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K'ANG YU -WEI Ta Tun Shu Das Buch von der Grossen Gemeinschaft

Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

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Das Buch von der großen Gesellschaft, 1902 (1935 veröffentlicht)Ta T'ung Shu: das Buch von der großen Gemeinschaft; Kang Yu-wei ; [aus dem Englischen übersetzt von Horst Kube]; erschienen 1974, Diederichs gelbe Reihe 3. China im Umbruch / herausgegeben von Wolfgang Bauer"K'ang Yu-wei (1858 —1927) war eine der faszinierendsten und einflußreichsten Persönlichkeiten auf der Grenzlinie zwischen dem Alten und dem Neuen China. Er unternahm bereits 1898 den Versuch, in einer»Reform der Hundert Tage« China in einen modernen Staat umzugestalten. Das Ta T'ung Shu, niedergeschrieben 1902, vollständig aber erst 1935 veröffentlicht, hatte in China einen fundamentalen Einfluß auf die sozialen Zielvorstellungen der Reformer ebenso wie der Revolutionäre. Seine Wirkung ist auch heutenoch unübersehbar."Oft als Utopie gehandelt, doch heute betrachtet teilweise erschreckend aktuell.

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K'ANG YU -WEI

Ta Tun Shu Das Buch von der

Grossen Gemeinschaft

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DIEDERICHS GELBE REIHE

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China im Umbruch herausgegeben von Wolfgang Bauer

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K'ANG YU-WEI

Ta T'ung Shu Das Buch von der

Großen Gemeinschaft

Eugen Diederichs Verlag

Page 5: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Herausgeber der englischen Ausgabe Laurence G. Thompson Aus dem Englischen übersetzt von Horst Kube Herausgeber der deutschen Ausgabe Wolfgang Bauer Redaktion: Ulf Diederichs

Erste Auflage Erschienen 5974 im Eugen Diederichs Verlag Düsseldorf/Köln Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten

© 5958 by George Allen & Unwin Ltd., London Umschlaggestaltung: Eberhart May Gesamtherstellung: Ebner, Ulm

ISBN 3-424-00503-7

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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe 9 Die Dimension der Zukunft im Konfuzianismus • K'ang Yu-wei als Politiker und Reformator • Das Buch von der Großen Ge-meinschaft • Historische Realität und Utopie • Die Wirkung auf die Gegenwart

Aus der Einleitung zur englischen Ausgabe 2f

Kurzgefaßte Biographie von K'ang Yu-wei • Zum Ta T'ung Shu

Teil I: Wie ein Mensch in die Welt eintritt und sieht, welche großen Leiden das Leben auferlegt 46

Einführung: Kapitel 1: Kapitel 2: Kapitel 3: Kapitel 4: Kapitel 5: Kapitel 6:

über die mitleidende Natur des Menschen Leiden, die das Leben auferlegt Leiden durch Naturkatastrophen Leiden durch menschliche Schicksale Leiden, die die Regierungen auferlegen Leiden wegen menschlicher Gefühlsregungen Leiden durch das Streben nach Glücksgütern

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Teil II: Wie man die nationalen Grenzen abschafft und die Welt zur Einheit bringt

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Kapitel 1: Das Unheil, das die Existenz einzelner Staaten anrichtet

63 Kapitel 2: Um den Schaden staatlicher Souveränität abzu-

wenden, müssen Schritte zur Abrüstung und zur Abschaffung nationaler Schranken unternommen werden

66 Kapitel 3: Die Einsetzung einer parlamentarischen Ver-

sammlung 77 Kapitel 4: Die Errichtung einer Weltregierung als weiterer

Schritt auf dem Wege zur Großen Gemeinschaft/ Tabellarische Darstellung der Drei Zeitalter, in denen sich die Entwicklung der Welt zur Großen Gemeinschaft vollziehen soll

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Teil III: Wie man die Klassenschranken abschafft und alle Menschen gleichstellt 131

Teil IV: Wie man eine Abschaffung der Rassenschranken und eine Verschmelzung der Rassen herbeiführt 138

Teil V: Wie man die Schranken zwischen den Geschlechtern abschafft und die Gleichstellung der Frauen erreicht 149

Teil VI: Wie man familiäre Schranken abschafft und wie die Menschheit ein »Volk des Himmels« wird

170

Einführung: Die natürlichen Grundlagen der Liebe zwischen Eltern und Kindern 170

Kapitell: Einleitung: Um das Ziel der Großen Gemein- schaft in Frieden und Gleichheit zu erreichen, müssen wir die Familie abschaffen 185

Kapitel 2: Institutionen zur Menschwerdung 189 Kapitel 3: Institutionen zur Säuglingspflege 198 Kapitel 4: Grundschulen 200 Kapitels: Mittelschulen 201 Kapitel 6: Akademien 202 Kapitel 7: Institutionen für die Armen 204 Kapitel 8: Krankenanstalten 205 Kapitel 9: Institutionen für die Alten 208 Kapitel '0: Die Institution für die Verstorbenen 211

Teil VII: Wie man durch eine gemeinschaftliche Regelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft 214 Kapitel 1: Die Idee der gemeinschaftlichen Agrarwirtschaft

als Mittel zur überwindung der Ungleichheit und der Unterernährung 214

Kapitel 2: Wenn die Große Gemeinschaft nicht die Struktur der Industrie umgestaltet, zerrütten Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital das Staatswesen 216

Kapitel 3: Wenn die Große Gemeinschaft nicht den Handel organisiert, wird die wirtschaftliche Versorgung durch Eigennutz gefährdet 218

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Kapitel 4: Vergleich zwischen bäuerlicher Einzelwirtschaft und gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft 221

Kapitels : Vergleich zwischen Privathandel und Gemein- schaftshandel 221

Kapitel 6: Vergleich zwischen Privatindustrie und Gemein- schaftsindustrie 222

Kapitel 7: Gemeinschaftliche Agrarwirtschaft 222 Kapitel 8: Gemeinschaftliche Industrie 226 Kapitel 9: Gemeinschaftlicher Handel 228 Kapitel to: Die Schaffung von Menschenrechten für Männer

und Frauen als Voraussetzung für die Errichtung der Großen Wirtschaftsgemeinschaft 231

Teil VIII: Wie man ein einheitliches und gerechtes Verwaltungssystem schafft und nach dem Prinzip Frieden und Gleichheit regiert 235

Kapitel 2: Einteilung der Erde in hundert Grade 235 Kapitel 2: Erschließung der Erdoberfläche 236 Kapitel 3: Planquadrate als Selbstverwaltungsgebiete 236 Kapitel 4: Der Aufbau der Weltregierung in der Großen

Gemeinschaft 238 Kapitel 5: Der Aufbau der Gebietsregierungen 242 Kapitel 6: Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen in der

Gemeinschaft 243 Kapitel 7: Entwicklungsvorhaben in der Gemeinschaft 243 Kapitel 8: Kommunale Selbstverwaltung 244 Kapitel 9: Banken in der Gemeinschaft 246 Kapitel to: Leistungswettbewerb 248 Kapitel ix: Bildungsförderung 249 Kapitel 12: Förderung der Charakterbildung — >Jen< 252 Kapitel i3: Schulen 254 Kapitel 14: Abschaffung der Strafen 2 5 5 Kapitel 15: Vier Verbotsregeln 263

Teil IX: Wie man die Liebe zum Menschengeschlecht auf alle Lebewesen ausdehnt 269

Teil X: Wie man die Fesseln des Leidens abstreift und der Glückseligkeit zustrebt 275

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Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wolfgang Bauer

Die Dimension der Zukunft im Konfuzianismus

Die nahezu tödliche Krise, die China in den hundert Jahren zwi-schen der Mitte des vergangenen und der Mitte unseres Jahr-hunderts durdilebte, war nicht nur von politischer und wirtschaft-licher Natur. Bei der plötzlichen Konfrontation mit dem Westen zeigte sich vielmehr, außer der technischen und damit auch mili-tärischen Unterlegenheit des in vieler Hinsicht noch im Mittel-alter steckenden Landes, eine noch tiefgreifendere geistige Schwäche: die Unfähigkeit, etwas radikal Neues wie es die westliche Zivilisation darstellte, als solches überhaupt zu er-kennen und damit auch den ersten Schritt zu seiner Bewältigung zu tun. Diese Schwierigkeit, das Neue zu denken, war keines-wegs zufällig, sondern sie stand eigentümlicherweise in un-mittelbarem Zusammenhang mit der starken Realitätsbezogen-heit, die generell als typisch für die chinesische Kultur gelten kann. Sie hat ihr zwar zweifellos das hohe Alter verliehen, nicht weniger aber auch eine gewisse Einförmigkeit und Ebenmäßig-keit. Wenn Oscar Wilde einmal sagte, daß »alle Geschichte nur die Verwirklichung von Utopien sei«, so gilt dieser Satz, mag er auch noch so überspitzt klingen, zumindest im negati-ven Sinn: Jede Bestrebung, den freien Gedankenflug möglichst nicht allzu weit vom Boden der Tatsachen fortschweifen zu lassen, engt bereits die Zahl der Entwicklungsmöglichkeiten in der Realität und, im großen gesehen, damit auch in der Ge-schichte auf nicht unbeträchtliche Weise ein. Das konfuzianische Ideal von »dem Maß und der Mitte« gebot zum Heile der chi-nesischen Kultur zwar dem Tode Einhalt — soweit er ein Ab-brechen der Kontinuität im Gestaltlichen bedeutet —, jedoch, um es paradox zu formulieren, um den Preis der Lebendigkeit, die sich ja nur in ständiger Verwandlung und Erneuerung be-kundet.

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Es wäre allerdings unrichtig und ungerecht, wenn man behaup-tete, daß es im traditionellen China oder auch nur im Konfu-zianismus nicht auch Strömungen gegeben hätte, die den bloß auf eine Korrigierung der Wirklichkeit ausgerichteten Vorstel-lungen nicht doch auch die kühneren Visionen nie erlebter Zu-stände entgegengesetzt hätten. Viele von diesen entstamm-ten freilich fremden Weltanschauungen, die namentlich im drit-ten bis sechsten nachchristlichen Jahrhundert Eingang gefun-den hatten. Unter ihnen war es vor allem der Buddhismus, der Chinas überkommenes Weltbild für fast ein ganzes Jahrtau-send umstürzte, indem er ihm die riesigen Dimensionen seiner fernen Aonen und Weltsysteme gegenüberstellte. Aber auch der Konfuzianismus brachte eine Tradition hervor, der bereits unstreitig eine bestimmte Dynamik innewohnte. In ihrem Kern steht eine wahrscheinlich erst aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. stammende Textstelle, das Li Yün-Kapitel im klassischen »Buch der Sitte«. Dort wird Konfuzius die Schilderung einer ver-gangenen idealen Gesellschaftsordnung in den Mund gelegt, zugleich aber auch die Andeutung, daß diese Ordnung wieder-kehren werde. Das klassische Chinesisch, das keine Tempora kennt, läßt offen, ob die Beschreibung in der Vergangenheits-oder in der Zukunftsform gelesen werden soll, was in europäi-schen Sprachen zu sehr unterschiedlichen Übersetzungen führte. Gibt man sie möglichst neutral in der Gegenwartsform wieder, so lautet dieser wichtige kurze Text folgendermaßen: »Wenn der Große >Weg< (Tao) waltet, so ist das Reich allen ge-meinsam. Man erwählt die Tugendsamsten, man betraut die Fähigsten, man spricht die Wahrheit und pflegt die Harmonie. Deswegen behandeln dann die Leute nicht nur ihre eigenen Eltern als Eltern, und nicht nur ihre eigenen Kinder als Kinder. Sie sorgen dafür, daß die Alten einen Platz finden, wo sie in Ruhe sterben, die Erwachsenen einen Platz, wo sie in Ruhe ar-beiten, und die Jungen einen Platz, wo sie in Ruhe groß werden können. Witwer und Witwen, Waisen und Kinderlose und auch die Kranken, sie alle werden von der Gesellschaft ernährt. Alle Menschen haben ihren festen Beruf, alle Frauen ihr festes Heim.

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Sie hassen es, brauchbare Dinge einfach wegzuwerfen, ohne daß sie sie deshalb aber nur für sich alleine horten. Sie hassen es, ihre besonderen Kräfte nicht entfalten zu können, ohne daß sie sie deshalb aber nur für sich alleine einsetzen. Eigensüchtigen Plänen ist auf diese Weise der Boden entzogen, so daß sie sich gar nicht mehr entwickeln können. Räuberei und Umsturz finden nicht mehr statt, so daß man die Außentore nicht mehr abzusperren braucht. Dieser Zustand heißt die >Große Gleichheit< oder >Große Gemeinschaft< (Ta T'ung).« Die sogenannte >Neutextschule< innerhalb des Konfuzianismus, die in den beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderten führend war, aber auch danach nie völlig unterging, entwickelte auf-grund dieser und einiger anderer, damit verbundener Textstel-len eine Art konfuzianischen Messianismus, in dem der hier ge-schilderte Zustand der >Großen Gemeinschaft< nun in einen histo-rischen Ablauf eingepaßt wurde: Er stand dieser Lehre nach am Anfang der Geschichte, degenerierte danach zu einem nur noch durch äußere Ordnung charakterisierten Zustand des >Kleinen Friedens<, der seinerseits wieder in einen Zustand völ-liger politischer und moralischer Auflösung einmündete. In diese Zeit des Chaos aber wurde Konfuzius hineingeboren, der mit sei-nem Erscheinen eine grundlegende Wendung im weltgeschidit-lichen Prozeß bewirkte: Aus der Unordnung baut sich seither all-mählich wieder ein neuer >Kleiner Friede< auf, der, voll entwik-kelt, am Ende in ein neues Stadium der >Großen Gemeinschaft< übergehen wird — in einem langsamen Prozeß, der gleichzeitig von der Ausbreitung der vorher nur auf China beschränkten Kultur über die ganze Welt begleitet sein soll und damit deut-lich auch einen Anflug von chinesischem Kulturmessianismus ent-hält. Die knappe und damit etwas unpräzise Beschreibung des Zu-standes der >Großen Gleichheit< (Großen Gemeinschaft), führte dazu, daß er als Ideal später von den verschiedensten politi-schen und philosophischen Richtungen in Anspruch genommen werden konnte. Auch die Etymologie gab ja nur wenige feste Anhaltspunkte: Das Wort >groß< (Ta oder T'ai) taucht in dersel-

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ben Zeit, in der die Textstelle entstand, vor vielen Worten auf, um sie nicht nur in ihrer gesteigerten, sondern in ihrer idealisier-ten, aus dem praktischen Bereich herausgehobenen Form zu be-nennen. Das Wort >gleich< (T'ung) andererseits ist wahrscheinlich verwandt mit ähnlich lautenden Worten der Bedeutung >hin-durchlassen<, >verbinden<, so daß dem Ausdruck Ta T'ung also auch der Gedanke der Verbundenheit der Interessen aller Bürger die-ser Idealgesellschaft zugrunde liegt, nicht nur der ihrer völligen Gleichheit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Ta T'ung einen taoistischen Gegenbegriff in dem um dieselbe Zeit ent-standenen Ausdruck T'ai P'ing, >Großer Friede<, besitzt. Er er-möglicht eine indirekte, zusätzliche Definition. Ta und T'ai sind nämlich inhaltlich praktisch identisch, in gewisser Hinsicht aber auch T'ung und P'ing. Denn P'ing bedeutet ursprünglich ebenfalls >gleich<, jedoch im Sinne von >gleich hoch<, >eben< und erst dann (da-von abgeleitet) im Sinne von >Frieden<. Mit der Idee des T'ai P'ing, des >Großen Friedens<, verknüpfte sich jedoch immer die Vorstellung einer wirklich völlig egalitären Gesellschaft, die auf mystisch-religiöse Art gänzlich aus der Geschichte entrückt sein sollte. Gerade in dieser Gegenüberstellung wird aber die dem-gegenüber beim Ta T'ung Begriff stets mitgedachte Einbindung in einen historischen Prozeß als eines seiner wichtigsten Merk-male voll erkennbar. Das Besondere an diesem Gedankenentwurf der konfuziani-schen >Neutextschule< bestand in der weiteren Konsequenz dar-über hinaus in dem sich dahinter verbergenden linearen Zeit-begriff, der sich fundamental von den in China sonst vorwiegend zyklisch bestimmten Zeitvorstellungen abhebt. Denn obwohl der Zustand der >Großen Gemeinschaft< hier sowohl als Ursprung als auch als Ziel der Geschichte erscheint, haftet dem historischen Geschehen damit doch noch etwas durchaus Einmaliges an: echter Fortschritt nämlich, und nicht nur Bewegung. Auch die generell lineare westliche Zeitvorstellung kennt ja den Gedanken des weit gespannten, in sich geschlossenen Bogens von einem gro-ßen Anfang zu einem großen, mit ihm irgendwie identischen Ende. In China freilich bestand immer die Gefahr, daß solch ein

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Bogen plötzlich wieder nicht mehr als ein einmaliges Ereignis vorgestellt, sondern bloß als die volle Kreisbahn innerhalb eines Zyklus aufgefaßt und damit grundsätzlich entwertet werden konnte. Tatsächlich hatten verschiedene, bereits um dieselbe Zeit auftauchende, sehr einflußreiche Theorien über eine sich unentwegt wiederholende Abfolge von >Drei Zeitaltern< genau diese Wirkung: Die Vision von einer wirklich einmaligen, neuen Zukunft wurde allmählich verschwommener und geriet dann über lange Zeit nahezu in Vergessenheit. Erst seit dem späten 16. Jahrhundert — merkwürdigerweise fast gleichzeitig, aber nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit dem Auftauchen der Europäer in China — wurde bei verschiedenen Geistern ein Un-behagen über den allzu zähen Fluß der Geschichte immer offen-kundiger, das dann im 19. Jahrhundert schließlich zu einer vehe-menten Wiederbelebung der Ideen der >Neutextschule< führte. Ihr mächtigster Wortführer, der in für China nicht ungewohnter Weise den Politiker, Gelehrten und Dichter in sich vereinigte, hieß K'ang Yu-wei.

