflussreichen Priester in einer eigenen, unbegreiflichen Welt, zu der normale Sterbli-che überhaupt keinen Zugang hatten. Aber ihr Wort war Gewicht in der Stadt, denn sie waren die Priester Parrs!

»Hört das Urteil unseres Fürsten, Bewohner von Samara!«, rief Hor-Dolan so laut, dass seine Worte bis in den hintersten Winkel des Platzes vordrangen. Dann trat er einige Schritte beiseite, um dem Fürsten Platz zu machen.

Auch wenn Dion nicht wusste, dass die Stimme des Gottes, den er und die Samaraner anbeteten, schon lange verstummt war, so war und blieb Dion doch ein Herrscher, der mit seinen Worten ein Volk begeistern konnte. Er gab ein Zeichen für die Soldaten, nun die Ge-fangenen nach vorn zu bringen und als das geschah, erklangen wieder die zornigen Stimmen der Stadtbewohner, die in den vier Männern und der Frau natürlich Verräter sehen mussten, weil man es ihnen so ge-sagt hatte. Und wer wagte es schon, die Worte des Fürsten oder gar der Priester anzuzweifeln? Das wäre doch einer Gotteslästerung gleichgekommen!

»Seht sie euch an - diese Hunde!«, erklang nun die Stimme Dions. »Sie wollten unser Volk verraten. Und dafür kann es nur eine Strafe geben - nämlich den Tod. Opfern wir sie unserem Gott und stimmen ihn dadurch gnädig, damit er uns in diesen schwierigen Stunden auch weiterhin beisteht!«

Während die Menschenmenge zujubeln begann, gab Dion einen weiteren Befehl. Zwei der Soldaten zückten nun ihre Schwerter.

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»Mächtiger Parr - erhöre unser Flehen!«, rief der Fürst, während die Priester in einen monotonen Singsang verfielen. »Nimm unser Op-fer jetzt an und beschütze uns vor unseren Feinden!«

Noch bevor seine letzten Worte verklungen waren, hatte er den Soldaten auch schon ein Zeichen gegeben. Mit ausdruckslosen Mienen führten die beiden Soldaten den Befehl des Fürsten aus. Sie erhoben ihre Schwerter und ließen sie dann niederfallen, enthaupteten die Un-glücklichen. Selbst auf das Leben der Frau nahmen sie keine Rück-sicht. Sie begann zu schreien, als sie ihren Mann sterben sah, aber ihre Stimme verstummte schon wenige Sekunden später, als ein gut geführter Streich eines scharfen Schwertes ihr Leben beendete. Das Blut der Getöteten ergoss sich auf die kalten Steine der Tempeltreppe und färbte sie dunkel.

Das war der Augenblick, wo die Statue des Gottes, die man zu seinen Ehren unmittelbar vor dem Eingang zum Tempel errichtet hat-te, plötzlich zum Leben erweckt wurde. Eine tiefe dunkle Stimme er-tönte, zwang die tief erschrockenen Menschen auf dem Platz völlig in ihren Bann.

»Ich höre euer Flehen und nehme das Opfer an!«, erklang die Stimme, die direkt aus dem Herzen der sieben Mannslängen großen Statue zu kommen schien. »Seid tapfer, Volk von Samara!«, fuhr die dunkle Stimme dann fort. »Parr beschützt euch!«

Selbst der Fürst war im ersten Moment ziemlich erschrocken, als er genau wie die anderen Zeuge wurde, wie die Statue des Gottes plötzlich zum Leben erwachte. Hätte er in diesem Augenblick einen Blick in Hor-Dolans Richtung geworfen, so wäre ihm wahrscheinlich aufgefallen, dass selbst der oberste Priester jetzt ziemlich furchtsam dreinschaute. Denn es war kein anderer gewesen als Orcon Drac, der nun in die Ereignisse eingriff und seine Stimme hatte ertönen lassen. Jedoch wusste das nur Hor-Dolan. Aber selbst jetzt blieb die Furcht vor dem Ritter der Finsternis, dessen unheimliche Erscheinung dem kahl-köpfigen Priester jedes mal einen heiligen Schauer über den Rücken jagte. Selbst wenn es nur Orcon Dracs Stimme gewesen war!

»Bringt die Kadaver dieser Verräter weg!«, befahl der Fürst nun den Soldaten. »Sie sollen diesen heiligen Ort nicht länger entehren!«

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Daraufhin schleppten die Soldaten die Leichen der hingerichteten Verräter weg, während das Volk erneut dem Fürsten und den mächti-gen Parr zujubelte, nachdem die ersten zaghaften Stadtbewohner schließlich ihren Schrecken überwunden hatten und begriffen, welches Wunder sie gerade erlebt hatten. Der mächtige Gott lebte - und er hatte ihnen allen ein deutliches Zeichen gegeben. Gab es denn noch einen besseren Beweis dafür, dass die Lage doch nicht so hoffnungslos war wie es einige im stillen schon geglaubt hatten? Wenn Parr zu sei-nem Volk gesprochen und ihnen seinen Schutz versprochen hatte, dann würde es den Feinden niemals gelingen, Samara zu erobern!

Jedoch gab es immer noch jemanden in der Stadt, der seine Sor-gen trotz dieser Geschehnisse nicht hatte vergessen können. Es war Lorys, die Gemahlin des Fürsten, die Dion nicht hatte begleiten kön-nen, weil sie zu dieser Stunde starke Übelkeit verspürt hatte. Sie wuss-te, dass auf diejenigen der Tod wartete, die das Volk von Samara hat-ten verraten wollen und war deshalb dankbar dafür, dass sie Dion nicht in den Tempel hatte begleiten müssen, um Zeugin dieser Hinrich-tung zu werden. Aber dann war sie doch neugierig geworden und hat-te einen Blick vom Fenster ihres Gemaches aus riskiert, denn von hier oben aus hatte sie sowohl den Tempel als auch den Platz davor fast ganz im Blickfeld.

Und als sich das Blut der Hingerichteten über die Treppenstufen ergoss und die Stimme des Gottes über den Platz hallte, wurde Lorys kreidebleich. Denn im Gegensatz zu den übrigen Samaranern spürte sie nichts von der Zuversicht, die seltsamerweise die meisten ergriffen zu haben schien...

*

Er wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Trotzdem wollte es ihm nicht einzuschlafen. Schließlich schlug Thorin die Decke beiseite, die er über sich geworfen hatte und erhob sich leise, ohne seine ande-ren Gefährten zu wecken, die mit ihm unweit der zahlreichen Lager-feuer nächtigten.

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Thorin konnte sich selbst nicht erklären, weshalb er auf einmal solch eine Unruhe spürte. Es hatte schon begonnen, als die Sonne untergegangen war und wurde mit jeder verstreichenden Stunde im-mer stärker - und es musste etwas mit der Stadt zu tun haben. Denn das unbeschreibliche Gefühl, das Thorins Gedanken quälte, schien seinen Ursprung hinter den Mauern der Stadt zu haben.

Seine Gefährten dagegen schliefen immer noch tief und fest, nachdem er sich erhoben und sein Lager verlassen hatte. Leise schlich er sich davon und hielt dann auf eine Gruppe Felsen zu, die sich west-lich des Sandwalles befand. Von dort aus hatte er auch eine gute Sicht nach Samara. Es war eine helle und vom Mond erleuchtete Nacht. Thorin sah die Zinnen und Mauern der Stadt sehr deutlich und erkann-te auch einige Fackeln, die die Wachposten oben auf den Mauern ent-zündet hatten. Sie standen Tag und Nacht auf ihrem Posten, um somit die Stadt vor einem Angriff des Feindes jederzeit warnen zu können.

Thorin stieß einen tiefen Seufzer aus, als er seine Blicke schließlich von der Silhouette der Stadt abwandte. Nun waren schon einige Tage vergangen, seit das Söldnerheer aus Kh'an Sor am Ziel angekommen war - und doch war es Kerons Soldaten bisher nicht vergönnt gewe-sen, einen Sieg davonzutragen. Es hatte nur herbe Verluste gegeben - und das auf beiden Seiten. Und wie lange das noch dauern würde, das konnte auch Thorin nicht wissen. Bis Keron die Stadt in die Knie zwang - bis dahin konnten noch viele Wochen ins Land gehen...

Plötzlich spürte er, dass er nicht mehr allein zwischen den Felsen war. Sofort drehte er sich herum und griff gleichzeitig nach dem Griff seines Schwertes, um es so rasch wie möglich aus der Scheide zu zie-hen. Aber dazu kam es dann doch nicht, denn eine Stimme, die Thorin seltsam vertraut erschien, ließ ihn innehalten.

»Du brauchst deine Waffe jetzt nicht, Thorin«, mahnte ihn die Stimme zur Ruhe. »Das Böse lauert in der Stadt - und nicht hier...«

Dann erschien plötzlich eine Gestalt in einem Kapuzengewand zwi-schen den Felsen, die von einem unwirklichen Schimmern eingehüllt war. Thorin wollte im ersten Moment gar nicht glauben, was er sah, aber dann wurde ihm klar, dass diese Begegnung jetzt und an diesem Ort kein Zufall war.