K'ang Yu-wei als Politiker und Reformator

Man mag über die Wirkung, die eine einzelne Persönlichkeit auf den Gang der Geschichte haben kann, sehr verschiedener An-sicht sein — ist sie doch, so einflußreich und eigenwillig sie immer auch sein mag, selbst immer ein Produkt der verschiede-nen, bereits vorher wirksamen Kräfte ihrer Zeit. Für K'ang Yu-wei (1858-1927) gilt beides wohl in ungewöhnlich hohem Maße, obwohl er, eigentümlich genug, die meiste Zeit seines Lebens den herrschenden Geistesströmungen Widerstand entgegen-setzte und bei seinen politischen Aktionen am Ende eigentlich immer erfolglos war. Sein vielfach gebrochener Lebensweg durdischneidet den nicht weniger abrupten Weg der modernen chinesischen Geschichte wie eine in entgegengesetzter Rich-tung verlaufende Diagonale: abseits und der Zeit voraus zu Be-ginn, abseits und von der Zeit überholt am Ende. Sein bedeu-

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tendster Schüler, der selbst für die Gestaltung des modernen China höchst bedeutsame Gelehrte und Journalist Liang Ch'i-ch'ao (1873-1929), nannte ihn einmal den >Martin Luther< Chinas

und in der Tat scheint dieser Ausdruck keineswegs zu hoch ge-griffen. Die ungeheure, ja wahrhaft titanische Leistung K'ang Yu-weis bestand darin, daß er im Laufe weniger Jahre den seit mehr als zwei Jahrtausenden aufs Altertum fixierten Blick der

Bildungsschicht eines riesigen Volkes in eine gänzlich neue, un-gewohnte Richtung zwang: in die der Zukunft. Kein Zweifel, die Notwendigkeit für eine solche Wendung des Blickes lag in der Luft angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Westen. Das Besondere aber, was K'ang Yu-wei gelang, war, daß er sie nicht nur mit der chinesischen Tradition in Einklang zu bringen, sondern sie sogar als im Sinne des eigentlichen Wesens dieser Tradition, nämlich des Konfuzianismus, darzustellen verstand. Den entscheidenden Schritt in diese Richtung tat er in den spä-ten achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhun-derts, als er, im eigenen Selbstverständnis noch gestützt auf die Oberlieferung der >Neutextschule<, mit einer großen Schülerzahl in einer phantastischen Arbeitsleistung den gesamten alten Kon-fuzianismus zu einer überraschend dynamischen, vorwärts-

gewandten Weltanschauung umgestaltete. Souverän inthroni-sierte er einige versprengte, früher eher als zweitrangig be-trachtete Texte — darunter vor allem den über die Gesellschaft der >Großen Gemeinschaft< — als konfuzianische Hauptklassiker und verbannte dafür weitaus die Mehrzahl der bis dahin gülti-gen Klassiker als angebliche Fälschungen aus dem Kanon. Nicht ganz zu Unrecht konnte einer der berühmtesten chinesischen Ge-lehrten der Neuzeit, Hu Shih (1891-1962), später spöttisch be-

merken, daß dieser neu geformte Konfuzianismus etwa so wirke, als ob man »den >Hamlet< ohne den Prinzen von Dänemark spiele«. Das Hauptwerk K'ang Yu-weis aus dieser Periode je-doch, die 1896 erschienene >Studie über Konfuzius als Reformer<, bildete eine einmalige Brücke zwischen dem alten und dem neuen China, über die in ihrer geistigen Entwicklung direkt oder indirekt alle Führer des modernen China gegangen sind.

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>Konfuzius als Reformer< war allerdings eine Figur, die für K'ang Yu-wei selbst noch mehr bedeutete als bloß eine wissenschaft-liche Entdeckung. Sie war für ihn ganz offensichtlich auch das Ideal, das er sich selbst zunächst für sein eigenes Leben gewählt hatte, im Einklang mit einer Reihe chinesischer Gelehrter und Po-litiker der Geschichte, die sich ebenfalls als Personifizierungen des Konfuzius verstanden hatten, ja in gewisser Weise sogar in einer Reihe mit Konfuzius selbst, der sich, nach einigen Textstellen zu urteilen, gleichfalls als die Personifizierung eines etwa fünf-hundert Jahre vor ihm lebenden tugendsamen Fürstenbera-ters, des >Herzogs von Chou<, betrachtete. So war es denn nur folgerichtig, daß sich K'ang Yu-wei, nachdem seine Untersuchun-gen ein ungeheures, nicht nur auf die Gelehrtenschaft be-schränktes Aufsehen erregt hatten, da der Konfuzianismus bis dahin ja immer noch die Funktion einer Staatsreligion erfüllte, auch in die politische Arena begab. Die >Reform der Hundert Tage< x 898, in der er zwar den jungen Kaiser Kuang-hsü gewann, alsbald aber an den Gegenzügen der konservativen >Kaiserin-mutter< scheiterte, die zu Recht ihre Macht bedroht sah, war Höhepunkt und Ende seines ersten Lebensabschnitts, der durch unbestrittene Führerschaft im Kreise vieler junger Intellektueller und durch den Griff nach der politischen Macht bestimmt war. Die Flucht aus China bedeutete mehr als den Beginn einer t 5jäh-rigen Verbannung: Sie war der Anfang eines allmählichen Weg-driftens von der Realität, die sich — was nur bei oberflächlicher Betrachtung widersprüchlich erscheint — gleichzeitig sowohl in immer deutlicher hervortretender Rückständigkeit bei der Be-urteilung politischer Tagesprobleme äußerte, als auch in der Konzipierung immer kühnerer Ideen über das Gesicht der Zu-kunft.

Das Buch von der .'Großen Gemeinschaft<

Schon während der Zeit seiner direkten wissenschaftlichen und politischen Wirksamkeit hatte sich K'ang Yu-wei allerdings Ge-danken gemacht über die tiefergreifende Umgestaltung der

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Welt jenseits der Bewältigung unmittelbar drängender Pro-

bleme, wobei offensichtlich zwei verschiedene Komponenten

zusammentrafen: das intensive Interesse am Buddhismus wäh-

rend seiner Jugendzeit und die bereits hervorgehobene Be-

schäftigung mit dem Li Yün-Kapitel im >Buch der Sitte<. 1884/85

versah er diesen für ihn so bedeutsamen Schlüsseltext mit einem

längeren Kommentar, den er zwei Jahre später, 1887, zu einem

Buchentwurf mit dem Titel >Universelle Grundlagen der

Menschheit< umarbeitete. Erst 1902, drei Jahre nach seinem poli-

tischen Fiasko jedoch, als sein Leben bereits etwas Schweifendes

bekommen hatte und er auf einer seiner vielen Wanderstatio-

nen für einige Zeit in der unvergleichlich schönen Sommerresi-

denz des damaligen britischen Gouverneurs von Bengalen in

Darjeeling Zuflucht fand, legte er noch einmal, gleichsam im An-

blick der Gipfel des Himalaja, seine nach und nach gewachse-

nen Gedanken in einem geschlossenen Werk nieder, dem er

einen neuen Titel gab: Ta T'ung Shu, das >Buch von der Großen

Gemeinschaft<. K'ang Yu-wei meinte damals, die Welt sei noch

nicht reif für die darin niedergelegten Ideen und weigerte sich,

das Manuskript in den Druck zu geben. Angesichts der Berühmt-

heit, die er in jenen Jahren nicht nur in China, sondern weit über

dessen Grenzen hinaus besaß, bewirkte gerade dieses Zögern,

daß das Werk von Anfang an von einem besonderen Nimbus

umgeben war. Die Tatsache, daß man von seiner Existenz wußte,

von seinem Inhalt aber nur schattenhafte Eindrücke gewann,

verlieh ihm eine schwer abschätzbare mysteriöse Wirkung, die

damit vielleicht noch breitflächiger und nachhaltiger war, als sie

es gewesen wäre, wenn das Buch sofort seinen Weg in die

Offentlichkeit gefunden hätte. Erst zwei Jahre nach der Grün-

dung der chinesischen Republik, 1913, wurde ein kleiner Teil-

auszug aus dem Manuskript veröffentlicht, ein größerer dann

1929, zwei Jahre nach K'ang Yu-weis Tod, bis schließlich 1935

endlich das vollständige Manuskript im Druck erschien.

Diese etwas ungewöhnliche Textgeschichte macht es nahezu un-

möglich zu entscheiden, welche in dem Buch niedergelegten

Vorstellungen tatsächlich noch aus dem Jahr 1902 stammen, als

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sie teilweise wirklich noch als visionär gelten durften, und welche

aus der Periode zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und K'ang Yu-weis Tod 1927, als manche von ihnen, wie z. B. der Völkerbund, bereits Wirklichkeit geworden waren. Eine ganze Reihe von Eintragungen ist jedenfalls angesichts der darin er-wähnten Ereignisse mit Sicherheit erst nach 1902 formuliert wor-

den. Der chinesische Originaltext macht jedoch andererseits mit seinen vielen Einschüben und gelegentlichen Wiederholungen einen so vielschichtigen Eindruck, daß man wohl dennoch dem von Liang Ch'i-ch'ao berichteten Abfassungsdatum 1902 Glau-ben schenken darf; nur muß man im einzelnen berücksichtigen, daß das Manuskript gewissermaßen Jahresringe angesetzt hatte, als es endlich in der vollen Form publiziert wurde. Eine frühe Übersetzung des Buches gleich nach seiner ersten Fassung, wie sie der deutsch-amerikanische Sinologe Friedrich Hirth (1845-1927), ja sogar auch der amerikanische Präsident Wilson K'ang Yu-wei selbst vorgeschlagen haben sollen, wäre

gewiß für all die von besonderem Interesse gewesen, die der prophetische< Aspekt an einem solchen mit dem Entwurf einer Zukunftsgesellschaft befaßten Werk in erster Linie fesselt. K'ang Yu-wei freilich war kein Jules Verne, obwohl er, nebenbei bemerkt, sicherlich Jules Verne gelesen hat, dessen wichtigste

Romane zu seiner Zeit bereits ins Chinesische übersetzt und un-gemein populär geworden waren. Die erst 1958 erschienene Übersetzung des amerikanischen Sinologen Laurence G. Thomp-son, auf der auch die hier vorgelegte deutsche Version beruht, hat demgegenüber jedoch den Vorteil, daß sie auch die späte-

ren Gedanken K'ang Yu-weis mit einbegreift. Der volle Text des Buches wäre freilich nicht nur wegen der erwähnten stilistischen Uneinheitlichkeit, sondern auch einfach wegen seines Umfangs für den europäischen Leser schwer zu bewältigen. Ergäben doch die mehr als 450 Seiten der chinesischen Druckausgabe in der deut-schen oder englischen Version einen Band von nahezu tausend Seiten. So besteht gerade ein nicht zu unterschätzender Vorteil der englischen Übersetzung, der auch für den deutschen Leser bewahrt wurde, darin, daß weit ausgreifende Textpassagen auf

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ihre wesentliche inhaltliche Aussage zusammengezogen sind. Was an diesen (durch Einklammerungen gekennzeichneten) Stellen weggelassen wurde, sind hauptsächlich Zitate und Bei-spiele aus Literatur und Geschichte, die zum einen Teil, da meist der damaligen Tagespolitik entnommen, antiquiert wirken, zum anderen mit Namen und Begriffen operieren, die dem nicht auf China spezialisierten westlichen Leser fremd sind. Es gibt allerdings eine Anzahl von chinesischen Begriffen, die sich in der Übersetzung weder vermeiden noch unmittelbar über-tragen ließen, da sie als spezifisch chinesische Grundkonzeptio-nen in dem Buch eine wichtige Rolle spielen. Einer von ihnen nimmt einen besonders zentralen Platz ein und ist für das Ver-ständnis des Werkes von entscheidender Bedeutung: der Be-griff Jen. Jen ist etymologisch verwandt wenn nicht sogar iden-tisch mit dem im Chinesischen gleichlautenden Wort für »Mensch« und wird in der Regel daher, an sich zutreffend, mit »Mensch-lichkeit« übersetzt — ein Ausdruck, der im Deutschen jedoch von einer Blaßheit und Flachheit ist, die dem chinesischen Äquivalent in keiner Weise entspricht. In bestimmter Hinsicht steht Jen zu dem bereits diskutierten Begriff T'ung in unmittelbarer Bezie-hung. Ebenso wie Ta T'ung die verschiedensten Übersetzungen erfahren hat — >Große Einheit<, >Große Gleichheit<, >Große Ge-meinsamkeit<, >Große Universalität<, >Große Brüderlichkeit<, >Große Ähnlichkeit, >Große Harmonie<, >Große Verbunden-heit< — die aber doch nur alle zusammen den Bedeutungs-bereich dieses Begriffes decken, so gibt es auch nicht weni-ger voneinander abweichende Interpretationen des Wortes Jen, wie es im Konfuzianismus im allgemeinen und bei K'ang Yu-wei im besonderen gebraucht wird. Außer als >Menschlichkeit< übersetzte man Jen ins Deutsche mit Begriffen wie >Liebe<, >Sozialgefühl‹, >Fürsorge<, >Verantwor-tungsgefühl< und manchen anderen. Den eigentlichen Schlüssel zur Erfassung der Bedeutung von Jen und T'ung bei K'ang Yu-wei ist jedoch in der Anlage des >Buches von der Großen Ge-meinschaft< selbst verborgen: K'ang Yu-wei sieht als letzte Ur-sache aller Leiden der Welt, die er zu überwinden trachtet, ein

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Gitterwerk von Schranken und Barrieren, das nicht nur die Men-schen, sondern auch alle anderen Wesen eins vom anderen trennt. Jen aber ist nichts anderes als die sachte und doch un-aufhaltsame Durchdringung, man möchte sagen die liebevolle Durchschmelzung, dieser Schranken, angefangen von denen, die künstliche Sozialordnungen zwischen den Klassen und Ge-schlechtern aufgerichtet haben, bis zu den von der Natur aufer-legten, die seit Anbeginn zwischen den verschiedenen Gattungen der Lebewesen bestehen. T'ung — innere Gleichheit, Ver-bundenheit und Einigung — ist die Frucht dieser alles durch-dringenden Auflösung schmerzlicher Grenzen, die als >Liebe< aufgefaßt werden kann insofern, als sie die Wesen miteinander verbindet, und als >Menschlichkeit< insofern, als ihr bewußter Vollzug zum Heile aller Wesen dem Menschen allein vorbehal-ten ist.