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»Einar«, murmelte Thorin und nahm seine Hand vom Schwert-knauf. »Schon wieder begegnen wir uns - selbst mitten in der Schlacht wischen zwei befeindeten Völkern.«

Die Kapuzengestalt hob kurz den Kopf, so dass das Mondlicht sein Antlitz beleuchtete. Thorin erkannte das milchig schimmernde Auge des Gottes.

»Es geht nicht um die Schlacht zwischen Samara und Kh'an Sor, Thorin«, erwiderte Einar daraufhin. »Sondern um viel mehr - und ich glaube, du ahnst es schon, nicht wahr?«

Thorin zögerte für einen winzigen Moment mit der Antwort. »Ich bin mir... nicht sicher«, erwiderte er daraufhin und wich dem

prüfenden Blick des einäugigen Gottes für einige Atemzüge zu lange aus. »Aber irgendwie spüre ich, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas Böses lauert und nur darauf wartet, um zuschlagen zu können.«

»Und du hast geglaubt, deinem Schicksal entfliehen zu können, Thorin!«, tadelte ihn der Gott. »Begreifst du jetzt endlich, um was es hier eigentlich geht? Gewiss nicht um Ruhm und Beute, sondern um Dinge, die die Existenz der ganzen Welt bestimmen! Und du musst deine Aufgabe vollenden - denn das ist dein Schicksal. Oder glaubst du, dass es ein Zufall war, dass ausgerechnet du Sternfeuer erringen konntest?« Er hielt einen Moment inne, um zu beobachten, wie seine Worte auf Thorin wirkten und registrierte, wie der Nordlandwolf ins Grübeln geriet. »Die Mächte der Finsternis haben ihr Heer schon auf-gestellt, Thorin - die Schlacht zwischen ihnen und uns wird stattfinden müssen. Aber du hast es auch in der Hand, zu bestimmen, wann dies sein wird.«

»Weshalb gerade ich?«, wollte Thorin nun von dem einäugigen Gott wissen. »Ich besitze keine übernatürlichen Kräfte, um mich mit Göttern messen zu können? Ihr setzt viel Hoffnung in mich, Einar - aber seid Ihr denn wirklich sicher, dass ich sie auch erfüllen kann?«

»Die Kräfte des Universums sind sehr vielschichtig, Thorin«, ant-wortete Einar. »Du kennst die Zusammenhänge noch nicht. Sie haben ihren Ursprung in den Schriften von Ushar, in denen aufgezeichnet worden ist, dass die Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis kommen wird - und dass es ein Sterblicher sein wird,

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der mit Hilfe der Götterklinge dann eingreift. Sieh mich nicht so un-gläubig an, Thorin. Du hast bis jetzt nur an deinen Ruhm als Krieger gedacht und wolltest nicht wissen, um was es wirklich geht. Bist du jetzt endlich bereit, einzusehen, dass du deinem Schicksal nicht ent-fliehen kannst. Schon bei deiner Geburt war dein Weg vorgezeichnet - bis zu dieser Stunde.«

Dutzende von Gedanken strömten gleichzeitig auf Thorin ein, als er die Worte des einäugigen Gottes vernahm.

»In den Mauern von Samara lauert das Böse, Thorin. Der Vasall der Finsternis wartet auf den Augenblick, um den Kampf zu eröffnen. Und dies wird schon sehr bald geschehen. Deshalb müssen wir ihm zuvorkommen.«

»Ich habe Mühe, all das zu verstehen«, meinte Thorin. »Der Va-sall der Finsternis - wer ist das?«

»Sein Name ist Orcon Drac und man nennt ihn auch den Ritter der Finsternis. Er ist der Vasall der drei dunklen Götter Modor, Azach und R'Lyeh. Namen, die du wahrscheinlich noch nie zuvor gehört hast, Thorin. Sie sind uralt und existierten schon vor Schöpfung dieser Welt. Die Sterblichen wissen nichts von ihnen, aber es gibt sie - und sie sind dabei, diese Welt für sich zu erobern. Es wird ihnen auch gelingen, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten - und genau das ist deine Auf-gabe. Deshalb bin ich gekommen, um dir zu helfen.«

»Und wie soll ich gegen diese Mächte vorgehen, mächtiger Ei-nar?«, fragte Thorin mit einer gehörigen Portion Zweifel in der Stim-me. »Wenn diese Götter so gewaltig und alt sind, dann werden sie mich vernichten wie ein winziges Insekt.«

»Du unterschätzt die großen Kräfte Sternfeuers, Thorin«, wies ihn der einäugige Gott zurecht. »Jetzt, wo die Klinge neu geschmiedet worden ist, wird sie allem standhalten können, was geschehen wird.«

Er bemerkte den ungläubigen Ausdruck in den Augen des Nord-landwolfs und fuhr deshalb rasch fort.

»Du und Sternfeuer - ihr seid eins. Wenn du an die Kraft des Lichts glaubst, dann wird sich diese Kraft auch auf Sternfeuer übertra-gen und die Klinge noch mehr stärken. Damals im Hochland von An-dustan, als du dem Nachtherzog begegnetest, warst du noch ein

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Zweifler, Thorin - und deshalb warst du der Unterlegene. Lass es nicht noch einmal dazu kommen. Thunor, Odan und ich - wir hoffen darauf, dass du in die Geschehnisse um den Fortbestand dieser Welt endlich eingreifst. Und deswegen bin ich auch gekommen, um dir das zu sa-gen. König Keron ist verbittert. Es wird ihm nie gelingen, Samara im Sturm zu erobern. Deshalb muss ich eingreifen. Du und einige ausge-wählte Männer - ihr werdet euch in der kommenden Nacht an die Mauern heranschleichen und sie erklimmen.«

»Unmöglich!«, gab Thorin zu bedenken. »Die Wachen sind Tag und Nacht dort oben. Sie werden es sehen, wenn wir uns anschleichen und uns sofort töten...«

»Du hast immer noch nicht genügend Vertrauen, Thorin!«, tadelte ihn Einar. »Glaubst du denn wirklich, dass ich es zulassen würde, dass der Kämpfer des Lichts in Gefahr gerät, wo es um so wichtige Dinge geht?« Er lachte leise auf, während er fortfuhr. »In der kommenden Nacht werden dichte Wolken den Mond verhüllen. Es wird eine finstere Nacht werden und Wind wird aufkommen. Niemand von den Wachen oben auf den Mauern wird es sehen, wenn ihr euch heranschleicht und einen der Türme erklimmt. Dann schaltet ihr die Wachen aus und öff-net schließlich das Tor. Nur so kann der Kampf um die Stadt gewon-nen werden - denn dir bleibt nicht mehr viel Zeit, um die wirkliche Auseinandersetzung zu suchen. Der Ritter der Finsternis weiß bereits von dir, Thorin...«

»Aber wie...?«, entfuhr es Thorin, der fieberhaft nach den pas-senden Worten suchte. Der einäugige Gott kam ihm jedoch erneut zuvor und ergriff jetzt das Wort.

»Glaubst du, dass die andere Seite tatenlos zusieht, wenn ein Kämpfer wie du in die Geschehnisse eingreift? Auch die dunklen Götter wissen um die Bedeutung der alten Schriften und müssen deshalb rasch handeln. Also sieh dich vor, wenn das Heer in die Stadt ein-dringt, Thorin - es gibt noch einen ganz anderen Gegner als das Volk und die Soldaten von Samara. Und du wirst ihm sehr bald gegenüber-stehen!«

»Wartet, Einar!«, rief ihm Thorin nach, als er sah, wie der Schim-mer, der die Gestalt des einäugigen Gottes einhüllte, immer mehr zu

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verblassen begann. »Was ist, wenn König Keron diesem Plan nicht zustimmt? Ich bin nicht der Befehlshaber dieser Armee und kann nicht anstelle des Königs entscheiden, was geschehen soll...«

»Du hast die Macht, ihn zu überzeugen, Thorin!«, schnitt ihm Ei-nar das Wort ab. »Keron vertraut deinen Worten und wird es auch jetzt tun. Und nun handele, Thorin - ich kann nicht länger hier bleiben. Es hat sehr viel Kraft gekostet, meine Gedanken und meine Anwesen-heit vor den Mächten der Finsternis zu verbergen. Sprich mit König Keron, Thorin - er wird dich ganz sicher anhören. Denn genau zu die-ser Stunde träumt er von der listigen Erstürmung der Stadt - und zwar so, wie ich sie dir gerade geschildert habe. Deshalb wird er dich mor-gen früh anhören, wenn du ihm deinen Plan erzählst.«

Noch während der einäugige Gott das sagte, begann seine Gestalt immer mehr zu verblassen, bis sie sich vor Thorins Augen schließlich ganz auflöste, als habe sie nie existiert. Er selbst blieb zurück mit vie-len Fragen, auf die er jetzt gerne Antwort bekommen hätte...

*

Es geschah so, wie es Einar prophezeit hatte. In der folgenden Nacht zogen dichte Wolken auf, die das Licht des Mondes völlig verschluck-ten und die Ebene vor der Stadt in rabenschwarze Finsternis tauchten. Nur drüben jenseits des Sandwalles hatte die Armee König Kerons ei-nige Lagerfeuer entzündet. Aber nicht, um sich daran zu wärmen, sondern vielmehr, um die Bewohner der Stadt in Sicherheit zu wiegen. Auf Befehl des Königs wurden im Lager sogar Soldatenlieder gesungen - alles ein Teil des Plans, der nun verwirklicht werden sollte.