Historische Realität und Utopie

In diesem letzten Motiv steckt zweifellos ein buddhistisches Element: Kann ja auch der Anstoß zu der — freilich völlig anders gesehenen — Erlösung der Welt im Buddhismus nur vom Menschen allein ausgehen. In allem übrigen aber überwiegt die konfuzianische Komponente im >Buch der Großen Gemeinschaft< bei weitem. Am deutlichsten zeigt sich das in der starken Unter-streichung der für den Ta T'ung Begriff bereits hervorgehobenen historischen Dimension. Neben den vielen schon genannten Über-setzungen, die der Ausdruck Ta T'ung in westlichen Sprachen erfahren hat, gibt es auch (in bezug auf das ursprüngliche Li Yün-Kapitel ebenso wie auf K'ang Yu-weis Werk) die Über-tragung >Utopie<. Gerade sie wird ihm aber am allerwenigsten gerecht, sie ließe es auch völlig unverständlich, weshalb der Zustand der >Großen Gemeinschaft< sowohl im republikani-schen als auch im kommunistischen China unzählige Male als das — freilich sehr gegensätzlich interpretierte — höchst reale politische Endziel in den Raum gestellt wurde. Das Charakteri-stische am Ta T'ung Begriff sowohl im Li Yün-Kapitel als auch

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bei K'ang Yu-wei ist vielmehr, daß dieser Zustand gerade nicht in Utopia, also einer aus Zeit und Raum herausgenom-

menen Sphäre angesiedelt, sondern mit dem Hier und Jetzt

durch Zwischenstadien verbunden sein soll, die erklärtermaßen

alles andere als ideal sind. Diese Sprossen einer Himmels-

leiter, die K'ang Yu-wei vor allem in den in ihrer nüchternen

Konzeption so unverwechselbar chinesischen Tabellen der >Drei

Zeitalter< beschrieb, indem er die Konzeption der >Neutext-

schule< von einer Ära des Chaos, des >Kleinen Friedens< und der

>Großen Gleichheit< übernahm, machen aus dieser >Utopie< ein

politisch-soziales Programm, das zwar zugestandenermaßen

auch hinter den meisten anderen >reinen< Utopien steckt, aber

doch nicht in dieser unmittelbaren, gänzlich unverhüllten Weise.

Mancher der dort vorgetragenen Programmpunkte, vor allem

die, die nicht nur auf die Gewinnung der Gemeinsamkeit, son-

dern tatsächlich auf die Herstellung absoluter Gleichheit ausge-

hen, berühren uns heute widersprüchlich. Einige, wie z. B. die

Gleidunachung von Mann und Frau und die damit verbundene

Forderung nach Auflösung der Familie, oder die Schaffung

einer Weltsprache, klingen uns nahezu vertraut. Andere wieder,

wie die ausgeklügelten Maßnahmen zur Herbeiführung einer

einheitlichen — und zwar hellen — Menschenrasse, erscheinen

uns nach den schrecklichen Erfahrungen unserer jüngsten Ver-

gangenheit und angesichts der so schwierigen Selbstfindung der

Länder der Dritten Welt geradezu schockierend. Sie beweisen

jedoch nur, wie sehr alle in die Zukunft transponierten Ideale,

mögen sie ihrem Erfinder noch so abstrakt und sachlich konse-

quent anmuten, stets nicht unbeträchtlich auch von der Gegen-

wart überstrahlt werden, aus der sie kommen.

Die dritte Periode im Leben K'ang Yu-weis begann wie die

zweite nach einem Fehlschlag in der Politik, der für ihn nur

deshalb nicht mehr die gleichen schwerwiegenden äußeren Kon-

sequenzen nach sich zog, weil seine Gestalt damals aus dem

Bewußtsein der Öffentlichkeit schon weitgehend verschwunden

war. Sein prinzipiell bereits weltfremder Versuch, mit Hilfe eines

der verschiedenen selbständigen >Kriegsherren< (>Warlords<), die

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das Jahrzehnt zwischen 1916 und 1926 beherrschten, das man-

dschurische Kaiserhaus wieder an die Macht zu bringen, drängte

ihn nach dessen kläglichem Scheitern noch weiter in die Bereiche des Irrealen. Schon in der Einleitung und im letzten Kapitel des

'Buches von der Großen Gemeinschaft< finden sich allerdings einige merkwürdige Andeutungen über Reisen zu fernen außer-irdischen Welten und über die Entwicklung einer alle Religionen transzendierenden kosmischen Religion, in der offensichtlich Motive buddhistischer und taoistischer Mystik zusammengeflos-sen sind. Die Ordnung der >Großen Gemeinschaft< enthüllt sich aus dieser Sicht nicht mehr als letztes Ziel, sondern als ein Sta-dium des Übergangs zu einem sehr viel höheren, das die Be-freiung der Wesenheiten auch aus ihren elementarsten Fesseln verspricht: aus denen der Schwerkraft und des Todes. Tatsächlich hatte K'ang Yu-wei schon 1884 als 26jähriger die Grundidee einer geheimnisvollen >Lehre über die Himmelsreisen< entworfen. Im 6o. Lebensjahr, dem im Chinesischen insofern stets eine besondere Bedeutung zukommt, als damit in dem für

die Jahresdatierung verwendeten >Sechzigerzyklus< ein neuer Zyklus (und somit gewissermaßen auch ein neues Leben) be-ginnt, wandte er sich mit ungeheurem Enthusiasmus wieder die-sen seinen Jugendträumen zu. Er gründete, aller Vereinsamung zum Trotz, eine eigene >Akademie< zur Erforschung außer-

irdischer Welten und schrieb 1924/25, zwei Jahre vor seinem Tode, die >Vorlesungen über die Himmel< nieder. Sie wurden zum Hauptwerk seiner letzten Lebensperiode, ebenso wie die Schrift über >Konfuzius als Reformer< das Hauptwerk seiner ersten, und das >Buch von der Großen Gemeinschaft< das seiner mittleren Lebensperiode gewesen war. Die verschiedensten Ein-flüsse mischen sich in dieser sonderbaren Schrift: die Meta-phorik alter Schamanengesänge und taoistischer Paradies-gedichte; buddhistische Namens- und Zahlenvorstellungen und das Wissen aus einem intensiv, wenngleich laienhaft betriebenen Studium der Astronomie; das Bekanntwerden mit Percival Lo-wells (r 8 55-1916) These von der möglichen Existenz von >Mars-menschen< und das Flugerlebnis bei einer Ballonfahrt über Paris

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im Jahre 1904. Eine eigentümliche Vorstellung von der Glücks-

erfüllung im Reisen, die in der chinesischen Tradition tief ver-

wurzelt ist und von K'ang Yu-wei vielleicht gerade während

seiner Verbannungszeit unmittelbar erlebt wurde, klingt schon

im >Buch von der Großen Gemeinschaft< immer wieder an, wo

die Wohnorte der Menschen immer öfter in >beweglichen Häu-

sern< und >fliegenden Schiffen< gefunden werden. In den Schil-

derungen von den Flügen durch die Himmel, von denen K'ang

Yu-wei in seinem letzten Werk berichtet ohne je ganz klar zu

machen, ob es sich um geistige Flüge in der Meditation oder um

tatsächliche Expeditionen mit Hilfe der Technik handelt, sind

diese Reisevisionen ins Riesenhafte gesteigert. »Ich sehne mich

danach, mit den Unsterblichen zu wandern!« schrieb er in einem

der Gedichte, die die >Vorlesungen über die Himmel< begleiten.

Die Wirkung auf die Gegenwart

Die Dreiteilung, die K'ang Yu-wei in Anlehnung an die >Drei

Zeitalter<, wie sie Konfuzius angeblich geschaut hatte, zum

Grundmuster seines >Buches von der Großen Gemeinschaft<

machte, sie bisweilen zu 9, 27, 81 Zwischenstufen miteinander

multiplizierend, bildete auch das Grundmuster seines eigenen

Lebens. Es war im ersten Stadium aufs engste mit der Gegen-

wart verknüpft, löste sich von ihr in dem zweiten nicht ohne

tragischen Bruch, und verlor sich im dritten gänzlich in den

schwindelnden Höhen einer ungebundenen Phantasie. Man

könnte versucht sein zu sagen, daß er die allmähliche Überwin-

dung der vielgestaltigen >Barrieren<, die er der Menschheit für

viele Jahrhunderte als Aufgabe gestellt hatte, selbst in einem

einzigen Erdendasein zu durcheilen bemüht war. Von seinen

drei Hauptwerken ist dennoch zweifellos das mittlere, das >Buch

von der Großen Gemeinschaft<, das bei weitem wichtigste geblie-

ben, nicht wegen seiner unmittelbaren politischen Wirkung, die

hinter der >Studie über Konfuzius als Reformer< beträchtlich

zurücktrat, wohl aber wegen des langfristigen geistigen Ein-

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flusses, den er auf das moderne China ausübte. Es schloß auch die beiden anderen Werke in vieler Hinsicht in sich ein und bildete damit zugleich eine Brücke zwischen beiden. Die Generation nach K'ang Yu-wei, die den Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie und die Errichtung der Republik naturgemäß bloß noch passiv und fast als Selbstverständlichkeit erlebte, sah das für China so schwer zu öffnende Tor in die Zukunft, in das Reich des Neuen, bereits aufgestoßen vor sich. Es ist begreiflich, daß sie für den, der mit am meisten dazu beigetragen hatte, es auf-zutun, nur noch wenig Interesse und dann sogar nur noch Verach-tung und Empörung empfand, als er augenscheinlich versuchte, für seine Person wieder hinter dieses Tor zurückzuschlüpfen. Bissig bemerkte so z. B. auch Hu Shih, der dieser jüngeren Generation angehörte, daß sich K'ang Yu-wei »aus einem dräuenden Fluß-ungeheuer in ein altes Museumsstück verwandelt« habe. Aber mochte sich K'ang Yu-wei in seinen späteren Jahren mit seinen Ansichten auch noch so sehr von der brennenden Gegenwart entfernt haben — im politischen Bereich in die Vergangenheit, im geistigen in die Zukunft ausweichend — so gingen doch selbst der Spott und die Kritik, die ihm zuteil wurden, noch auf Ideen

zurück, denen er selbst zum Sieg verholfen hatte. Die Geschichte des modernen China, die sich bis in unsere Tage hinein fortsetzt, ist in ihrer besonderen, für den westlichen Be-obachter gelegentlich bizarr anmutenden und doch auch wieder so realistischen Eigenart ohne K'ang Yu-wei und sein Werk über die Gesellschaft der 'Großen Gemeinschaft< nicht verstehbar und nicht deutbar. Es gibt auch im heutigen China wohl kaum eine führende Persönlichkeit, für die K'ang Yu-wei und sein >Buch von der Großen Gemeinschaft< nicht einen festen Begriff dar-stellen. Die darin aufgezeichneten Ideale kennenzulernen, die bewußt und unbewußt weiterwirken und in vielen Bereichen auch noch die Ideale des modernen China sind, selbst wenn sie natürlich eine völlig andere als die von K'ang Yu-wei gewählte religiöse Begründung erfahren haben, ist von größter Wichtig-keit: Nicht nur wegen der faszinierenden Gestalt des Verfassers, die hinter ihnen sichtbar wird, sondern wegen ihrer elementaren

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Kraft, die auf China eminente Wirkung ausgeübt hat, indirekt aber vielleicht auch noch auf den Westen Einfluß nehmen kann, selbst wenn manche dieser Ideale ihre Entstehung überhaupt erst der Berührung Chinas mit dem Westen zu verdanken hatten.

Anmerkung des deutschen Herausgebers

über K'ang Yu-wei ist gerade in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl in ostasiatischen wie in europäischen Sprachen viel pu-bliziert worden. Eine ausführliche Behandlung seines Lebens und Wirkens mit allen bibliographischen Angaben über seine eigenen Werke und die wissenschaftlichen Werke über ihn findet sich in Lo Jung-pang (ed.), K'ang Yu-wei. A Biography and a Sym-posium. Tuscon, Arizona, 1967.

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Aus der Einleitung zur englischen Ausgabe von Laurence G.Thompson

Kurzgefaßte Biographie von K'ang Yu-wei

Die folgenden Ausführungen kann man in gewissem Sinne als autobiographischen Bericht auffassen, denn sie beruhen überwie-gend auf dem >Kurzgefaßten Lebenslauf des K'ang Ch'ang-su (K'ang Yu-wei)< aus der Feder von Chao Feng-t'ien. Dieser fußt wiederum — soweit es die ersten vierzig Lebensjahre be-trifft — auf der autobiographischen Skizze K'ang Yu-weis, der >Zusammenfassung des Lebensweges eines Mannes aus Nan Hai< (nachstehende Zitate verweisen auf diese Lebenschronik). Chaos Arbeit ist bei weitem die detaillierteste Biographie K'ang Yu-weis, die bisher erschienen ist. Soweit nachstehend Seitennum-mern angegeben sind, beziehen sie sich auf Chao. K'ang Yu-wei wurde am fünften Tag des zweiten Monats des Jahres 1858 — unserer Zeitrechnung entsprechend am 19. März — im achten Regierungsjahr des Mandschu-Kaisers Hsien Feng geboren. Sein Geburtsort war die Gemeinde Nan Hai des Krei-ses Yin T'ang in der Präfektur Tun Jen in der Provinz Kwang-tung. Nach seinen eigenen Angaben dauerte die Schwangerschaft seiner Mutter elf Monate lang — ein erstaunliches Phänomen, das wie ein Wunder anmutet. Seine intellektuellen Fähigkeiten entwickelten sich schon in frü-her Jugend: Als Fünfjähriger konnte er bereits mehrere hundert Gedichte aus der T'ang-Zeit rezitieren. Im darauffolgenden Jahr begann er, das übliche literarische Pensum zu erlernen, zu dem Werke wie Ta Hsiieh, Chung Yung, Lun Yü und Hsiao Ching gehörten. Als Elfjähriger verlor er seinen Vater und wohnte seitdem in Lien Chou bei seinem Großvater, bis er im Alter von vierzehn Jahren wieder in den Kreis Yin T'ang zog. Eine große Familienbibliothek, die schon aus Urgroßvaters Zeiten stammte, erleichterte ihm die Aneignung literarischer Kennt-nisse. Er war aber eigenwillig und durchaus nicht immer

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mit seinen Lehrern einverstanden: Als Fünfzehnjähriger wei-gerte er sich, literarische Übungen, die ihm zu >gekünstelt< er-schienen, zu absolvieren. Er erzählt in seiner >Chronik<, daß er im Alter von siebzehn Jahren zum ersten Mal die von Hsü Chi-yü 1848 zusammen-gestellte >Kurze Beschreibung der Welt< gelesen und aus dieser Schrift erste Erkenntnisse über die Geschichte und Geographie ferner Länder gewonnen hat. Zwei Jahre später, 1876, begann er seine Studien unter der Anleitung eines Lehrers von wirk-lich bedeutendem Format, Chu Chiu-chiang. In diesem Jahr heiratete er auch. Das darauffolgende Jahr war ein Trauerjahr für K'ang Yu-wei: Sein Großvater, der ihn von Kindheit an betreut hatte, war gestorben. Er betrauerte ihn wie einen Vater. Als er 1878 einundzwanzig Jahre alt wurde, zeigte er plötzlich eine ablehnende Haltung gegenüber den intensiven Studien, die er so lange Zeit hindurch betrieben hatte. Er erzählt hierüber in seiner Chronik das folgende bezeichnende Erlebnis: »Als ich mich in Meditation versenkt hatte, erkannte ich auf einmal, daß die unzähligen Geschöpfe des Himmels und der Erde mit mir eins wurden; ich fühlte eine Erleuchtung wie ein Weiser und war von einem Glücksgefühl durchströmt. Dann dachte ich unvermittelt an das Leid, das das Leben mit sich bringt, und weinte vor Traurigkeit. Ich erinnerte mich an mei-nen Ahn, dem ich keinen Dienst leistete — wie konnte ich da nur studieren? — packte sofort meine Sachen und kehrte zurück, um bei seinem Grabe zu leben.« (S. 181). Er verließ also seinen Lehrer Chu Chiu-chiang und wohnte als Zweiundzwanzigjähriger einsam auf einem Berg südlich der Kreisstadt Yin T'ang, auf dem Hsi Ch'iao Berg in der >Höhle der Weißen Wolken<. In der Chronik wird berichtet, daß er hier in Meditationen um geistige Erleuchtung rang und sich mit bud-dhistischen und taoistischen Schriften befaßte. In dieser Zeit freundete er sich mit einem Gelehrten an, Chang Yen-ch'iu. Die beiden Männer führten lange Gespräche über jeweilige Tageser-eignisse, neue Bücher und alte Lehren. Dieser Freundschaft mit Chang maß K'ang Yu-wei große Bedeutung bei, was

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sich auch in seinen Erinnerungen widerspiegelt: »Meinem Leh-

rer Chiu-chiang verdanke ich die ersten Erkenntnisse über die

Lehren der Weisen und großen Persönlichkeiten; mein Freund

Yen-ch'iu hat mich jedoch mit der Auslegung der klassischen

Schriften vertraut gemacht« (S. 181). Im Winter des Jahres 1879 reiste er zum ersten Mal nach Hong-

kong, nachdem er zuvor mehrere Bücher über fremde Länder

gelesen hatte: Neben der >Kurzen Beschreibung der Welt<

machte er sich auch mit anderen Werken vertraut, so mit einer

>Konkordanz über die neuere Geschichte des Westens< und

einem >Neuen Bericht über eine Weltreise<, wie in der Chronik

berichtet wird. Als er die britische Kronkolonie besuchte, bekam

er einen Eindruck von »den geschmackvollen Häusern, die west-

liche Menschen bewohnen, der Sauberkeit auf den Straßen und

zum ersten Mal auch von der auf Gesetzen begründeten Ver-

waltung der westlichen Bevölkerung.« Er studierte ein >geogra-

phisches Lexikon der überseeischen Länder< und las noch einmal

die >Kurze Beschreibung der Welt<, kaufte eine Weltkarte und

eignete sich allmählich immer mehr Kenntnisse über den Westen

an, um mit den Grundlagen der abendländischen Gelehrsamkeit

vertraut zu werden (S.181). Als K'ang Yu-wei fünfundzwanzig Jahre alt war, starb im

Jahre 188z sein alter Lehrer Chu Chiu-chiang. K'ang und

andere Mitschüler sammelten die hinterlassenen Schriften Chus.