Es waren insgesamt zehn Krieger unter der Führung des Nord-landwolfs, die nun das Lager von der anderen Seite her verließen und einen großen Bogen schlugen, um sich dann von Südwesten her den Mauern der Stadt zu nähern. Sie hatten ihre Gesichter geschwärzt und trugen auch ansonsten dunkle Kleidung, die sie eins mit der Nacht werden ließen. Jerc war ebenfalls mit dabei, denn es dürstete ihn nach Rache. Er wollte jede Gelegenheit nutzen, um den Samaranern Scha-den zuzufügen. Und wenn er mit diesem waghalsigen Unternehmen

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dazu beitragen konnte, dass die Stadt endlich fiel, dann würde er der erste sein, der wie ein Teufel über die ahnungslosen Samaraner her-fiel, um den Tod seines treuen Gefährten Polt endlich zu sühnen!

Leise waren die Schritte der Krieger, als sie schließlich das Heerla-ger hinter sich zurückließen und in der Nacht untertauchten. Keiner von ihnen sprach jetzt noch ein Wort, denn sie durften keinen einzigen Laut von sich geben, wenn ihr Plan wirklich gelingen sollte. Sie hatten Seile und Anker mit dabei, mit deren Hilfe sie dann die Mauern er-klimmen wollten. Eine Aufgabe, die alles von ihnen abverlangen wür-de, denn wenn sie dabei entdeckt wurden, dann bedeutete das ihren sicheren Tod!

Während Thorin den Kriegertrupp anführte, spürte er den auf-kommenden Wind, der nun immer stärker wurde. Es war wirklich ein verrücktes Land. Tagsüber brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel und nachts war es so kalt, dass man ein wärmendes Fell be-nötigte, um schlafen zu können. Aber der Wind, der ihnen nun entge-gen blies, war keines natürlichen Ursprungs, denn dazu war er zu plötzlich aufgekommen. Einar hatte ihn geschickt, aber das wusste nur Thorin. Selbst mit Keron hatte er nicht über seine Begegnung mit dem einäugigen Gott gesprochen, sondern ihm den Plan Einars so geschil-dert, als habe er ihn sich selbst ausgedacht. Und wieder war alles so eingetreten, wie es Einar gesagt hatte. König Keron hatte einen schicksalhaften Traum gehabt und war jetzt davon überzeugt, dass man mit einer Kriegslist die Stadt erobern konnte, ohne weitere Söld-ner in den Tod zu schicken. Und deswegen hatte er Thorin sofort be-fohlen, einen Trupp Freiwilliger zusammenzustellen, die das Wagnis dann auf sich nehmen sollten, die Mauern zu erklimmen und das Stadttor für die anderen Söldner zu öffnen. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, würde Thorin oben auf den Zinnen mit einer Fackel ein Zeichen geben. Unterdessen hielt sich das Heer bereit, um im ent-scheidenden Moment eingreifen zu können...

Thorin spürte den kalten Wind, der durch seine Kleider fuhr und ihn frösteln ließ. Seinen Gefährten erging es nicht anders. Aber sie ignorierten das und konzentrierten sich stattdessen ganz auf ihr Vor-haben. Immer näher schlichen sie sich an die Stadtmauern heran. Es

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war so finster, dass die Wachen oben auf den Zinnen sie mit Sicherheit nicht bemerken würden.

Allerdings bedeutete das auch, dass sich Thorin und seine Männer um so mehr anstrengen mussten, die Mauern zu erklimmen. Denn in dieser Finsternis würde ein falscher Griff, ein falscher Klimmzug an diesen steilen Wänden das Aus bedeuten. Es war ohnehin schon fast unmöglich, bei Tageslicht diese Mauer zu bezwingen. Aber in dieser Finsternis war das schon fast mit Selbstmord gleichzusetzen. Jeder der Männer wusste das - aber trotzdem hatten sie sich freiwillig gemeldet und sofort unter Thorins Befehl gestellt, weil sie dem Nordlandwolf völlig vertrauten. Wenn er sie führte, dann würden sie auch nicht zö-gern, die Hölle selbst anzugreifen und zu besiegen versuchen!

Jetzt war die Stadtmauer nur noch wenige Schritte entfernt. Tho-rin hastete geduckt nach vorn, ohne dabei einen Laut zu verursachen, bis seine Hände schließlich die kalten Steine der Mauer berührten. Sei-ne Männer erreichten diese Stelle wenig später. Nun standen sie direkt unterhalb der Zinnen und lauschten hinauf zum obersten Punkt der Mauer. In der Hoffnung, so erkennen zu können, wo sich die Wach-posten genau befanden. Denn dass sie dort waren, das wussten sie.

Seltsamerweise flaute der Wind gerade in diesem Moment etwas ab, so dass sie schwach einige Stimmen seitlich über ihnen hören konnten. Sofort pressten sich die Söldner noch enger an die Mauern. Da die Zinnen ganz oben ein Stück die eigentliche Mauer überragten, so befanden sich Kerons Söldner in einem toten Winkel, der sie zumin-dest jetzt erst einmal schützte.

Auch wenn gar manchem der Männer das Herz angesichts dieses waghalsigen Unternehmens bis zum Halse schlug, so warteten sie doch auf Thorins Geheiß hin ab, bis die Stimmen wieder leiser wurden und bald darauf ganz verstummten. Das konnte bedeuten, dass jetzt eine Wachablösung stattgefunden hatte.

Letztendlich würden sie aber erst dann die Wahrheit herausfinden, wenn sie ganz oben waren.

Jetzt gilt es, dachte Thorin. Er würde den Anfang machen, um seinen Männern dadurch zu zeigen, dass auch eine solche Mauer nicht unüberwindbar war. Er schickte im stillen ein Gebet zu den Göttern

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des Lichts, bevor er sich dann an den Aufstieg machte. Den Anker konnte er nicht nach oben schleudern, denn das Aufschlagen des Ei-sens auf dem harten Gestein würde sie unweigerlich verraten. Nein, er musste es mit seinen bloßen Händen versuchen und dann probieren, ob er weiter oben in der Mauer eine Stelle entdeckte, die es möglich machte, hier einen Anker so zu befestigten, dass der zweite Söldner dann mit dem daran befestigten Seil nach oben klettern konnte.

Seine Finger krallten sich in das Gestein und fanden auch sofort Halt. Es war nicht das erste mal, dass Thorin solch einen beschwerli-chen Aufstieg gewagt hatte. Schließlich war es noch nicht lange her gewesen, als er eine steile Felswand auf dem Weg zur Schmiede der Götter bezwungen hatte und dabei von einem gefährlichen Adler an-gegriffen worden war.

Langsam zog er sich nach oben und tastete gleichzeitig mit den Füßen nach einer Stelle, die sein Gewicht tragen konnte. Er fand sie wenig später und streckte dann den rechten Arm weiter aus, um sich erneut ein Stück nach oben zu ziehen. Bald darauf hatte er schon drei Mannslängen hinter sich gebracht und hing nun in der steilen Mauer. Bereits jetzt schon konnte ein unglücklicher Sturz das Leben kosten, wenn er nicht aufpasste. Aber Thorin dachte gar nicht daran. Er wollte nur nach oben - nur darauf kam es an.

Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, als seine Finger ei-nen Halt ertasteten, diesen aber nicht gleich zu fassen bekamen. Erst nach drei weiteren Versuchen gelang ihm das. Aber seine Mühe wurde belohnt, denn in diesem Moment fühlte er den Vorsprung in der Mauer und entdeckte wenig später das Gitter in der kleinen Öffnung, die nicht größer war als ein Kopf. Eine bessere Stelle, um den Anker hier plat-zieren zu können, gab es nicht. Also machte sich Thorin gleich daran, den Anker so hinter das Gitter zu klemmen, dass er festsaß und auch genügend Halt bot, wenn sich ein Mann am Seil hochziehen wollte. Erst dann ließ er das Seil, das er sich umgebunden hatte, vorsichtig nach unten gleiten, um ja keinen verräterischen Laut zu verursachen. Als wenig später jemand daran kurz zog, wusste Thorin, dass die Männer verstanden hatten, was er von ihnen wollte. Um den Rest brauchte er sich jetzt nicht mehr zu kümmern, denn von unten bis zu

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dieser Stelle würde der Aufstieg nun ein Kinderspiel sein - im Vergleich zu dem, was er selbst hatte durchstehen müssen.

Dann hieß es auch schon weiterklettern. Thorin nutzte den Halt der kleinen Öffnung für seine Füße und streckte nun die Hände weiter nach oben. Wieder gelang es ihm, sich nach oben zu ziehen, bis seine Füße erneut einen guten Halt fanden. Nun war er nicht mehr weit von den Zinnen entfernt und musste demzufolge doppelt vorsichtig sein. Denn wenn ihn jetzt einer der Wächter entdeckte, dann war sein Le-ben verwirkt.

Aber in dieser Nacht war Einar sein Schutzgott und der Wind, den er geschickt hatte, bewirkte zumindest, dass die Wächter oben auf dem Wehrgang der Zinnen hinter den Steinen Schutz suchten. Zumin-dest so lange, bis Thorin nun mit seinen Fingern fast die Zinnen er-reicht hatte. Jedoch wartete er noch ab, bevor er sich weiter hochzog und lauschte stattdessen in die Nacht hinein. Aber nichts wies darauf-hin, dass zumindest in unmittelbarer Nähe Wachen standen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als jetzt alles zu wagen und sich über die Zinnen zu ziehen. Mit seinen starken Armen zog er sich jetzt hinauf und hatte Glück. Die Fackel, die gut vier Mannslängen entfernt den Wehrgang erhellt hatte, war ausgerechnet jetzt von einem heftigen Windstoß ausgelöscht worden, so dass das Licht der anderen Fackeln weiter drüben diese Stelle hier natürlich nicht mehr erreichen konnte. Thorin sah den Wächter, der nun die Fackel ergriff und dann mit schnellen Schritten hinüber zu seinen Gefährten ging, um sie dort er-neut anzuzünden. Aber auch dort war der Wind auf einmal heftiger geworden und hatte das flackernde Licht erlöschen lassen. Zwar be-mühten sich die Wächter, die Fackeln erneut zu entzünden, aber das gelang ihnen angesichts dieses heftigen Windes nicht. War das nicht ein weiteres, eindeutiges Zeichen des einäugigen Gottes?

Jetzt oder nie, dachte Thorin und zog sich rasch über die Zinnen, kam geschmeidig auf dem Wehrgang auf und duckte sich sofort. Er entdeckte die Nische in dem Wehrgang und verbarg sich dann dort, ohne dass ihn einer der Wächter sah. Die Kälte der Nacht und der ste-tige Wind sorgten dafür, dass es alles andere als eine Freude war, in dieser Nacht Dienst tun zu müssen.

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Wenig später kletterte auch Jerc über die Mauer und hatte eben-falls Glück. Geistesgegenwärtig hastete er zu der Nische in der Mauer und duckte sich dann sofort wieder. Gemeinsam machten sich dann die beiden daran, ihren anderen Gefährten beim Aufstieg zu helfen. Die Nische in den Zinnen verbarg sie vor den Blicken der Wachen, die es nicht für nötig gehalten hatten, hier an dieser Stelle der Mauer ei-nen Posten aufzustellen.

Ausgerechnet diese Nische bot Thorin und den Kriegern genau die Deckung, die sie benötigten, um auch den zweiten Teil ihres Plans zu verwirklichen. Aber dann geschah etwas, was sie zusammenzucken ließ. Denn gerade als Thorin und Jerc den letzten Söldner über die Mauerbrüstung zogen, wurden die Stimmen der Wächter drüben auf dem Wehrgang plötzlich lauter. Gleichzeitig erklangen tappende Schrit-te, die sich der Nische näherten, wo sich die Söldner verborgen hiel-ten. Thorin spürte die Panik, die einige der Männer ergriff, denn sie wollten schon ihre Schwerter zücken und den Kampf mit den Wächtern beginnen.

Aber das war viel zu früh. Das Stadttor war noch zu weit entfernt und wenn man jetzt zu früh auf die Eindringlinge aufmerksam wurde, so würde es ihnen nie gelingen, das Tor zu öffnen. Also half hier nur List und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit - und genau das wollte Thorin seinen Männern jetzt unter Beweis stellen!

*

Der Wächter murmelte einen grässlichen Fluch, als der Wind das Licht der Fackel von einem Atemzug zum anderen plötzlich ausblies und diese Stelle des Wehrgangs in finsteres Dunkel tauchte. Nur der mäch-tige Parr mochte wissen, weshalb sich das Wetter auf einmal so ver-schlechtert hatte. Hinzu kam noch die Tatsache, dass in dieser Nacht dichte Wolken aufgezogen waren, die einen nur wenige Schritte weit sehen ließen.

Deshalb konnte der Soldat die Ebene unterhalb der Mauer nicht mehr überblicken, denn sie lag im Dunkeln. Er sah nur die Feuer des feindlichen Heeres und wünschte sich insgeheim, dass auch er bald

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abgelöst wurde und in sein Quartier zurückgehen konnte. Denn dort war es mit Sicherheit wärmer als hier oben auf dem Wehrgang, wo man den schneidenden Wind besonders stark spürte. Es war das erste mal um diese Jahreszeit, dass er die Kälte der Nacht so intensiv emp-fand.

Seinen Kameraden erging es auch nicht besser, denn der Wind hatte ebenfalls fast alle anderen Fackeln ausgeblasen. Er hörte die fluchenden Stimmen der anderen Soldaten und erkannte, dass es kei-nen Sinn mehr hatte, zu ihnen zu gehen, denn der kräftige Wind wür-de es zumindest jetzt unmöglich machen, die Fackeln neu zu entzün-den. Also wandte er sich wieder seiner ursprünglichen Absicht zu und setzte seinen Patroulliengang fort. Seine Schritte klangen schwer auf den harten Steinen, als er auf die Nische in der Mauer zuging. Er schalt sich einen Narren, dass er nicht schon früher auf den Gedanken gekommen war, hierher zu gehen. Denn hier spürte man den kalten Wind nicht so sehr, weil an dieser Stelle die Mauer wenigstens von einer Seite den Wind abhielt.

Aber als er die Nische erreichte, wurde er plötzlich von zwei kräfti-gen Händen gepackt und nach vorn gerissen. Gleichzeitig verspürte er einen harten Schlag an seiner Schläfe, der ihn von einem Atemzug zum anderen in tiefe Bewusstlosigkeit fallen ließ.

Thorin, der den Wächter gepackt und niedergeschlagen hatte, ließ den Mann jetzt ganz vorsichtig zu Boden gleiten, ohne dabei einen Laut zu verursachen und griff dann nach Helm und umhang des Man-nes, setzte sich diesen schnell aufs Haupt und legte sich auch rasch den umhang um, bevor er sich nun erhob, um dann die Rolle des Wächters zu übernehmen. Thorin wollte kein Risiko eingehen, denn schließlich konnte es ja möglich sein, dass der Mond urplötzlich wieder hinter den Wolken hervorkam.

Also trat er nun die Stelle des Wächters an und setzte seinen Weg auf dem Wehrgang fort als sei überhaupt nichts geschehen. Seine Ge-fährten dagegen wagten es jetzt, ihr Versteck zu verlassen und rasch die schmale Treppe hinab zu steigen, die in den Innenhof führte. Zum Glück lag diese Treppe auch so weit abseits, dass die Wachen oben auf ihren Posten selbst dann keinen Verdacht geschöpft hätten, wenn

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die Fackeln noch gebrannt hätten. Denn nach wie vor war das Moment der Überraschung voll auf der Seite von Thorin und seinen Gefährten. Denn keiner der samaranischen Soldaten glaubte ernsthaft daran, dass es den Feinden überhaupt gelingen konnte, unbemerkt die steile Stadtmauer zu überwinden.

Thorin, der seinen Gefährten nun folgen wollte, hielt auf einmal inne, als er weiter drüben die Stimme eines anderen Soldaten hörte, der ihn natürlich für seinen Kameraden hielt und ihm etwas zurief. Jetzt nur nichts Falsches tun, dachte Thorin und rief etwas mit verstell-ter Stimme zurück. Das klang so undeutlich, dass es der Posten nicht verstehen konnte. Aber es schien ihn zu beruhigen.

Thorin stieg nun ebenfalls die Treppenstufen nach unten und er-reichte seine Gefährten, die sich unterhalb des Wehrganges verborgen gehalten und schon auf ihn gewartet hatten. Der Nordlandwolf nickte ihnen kurz zu und ging dann voran.

Das große Stadttor, das Ziel der Männer, befand sich nicht mehr weit entfernt und der Weg dorthin führte an einigen Gebäuden vorbei, die aber allesamt im Dunkel lagen. Was zwar nicht bedeuten musste, dass die Bewohner auch alle schliefen - aber zumindest erleichterte es die Aufgabe der Männer, die schon damit gerechnet hatten, hier in der Nähe des Tores noch mehr Wächter anzutreffen. Aber die Soldaten oben auf den Zinnen schienen wohl ausreichend zu sein, um jeden näher kommenden Feind abzuwehren. Was für ein folgenschwerer Irrtum das war, das würden sie schon sehr bald am eigenen Leibe erfahren!

Jetzt hatten sie das Stadttor erreicht. Es war mit schweren Balken horizontal versperrt und es bedurfte somit der Kräfte mehrerer starker Männer, um es überhaupt öffnen zu können. Während Thorin und Jerc Wache hielten, machten sich die übrigen Gefährten daran, die Balken unter Aufbietung sämtlicher Kräfte zu entfernen und dann die Winde in Bewegung zu setzen, die die schweren Torflügel öffnen sollten. Auch hierbei gingen sie so leise wie möglich ans Werk, konnten aber den-noch nicht verhindern, dass die Winde ein knarrendes Geräusch von sich gab, das in der Stille der Nacht ziemlich laut klang. Zumindest kam das Thorin und seinen Gefährten so vor. Trotzdem hätten es die

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Wachen oben auf den Zinnen nicht gehört, wenn nicht etwas eingetre-ten wäre, was im Grunde genommen Thorins Schuld war. Denn er hatte den Wächter, dessen Helm und umhang er trug, nicht getötet, sondern nur niedergeschlagen - und dieser Fehler rächte sich jetzt. Denn der Soldat erwachte nun aus seiner Bewusstlosigkeit und schrie mit lauter Stimme Alarm!