Im gleichen Jahr reiste er auch zum ersten Mal nach Peking, um

an den alle drei Jahre stattfindenden Prüfungen für den Zwei-

ten Akademischen Grad teilzunehmen. Der Erfolg blieb ihm

versagt. Als er auf der Rückreise durch Schanghai kam, bewun-

derte er — wie in seiner Chronik berichtet wird — den Wohl-

stand der großen Stadt, und es kam ihm wiederum zum

Bewußtsein, welche gesunde Basis den westlichen Regierungs-

methoden zugrunde lag. Daraufhin kaufte er sich viele Bücher,

die sich mit abendländischer Wissenschaft befaßten, und stu-

dierte sie ernsthaft (S. 18z). Im Jahre 1883, als K'ang sechsundzwanzig Jahre alt war,

wagte er zum ersten Male eine praktische Reform, indem er in

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seinem Heimatort eine >Vereinigung gegen das Einschnüren der Füße< organisierte. Es war dies die erste derartige Vereinigung in China, die sich später zu einem >Südchinesischen Verband< ausweitete. Auch in seiner Eingabe an den Thron aus dem Jahre 1898 forderte er das Verbot dieser menschenunwürdigen Sitte. Im Jahre 1883 machte K'angs geistige Entwicklung weitere Fortschritte: Er befaßte sich mit westlichen Fachzeitschriften und Lehrmethoden und studierte die Geschichte und Geographie fremder Länder. Sein Interesse konzentrierte sich jedoch auf die praktische Anwendung des Erlernten, und er unterließ es, sich auf Prüfungen vorzubereiten.

Während der Jahre 1884 und 1885 schrieb er seine >Kommentare zum Li Yün< und den ersten Entwurf des Ta T'ung Shu. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren formte sich also schon seine Konzeption einer Welt der Zukunft, in der die Leiden der Menschheit ein Ende finden und die Große Gemeinschaft be-gründet wird. Der erste Entwurf des Werkes trug den Titel >Universelle Grundlagen der Menschheit<. Als er im zweiten Monat des Jahres 1885 die Arbeit gerade abgeschlossen hatte, erkrankte K'ang, der sich wieder in Peking aufhielt, lebens-gefährlich. Er litt an unerträglichen Kopfschmerzen und war auf den Tod gefaßt: »Die >Universellen Grundlagen der Menschheit< waren schon geschrieben, die Verfassung des Ta T'ung Shu for-muliert, und der Verfasser bereitete sich ohne zu trauern auf den Tod vor« (S. 184).

Das Manuskript der >Universellen Grundlagen< wurde von ihm im Jahre 1887 überarbeitet, wobei er weitere Gemeinschafts-institutionen in den Text aufnahm, wie eine Weltsprachen-behörde, ein Weltparlament, eine Welttruppe u. ä. Im darauffolgenden Jahr reiste er zum dritten Mal in die Hauptstadt. Sein alter Freund Chang Yen-ch'iu lag im Sterben. Im November richtete er sein erstes Memorandum an den Thron, in dem er Reformen forderte — ein Memorandum, das dem Kaiser nicht vorgelegt wurde. Bis zum Herbst 1889 blieb er in Peking, und es gelang ihm diesmal auf Anhieb, das Examen für den Zweiten Akademischen Grad zu bestehen.

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189o, als K'ang Yu-wei dreiunddreißig Jahre alt war, wohnte er in Yang Ch'eng (Kanton). Gemeinsam mit Ch'en Ch'ien-ch'iu und Liang Ch'i-ch'ao betrieb er weiterhin seine Studien, und im darauffolgenden Jahr begann er seine Tätigkeit als Dozent in der Präfekturhauptstadt Chang Hsing in Kwangtung. In Liangs Biographie wird hervorgehoben, daß K'ang während dieser Zeit »in seinen Vorlesungen konfuzianische und buddhisti-sche Weisheit sowie Philosophie der Sung- und Ming-Zeit lehrte, wobei er sich auf traditionelle und auf westliche Lehrmethoden stützte. Er lehrte, indem er vor allem geistige Zielstrebigkeit förderte und wesentliche Erkenntnisse besonders herausstellte, um ein Allgemeinwissen zu vermitteln.« Liang erwähnt auch, daß die Schule in Chang Hsing das Wissen ganz im westlichen Sinne vermittelte, obwohl sie dem Aufbau nach nicht den heutigen Vorstellungen entsprach. In diesen Jahren war K'ang Yu-wei auch als Schriftsteller tätig. 1891 wurde ein Buch von ihm gedruckt, das ihn zum ersten Mal bekannt und berühmt — um nicht zu sagen berüchtigt —machte: >Nicht-authentische klassische Schriften aus der Hsin-Zeit<. Zusammen mit seinen fähigsten Schülern überarbeitete er außerdem das Manuskript eines Werkes, das er schon 1886 zu schreiben begonnen hatte: >Konfuzius als Reformer<. In diesen Büchern verteidigte er die sogenannte >neue< Textinterpretation gegen die >alte< und stellte Konfuzius so dar, als habe er mehr zu den Reformern als zu den Konservativen gezählt. Das Er-scheinen dieser beiden Bücher rief einen Aufruhr in Gelehrten-kreisen hervor, der sich bis jetzt noch nicht ganz beruhigt hat. Das wahre Motiv K'angs scheint jedoch darin gelegen zu haben,

daß er die alten, verehrungswürdigen Lehren so interpretieren wollte, daß sie ihm als Grundlage für sein Reformprogramm dienen konnten. Bei den ersten praktischen Versuchen zur Durchführung seiner Reformen mußte er 1893 eine bittere Erfahrung hinnehmen: Zusammen mit seinen Schülern zog er sich die Feindschaft hoher Beamter zu, die ihre erworbenen Rechte gefährdet sahen, als er eine Verwaltungsreform in seiner Heimat durchsetzen wollte.

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Am Ende schlug die Reform fehl; sein Lieblingsschüler Ch'en T'ung-tu erkrankte und K'ang mußte nach Kweilin (Kwang-si) fliehen. Er mußte einsehen, daß die Überwindung schlechter und die Schaffung guter Verhältnisse keine leichte Aufgabe ist. Im darauffolgenden Jahr — im Alter von siebenunddreißig Jahren — reiste er zum vierten Mal nach Peking, wo er sich diesmal aber nur drei Monate lang aufhielt. Seine Abhandlung über die nicht authentischen Schriften aus der Hsin-Zeit wurde als unwissenschaftliches und lästerliches Machwerk bezeichnet, und hochgestellte Persönlichkeiten sorgten dafür, daß die Druck-stöcke vernichtet wurden. Auch ein persönlicher Schlag traf ihn in dieser Zeit: Sein Schüler Ts'ao Chu-wei, an dem er sehr hing, starb. K'ang kehrte aus der Hauptstadt nach Kweilin zurück und widmete sich dort der Reform des Erziehungswesens. Als am x. August der chinesisch-japanische Krieg ausbrach, sah sich K'ang in seinen Befürchtungen bestätigt, denn er hatte schon sechs Jahre zuvor in seinem Memorandum auf die Schwäche Chinas hingewiesen, auf den Mangel an Verteidigungsbereit-schaft im Lande. Im Februar des nächsten Jahres traf K'ang ein weiterer schwe-rer Verlust: Ch'en T'ung-fu, sein begabtester und hoffnungs-vollster Schüler, verstarb. Die Zeitumstände ließen ihm aber kaum Zeit, um den Freund zu betrauern, denn bei einem neuer-lichen Pekinger Aufenthalt wurde er in die Wirren verstrickt, die damals das Land erschütterten. Die herrschenden Kreise in Peking waren bestürzt und verbittert, als sie hörten, daß die Regierung einen Friedensvertrag mit Japan abschließen wollte, der China neben einer hohen Kriegsentschädigung auch die Ab-tretung von Taiwan und Liaotung auferlegte. K'ang Yu-wei und Liang Ch'i-ch'ao machten sich diese Stimmung zunutze und organisierten eine Massenversammlung der Akademiker aus den achtzehn Provinzen, die einen Tag und zwei Nächte andauerte und damit endete, daß eine Bittschrift verfaßt wurde. Die Petition hatte zum Inhalt, daß die Friedensbedingungen zu-rückgewiesen werden sollten, daß das Militär verstärkt, die Hauptstadt verlegt und allgemeine gesetzgeberische Reformen

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durchgesetzt werden müßten. Am 8. April wurde diese Petition der Zensurbehörde überreicht; der Friedensvertrag war aber zu dieser Zeit bereits unterzeichnet. Die Machthaber fürchteten Unruhen durch die Agitation in akademischen Kreisen, und sie sorgten deshalb dafür, daß der Kaiser und die Kaiserinwitwe sich an die Vertragsbedingungen hielten und daß sie die Petition nicht vorgelegt bekamen. Im vierten Monat dieses Jahres gelang es K'ang beim Examen für den Dritten Akademischen Grad (chin-shih) auf Platz fünf, auf Platz achtundvierzig beim Hofexamen — einem Prüfungs-verfahren, das vom Kaiser persönlich geleitet wurde — und auf Platz zwei beim Examen für die Zulassung zur Hofaka-demie Han-lin zu kommen. K'ang erfuhr allerdings von Weng T'ung-ho, dem kaiserlichen Ratgeber und Staatssekretär, daß ihm bei beiden Examina eigentlich Platz eins zugestanden hätte; zwei hohe Beamte hätten jedoch dafür gesorgt, daß die Beurteilung zu seinem Nachteil abgeändert wurde. Ihm wurde nun eine Anstellung im Amt für öffentliche Arbeiten angeboten, die er jedoch ablehnte. Beim dritten Versuch gelang es ihm, seine Denkschrift bis zum Hof durchzubringen. Bei diesem Memorandum handelte es sich um eine Neufassung früherer Empfehlungen, die eine weit-reichende Verwaltungsreform zum Inhalt hatten. Die Denk-schrift wurde veröffentlicht; eine vierte allerdings wurde von seinen Gegnern unterschlagen. Er wollte jetzt in den Süden des Landes zurückkehren; seine Freunde drängten ihn jedoch, noch in Peking zu bleiben. Zusammen mit seinen Schülern Liang Ch'i-ch'ao und Mai Meng-hua veröffentlichte er einige Zeitungsartikel. Er orga-nisierte auch eine Gruppe, die sich >Gesellschaft zur Kräf-tigung der Nation< nannte und die die Aufmerksamkeit vieler Intellektueller in der Hauptstadt auf sich zog. In dieser Zeit schloß sich auch Timothy Richard zum ersten Mal der Reformbewegung in Peking an. Obwohl viele einflußreiche Persönlichkeiten die Reformergruppe moralisch und finan-ziell unterstützten, gab es gleichzeitig auch starke Gegner

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dieser Zielrichtung. K'ang reiste bald danach nach Schanghai ab, wo er eine weitere Studiengruppe und eine Zeitung gründete. Durch ein Dekret von Peking aber wurden beide Gesellschaften verboten, und die Zeitung in Schanghai mußte ihr Erscheinen einstellen. Im zwölften Monat dieses Jahres kehrte K'ang nach Kwangtung zurück. Er setzte seine Lehrtätigkeit in der Provinzhauptstadt fort, war weiter schriftstellerisch tätig, reiste durch die Provinzen Kwang-tung und Kwangsi und gründete zusammen mit Ho Sui-t'ien in Macao eine Zeitung, die unter dem Namen >Lernt das Neue kennen< mehr als zwei Jahre lang erschien. Seine Schrift >Kon-fuzius als Reformer< erhielt in dieser Zeit ihre endgültige Fas-sung, und er begann damit, eine >Bibliographie japanischer Bücher< zusammenzustellen. Sie entstand aufgrund der zahl-reichen japanischen Schriften, die er bis zu dieser Zeit gesammelt hatte und die er von seiner ältesten Tochter übersetzen ließ. K'ang erkannte, daß die Stärke der westlichen Länder auf ihrer wissenschaftlichen Spezialisierung beruhte, und er vertrat die Meinung, daß spezialisierte Forschungsmethoden auch in China eingeführt werden müßten, um dem Lande aufzuhelfen. We-gen der Schwierigkeiten bei der Erlernung westlicher Sprachen sah er die Lösung darin, daß die abendländische Wissenschaft mittels japanischer Übersetzungen zu erfassen sei. Denn zahl-reiche westliche Schriften waren damals schon in japanischer Sprache erschienen. 1897 hielt sich K'ang in Kweilin auf, wo er eine weitere Stu-diengruppe ins Leben rief und sich mit Lehrtätigkeit und Schrift-stellerei befaßte. Seine >Bibliographie japanischer Bücher' hatte er abgeschlossen, und er ließ sie in dem neueröffneten >Ta T'ung Übersetzungsverlag< in Schanghai drucken, ebenso wie seine Schrift >Konfuzius als Reformer< und eine Studie über Tung Chung-shus Interpretationen des Ch'un Ch'iu. Er beschäf-tigte sich während dieser Zeit auch mit dem Problem der Überbevölkerung Chinas und befürwortete einen Plan, der die Förderung der Auswanderung nach Brasilien vorsah. Aus die-sem Grunde reiste er wiederum nach Peking; er änderte jedoch

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seine Pläne, als er plötzlich von der Kiautschou-Affaire hörte, was ihn darin bestärkte, sich erneut um Regierungsreformen zu bemühen, um China vor der Katastrophe zu retten. Wiederum legte er eine Denkschrift vor, rief eine weitere Reformvereini-gung ins Leben und stellte sich auf die Seite derjenigen, die mit Hilfe Englands und Japans den russischen Machtansprüchen entgegenwirken wollten. Um die territoriale Integrität Chinas zu erhalten, befürwortete er Pläne, sich der Machtmittel aus-wärtiger Staaten zu bedienen, indem man ihnen in allen chine-sischen Häfen Handelskonzessionen zugestand. In diesem Jahr heiratete K'ang auch zum zweiten Mal. 1898 wurde K'ang Yu-wei einundvierzig Jahre alt, und dieses Jahr brachte seinen plötzlichen Aufstieg zu großer Macht, gleichzeitig aber auch seine unvermittelte Niederlage, die ihn ins Exil trieb. Diese Vorgänge sind in mehreren Studien be-schrieben worden, von denen drei besonders herausragen: >China under the Empress Dowager< von Bland und Backhouse, >The Reform Movement in China< von Meribeth Cameron und >Eminent Chinese of the Ch'ing Period< von Arthur Hummel, ein großartiges biographisches Nachschlagewerk. Es erscheint aus diesem Grunde nicht erforderlich, die Ereignisse von 1898 hier zu erörtern, wie sehr sie auch den Lebensweg K'ang Yu-weis beeinflußten. Bekanntlich hatte der junge Kaiser Kuang Hsü die Überzeugung gewonnen, daß die von K'ang und dessen Gefolgsleuten befürworteten Reformen unumgänglich wären, um China vor dem Untergang zu retten. Er erließ ein Reform-edikt nach dem anderen, die sich alle auf K'ang Yu-weis Pro-gramm gründeten, und K'ang war einige Monate lang der eigentliche Gesetzgeber der chinesischen Regierung. Die Kaiserinwitwe (Dowager) verfolgte die umwälzenden Re-formpläne mit wachsender Unruhe. K'angs Machtentfaltung war daher nur von kurzer Dauer; sie machte sich die Einwände der reaktionären und konservativen Elemente bei Hof zu eigen, setzte den Kaiser ab und trat ihre dritte Regentschaft an. K'ang Yu-wei wurde ebenso wie die prominentesten seiner Gefolgs-leute zum Tode verurteilt. Sechs Reformer wurden auch tat-

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sächlich hingerichtet, darunter K'ang Kuang-jen, K'ang Yu-weis jüngerer Bruder, und T'an Ssu-t'ung, dessen Ansehen noch heute hochgehalten wird, als Märtyrer und als Verfasser des Buches >Menschlichkeitslehre<. K'ang gelang es jedoch, aus Peking zu flüchten und nach Japan zu entkommen; auch Liang Ch'i—ch'ao konnte sich der Verfolgung entziehen. Vom neunten Monat des Jahres 1898 bis zum zweiten des nach-folgenden Jahres hielt sich K'ang in Japan auf. Liang Ch'i-cif ao setzte von Yokohama aus den Kampf fort und gründete dort zusammen mit anderen Mitgliedern der Reformpartei eine Zeitung. Zu dieser Zeit war auch Sun Yat-sen mit seiner revo-lutionären Gruppe in Japan tätig. Er wollte sich mit K'ang und Liang vereinigen, doch K'ang weigerte sich, mit dem revolutio-nären Führer zusammenzutreffen. Hier zeigte sich zum ersten Mal der grundsätzliche Gegensatz, der zwischen den beiden Persönlichkeiten bestand: Sun war der Meinung, daß durch eine Revolution das dekadente Ch'ing-Regime und die Kaiserherr-

schaft insgesamt abgeschafft und durch eine republikanische Re-gierung ersetzt werden müsse; K'ang war dagegen der Ansicht, daß es für China die aussichtsreichste Lösung sei, im Rahmen des traditionellen Systems Reformen durchzusetzen, wobei die absolute in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln sei. Er wußte, daß der junge Kaiser gewillt war, diese Reformen auch durchzuführen, wenn man ihm eine Möglichkeit dazu gab; K'ang bemühte sich daher nachdrücklich um die Neuinthroni-sierung des Kaisers. So gründete er 1899 in Kanada eine Gesell-schaft zur Rettung des Kaisers. K'angs Anhänger inszenierten im darauffolgenden Jahr auch eine militärische Aktion; unter T'ang Ts'ai-ch'ang wurde eine Truppe aufgestellt, die die süd-lichen Provinzen besetzen sollte. Man hofft; sich die chaotischen Zustände, die zu dieser Zeit herrschten, zunutze machen zu können: Der Boxer-Aufstand war gerade ausgebrochen. Als der gewaltsame Umsturzversuch mißlang und Verhaftungen und Hinrichtungen nach sich zog, mußte K'ang alle Hoffnungen auf-geben, durch den Einsatz von militärischen Machtmitteln seine Ziele verwirklichen zu können.