Thorin zuckte zusammen, als er die Stimme des Mannes hörte. Sofort wandte er sich an seine Gefährten, die noch im selben Moment ihre Schwerter gezückt hatten und ihre Bögen griffbereit hielten. Gleichzeitig flaute der Wind auch im selben Moment ab und einer der Wächter oben auf den Zinnen hatte jetzt eine Fackel entzündet, mit der er seinen Kameraden nun heftig zuwinkte, weil er gerade den nie-dergeschlagenen Soldaten gefunden hatte, der Alarm geschlagen hatte und sich mit der Hilfe des anderen nun rasch erhob.

»Der Feind!«, erschallte die von Panik erfüllte Stimme des Solda-ten. »Der Feind ist in der Stadt!«

Was keiner der samaranischen Soldaten jetzt wusste, war die Tat-sache, dass die Fackel, die einer der Männer oben auf den Zinnen jetzt wild hin- und herschwenkte, um die anderen auf sich aufmerksam zu machen, letztendlich den Untergang von Samara einläutete. Denn das war das verabredete Zeichen für das Heer gewesen. Von draußen her sah das nämlich so aus, als wenn der Spähtrupp den anderen das ver-abredete Zeichen gab und das Tor somit geöffnet worden war. Also setzte sich das Heer aus Kh'an Sor nun in Bewegung und stürmte auf das Stadttor zu. Das machte die Panik perfekt, denn als die gellenden Kriegsschreie der Feinde erklangen, wussten die Soldaten, dass durch ihre Schuld nun der Feind Samara erneut angriff.

Thorin riss sich Helm und umhang des niedergeschlagenen Solda-ten herunter, damit ihn die heranstürmenden Söldner nicht doch noch für einen Samaraner hielten. Inzwischen hatten seine Gefährten be-reits die Bögen gespannt und gaben einige Schüsse auf die Soldaten ab, die nun ihre Posten verließen und auf die Feinde einstürmten, die gerade das Stadttor geöffnet hatten. Sie mussten mit allen Mitteln verhindern, dass die heranstürmenden Söldner von draußen nun in die Stadt kamen. Laute Schreie erschallten, in den Häusern erklangen nun

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aufgeregte Stimmen und die Stadt erwachte zum Leben, während Thorin und seine Gefährten um ihr Leben kämpfen mussten.

*

Orcon Drac war die letzten Stunden über in tiefe Trance verfallen. Er hatte sich in die Knochenhöhle zurückgezogen und mit den Mächten der Finsternis Zwiesprache gehalten. Denn er hatte gespürt, dass hier etwas vorging, das er mit seinen Kräften nicht zu fassen vermochte und das nicht natürlichen Ursprungs war. Schon seit Stunden hatte er versucht, in dem kalten Feuer den blonden Krieger mit dem Götter-schwert zu beobachten, von dem eine deutliche Gefahr ausging. Selt-samerweise hatte der Ritter der Finsternis aber nur undeutliche Sche-men erkennen können und das war das erste mal, dass seine Magie nicht den gewünschten Erfolg zeigte. Er wusste natürlich nicht, dass Einar, der einäugige Gott in Wirklichkeit dafür verantwortlich war, dass Orcon Dracs Kräfte in diesen so entscheidenden Stunden blockiert wa-ren. Deshalb hatte er Zwiesprache mit Modor, R'Lyeh und Azach gehal-ten, um deren Rat zu suchen und zu erfahren, wie er am besten jetzt vorgehen sollte.

Draußen vor der Höhle warteten die Echsenkrieger auf Orcon Dracs Befehl. Sein Wort würde ausreichen, um sie loszuschicken, da-mit sie Tod und Verderben unter die Menschen brachten. Aber noch hatte Orcon Drac gezögert, weil er den richtigen Augenblick noch nicht hatte kommen sehen. Aber als er dann wieder aus seiner Trance er-wachte und erneut die Hände hob, um in den Flammen des kalten Feuers etwas erkennen zu können, da erschrak er. Denn jetzt sah er keine Schemen mehr, sondern deutliche Szenen. Der Feind war bereits in der Stadt und hatte sogar das Stadttor geöffnet, während das Heer aus Kh'an Sor schon im Ansturm war. Jetzt blieb keine Zeit mehr, dar-über nachzudenken, warum er das nicht früher bemerkt hatte. Denn die Schlacht um Samara - sie hatte gerade begonnen. Orcon Drac er-hob sich rasch und verließ mit schnellen Schritten die Knochenhöhle.

Dann gab er den wartenden Echsenkriegern den entscheidenden Befehl, in die Geschehnisse einzugreifen. Die Wesen aus den Sümpfen

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von Cardhor verließen daraufhin die dunklen Katakomben der Stadt und suchten den Weg ins Freie. In die Welt der Menschen, die von der Existenz dieser finsteren Wesen absolut nichts ahnten. Schrecken und Entsetzen würden bald in der Stadt herrschen. Nicht nur bei den Be-wohnern, sondern auch bei den Angreifern, die nicht wussten, dass eine finstere Macht das Schlachtgeschehen für sich entscheiden wollte!

*

Fürst Dion wurde von einem Augenblick zum anderen ganz plötzlich aus dem Schlaf gerissen und begriff zuerst überhaupt nicht, was das zu bedeuten hatte. Dann aber hörte er auf einmal die ängstlichen Stimmen der Dienerschaft draußen auf dem Flur seines Palastes. Das waren aber nicht die einzigen Geräusche, die ihn aufgeweckt hatten. Sondern jetzt hörte er auch laute Stimmen von außerhalb des Palastes und Kampfeslärm!

Er erhob sich so hastig aus dem Bett, dass auch Lorys wach wur-de und ihn besorgt anblickte, als sie sah, wie ihr Gemahl zum Fenster eilte und dann einen lauten Fluch ausstieß, als er mitbekam, dass drü-ben beim Tor ein Kampf entbrannt sein musste.

»Dion!«, rief Lorys, weil sie immer noch nicht begriffen hatte, was geschehen war. »Was ist denn...?«

Der Fürst kam nicht mehr dazu, darauf etwas zu erwidern, denn in diesem Moment waren draußen auf dem Flur hastige Schritte zu hö-ren. Sekunden später wurde dann auch schon die Tür aufgerissen und der Fürst und seine Frau blickten in das bleiche Gesicht eines der Männer seiner Leibgarde.

»Der Feind stürmt die Stadt!«, rief der Soldat nun voller Furcht und konnte seine Angst nicht mehr zügeln. »Das Stadttor ist offen und die Söldner dringen in Scharen ein!«

Lorys schlug erschrocken die Hände vor den Mund, während Fürst Dions Augen vor Wut aufblitzten. Nun war doch genau das geschehen, was er mit allen Mitteln hatte verhindern wollen. König Kerons Söldner waren in die Stadt eingedrungen und würden ein Blutbad anrichten, wenn Dion jetzt nicht unverzüglich handelte.

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»Ich komme sofort!«, erwiderte Dion knapp. »Die Leibgarde soll sich bereithalten. Wir werden uns so tapfer wie möglich schlagen. Alle verfügbaren Krieger sofort zum Stadttor - hast du verstanden?«

Der Soldat nickte nur und eilte schon wieder los, um den Befehl des Fürsten in die Tat umzusetzen. Während seine Schritte draußen auf dem Flur bereits verhallten, hatte der Fürst auch schon seine Klei-der übergestreift und zwängte sich nun in seine Rüstung. Er setzte den Helm mit dem schimmernden Federbusch auf, während er seiner Frau einen kurzen Blick zuwarf.

»Die Diener werden dich in den Tempel bringen, Lorys«, sagte er und gürtete sich dabei sein Schwert um. »Dort bist du zumindest vor dem Schlimmsten sicher, bis wir die Gegner vertrieben haben. Steh auf und zieh dich rasch an - es gilt keine Zeit zu verlieren. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass dir und unserem Kind etwas...«

Er sprach diesen Gedanken nicht zu Ende, aber Lorys hatte auch so begriffen, was Dion ihr hatte sagen wollen. Sie beeilte sich jetzt, zog sich rasch an, während Dion mit lauter Stimme nach zwei Dienern rief, die auch wenige Augenblicke später das Gemach betraten und voller Sorge dreinblickten.

»Bringt die Fürstin in den Tempel!«, trug er den beiden Dienern in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete. »Ihr werdet bei ihr bleiben und sie beschützen - mit eurem Leben, wenn es sein muss. Habt ihr das verstanden?«

Die beiden Diener nickten nur, während sich Dion bereits wieder an Lorys wandte. Ihre Augen glitzerten feucht und der Fürst konnte sich gut vorstellen, welche Sorgen sie in diesem Moment bewegten. Jedoch konnte er darauf jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, denn die Situation draußen vor den Mauern des Palastes spitzte sich mit jeder verstreichenden Sekunde immer mehr zu.

»Dion!«, rief sie mit erstickender Stimme und warf sich ihm in die Arme. Aber der Fürst löste sich abrupt von ihr und übergab sie dann den beiden Dienern. Für lange Worte blieb nun keine Zeit mehr und deswegen ergriff ihn ohnmächtige Wut, weil das Schicksal sich gegen ihn gestellt hatte.

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Mit wehendem Umhang verließ er das Gemach, während die bei-den Diener mit Lorys schon auf dem Weg zum Gottestempel waren. Der Fürst erreichte wenig später den Innenhof des Palastes, wo die Soldaten seiner Leibgarde ihn bereits erwarteten. Dion begab sich an die Spitze des Trupps und verließ dann zusammen mit den erfahrenen Elitesoldaten den Palast, um sich dann auf dem schnellsten Weg zum Stadttor zu begeben.

Er zuckte zusammen, als er die Kriegsschreie der Feinde hörte und es ließ ihn erschauern, als ihm klar wurde, dass es nicht nur eine Handvoll feindlicher Krieger war, die sich jetzt mit seinen Soldaten drüben beim Stadttor ein hartes Gefecht lieferten. Nein, das klang mehr nach einer Armee, die das Stadttor bereits gestürmt hatte und nun unerbittlich über die Stadt und seine Bewohner herfiel!

Die ersten Flammen schlugen aus einem der Häuser in der Nähe der Stadtmauer und griffen rasch um sich. Rauch quoll in den nächtli-chen Himmel empor, während Männer unter den Schwertern der Ein-dringlinge ihr Leben aushauchten. Scharfe Klingen prallten aufeinander im Kampf Mann gegen Mann und Todesschreie erfüllten die Luft.

Nun erkannten auch Fürst Dion und die Männer seiner Leibgarde das Ausmaß des Entsetzens, das zu dieser späten Stunde über Samara hereingebrochen war. Das große sichere Stadttor war weit geöffnet und der Feind stürmte in Scharen in die Stadt, bahnte sich mit blitzen-den Schwertern, treffsicheren Bögen und scharfen Lanzen seinen Weg. Und viele, die sich ihnen entgegenstellten, bezahlten diesen Wagemut mit dem Leben!

Aber nun hatten auch die sich heftig wehrenden Verteidiger mit-bekommen, dass sie Hilfe bekamen.

»Der Fürst!«, erschallte es aus den Kehlen vieler Soldaten und dieser Ruf pflanzte sich immer mehr fort, gab ihnen Mut, noch weiter auszuhalten. Zumindest so lange, bis noch weitere Verstärkung kam.

Dion riss nun sein Schwert aus der Scheide und griff in das Kampfgeschehen ein. Er sah sich gleich von zwei Gegnern bedrängt, die wohl längst erkannt hatten, wer er war und ihn nun zu überwälti-gen versuchten. Allerdings hatten sie in Dion einen Gegner, der ihnen haushoch überlegen war, denn der Fürst war ein guter Schwertkämp-

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fer. Den ersten der beiden Angreifer tötete er schon mit einem einzi-gen Schwertstreich und konnte dem Hieb des zweiten Gegners entge-hen, bevor er auch diesen Feind tötete.

Er schenkte den beiden Leichen keine Beachtung mehr, sondern sah immer wieder zum Tor. Ausgerechnet in dem Moment, als mehre-re Reiter hindurchstürmten und den samaranischen Soldaten schwer zusetzten.

Und als er dann den bärtigen, breitschultrigen Mann in der dunk-len Rüstung erkannte, der an der Spitze der Krieger ritt und mit seiner Klinge den Samaranern den Tod brachte, entrang sich Dions Kehle ein wütender Schrei, der jede weitere Vernunft auslöschte und stattdessen den Hass noch mehr schürte. Hass gegen die Söldner aus Kh'an Sor und deren König! Denn es war kein anderer als Keron selbst, der das Stadttor passiert hatte und nur einen Lanzenwurf von Dion entfernt war!

»Keron, du Hund!«, schrie Fürst Dion nun mit einem solchen Zorn, dass seine Stimme selbst den Kampfeslärm durchdrang. »Komm her und stelle dich - du Bastard!«

*

Ein unbeschreibliches Triumphgefühl ergriff König Keron von Kh'an Sor, als er an der Spitze seiner Krieger durch das geöffnete Tor der Stadt ritt. Nun war endlich der Augenblick gekommen, auf den er schon seit Tagen gewartet hatte. Samara, die Hauptstadt des Fürsten-tums, würde noch in dieser Nacht in Flammen aufgehen - und das hatte er nur dem Mut und dem Kampfeswillen von Thorin und dessen Söldnern zu verdanken.

Keron hielt sein Schwert hoch emporgereckt und streckte den ers-ten der Wächter nieder, die sich den hereinstürmenden Reitern todes-mutig entgegen warfen, um das Unheil noch verhindern zu können. Aber dazu war es schon zu spät. Das geöffnete Tor war der Untergang der Stadt...

Die Augen des Königs von Kh'an Sor suchten nach dem blonden Krieger in diesem Kampfgetümmel, während ein Pfeil nur haarscharf

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an seinem dunklen Helm vorbeischoss. Zu einem weiteren Schuss kam der Gegner jedoch nicht mehr, denn ihn ereilte in diesem Moment schon der Tod durch das Schwert eines Hyrkeniers. Dann entdeckte der König auch den blonden Krieger, der sich in so kurzer Zeit durch überragende Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Thorin stand da wie ein Fels und schwang sein Schwert, wehrte sich gegen mehrere Angreifer. Und keiner von ihnen schaffte es, Thorin zu Fall zu bringen, denn die-ser schien immer im rechten Moment zu ahnen, wenn ihm ein weiterer Gegner in den Rücken fallen wollte.

Genugtuung erfüllte den Herrscher von Kh'an Sor, als er sah, wie seine Söldner die ersten Brände legten und die emporzüngelnden Flammen des Feuers rasch weitere Nahrung suchten. Das erste Haus stand schon in Flammen, bevor Keron mit seinen Reitern in die Stadt eingedrungen war und mittlerweile hatten die hungrigen Flammen bereits auf die benachbarten Häuser übergegriffen und fanden dort reichlich Nahrung. Viele Dächer der Häuser waren mit Stroh gedeckt und dieses brannte jetzt wie Zunder.

In diesem Chaos aus Flammen und Tod hörte Keron auf einmal eine Stimme, die ihn zusammenzucken ließ. Unwillkürlich wandte er den Kopf und sah dann den großen Mann mit dem markanten Helm und dem großen Schwert.

»Dion«, murmelte Keron, als er den Fürsten inmitten seiner Leib-garde erkannte. »Jetzt ist endlich die Stunde der Abrechnung gekom-men...«

Er drückte dem Pferd die Hacken in die Weichen, trieb es auf die Stelle zu, wo sich Dion befand - und es kümmerte ihn nicht, dass der Fürst immer noch von seiner Leibgarde geschützt wurde.

»Jetzt wirst du gleich sterben, Dion!«, brüllte Keron voller Hass, während sein Pferd sich den Weg zu dem verhassten Todfeind bahnte.

Wie durch ein Wunder entging er den Hieben zahlreicher Klingen und erreichte somit den Fürsten, der sein Schwert bereits hochgeris-sen hatte, um den Angreifer schon im ersten Ansturm abwehren zu können.

»Komm nur, du Hund!«, hörte er Dion rufen. »Komm und hol dir den Tod!«

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»Große Worte!«, höhnte Keron und teilte mit seinem Schwert ei-nen weiteren Hieb aus, der auch sein Ziel traf. Einer der Leibgardisten, der den Fürsten hatte schützen wollen, musste diesen Versuch mit dem Leben bezahlen.

»Vernichtet die Söldner!«, schrie Dion seinen Gardisten zu. »Über-lasst diesen Bastard mir - ich werde allein mit ihm fertig!«

Da die Situation in unmittelbarer Nähe des Stadttors immer be-drohlicher geworden war, mussten die Soldaten ihren bedrängten Ka-meraden unbedingt zu Hilfe kommen. Aber der Fürst - was war, wenn er den Zweikampf mit König Keron nicht gewann?

Ihr Zweifel schwand rasch, als sie sahen, wie Dion mit einem ein-zigen sicheren Schwerthieb des Pferd seines Gegners in die Flanke traf, bevor Keron selbst einen Hieb austeilen konnte. Und dieser Hieb saß! Das Pferd unter Keron wieherte schmerzgequält auf und brach dann mit den Vorderhufen ein. Keron ahnte das jedoch noch rechtzei-tig und konnte sich mit einem Sprung aus dem Sattel retten. Er kam unsanft auf dem Boden auf, erhob sich dann aber wieder geschmeidig und reckte die Klinge seinem Todfeind entgegen, während die Solda-ten von Dions Leibgarde mit den feindlichen Söldnern selbst genug zu tun hatten, denn diese waren schon dabei, immer tiefer in die Stadt einzudringen.