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Nach der >Reform der Hundert Tage< mußte K'ang jahre-lang ein unstetes Leben führen. Er war ständig unterwegs, lebte in Hongkong, Japan, Amerika, England, wieder in Japan, in Penang, Singapur und in Indien. Überall fühlte er sich gejagt und verfolgt, und ständig mußte er befürchten, einem Mord-anschlag zum Opfer zu fallen. Er sammelte Geldmittel und unterstützte die Bewegung, die dem Kaiser wieder zur Macht verhelfen wollte; seine schriftstellerischen Arbeiten setzte er nebenher fort und vollendete Werke wie >Kommentare zu den Lehren des Menzius< sowie zum Lun Yü und Ta Hsüeh. Der fünfundvierzigjährige K'ang Yu-wei vollendete schließlich dieses Werk, das jetzt den Titel Ta T'ung Shu trägt, als er sich 1902 in der indischen Stadt Darjeeling aufhielt. Damals bewegten ihn jedoch andere Probleme stärker als seine litera-rische Tätigkeit. Er stand im Briefwechsel mit Auslandschinesen, die der Gesellschaft zur Rettung des Kaisers angehörten, und seine Freunde wurden immer ungeduldiger und befürworteten durchgreifende Maßnahmen, da sie nicht zum Ziel kamen. Selbst K'angs Schüler neigten jetzt zu revolutionären Vorstel-lungen. In seinen Antworten bestand K'ang jedoch auf seiner Überzeugung, daß nur eine konstitutionelle Monarchie zur Lö-sung der Probleme Chinas beitragen könnte; er distanzierte sich eindeutig von den umstürzlerischen Ideen seiner Freunde. Als sein Erzfeind bei Hofe, der mit der Kaiserinwitwe ver-wandte Jung Lu, gestorben war, fühlte sich K'ang sicher genug, um nach Hongkong zurückzukehren. Auf seiner Reise dorthin machte er Zwischenstationen in Burma und Java. Aber es hielt ihn nicht lange in Hongkong; schon 1904 reiste er wieder ab und unternahm eine ausgedehnte Fahrt durch westliche Länder. Nahezu fünf Jahre lang war er unterwegs und besuchte dabei elf Staaten des Westens. 1907 heiratete er zum dritten Mal. Ein schwerer Rückschlag war für K'ang Yu-wei der plötzliche Tod des Kaisers Kuang Hsü im Jahre 1908. Kurz darauf starb auch die Kaiserinwitwe. Bis heute sind zwar die Umstände, die den Tod des Kaisers herbeiführten, nicht ganz geklärt; K'ang war jedoch überzeugt, daß der Herrscher von General Yüan

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Shik-k'ai vergiftet worden war. K'ang gab dem Haß, den er für diesen Verräter an der kaiserlichen Sache empfand, in mehreren Briefen Ausdruck und geißelte das feige Verbrechen. Während der nachfolgenden drei Jahre hatte K'ang verschie-dene Aufenthaltsorte wie Singapur, Penang, Hongkong sowie auch Orte in Deutschland und Japan. Einmal entging er mit knapper Not einem Mordanschlag. Er mußte zusehen, wie sich die Ereignisse in seiner Heimat immer mehr zuspitzten und die kommende Revolution heraufbeschworen. Die von ihm befür-wortete bessere Alternative — eine auf Reformen gegründete konstitutionelle Monarchie — kam nicht zum Zuge. Im zehnten Monat des Jahres 1911 wurde die chinesische Republik aus-gerufen, und Dr. Sun Yat-sen wurde zum provisorischen Präsi-denten gewählt. K'ang Yu-wei, jetzt fünfundfünfzigjährig, war zwar mit der Revolution nicht einverstanden und hielt sie für ein ungeeigne-tes Mittel zur Lösung der Probleme des Landes, aber er be-kämpfte sie nicht. Statt dessen widmete er sein Augenmerk den Gefahren, die China von innen und von außen drohten. Er wollte verhindern, daß das Land ein Spielball fremder Mächte würde und rief die widerstreitenden Kräfte im Norden und im Süden auf, sich zu vereinigen. Die Gefährdung der neuen repu-blikanischen Struktur sah er in der Person Yüan Shih-k'ais, nachdem die Revolutionäre der Mandschu-Dynastie die Herr-schaft entrissen hatten. Die Einigung des Landes erschien ihm jetzt als wesentlichste Aufgabe, denn die Mongolei und Tibet hatten sich für unabhängig erklärt und gerieten zunehmend unter den Einfluß ausländischer Mächte. Er forderte, daß die Landeswährung auf die Basis von Edelmetall gestellt werden müßte und widersetzte sich gewissen Plänen, die die Aufnahme einer Anleihe aus dem Ausland zum Ziel hatten. 1912 kehrte auch Liang Ch'i-ch'ao aus seinem langjährigen Exil nach China zurück, und K'angs treuer Schüler Hsü Ch'in wurde von Aus-landschinesen zum Mitglied des neuen Parlaments gewählt. Im darauffolgenden Jahr begann K'ang mit der Herausgabe einer Monatsschrift. Sie hatte den Titel >Anteilnahme<; K'ang

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wollte damit zum Ausdruck bringen, in welchem Maße ihn die damalige Notlage seiner Landsleute bewegte. Für die Zeitschrift verfaßte er Artikel über das Verwaltungswesen; er beschrieb seine Weltreisen, brachte aber auch konfuzianische Weisheiten und Gedichte zur Veröffentlichung. Manches davon hatte er schon in früheren Zeiten verfaßt, wie >Konfuzius als Reformer<. Die Zeitschrift erschien von Februar bis zum November 1913; zwei Ausgaben fügte K'ang noch in späteren Jahren hinzu und ließ das Ganze dann 1917 in zwei Bänden zusammengefaßt ver-öffentlichen. 19 i3 starb auch seine Mutter im Alter von dreiundachtzig Jahren in Hongkong. K'ang hatte sich gerade in Tokio an einer Ge-schwulst operieren lassen und konnte nicht die Reise nach Hong-kong antreten. So traf er erst im elften Monat des Jahres dort ein und fuhr dann nach Yang Ch'eng weiter, wo die Beerdi-gung stattfand. Der Provinzgouverneur und die örtlichen Be-hörden bekundeten ihre Teilnahme am Ableben von K'angs Mutter. K'ang war jetzt sechsundfünfzig Jahre alt; zum ersten Mal seit seiner Flucht im Jahre 1898 setzte er seinen Fuß wieder auf heimische Erde. Als Nachfolger von Dr. Sun war nunmehr K'angs alter Gegner Yüan Shih-k'ai Präsident der neuen Republik, Yüan, den er in seinem Haß als Mörder des Kaisers Kuang Hsü bezeichnet hatte. Die drei Telegramme Yüans, in denen er K'ang aufforderte, der Regierung beizutreten, beantwortete dieser ablehnend und nannte als Anlaß für seine Weigerung die Trauerzeit, die er wegen des Todes seiner Mutter einhalten wollte. Auch das nächste Jahr bewahrte ihn nicht vor Schicksalsschlägen: Seine Schwester I Hung starb, und auch seine junge dritte Ehefrau Ho Chan-li fand den Tod. Doch nicht nur persönliches Leid, sondern auch die Gefahren und Mißhelligkeiten, mit denen China zu kämpfen hatte, brachten K'ang großen Kum-mer. Als der Weltkrieg ausbrach, erklärte sich China für neutral. Japan trat jedoch in den Krieg gegen Deutschland ein und besetzte unter diesem Vorwand das deutsche Pachtgebiet Tsing-tao und die Provinz Schantung. 1915 unterbreitete Japan der

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chinesischen Republik die berüchtigten >Einundzwanzig Forde-rungen<. Hinzu kam noch, daß Yüan Shih-k'ai seine Stellung als neuer Präsident ausnutzen wollte, um sich zum Kaiser zu machen; als Sun Yat-sen und seine Anhänger eiligst von Japan zurückkehrten, um sich gegen Yüan aufzulehnen, brach ein Bürgerkrieg aus. K'ang sympathisierte jetzt mit Sun und stellte sich den Machtansprüchen Yüans entgegen. Sein Schüler Hsü Ch'in stellte mit finanzieller Unterstützung von K'angs vierter Frau, Madame Chang, eine Kriegsflotte zusammen und ging zum Angriff gegen Kwangtung vor. Yüan stellte seine Herrschaftsansprüche bald in Abrede; K'ang war jedoch der Überzeugung, daß sein alter Gegner in Wahr-heit noch immer auf Macht aus war. Er schrieb deshalb an die Gouverneure der sieben Südprovinzen und forderte sie auf, im Interesse der Nation an ihrer Neutralität festzuhalten. 1916 verfaßte er auch einen längeren Artikel, in dem er die Einset-zung von drei politischen Institutionen empfahl: eine erbliche Präsidentschaft ohne Machtvollkommenheiten, die Bildung eines Rates erfahrener Staatsmänner aus allen Provinzen zur Übernahme der Regierungsgewalt und einen Monarchen als symbolisches Oberhaupt, der die gleichen Funktionen wie z. B. der britische König zu übernehmen hätte. Die republikanischen Staatsformen, wie sie in Amerika oder in Frankreich herrschten, hielt K'ang in China für undurchführbar; für ihn schien der wahre Gehalt einer republikanischen Einstellung nicht in der Abschaffung einer monarchischen Verfassung zu liegen, sondern in der Ausweitung der Rechte des Volkes. Nach dem Tode Yüan Shih-k'ais im Juni des gleichen Jahres begann K'ang wieder zu hoffen, nun das Chaos im Lande beenden zu können. Er hielt die bestehende Regierungsform auf die Dauer für ungeeignet und befürwortete eine Wieder-einsetzung der Ch'ing-Dynastie. Zu diesem Zweck verfaßte er einen offenen Brief an seine Anhänger und korrespondierte mit General Chang Hsün, den er aufforderte, sich die neuen Ver-hältnisse zunutze zu machen und den legitimen Herrscher zu unterstützen. Wie zuvor waren jedoch K'angs Bestrebungen

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zum Scheitern verurteilt; sein Versuch zur Restauration der Monarchie endete mit einem Fiasko. Er mußte in der amerika-

nischen Gesandtschaft Zuflucht suchen, wo er sich ein halbes Jahr aufhielt und sich mit dem Schreiben eines Buches über die Fehler der republikanischen Regierung beschäftigte. Seine Vor-stellungen über die Wege zu einer Reform hatten sich seit 1898 in wesentlichen Punkten kaum geändert, wie man auch an den Maßnahmen erkennen kann, die er in den wenigen Tagen seiner Amtszeit in der >Regierung der Restauration< treffen wollte (S. 232). Am Jahresende wurde er unter dem Schutz amerikanischer Di-plomaten aus der Hauptstadt gebracht. Er kehrte in seine Hei-mat in Kwangtung zurück und beteiligte sich fortan nicht mehr aktiv an der Politik. Dennoch blieb sein Interesse am politi-schen Geschehen; er hörte nie auf, zur Einheit der Nation auf- zurufen, was sich in seinen zahlreichen Telegrammen an einfluß-reiche Politiker ausdrückte. Er beharrte auf einer konstitutio- nellen Monarchie und hielt die Erinnerung an den Kaiser Kuang Hsü in hohen Ehren, denn dieser Monarch hatte sich bemüht, K'angs Reformpolitik zur Rettung Chinas in die Tat umzu-

setzen. Im Alter von siebenundsechzig Jahren starb 1922 seine Ehefrau, Madame Chang, die lange Jahre hindurch seine treue Gefährtin in allen schwierigen Lebenssituationen gewesen war. Als K'ang im zweiten Monat des Jahres 1927 seinen siebzigsten Geburts-tag*) beging, trafen sich in Schanghai seine ehemaligen Schüler und Anhänger aus nah und fern. Liang Ch'i-ch'ao verfaßte aus diesem Anlaß eine Festschrift, in der er an die Inspiration er-innerte, die er empfangen hatte, als K'ang Yu-wei in der >Strohgedeckten Halle der zehntausend Bäume< lehrte; K'ang wurde als ein Mann gefeiert, der eine neue Ara in Chinas Ge-

*) K'ang hat von 1858 bis 1927 gelebt, ist also 69 Jahre alt gewor-den. Die Ausführungen über die Feier seines »siebzigsten« Geburts-tages sind so zu verstehen, daß es sich um die siebzigste Feier seiner Geburt gehandelt hat, wenn man davon ausgeht, daß der Tag der Geburt der »erste« Geburtstag ist.

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schichte eröffnete. Der Thronfolger Hsüan T'ung sandte ihm

ein Schreiben, das die Loyalität und Treue eines langen Lebens

pries. Fünfundzwanzig Tage nach dieser Feier beendete der Tod am

31. März 1927 den Lebensweg K'ang Yu-weis, eines Mannes

von hoher Begabung, von festen Grundsätzen und echtem Mit-

gefühl für seine Mitmenschen. Seine Zukunftsvisionen stellen

ihn in die Reihe der großen Persönlichkeiten, die in ihren

Träumen und Vorstellungen eine glückliche Welt ohne Leid

erschaut haben.

Zum )Ta T'ung Shu‹

Wie erwähnt, hatte K'ang Yu-wei dem ersten Entwurf seines

Ta T'ung Shu, den er während der Jahre 1884/85 verfaßte,

den Titel >Universelle Grundlagen der Menschheit< gegeben.

Soweit bekannt, ist dieser Entwurf nicht mehr vorhanden, und

auch Manuskripte aus späterer Zeit sind nicht auffindbar. Sicher

ist jedoch, daß der Verfasser Textänderungen vorgenommen

hat: In seiner Chronik wird erwähnt, daß er die >Universellen

Grundlagen der Menschheit< 1887 überarbeitete. Im Original-

text wird nämlich u. a. auf Seite 267 der Tod des Präsidenten

William McKinley im September 5901 erwähnt. In seiner

>Anthologie der Gedichte eines Herrn aus Nan-Hai<, die Liang

Ch'i-ch'ao 1911 veröffentlichte, bezeichnet er 1902 als das

Jahr der Fertigstellung des Ta T'ung Shu. K'ang hielt sich zu

dieser Zeit in der indischen Stadt Darjeeling auf. Abgesehen davon, daß Liang Ch'i-ch'ao als langjähriger Vertrauter K'angs

besser als jeder andere die Tatsachen kannte, geht auch aus dem

Text selbst hervor, daß dieser Zeitpunkt zutreffend sein dürfte.

Wie Liang Ch'i-ch'ao in seiner Schrift >Allgemeine Übersicht

zum Bildungsstand in der Ch'ing-Zeit< berichtet, hatten nur er

und sein Mitschüler Ch'en Ch'ien-ch'iu Gelegenheit zur Ein-

sichtnahme in das Werk; K'ang Yu-wei weigerte sich, das Buch

veröffentlichen zu lassen, da er es damals für »zu fortschrittlich«

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hielt. In seiner Schule in der 'Strohgedeckten Halle der zehn-tausend Bäume< hielt K'ang auch keine Vorlesungen über >Ta T'ung<; er betrachtete die Welt als noch im >Zeitalter der Un-ordnung< befindlich und erörterte deshalb mit seinen Studenten nur Gegenwartsprobleme. Erst 1913 konnte Liang Ch'i-di'ao seinen Lehrer dazu bewegen, die beiden ersten Teile des Ta T'ung Shu — etwa ein Drittel des gesamten Werkes — in K'angs Zeitschrift >Anteilnahme< zu veröffentlichen. Die nunmehr erschienenen Kapitel enthielten zwar mancherlei Vorstellungen, die zur damaligen Zeit als radi-kal galten; die im übrigen Teil seines Werkes zum Ausdruck kommenden extremen Gedankengänge wollte K'ang jedoch noch nicht zur Veröffentlichung bringen. K'ang wollte auch das Werk nicht ins Englische übersetzen lassen; dies geht aus dem Vorwort zu der 1929 in San Francisco erschienenen Ausgabe der ersten beiden Teile des Buches hervor. In diesem Vorwort wird berichtet, daß der Vorschlag zur Genehmigung einer Überset-zung von einem Professor an der Columbia-Universität an K'ang herangetragen wurde; doch selbst dem Präsidenten Wil-son, der ihm ebenfalls einen solchen Vorschlag gemacht haben soll, gab K'ang einen abschlägigen Bescheid. Erst 1935, acht Jahre nach K'ang Yu-weis Tod, wurde das Gesamtwerk unter Mitarbeit von Ch'ien Ting-an, einem früheren Schüler K'angs, von dem Verlag Chung Hua herausgebracht.

Ta T'ung Shu, das >Buch von der Großen Gemeinschaft<, stellt in der Ausgabe des Verlages Chung Hua 1935 ein umfang-reiches Werk dar, das 454 Seiten umfaßt, mit mehr als 15o 000 chinesischen Schriftzeichen — und das trotz des vom Autor ver-wendeten knappen klassischen Stils, der sich im Deutschen oder Englischen meist nur in erweiterter Form wiedergeben läßt. Von wenigen Stellen abgesehen, die schwer verständlich sind, ist der Text in klarer, kraftvoller Sprache abgefaßt. K'ang Yu-wei ist zwar kein so glänzender Schriftsteller wie sein Schüler Liang Ch'i-ch'ao; er besitzt jedoch die Fähigkeit, seinen Standpunkt eindringlich und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Das Werk

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gliedert sich in zehn Teile, und jeder Teil ist in Kapitel und Unterabschnitte aufgegliedert. Das nachstehende Inhaltsverzeich-nis mit den Seitenangaben der chinesischen Erstausgabe soll dem Leser einen Eindruck von der Gesamtthematik und der Eintei-lung des Originals vermitteln.

TEIL I Wie ein Mensch in die Welt eintritt und sieht, welche großen Leiden das Leben auferlegt

Einführung: Über die mitleidende Natur des Menschen 1

Kapitel r : Leiden, die das Leben auferlegt 15 Kapitel 2: Leiden durch Naturkatastrophen 26 Kapitel 3: Leiden durch menschliche Schicksale 40 Kapitel 4: Leiden, die die Regierungen auferle-

gen 5 0 Kapitel 5: Leiden wegen menschlicher Gefühls-

regungen 54 Kapitel 6: Leiden durch das Streben nach Glücks-

gütern 69

TEIL II Wie man die nationalen Grenzen ab- schafft und die Welt zur Einheit bringt 81-166

Kapitel r: Das Unheil, das die Existenz einzel- ner Staaten anrichtet 8r

Kapitel 2: Um den Schaden staatlicher Souverä-nität abzuwenden, müssen Schritte zur Abrüstung und zur Abschaffung nationaler Schranken unternommen werden 102

Kapitel 3: Die Einsetzung einer parlamentari- schen Versammlung als erster Schritt auf dem Wege zur Großen Gemein- schaft 113

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Kapitel 4: Die Errichtung einer Weltregierung als weiterer Schritt auf dem Wege zur Großen Gemeinschaft II8

TEIL III Wie man die Klassenschranken ab- schafft und alle Menschen gleichstellt 167-176

TEIL IV Wie man eine Abschaffung der Ras- senschranken und eine Verschmelzung der Rassen herbeiführt 177-192

TEIL V

Wie man die Schranken zwischen den Geschlechtern abschafft und die Gleichstellung der Frauen erreicht 193-254

TEIL VI Wie man familiäre Schranken ab- schafft und wie die Menschheit ein »Volk des Himmels« wird 255-352

Kapitel 1 : Einleitung 255 Kapitel 2: Institutionen zur Menschwerdung 292 Kapitel 3 : Institutionen zur Säuglingspflege 316 Kapitel 4: Grundschulen 32o Kapitel 5 : Mittelschulen 324 Kapitel 6: Akademien 327 Kapitel 7: Institutionen für die Armen 332 Kapitel 8: Krankenanstalten 334 Kapitel 9: Institutionen für die Alten 339 Kapitel io: Institutionen für die Verstorbenen 346

TEIL VII Wie man durch gemeinschaftliche Re- gelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft 353-382

Kapitel 1: Die Idee der gemeinschaftlichen Agrar- wirtschaft als Mittel zur Überwin-dung der Ungleichheit und der Unter- ernährung 353

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Kapitel 2: Wenn die Große Gemeinschaft nicht die Struktur der Industrie umgestal-tet, zerrütten Kämpfe zwischen Ar- beit und Kapital das Staatswesen 355

Kapitel 3 : Wenn die Große Gemeinschaft nicht den Handel organisiert, wird die wirtschaftliche Versorgung durch Ei- gennutz gefährdet 356

Kapitel 4 : Vergleich zwischen bäuerlicher Ein- zelwirtschaft und gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft 35 8

Kapitel 5: Vergleich zwischen Privathandel und Gemeinschaftshandel 359

Kapitel 6: Vergleich zwischen Privatindustrie und Gemeinschaftsindustrie 361

Kapitel 7: Gemeinschaftliche Agrarwirtschaft 362

Kapitel 8: Gemeinschaftliche Industrie 371

Kapitel 9: Gemeinschaftlicher Handel 375 Kapitel to: Die Schaffung von Menschenrechten

für Männer und Frauen als Voraus-setzung für die Errichtung der Gro- ßen Wirtschaftsgemeinschaft 379

TEIL VIII Wie man ein einheitliches und ge- rechtes Verwaltungssystem schafft und nach dem Prinzip Frieden-und- Gleichheit regiert 383-430

Kapitel r : Einteilung der Erde in hundert Grade 38 3 Kapitel 2: Erschließung der Erdoberfläche 384 Kapitel 3: Planquadrate als Selbstverwaltungs-

gebiete 38 5 Kapitel 4: Der Aufbau der Weltregierung in der

Großen Gemeinschaft 388

Kapitel 5: Der Aufbau der Gebietsregierungen 393 Kapitel 6: Verkehrs- und Nachrichtenverbin-

dungen in der Gemeinschaft 396

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Kapitel 7: Entwicklungsvorhaben in der Ge- meinschaft

Kapitel 8: Kommunale Selbstverwaltung Kapitel 9: Banken in der Gemeinschaft Kapitel o : Leistungswettbewerb Kapitel ix: Bildungsförderung Kapitel 12: Förderung der Charakterbildung —

> Jen< Kapitel 13: Schulen Kapitel 14: Abschaffung der Strafen Kapitel 15: Vier Verbotsregeln

TEIL IX Wie man die Liebe zum Menschen-geschlecht auf alle Lebewesen ausdehnt

TEIL X Wie man die Fesseln des Leidens ab- streift und der Glückseligkeit zustrebt

397 401

405 407 409

414 418 419 426

431-440

441-454

Dies sind in großen Zügen die wichtigsten Themen, die der Autor in seinem Werk behandelt. Im folgenden wird der Leser teils in wörtlichen Übersetzungen, teils in Zusammenfassungen mit den Gedankengängen K'ang Yu-weis vertraut gemacht.

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TEIL I Wie ein Mensch in die Welt eintritt und sieht, welche großen Leiden das Leben auferlegt

Einführung

über die mitleidende Natur des Menschen

Ich, K'ang Yu-wei, kam in dem Jahr auf die Welt, in dem die Herrschaft der englischen Krone über Indien ihren Anfang nahm. Mein verstorbener Vater hieß Shao-nung, und meine Mutter stammte aus der Familie Lao. Seit meiner Geburt hat die Erde mehr als sechsundzwanzigmal die Sonne umkreist. Ich lebe in einer Zeit, die hunderttausende von Jahren nach der Erstarrung der Erde liegt, glücklicherweise lang nach der Pe-riode, in der riesige Echsen und Vögel unsere Welt bevölkerten. Ich bin ein Kind der zivilisierten Welt. Mein Lebensbereich ist die nördliche gemäßigte Zone; mein Land ist das glorreiche Land der Mitte. Ich wohne im Südwesten der K'un Lun-Ge-birge, wo die Flüsse dem Pazifik zustreben. Ich habe in der Hauptstadt der Provinz Kwangtung, Yang Ch'eng, die unter dem Namen Canton bekannt ist, studiert, im Süden des Landes, nahe der Küste des Südchinesischen Meeres. Mein Geburtsort Yin T'ang liegt im Norden der Hsi Ch'iao-Berge. Der Stamm-baum meiner Familie geht zurück auf den Sohn des Königs Wen aus der Chou-Dynastie namens K'ang Shu. Seit dreizehn Ge-nerationen hat meine Familie Gelehrte hervorgebracht. In mir vereinigen sich fünftausend Jahre chinesischer Kultur; ich bin ein lebendiges Beispiel der Geschichte des Landes, die auf Fu Hsi, Shen Nung und Huang Ti zurückgeht, dann auf die Kaiser Yao, Shun und Yü, dann auf T'ang, den Gründer der Schang-Dynastie, der etwa 1766 v. d. Z. den Thron bestieg, König Wu, den Gründer der Chou-Dynastie, dessen Thron-besteigung 1122 V. d. Z. stattfand, den Herzog von Chou und

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Konfuzius (551-479 v. d. Z.). Auch das geistige Erbe der nach-folgenden Dynastien habe ich verarbeitet, wie das der Han (zo6 V. d. Z.— 221 n. d. Z.), der T'ang (618-907), der Sung (960-1280) und der Ming (1368-1644). Ich habe aber nicht nur die Lehren und Erkenntnisse der Alten des Ostens und des Westens, sondern auch moderne Philosophien zu meiner Welt-anschauung herangezogen. Die Erde durchzieht eine Vielzahl geistiger Verbindungslinien zwischen den Staaten und Gemein-wesen; sie alle sind miteinbezogen. Dem Höhenflug des Geistes sind keine Grenzen gesetzt. Die Vorstellungskraft kann dann alles erschauen, so wie das Auge über die weite Landschaft schweift. Oft habe ich die Weißen Wolkenberge bestiegen, die Gipfel des Mo Hsing-Gebirgszuges, und dann habe ich das weite Panorama mit dem Flug des Geistes verglichen. Als im Jahre 1885 im Raum von Canton militärische Ausein-andersetzungen mit Frankreich ausbrachen, verließ mein Groß-vater dieses Gebiet und kehrte in sein Heimatdorf >Ewiger Wohlgeruch< zurück. Dort lag inmitten von drei Teichen ein mehrstöckiger Pavillon mit Namen >Heitere Gelassenheit<, von dem man die Teiche und den Garten der Sieben Zypressen über-blicken konnte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend vergrub ich mich dort in meine Bücher, und nur wenn ich nach-dachte, blickte ich von den Schriften auf. Mir war, als ob sich mein Geist von meinem Körper gelöst hätte, und wenn ich nach intensivem Studium ins Haus zu Frau und Kindern zurückging, war ich noch so in meine Gedanken vertieft, daß ich den Ein-druck eines Schlafwandelnden gemacht haben muß. Ich ließ das dörfliche Leben in vollen Zügen auf mich einwirken: Die Menschen waren nach außen hin frohgestimmt, sie halfen einander, wo sie nur konnten, verwöhnten ihre Kinder und führten ein gutes Familienleben — und doch vernahmen meine geschärften Ohren die Mißklänge, meine aufmerksamen Augen die Streitigkeiten und die Leiden, sei es, daß eine Witwe über den Tod ihres Mannes weinte, daß ein hungerndes Waisenkind laut jammerte, daß ein alter, zerlumpter Mann sich hilflos auf seinen Stock lehnte. Ich litt mit der kranken Frau, die kein Bett

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besaß, sondern auf dem Küchenherd schlafen mußte und mit dein Krüppel, der laut um Almosen bettelte und kein Nacht-quartier und kein Heim hatte. Doch nicht nur die Armen, auch die Reichen trugen ihren Anteil an dem Leid: Ihre Wohlhaben-heit verfeindete sie mit ihren Kindern, Geschwistern und Ver-wandten. All dieser Kummer und all dieses Elend existiert in dieser >friedlichen< Welt; in Wahrheit aber herrschen Eifer-sucht, Neid und Egoismus, die wie eine dunkle Wolke das Leben überschatten und die Welt zugrunde richten. Grausam-keiten und Kriege haben Millionen von Menschen auf dem Gewissen, und das Blut der Toten verpestet die Erde. Soll das noch Jahrtausende so weitergehen, dieses Elend und diese Ver-zweiflung — welch ein schrecklicher Gedanke! Wie soll dann noch die Weltkatastrophe verhindert werden? Die Menschheit verzagt bei dem Gedanken an neue Staatenbildungen, denn es sind die Einzelstaaten, die an dem ganzen Unheil die Schuld tragen. Und wie sieht es bei den Kreaturen dieser Welt aus? Schafe, Rinder, Schweine und Geflügel sind aus Fleisch und Blut wie ich und müssen doch ihr Leben lassen; ich muß sie schlachten und ihr Fleisch essen; ich schlafe unter Federbetten und kleide mich in Tierpelze. Wir müssen erkennen, daß die ganze Welt Kummer und Elend in sich trägt, daß alle Geschöpfe zum Leiden verdammt sind, daß Tod und Vernichtung das Leben regieren. Himmel und Erde erscheinen als ein Schlachthaus und als ein großes Gefäng-nis. Die Weisen haben ihre Menschenliebe unter Beweis gestellt. Sie sind an die Krankenlager gegangen und haben sich der Gefäng-nisinsassen erbarmt. Sie haben den Hilflosen Reis gekocht und die Kranken gepflegt. Wir nennen sie die Vertreter des >Jen< —der Menschlichkeit. Sie haben die größte Not für den Augen-blick lindern können — aber das Leiden selbst kann niemand abschaffen. Tage und Monate habe ich das große Leid der Welt in mir verschlossen, habe geweint und gegrübelt, um dem Jammer auf den Grund zu kommen.