Keron wehrte einen Hieb seines Gegners ab und teilte dann selbst aus. Er traf Dion mit der Breitseite seines Schwertes am Helm. Es gab ein dumpfes Geräusch, das den Fürsten kurz ins Taumeln brachte. Er hatte sich aber bereits wieder in der Gewalt, bevor Keron nachsetzen konnte.

»Sieh, wie deine Stadt untergeht!«, rief Keron und sprang mit der Klinge vor. Aber bevor er Dion einen Hieb versetzen konnte, zischte plötzlich etwas durch die Luft und traf ihn in die Brust. Zuerst wollte Keron gar nicht glauben, was geschah, aber dann spürte er auf einmal einen unbeschreiblichen Schmerz in der Brust, der ihn innerlich fast verbrannte. Das Schwert entglitt seinen kraftlosen Händen und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er zwischen den brennenden Häusern auf einmal Gestalten entdeckte, die ganz aus einem Alptraum entsprungen zu sein schienen.

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»Was...?«, murmelte er, als er in die Knie brach. »Die Hölle... sie tut sich auf und...« Er wollte noch mehr sagen, aber ein jäher Blutsturz kam über seine Lippen und hinderte ihn daran, das zu Ende zu spre-chen, was er begonnen hatte. Dann brach er zusammen und rührte sich nicht mehr.

Während die Söldner aus Kh'an Sor ihren König fallen sahen, wir-belte Dion herum und entdeckte nun ebenfalls etwas, was nicht sein durfte. Gedrungene Gestalten mit grauenhaften Fratzen waren auf einmal in den engen Gassen aufgetaucht und stürzten sich nun eben-falls in den Kampf. Wesen, die nicht menschlichen Ursprungs waren. Echsenkrieger, die ihre Waffen schwangen und ein unbeschreibliches Blutbad unter den befeindeten Armeen anrichteten - und zwar auf beiden Seiten.

Dion glaubte sich in einem schlimmen Alptraum gefangen, aus dem er einfach nicht erwachen konnte. Das Unheil, das mit der Er-stürmung dieses Stadttores begonnen hatte, fand nun seine Fortset-zung in dem Auftauchen dieser grauenhaften finsteren Echsenkrieger, die nicht von dieser Welt waren. Und doch waren sie jetzt hier!

»Parr ist tot...«, murmelte Dion, während er sein Schwert hob und sich den angreifenden Echsenkriegern entgegenstellte - und je näher sie kamen, um so mehr Einzelheiten konnte er ausmachen. Kreaturen der Finsternis, beseelt von einem bösen Willen, der die Vernichtung von Samara und der übrigen menschlichen Welt zum Ziel hatte. Und genau im selben Moment, als Dion bewusst wurde, dass er und Keron nur Figuren in einem Spiel gewesen waren, das in Wirklichkeit schon längst entschieden war, traf ihn die heiße Klinge eines Echsenkriegers und bohrte sich tief in seine Seite.

Dion versuchte, den Gegner trotzdem noch abwehren zu können, aber gegen die Kräfte dieses Wesens kam er gar nicht an. Er bekam noch einen weiteren Stich ab, der ihn schließlich auch zusammenbre-chen ließ. Und während die finsteren Wesen ihren Angriff gegen die Bewohner und die Söldner aus Kh'an Sor fortsetzten, dachte Dion an Lorys. Mit diesen Gedanken starb er. Er sah nicht mehr, wie das Chaos in Samara triumphierte und sie so siegessicheren Angreifer nun eben-falls in Angst und Schrecken versetzt wurden. Und der Ritter der Fins-

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ternis in der Knochenhöhle tief unter den Mauern der Stadt sah die Stunde des Triumphes der dunklen Mächte nahen...

*

Thorin spürte das plötzliche Glühen, das von der Klinge Sternfeuers ausging und mit jeder verstreichenden Sekunde immer stärker wurde. Als wenn die Klinge die Gegenwart des Bösen förmlich fühlte und den Nordlandwolf dadurch zu warnen versuchte.

Er hatte aus den Augenwinkeln gesehen, wie König Keron sein Pferd auf einmal antrieb und es direkt auf eine Gruppe Soldaten diri-gierte. Mehr bekam der blonde Krieger jetzt nicht zu sehen, denn ge-rade kam wieder einer der Soldaten auf ihn zugestürmt und versuchte mit seinem Schwert, einen tödlichen Hieb zu landen. Was ihm natürlich nicht gelang, denn Thorin hatte die Absicht des Gegners natürlich schon erahnt und sich deshalb schon darauf eingestellt.

Er blockte den Hieb des Soldaten ab, verabreichte ihm gleichzeitig einen kräftigen Tritt, der den Mann zurücktaumeln ließ. Nun war es Thorin, der nachsetzte und Sternfeuer dann ins Ziel treffen ließ. Der Soldat war sofort tot.

Thorin wirbelte herum und hielt Ausschau nach dem nächsten Gegner. Gleichzeitig fühlte er auf einmal eine unsichtbare Aura des Bösen, die jetzt so stark geworden war, dass die Klinge hell aufleuch-tete. Das war auch der Moment, wo König Keron von einem Pfeil nie-dergestreckt wurde und die Echsenkrieger plötzlich wie aus heiterem Himmel erschienen und in die dramatischen Ereignisse eingriffen.

»Bei Odan, dem Weltenzerstörer«, murmelte Thorin, als er die furchtbaren Wesen näher kommen sah. Auch die meisten der kämp-fenden Soldaten hatten jetzt erkannt, was da aus den finsteren Gassen auf sie zukam und für die, die den Echsenkriegern am nächsten waren, gab es keine Rettung mehr. Schwerthiebe der grauenhaften Kreaturen töteten sie auf der Stelle.

Einer der Echsenkrieger hatte jetzt Thorin erspäht und stürmte auf ihn mit erhobener Waffe zu. Thorin sah die furcht erregende Fratze des Wesens und die langen Zähne, die einen Menschen leicht zerrei-

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ßen konnten. Die Götterklinge leuchtete jetzt noch heller und gab ein klingendes Geräusch von sich, als sie mit dem Schwert des Wesens zusammenstieß.

Der Echsenkrieger gab einen zornigen, knurrenden Laut von sich, als er sah, dass sein Gegner sich gut wehren konnte. Und als dann das Unglaubliche geschah und seine eigene Klinge beim zweiten Zusam-menprall wie Glas zerbrach, war er so fassungslos, dass Thorin die momentane Schwäche des Echsenkriegers sofort nutzte. Sternfeuer zuckte vor und bohrte sich tief in den schuppigen Körper des Wesens. Die grauenhafte Gestalt gab einen gurgelnden Laut von sich und brüll-te dann so laut, dass es über den ganzen Platz schallte. Dann starb der Echsenkrieger, sofern man bei solch einem Wesen überhaupt von Leben und Sterben reden konnte...

Die anderen Soldaten hatten allerdings kein Glück beim Abwehren der Echsenkrieger. Sie verloren jeden Zweikampf, denn gegen die Kräfte dieser Wesen konnten sie nichts ausrichten. Thorin hatte es nur den Kräften seines Schwertes zu verdanken, dass er diese Auseinan-dersetzung gewonnen hatte - und das wurde ihm immer klarer.

Als er in die Richtung blickte, aus der er die Echsenkrieger hatte kommen sehen, sah er im unruhigen Flackern der züngelnden Flam-men aus den brennenden Häusern die umrisse eines gewaltigen Bau-werkes. Genau in diesem Augenblick erstrahlte Sternfeuer wieder in einem hellen wärmenden Licht - als wolle die Götterklinge ihrem Besit-zer dadurch signalisieren, dass von diesem Gebäude die Aura des Bö-sen ausging!

Thorin beschloss, dieser Sache auf den Grund zu gehen, denn jetzt hatte er ja mit eigenen Augen erlebt, dass in dieser Wüstenstadt das Böse lauerte - nur die Götter mochten wissen, wie lange schon. Einar hatte die Wahrheit gesagt - es war kein Zufall, dass Thorin nach Samara gekommen war. Hier erfüllte sich sein weiteres Schicksal, nachdem sich die Ereignisse so dramatisch verändert hatten.

Er bahnte sich mit der Götterklinge einen Weg durch die Kämp-fenden und hatte Glück, dass es die Echsenkrieger zunächst noch auf die anderen Soldaten abgesehen hatten. Nachdem sie Zeugen gewor-den waren, wie schnell Thorin einen der ihren getötet hatte, zogen sie

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es wohl vor, erst einmal unter den Schwächeren zu wüten und ihnen den Garaus zu machen. Wie lange das noch so sein mochte, konnte Thorin nicht wissen.

Während hinter ihm die Todesschreie der Samaraner und der Söldner aus Kh'an Sor erklangen und die Frauen und Kinder verzwei-felt versuchten, die Flucht zu ergreifen und aus den umstehenden Häusern eilten, bezweckten sie damit genau das Gegenteil. Sie liefen nämlich in die Klingen der Echsenkrieger, die auch nicht davor zurück-schreckten, Frauen und Kinder zu töten.