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Ich bin mir meiner Körperlichkeit bewußt. Wie kommt es nun, daß ich das Leiden eines anderen Körpers empfinden kann, obwohl ich zu ihm keine Verbindung habe? Umhergehend bin ich beunruhigt; wenn ich mich setze, kann ich darüber nachden-ken. Wie ist das möglich? Ist es das Wahrnehmungsvermögen? Wenn ich wie eine Pflanze meine Wahrnehmungen nicht äußern könnte, dann würde ich das Leid dieser Welt nicht kennen, und ich würde mit anderen Wesen nichts zu tun haben. Besitze ich aber ein Wahrnehmungsvermögen, wie sollte ich nicht im tief-sten Herzen leiden, weil ich weiß, daß die kriegerischen Ausein-andersetzungen zwischen den Staaten gewaltige Opfer fordern? Die Wahrheit ist schrecklich: Kriege der Neuzeit sind noch weit-aus grausamer als die Ereignisse der chinesischen Geschichte, etwa die Ermordung von 400 000 Kriegsgefangenen durch Pai Ch'i in Ch'ang P'ing oder die Abschlachtung der 200 000 durch Hsiang Yü in Hsin An. Ich war schon über zehn Jahre alt, als Sedan in Frankreich durch die Kriegsereignisse zerstört wurde und nichts hat mich so betroffen. Ich sah im Geist die Verwun-deten auf dem Schlachtfeld verbluten, sah die brennenden Häu-ser, und das Elend verfolgte mich bis in die Träume. Meine Einbildungskraft konnte sich damals schon das Leid der Mensch-heit ausmalen, obwohl ich es noch nicht kennengelernt hatte. Was das Erkennen und die Wahrnehmung anbetrifft: Formen und Laute werden auf meine Augen und Ohren übertragen und wirken auf >Ch'i<, meinen Lebensodem. Kummer und Sorgen greifen das >Yang< und Dunkelheit und Mißstimmung das >Yin<, die beiden hellen und dunklen inneren Seiten meines Wesens, an. Woran liegt das? Ist das die >überirdische Geistig-keit<, wie es die Europäer empfinden? Ist es der >mitleidende Geist<? Haben alle Menschen diese Empfindung oder verspüre nur ich diese innere Bewegung? Und was ist der Grund meiner Erregung? Wie kann etwas, daß außerhalb meiner Körperlichkeit liegt, mir bewußt werden, wie kann es mein Gemüt bewegen? Da ich einen Körper besitze, teile ich mit allen anderen Wesen den Himmelsäther, die irdische Materie und die Atemluft, die alle

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drei auf den Körper einwirken. Ist aber hier eine Trennung möglich? Nur so, wie ein Messer das Wasser durchschneiden kann. Die Trennung ist nicht möglich, so wie die Luft überall eindringt und sich nicht trennen läßt, so wie ein Blitz durch die Luft zuckt und überall einschlagen kann, wie das Wasser alle Erdteile umschließt und allgegenwärtig ist, wie die Blutgefäße alle Körperteile durchziehen. Wenn man sich >Ch'i<, den Geist, der den Berg zusammenhält, wegdenken könnte, so würde der Berg zusammenstürzen; ohne Blutgefäße müßte der Körper sterben, und auch die Erde würde ohne >Ch'i< vergehen. So ist es auch bei den Menschen — wenn sie ihren Geist von Mitleid und Liebe entblößen, dann vernichten sie selbst ihre Menschlich-keit. Sie hören dann auf, zivilisierte Wesen zu sein und fallen in die Barbarei zurück. Das Barbarentum kann sogar in das ur-sprünglich Bestialische ausarten! Das allumfassende uranfängliche >Ch'i< hat Himmel und Erde erschaffen. Der Himmel ist eine einzige seelische Substanz; auch der Mensch ist ein einziges seelisches Wesen. Wenn auch Erschei-nungsformen und Größenverhältnisse unterschiedlich sein können, so sind doch alle Teile des allumfassenden, ursprüng-lichen >Ch'i<. Auch wenn man sich jeden Tropfen des Welt-meeres einzeln betrachten wollte, würde man diese Erkenntnis beibehalten. Konfuzius hat gesagt: »Die Erde erschuf sich aus dem geistigen >Ch'i<; das geistige >Ch'i< war Wind und Don-ner; Wind und Donner nahmen Gestalt an, und alle Dinge entwickelten sich.« Der Geist ist wie ein Blitz, der ins Bewußt-sein eindringt. Dieser geistige Blitz kann überall einschlagen, und das geistige >Ch'i< kann jederzeit und allerorts seinen Ein-fluß ausüben. Der Geist steckt in den Dämonen, er kann den Herrschern eingegeben sein, er hat Himmel und Erde erschaffen, der universale und der Geist der Unterscheidung, der den An-fang der Welt erdacht und den Menschen erschaffen hat. Wel-cher Scharfsinn liegt dem Wirken des Geistes zugrunde! Es gibt keine Kreatur auf der Welt, in die der Blitz des Geistes nicht eingedrungen ist. Der Geist ist das Bewußtwerden des >Ch'i<, das Bewußtwer-

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den der Seele, Lebenskraft, Intelligenz und Charakter. Alle

diese Bezeichnungen stellen einen einzigen Komplex dar. Das

Bewußtwerden der Wahrnehmungsfähigkeit übt eine starke

Anziehungskraft aus. Ein solcher Mensch kann wie ein Magnet

wirken. Das Mitleid kann als Einfühlungsvermögen eine ma-

gnetische Kraft ausstrahlen. In uns sind >Jen< (Einfühlung-Mit-

leiden-Anziehung) und Wissen (Bewußtwerden) verschlossen;

das Wissen oder das Bewußtwerden steht jedoch an erster Stelle.

>Jen< und Wissen, in diesem Falle die Intelligenz, kommen

dann zur Anwendung, aber >Jen< ist der edlere Charakterzug. Ich bin der Überzeugung, daß ich als Mensch meine mitleidende

Natur nicht verleugnen darf und die Kümmernisse und Sorgen

anderer Menschen teilen muß. Ich wurde in die große Familie

des Menschengeschlechts hineingeboren und verdanke meine

Existenz der Fürsorge meiner Mitmenschen; also habe ich auch

Verantwortlichkeiten als Familienmitglied. Ich darf mich nicht

abseits stellen und damit ein undankbares Verhalten zeigen.

Dies gilt nicht nur für die eigentliche Familie; es hat eine beson-

dere Bedeutung in der Einstellung gegenüber der Öffentlichkeit

und dem Land, ja der ganzen Welt, der wir eine Dankesschuld

zollen. Wir müssen erkennen, daß wir als Träger der Zivili-

sation unseres Landes bewußt staatsbürgerliche Verantwortung

zu übernehmen haben. Wenn wir uns dieser entziehen und unser

Land im Stich lassen, kann es zugrunde gehen und mit ihm die

Menschen und die Zivilisation. Wir müssen uns dieser großen

Aufgabe bewußt werden. Als Kind dieser Erde muß ich die Menschen aus allen Ländern

als meine Brüder betrachten, die alle dem Schoße dieser Erde

entsprungen sind, wenn sie auch körperlich und rassisch ver-

schiedenartige Merkmale tragen. Da ich meine Mitmenschen als

Brüder anerkenne, empfinde ich auch >Ch'in< (Liebe) für sie.

Ich habe die Weisheiten der Alten in mir verarbeitet und sie

tief innerlich aufgenommen, die Erkenntnisse Indiens, Griechen-

lands, Persiens, Roms, aber auch die moderne Denkweise Eng-

lands, Frankreichs, Deutschlands und Amerikas. Oftmals habe

ich mich mit großen Gelehrten und Philosophen zusammen-

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gesetzt; wir haben dann Seite an Seite auf der Matte gesessen und gemeinsam unser Mahl eingenommen. Ich habe gelernt, diese Menschen zu verehren. Auf diese Weise habe ich die Eigen-ständigkeiten und die Schönheiten anderer Länder erfahren und gelernt, sie zu verstehen: Fremdländische Bauweise, Kleidung, Schiffe, Fahrzeuge, Geräte, Regierungs- und Erziehungswesen, Künste und Musik. Mein geistiges Auge schärfte sich, und >Ch'i<, meine Seele, empfing neue Anregungen. Ich drang in andere Welten ein, nahm Anteil am Fortschritt und am Niedergang, am Glück und am Leid der fremden Länder und Menschen. Die elektrische Kraft des Blitzes erleuchtete mich im Sinne der all-umfassenden Geistigkeit des >Ch'i<. Aber ich habe nicht haltgemacht bei meiner Betrachtungsweise der Menschheit als Ganzes; ich hielt meine Augen und Ohren offen, um der lebendigen Natur bewußt zu werden, um mit Liebe und Einfühlungskraft die Kreatur zu erfassen: den Men-schen in seiner Ursprünglichkeit, Fische, Insekten, Vögel und Raubtiere, die unendliche Mannigfaltigkeit der Wesen, die gebo-ren oder ausgebrütet werden, und auch die, die aus Zell-teilung entstehen. Wie könnte ich diesen Erscheinungen gegen-über auch gleichgültig sein? Ich erfreue mich an schönen Formen der Natur, nehme Anteil an dem Gedeihen; aber ich empfinde auch Mitgefühl, wenn die Kreatur sich nicht entwickeln kann oder mißgestaltet ist. Soll ich dem Dschungel der Welt entfliehen, soll ich mich wie ein Brahmane von der Umwelt abschließen, um >Ching-hun<, die Seele, zu reinigen? Wenn alle Menschen ihren öffentlichen Ver-pflichtungen entfliehen und als Einsiedler leben wollten, dann würde schon in wenigen Jahrzehnten die irdische Zivilisation zusammenbrechen, und der Urwald und die wilden Tiere hätten wie in Vorzeiten die Oberhand. Solche Gedankengänge der freiwilligen Isolation sind mir fremd. Was bedeuten mir Lebewesen auf dem Mars, dem Saturn, dem Jupiter, dem Uranus oder dem Neptun? Ich habe keinerlei Beziehungen zu ihnen; sie sind zu weit entfernt und mir zu verborgen. Mein Wunsch, ein Verhältnis im Sinne des >Jen< zu

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ihnen aufzunehmen, bleibt unerfüllt. Wie viele Male habe ich nachgegrübelt über die Größe der Fixsterne, über die Viel- gestaltigkeit des Milchstraßensystems, über die Spiralnebel in unendlicher Ferne! Gewaltig und endlos müssen dort die Staa- tengebilde, die gesellschaftlichen Strukturen sein, die Kulturen und die Zivilisationen. Auch in den unermeßlichen Weiten des Himmels kann es nicht anders sein als auf der von Menschen bewohnten Erde: Wenn es dort mit Geist und Wissen erfüllte Geschöpfe gibt, müssen sie uns wesensähnliche Züge besitzen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich empfinde es so. Bei meinen gedanklichen Streifzügen durch das All stellte ich mir Welten vor, die in höchstem Glück schweben, aber auch solche, die in tiefstem Leid dahinsiechen. Ich freute mich über die glücklichen Welten, und ich machte mir Gedanken über die Möglichkeiten der Errettung der leidenden Gestirne. Da ich ein Geschöpf des Alls bin, wäre es dann besser, mich von der Welt zurückzuziehen, mich von allen sozialen Bindungen zu lösen und allein nach innerem Glück zu streben? Nein, denn endlose Liebe gründet sich auf umfassende Einsicht, und Menschen, deren Einsicht und deren Bewußtsein entwickelt sind, besitzen auch einen vom >Jen< bestimmten, weiträumig einfühlsamen Geist. Liebe und Verständnis stehen in Beziehung zueinander.*) Ich wurde aber nicht in eine andere, sondern in unsere Welt hineingeboren; nicht auf einem fremden Planeten, sondern auf unserer Erde. Deshalb will ich auch mein Verhältnis zu den Menschen pflegen und ausbauen. Ich bin kein Vogel oder Fisch, sondern ein denkender Mensch, der in Gestalt und Wesen seinen Mitmenschen gleicht. Ich bin aber auch kein Höhlenbewohner der Vorzeit oder ein Wilder des Urwalds, sondern ein Bürger eines Staates mit vieltausendjähriger Geschichte; ich bin kein

*) Anmerkung des Autors: Ich habe über dieses Thema ein weiteres Budi geschrieben: >Vorlesungen über die Himmel. (Anm.: Der Ent-wurf zu >Vorlesungen über die Himmel< entstand im Winter 1926. Als es erschien, war K'ang bereits verstorben. In seinen späten Lebens-jahren hatte er sich gern mit diesem Werk befaßt, das seine Lebens-philosophie in ihrer Vielgestaltigkeit verdeutlicht.)

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Diener oder Analphabet, sondern entstamme einer angesehenen Familie, die seit dreizehn Generationen Gelehrte hervorgebracht hat. Durch mein intensives Studium der Schriften bin ich mit den Erkenntnissen der Vorväter vertraut. Auch mit den Eigen-schaften und Besonderheiten anderer Nationen, ja der ganzen Erdbevölkerung kenne ich mich aus. Durch grundlegendes Nach-denken über zukünftige Entwicklungen habe ich Erkenntnisse gesammelt, die vielen Generationen wegweisend sein sollen. Ich habe mein tiefes Einfühlungsvermögen mit umfassendem Wissen verbunden und meine Sinne so geschärft, daß ich ein neues Gedankengebilde aufbauen konnte. Von meinem Studium der Geschichte ausgehend habe ich die gegenwärtige Lage untersucht. China liegt mir dabei natur-gemäß am nächsten; aber ich habe davon ausgehend eine Welt-schau entwickelt. Dabei bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß es überall auf der Welt Kummer und Leid gibt: bei hochgestell-ten Personen, selbst bei Kaisern, bei Gestrauchelten, bei Greisen und bei kranken Kindern, auch bei Mönchen, Einsiedlern und Taoisten, selbst innerhalb der Vogelschwärme. Mag der Kum-mer und die Sorge geringfügig oder tiefgreifend sein — sie lastet wie eine dunkle Wolke bösartig auf den Geschöpfen, und niemand ist in der Lage, dem Leid zu entgehen. Alle früheren Philosophen haben tief darüber nachgedacht, wie man dem Leid zu Leibe rücken könnte, wie sich die Menschheit von der Sorge befreien ließe. Jeder hat auf seine Art dazu bei-getragen, eine Lösungsmöglichkeit zu finden. Aber die wahren Gründe der Schwierigkeiten ließen sich nicht beseitigen: zu überwältigend waren die Mißstände. Alle Verbesserungsvor-schläge schufen keine durchgreifende Abhilfe. Sie kurierten an den Symptomen herum, ohne der wahren Krankheit zu Leibe zu rücken. Ist vielleicht noch nicht die richtige Arznei gefunden, oder sind die Behandlungsmethoden falsch? Es stimmt mich traurig, daß die Zeit für eine durchgreifende Heilung und Ret-tung der Welt noch nicht gekommen zu sein scheint. Die Geschöpfe dieser Welt erzielen den Zustand des Bewußt-werdens auf folgende Weise: Die Gehirnnerven enthalten

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>Ling<, den Geist, in sich. Unter den materiellen und immate-riellen Eindrücken sind solche, die dem Geist angenehm sind, und solche, die der Geist ablehnt. Die auf die Gehirnnerven einwirkenden angenehmen Eindrücke lösen freudige Empfin-dungen der Seele aus, während die unangenehmen Einflüsse seelischen Schmerz hervorrufen. Dies gilt besonders für den Menschen: Die menschlichen Gehirnnerven sind so verfeinert, daß Geist und Seele in der Lage sind, materielle und immate-rielle Eindrücke, auch wenn sie komplizierter und subtiler Na-tur sind, schnell zu verarbeiten und somit eine Unterscheidung zwischen angenehmen und unangenehmen Eindrücken zu tref-fen. Dem seelischen Zustand angepaßte Eindrücke werden ver-arbeitet, während inadäquate Eindrücke abgewiesen werden. Deshalb gibt es nur entweder das Passende oder das Unpassende im menschlichen Leben. Alles Unpassende verursacht Schmerz. Alles Passende und sich Bewährende verursacht Freude. Deshalb kommt es bei der Gestaltung des menschlichen Lebens auf die geeignete Verhaltensweise an; das Verhalten bestimmt die Ein-wirkung von Schmerz oder Freude. Die Verhaltensweise be-wirkt, ganz einfach ausgedrückt, die Abschaffung des Schmerzes und die Suche nach Freude. Es gibt keine andere Möglichkeit des Verhaltens. Um Freude zu gewinnen, müssen die Menschen sich bewußt in Gruppen gesellen, müssen sie die Einsamkeit verabscheuen und zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bereit sein. Die Men-schen müssen sich gegenseitig Freude bereiten und dadurch innere Befriedigung gewinnen, indem sie einander lieben und gastfreundlich sind, indem sie die Familienbande zwischen El-tern und Kindern, zwischen Geschwistern und innerhalb der ehelichen Gemeinschaft pflegen und dabei Gewinnstreben und Differenzen vermeiden. Wenn Eltern oder Kinder nicht mehr leben, wenn kein Ehegatte da ist oder kein älterer oder jüngerer Bruder zum Gedankenaustausch zur Verfügung steht, dann fehlt der vertraute oder hilfreiche Partner. Auch Freundschaf-ten werden nicht immer zuverlässig und dauerhaft sein, wenn Gewinnstreben oder Neid im Spiel sind. Solche im Stich gelas-

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senen Menschen sind Waisen und Witwen, aber auch kinderlose Ehepaare. Sie verarmen innerlich, denn sie sind hilflos. Dies ist der tiefste Schmerz, den ein Mensch erfahren kann. Die Weisen haben deshalb das Familiengesetzt geschaffen, um die zwischen-menschlichen Beziehungen zu regeln und somit die Freude und die Humanität, die in der Natur des Menschen liegt, zu bewah-ren. Diese Charakterisierung besagt: Der Vater soll verständ-nisvoll und der Sohn willig sein; der ältere Bruder soll freund-schaftlich und der jüngere respektvoll sein; der Ehemann soll aufrecht und die Frau nachgiebig sein. Dies stimmt auch mit der Natur des Menschen überein, und eine solche Methode soll lediglich dazu beitragen, den Menschen Glück und Befriedigung zu verschaffen. Andererseits liegt es aber in der Natur der Menschen, daß sie Parteien bilden und miteinander konkurrieren, daß sie den Stärkeren gehorchen oder daß sie sich mitunter gewaltsam ver-teidigen müssen. Deshalb gibt es Stämme und Staaten, deshalb gibt es Gesetze, Regierungen und Herrscher, damit Heim und Eigentum der Menschen gesichert werden. Gäbe es keine Stämme, würden Staaten keinen Schutz bieten, gäbe es keine Herrscher, Verwaltungen und Regierungen, lebten die Men-schen unbehaust wie die wilden Tiere, dann könnten sie in Fesseln geschlagen und versklavt werden, und sie hätten keine Möglichkeit, Heim und Eigentum zu schützen. Ein unendliches Leid würde über sie hereinbrechen, und sie würden vergebens nach Glück suchen. Die Weisen haben erkannt, wie die Natur der Menschen beschaffen ist, und sie haben deshalb das ihrige zur Schaffung von Staatsgebilden und Stammesvereinigungen beigetragen, sie haben jeweils für die Einsetzung einer Führung und den Erlaß von Gesetzen gesorgt. Dies alles dient nur zur Verminderung des Leidens der Menschheit.