Thorin hatte jetzt die Stufen erreicht, die zum Tempel führten. Mit der Klinge in der Hand hastete er nach oben und wunderte sich dar-über, dass sich ihm niemand entgegenstellte. Wo er sich dem Zentrum des Bösen immer mehr näherte, musste er doch damit eigentlich rech-nen!

Als er das Tor durchschritt, das ins Innere des Tempels führte, bemerkte er auf einmal das Beben tief unter sich. Die Erde geriet in Bewegung und er hörte das dumpfe Grollen, das an Heftigkeit zu-nahm. Trotzdem setzte der Nordlandwolf seinen gefahrvollen Weg fort und stand auf einmal einigen kahlköpfigen Gestalten in blutroten Ge-wändern gegenüber, die in stummen Gebet zu ihren Göttern verweil-ten und jetzt bei seinem Eintreten aus ihrem tranceähnlichen Zustand erwachten. Einige von ihnen wollten sich dem blonden Krieger entge-genstellen, unterließen das aber, als sie die Entschlossenheit in Thorins Blick bemerkten. So ergriffen sie die Flucht, während der Boden tief unter dem Tempel erneut zu beben begann.

Plötzlich hörte Thorin einen lauten Schrei weiter hinten aus dem Tempel. Es war der Hilfeschrei einer Frau! Thorin hastete weiter, je-derzeit darauf gefasst, dass sich ihm einer dieser grauenhaften Ech-senkrieger entgegenstellte und ihn zu töten versuchte. Aber nichts geschah. Diese dämonischen Wesen schienen alle genug damit zu tun zu haben, unter den gegnerischen Soldaten und der Bevölkerung von Samara ein Gemetzel anzurichten. Und die Flammen der brennenden Häuser breiteten sich immer weiter aus - bereits jetzt roch Thorin den Rauch, der über der Stadt hing und von dem einzelne Schwaden vom

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Wind sogar bis in das Innere des Tempels getrieben wurden. Samara war endgültig zum Untergang verurteilt!

Jetzt, wo König Keron in der Schlacht gefallen war, war das ganze Vorhaben sowieso völlig zwecklos geworden. Der Herrscher von Kh'an Sor hatte keine Erben und wahrscheinlich würde sein Reich zerfallen. Genauso wie das Fürstentum, das er mit seinen Söldnern hatte er-obern wollen, denn hier herrschten die Mächte der Finsternis...

Er taumelte, als ein erneuter Erdstoß die Mauern des Tempels er-zitterte und musste sich deshalb an einem Pfeiler abstützen. Nur des-halb entging er gerade noch einem Stein, der sich plötzlich aus der Decke gelöst hatte und mit einem berstenden Geräusch auf dem Bo-den aufkam, dort in mehrere Teile zerbrach und eine Wolke von Staub verteilte und dabei blieb es nicht, denn es lösten sich noch mehr Stei-ne von der Decke.

Trotzdem setzte Thorin seinen gefahrvollen Weg fort, denn in der Zwischenzeit hatte er noch einmal den Hilferuf der Frau vernommen, der diesmal noch verängstigter und verzweifelter geklungen hatte. Während hinter ihm ein Teil der Decke sich löste und die Tempelhalle zerstörte, erreichte Thorin nun einen Gang, der weiter ins Innere führ-te.

Vorher war er jedoch noch an einer Maueröffnung vorbeigekom-men, von wo aus er einen Blick über den Vorhof des Tempels erha-schen konnte. Was er darin sah, ließ ihn beinahe seinen Glauben an die guten Götter verlieren. Das Chaos und die Zerstörung da draußen waren mittlerweile perfekt. Das Feuer hatte auf viele Häuser überge-griffen und machte die Nacht mittlerweile zum Tag. Im Licht der fla-ckernden Flammen sah Thorin die Leichen zahlreicher Soldaten und Bewohner der Stadt und zwischen ihnen suchten die Echsenkrieger noch nach weiteren Opfern, die sie töten konnten. Die Söldnerarmee von Kh'an Sor war mittlerweile in ihrem weiteren Ansturm auf die Stadt von der sich hastig ausbreitenden Feuersbrunst gehindert wor-den und war auf dem Rückzug. Ein Rückzug mit Schrecken allerdings, denn die grauenhaften Wesen setzten ihnen nach und verbreiteten Tod und Entsetzen, während das Erdbeben immer stärker wurde und nun außer dem Tempel auch viele andere Häuser erfasst hatte.

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Auch für Thorin wurde es immer riskanter. Aber er spürte instink-tiv, dass er auf der richtigen Fährte war, denn die geheimnisvollen Kräfte, die die Echsenkrieger und das Erdbeben geschickt hatten, mussten irgendwo hier ihren Ursprung haben. Er bemerkte das am Aufleuchten der Götterklinge und schritt deshalb voran. Auch wenn ihm klar wurde, dass der Tempel allmählich einzustürzen drohte. Tho-rin vertraute auf die Macht der Götter des Lichts und betete im stillen zu ihnen, dass sie ihm auch jetzt in dieser gefährlichen Situation bei-standen. Das gab ihm Kraft und Mut, weiterzugehen.

Er versuchte, die grauenhaften Bilder der Zerstörung draußen vor dem Tempel zu vergessen und konzentrierte sich ganz auf den Weg, der noch vor ihm lag.

Thorin ließ den langen Gang hinter sich und erreichte nun einen Teil des Tempels, der von einigen Fackeln an den Wänden erhellt wur-de. Der Nordlandwolf griff sich eine dieser Fackeln und ging dann wei-ter. Er bemerkte hastige, sich entfernende Schritte. Wieder hörte er die ängstliche Stimme der Frau und zwar ganz in seiner Nähe. Aber er konnte niemanden sehen.

Die Nische in der Wand entdeckte er erst, als er schon fast daran vorbei war - und auch nur deswegen, weil jemand wohl vergessen hatte, die Steintür ganz zu schließen. Thorin zwängte sich hindurch und erreichte dann einen Raum, dessen Mittelpunkt ein dunkler Altar war. Sternfeuer leuchtete erneut auf und das sagte Thorin, dass hier gewiss nicht den Mächten des Lichts gehuldigt wurde. Vorsichtig nä-herte er sich dem Altar und sah dann die Öffnung im Boden, direkt neben dem schwarzen Stein. Eine Treppe führte weiter nach unten.

Für einen kurzen Moment zögerte der Nordlandwolf noch, aber dann erhellte das Licht seiner Fackel eine Stelle neben dem dunklen Loch im Steinboden. Thorin bückte sich und hob etwas auf. Es war ein Stück seidenen Stoffes - bestimmt gehörte es der Frau, die so laut um Hilfe geschrieen hatte. Ihre Peiniger waren mit ihr also bis hierher ge-kommen und die finstere Öffnung im Boden sagte Thorin ganz deut-lich, dass die Frau und ihre Entführer sich irgendwo da unten befinden mussten. Aber wohin führte dieser Weg? Vielleicht in finstere Gewölbe oder endlose Katakomben, die bis jetzt nur die Priester betreten hat-

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ten? Thorin wusste es nicht. Der einzige Weg, es nun herauszufinden, war, jetzt dort hinunterzugehen.

Der Nordlandwolf setzte einen Fuß auf die feuchten Treppenstufen und hielt mit der Linken die Fackel. Der Lichtschein reichte nicht weit, so dass er nur die nächsten Stufen und die kalten Mauern neben sich erkennen konnte. Ein erneuter Erdstoß erfasste jetzt den Tempel und diesmal nahm das Beben eine gefährliche Stärke an. Ein kurzer Blick zurück zeigte Thorin, dass die Mauern des Tempels zu bersten droh-ten. Weitere Steine lösten sich aus der Decke und stürzten auf den Altar hinunter. Thorin beschleunigte seine Schritte, denn die einsturz-gefährdete Decke war jetzt genau über ihm. Er eilte die feuchten Stu-fen nach unten und konnte mehreren Steinen gerade noch im letzten Moment entgehen, bevor sie auf die Treppe stürzte. Aber das war nur der Anfang. Weiteres Gestein löste sich und polterte zu Boden, deckte den finsteren Altar zu und löste eine Staubwolke aus, die Thorin bei-nahe die Luft zum Atmen nahm. Der Nordlandwolf eilte weiter nach unten, folgte den feuchten Stufen der Treppe und versuchte den hin-unterstürzen Steinen auszuweichen. Was ihm auch gelang, aber um welchen Preis? Denn die Gesteinsbrocken waren mittlerweile so zahl-reich worden, dass sie den Rückweg nach oben in den Altarraum zu-geschüttet hatten. Dicke rote Sandsteine und Staub versperrten Thorin nun den Weg nach oben und ließen ihm nur noch eine einzige Mög-lichkeit - nämlich jetzt dem Weg zu folgen, den er bereits einschlagen hatte.

Für einen kurzen Moment spürte der Nordlandwolf die Ausweglo-sigkeit seiner Lage, bevor er mit dem Schwert in der Hand - in der anderen die unruhig brennende Fackel - seinen Weg fortsetzte. In eine Welt der Finsternis. Was ihn dort erwartete, das wussten zu dieser Stunde wohl nur die Götter - und diejenigen, die den Untergang der Wüstenstadt eingeleitet hatten...

Ende