Der Mensch strebt aber auch nach ewiger Glückseligkeit nach seinem Tode, denn sein Geist und seine Gedankenwelt erfassen die Zukunft und suchen nach einer Fortsetzung des Glückes, das er im irdischen Leben erreicht hat. Seine leibliche Seele strebt nach einer geistigen, ewigen Seele im unendlichen Glück. Die

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Weisen lehnten sich daher in ihren Lehren an diese Eigenschaft der menschlichen Natur an; sie predigten das buddhistische Ver-halten der Verleugnung der Welt und die taoistische Lebensein-stellung der Reinigung des Geistes und der Bewahrung der Seele, um unsterblich zu werden. Die Menschen sollen ihre Wiedergeburt im Himmel und ihre Erleuchtung anstreben, dem Rad des Lebens entgehen, also dem buddhistischen Zyklus von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt, um schließlich in den grenzenlosen Bereich der ewigen Glückseligkeit zu gelangen, nach diesem kurzen irdischen Leben, das nur wenige Jahrzehnte währt. Um diesem Ziel näherzukommen, um sich diese Wünsche zu er-füllen, fügen sich die Menschen selbst Leid zu. Sie verlassen ihr vertrautes Heim, schließen sich freiwillig von der Bequemlidi-keit und von den Erfolgen des Lebens aus, steigen auf die Berge und sitzen dann nackt und barfüßig in Meditation vor einer Wand, erbetteln sich die Nahrung, essen nur einmal täglich oder sogar nur neunmal im Monat, flechten sich Graskleidung, näh-ren sich von Abfällen, schlafen im Schnee, starren in das Sonnen-licht und fallen schließlich wilden Tieren zur Beute. Sie ertragen diese Entbehrungen aber nicht um des Leides willen; sie haben Dauer und Intensität von Leid und Glück gegenein-ander abgewogen und nehmen daher das kurze und geringfügige Leid auf sich, um dadurch um so größere und langandauernde Freude und Glückseligkeit zu erringen. Da sie Geburt, Alter, Krankheit und Tod als leidvoll empfinden, streben sie nach einem Zustand ohne Leid und voller Freude. Die Suche nach dem Glück und die Überwindung des Leides ist ihr Ziel. Diesen Weg der Gefahr, der Entbehrung und der Schwierigkeit haben treue Söhne und ehrenwerte Priester, aufrechte Ehemän-ner und einfache Frauen, tüchtige Kriegsleute und Wissenschaft-ler beschritten. Sie haben das Leid genußvoll und ohne Murren ertragen. Sie haben in ihrer Abgeschlossenheit an ihren Über-zeugungen festgehalten; sie haben ihr Leben für »die Verteidi-gung des Guten Weges« hingegeben. In dieser Einstellung liegt jedoch auch ein Streben nach Respekt und Anerkennung, und

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die Menschen, die sich auf diese Art selbst Leid zufügen, sonnen sich in dem Gedanken, daß ihr Verhalten ihnen Ruhm einträgt. Auf diese Art erfolgt eine Umwandlung des Leides in Glück. Unter diesem Aspekt erscheint das Streben aller Lebewesen nach Glück und der Überwindung des Leides als ein ursprüngliches Anliegen. Dies Verhalten hat keine Alternative. Auch diejeni-gen, die bei diesem Streben Irrwege gegangen sind, die sich selbst Schmerz zugefügt haben, suchen auf ihre Art nach der Glückseligkeit. Bei aller Verschiedenartigkeit der menschlichen Natur läßt sich doch allgemein feststellen, daß es ein bewußtes Streben nach Leid und eine Ablehnung der Freude nicht gibt. Um das Gute in der Welt zu etablieren und die Menschen glück-lich und frei von Leiden zu machen, ist es unbedingt richtig, Gesetze zu schaffen und Lehren über das geeignete Verhalten zu verbreiten. Dies ist ein guter Weg, aber er ist noch nicht voll-kommen. Ganz falsch wäre es, durch Gesetze und Lehren das Leid zu verschlimmern und die Freude zu verringern. Es folgt eine Seite, in der die Mängel in Religion und Verwal-tung aufgezeigt werden; strenge Enthaltsamkeit kann nicht für die gesamte Menschheit gelten; sexuelle Abstinenz verhindert Nachkommenschaft; die Abtötung des Fleisches um eines gei-stigen Gewinns willen ist für die meisten Menschen nicht erträg-lich; Frauen werden gedemütigt und versklavt; die Starken herrschen und die Schwachen dienen; auf diese Art werden Ungleichheiten in Familien und Staaten gefördert. — Auch wenn die Gesetze durch weise Menschen geschaffen wurden, unterliegen die Vorschriften doch den jeweiligen Zeitumständen und richten sich nach den Landessitten. Als moralische Richt-schnur für die Gesetze dienen demgemäß die landläufigen Ver-hältnisse, und langjährige Unterdrückung wird als selbstver-ständlicher Zustand zugrundegelegt. Das Ergebnis ist neues Leid durch Unterdrückung und Ungleichheit, mögen die Gesetze auch anfänglich so konzipiert sein, daß sie gegenseitige Hilfe und Schutz anstreben. In solchen Fällen erreicht man nur das Gegen-teil: Der Zustand des Glücks und der Überwindung des Leides wird nicht erreicht.

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In diesem Zustand befindet sich Indien; auch in China hat man die gleichen Ergebnisse. In Europa und in Amerika ist man dem Frieden und der Gleichheit näher; doch die Tatsache, daß die Frauen als Privatbesitz der Männer betrachtet werden, hindert die westlichen Länder daran, den universalen Glückszustand zu erreichen. Der große Weise Konfuzius hat zu diesem Problem eine prophetische Vorstellung gehabt: Er sah die Drei Herr-schaftsformen und die Drei Zeitalter. Nach dem Zeitalter der Unordnung folgt die Ara des fortschreitenden Friedens und der Gleichheit und dann das Zeitalter des ewigen Friedens und der

völligen Gleichheit; nach dem Zeitalter des beginnenden Frie-dens und Glücks schreitet die Welt weiter auf dem Wege zur Großen Gemeinschaft. Er lehrte, daß alles dem Weschsel unter-worfen ist und daß das Funktionieren des Gemeinschaftslebens bei der Schaffung universeller Gesetze von grundsätzlicher Be-deutung ist. Denn wenn man die Veränderungen bei der

Errichtung von Verhaltensnormen nicht berücksichtigt, kann man das Leid nicht aus der Welt schaffen. Ich bin in das Zeitalter der Unordnung hineingeboren und habe deshalb weitreichende Überlegungen darüber angestellt, wie die Welt zu retten und das Leid zu überwinden ist. Die Wirrnis dieser Welt hat mich zum Nachdenken veranlaßt. Die Lösung liegt nur darin, daß wir konsequent den Weg zur Schaffung der Großen Gemeinschaft des höchsten Friedens und der völligen Gleichheit beschreiten. Ich sehe keine Möglichkeit, das Leid zu überwinden und die Menschen zum Glück zu führen, wenn man diesen Gedanken an die Große Gemeinschaft außer acht läßt. Dieser Weg führt zu Frieden und Gleichheit, zu Gerechtigkeit, zu >Jen< und zu einer perfekten Regierungsform. Es mag auch Alternativen geben; doch dem Konzept dieses Gedankens ist nichts hinzuzufügen. (Es folgt eine Beschreibung der verschiedenartigen Formen menschlicher Leiden. Der Rest des Teiles I ist der Erläuterung dieser Erscheinungsformen so ausführlich gewidmet, daß er etwa fünfundsechzig Seiten einnimmt. Sie lassen sich im Sinne der Gedankengänge des Verfassers folgendermaßen schematisieren:)

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Kapitel .t

Leiden, die das Leben auferlegt

I. Leiden, die auf die Geburt in verschiedenen (bestehenden) Staaten zurückzuführen sind

2. Leiden durch vorzeitigen Tod 3. Leiden durch Mißbildungen und angeborene Krankheiten 4. Leiden wegen der Abstammung von Wilden S. Leiden durch das Wohnen in Grenzgebieten 6. Leiden durch Versklavung 7. Leiden durch die Angehörigkeit zum weiblichen Geschlecht

Kapitel 2

Leiden durch Naturkatastrophen

r. Leiden durch Überschwemmung, Dürre und Hungersnot 2. Leiden durch Heuschreckenplage 3. Leiden durch Brände 4. Leiden durch Sturmfluten 5. Leiden durch Vulkanausbrüche, Erdbeben und Erdrutsche 6. Leiden durch Zerstörung der Wohnhäuser 7. Leiden durch Schiffsuntergang und Zugzusammenstoß 8. Leiden durch Epidemien

Kapitel 3

Leiden durch menschliche Schicksale

r. Leiden wegen des Familienstandes als Witwe oder Witwer 2. Leiden als Waisenkind oder wegen Kinderlosigkeit 3. Leiden wegen Krankheit ohne medizinische Behandlung 4. Leiden wegen Armut 5. Leiden wegen niedrigen Standes

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Kapitel 4

Leiden, die die Regierungen auferlegen

r. Leiden durch Bestrafung und Einkerkerung 2. Leiden durch strenge Besteuerung 3. Leiden durch militärischen Dienst 4. Leiden wegen der bestehenden Staatsform 5. Leiden wegen der Familienzusammensetzung

Kapitel 5

Leiden wegen menschlicher Gefühlsregungen

r. Leiden wegen Dummheit 2. Leiden durch Haß 3. Leiden durch Liebe 4. Leiden durch Zuneigung S. Leiden durch Mühen 6. Leiden durch Genuß 7. Leiden wegen Unterdrückung 8. Leiden wegen Minderwertigkeitsgefühl durch den Stand

Kapitel 6

Leiden durch das Streben nach Glücksgütern

r. Leiden wegen Reichtums 2. Leiden durch hohen Rang 3. Leiden wegen Langlebigkeit 4. Leiden aufgrund des Herrschertitels 5. Leiden aufgrund göttlicher oder prophetischer Eigenschaften

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All dies sind Formen des Leides im menschlichen Leben; wir kennen nur unsere eigenen Leiden; die Kümmernisse der ande-ren Kreaturen sind unserer Vorstellungswelt verschlossen. Wenn wir nun die Leiden des Lebens analysieren wollen, dann erken-nen wir, daß ihr Ursprung in neun Arten von Barrieren liegen. Wie lassen sie sich beschreiben? Die erste heißt die Barriere des Staates: die Grenzen, die Stämme und Staaten gegeneinander aufrichten. Die zweite heißt die Barriere der Klasse: die Trennung zwischen Adel und Untertanen, zwischen Rein und Unrein. Die dritte heißt die Barriere der Rasse: die unterschiedliche Behandlung von Gelben, Weißen, Braunen und Schwarzen. Die vierte heißt die Barriere zwischen den Geschlechtern: die Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Die fünfte heißt die Barriere zwischen den Familienmitgliedern; die besonderen Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwi-schen den Ehegatten und zwischen den Geschwistern. Die sechste heißt die Barriere der Berufe: Privateigentum in Landwirtschaft, Industrie und Handel. Die siebente heißt die Barriere der Unordnung: das Bestehen von Gesetzen, die Ungleichheit und Unrecht etablieren, die nicht durchgearbeitet sind und zu Irrtümern Anlaß geben. Die achte heißt die Barriere der Arten: das Bestehen einer Trennungslinie zwischen den Menschen und der Kreatur im ganzen und einer Trennung der Arten im einzelnen. Die neunte heißt die Barriere des Leides: das Leid erzeugt selbst immer weitreichendere Kümmernisse und Schmerzen, es er-schöpft sich nirgends und endet nie. (Aus diesem Grunde liegt die Methode zur Überwindung des Leides in der Abschaffung dieser Barrieren. Die folgenden neun Teile des Buches befassen sich deshalb einzeln mit jeder dieser Barrieren, mit deren Überwindung und mit der Errichtung der Welt der >Großen Gemeinschaft des höchsten Friedens und der völligen Gleichheit<.)

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TEIL II Wie man die nationalen Grenzen abschafft und die Welt zur Einheit bringt

Kapitel

Das Unheil, das die Existenz einzelner Staaten anrichtet

Das I-ching, das Buch der Wandlungen, hat uns überliefert: »Nachdem der Himmel die Uranfänge erschaffen hatte, ergab es sich naturgemäß, daß Herrschaftsformen errichtet wurden; aber eine friedvolle Welt wurde hierdurch nicht hervorge-bracht.« Da es seit den Uranfängen eine Vielzahl von Staaten nebeneinander gegeben hat, bestand eine Koexistenz zwischen starken und schwachen Staatsgebilden. Größere und kleinere Staaten führten Kriege gegeneinander, und die Menschen gingen dabei zugrunde. Ein friedloser Zustand seit alters her! Nach der Entstehung der Zivilisation durch das Erschaffende und Emp-fangene begannen gleich am Anfang die Schwierigkeiten, die immerwährenden Gefahren. Die Menschen gerieten in die Stru-del des Leidens, die auch die Weisen aller Zeiten nicht beseitigen konnten. Die Einzelmenschen schlossen sich dann zu Sippen zusammen; Sippen vereinigten sich zu Stämmen und Stämme zu Nationen, und schließlich schlossen sich benachbarte Staaten zu vereinigten großen Bundesstaaten zusammen. Diese Zusammenschlüsse zu größeren Gebilden waren stets von zahllosen Kriegen begleitet, und die Menschen wurden dabei zerrieben. Schließlich bildeten sich die Weltmächte der Neuzeit. Der Prozeß der Erweiterung zu immer größeren Staatsgebilden und der Abschaffung der Vielzahl von Kleinstaaten hat mehrere Jahrtausende in An-spruch genommen. Die Natur und die Erfordernisse des Zusam-menlebens haben die Menschen zwangsläufig auf diesen fort-schrittlichen Weg geführt, von der Zerstreuung zur Vereinigung und von der Aufteilung der Welt zum Zusammenschluß.

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Alle, die dieses Ziel mit wachem Verstand anstrebten, waren sich aber auch der Schwierigkeiten bei der Umwandlung der menschlichen Gesellschaft bewußt, die mit den jeweiligen Ver-hältnissen und Zeitumständen und den nationalen Gegeben-heiten in engem Zusammenhang stehen. Die Menschen sahen sich bei ihrem Streben nach der Großen Gemeinschaft vielerlei Hemmnissen ausgesetzt; die Reformen verliefen im Sande, da die menschlichen Kräfte nur begrenzt wirksam werden können, diese Kräfte, denen sich Gebirge und Meere als Grenzen ent-gegenstellen und die nur entweder zu Lande oder zu Wasser sich ausbreiten können. Außerdem konkurrierten die Rechts-vorschriften der Staaten seit jeher miteinander. Im Altertum betrachtete sich China zusammen mit den umgebenden vier unzivilisierten Territorien als einziges Land der Welt. Heute ist die Erde überall erforscht, und wenn wir China mit seinen Randgebieten betrachten, dann müssen wir erkennen, daß es sich bei dem >Reich der Mitte< nur um einen Winkel Asiens, nur um den achtzigsten Teil der Welt handelt. So kannten in alten Zeiten die Bewohner von Yeh-lang nicht das Reich der Han, und die Chinesen fanden das amüsant. Wenn sich die Welt damals schon zusammengeschlossen hätte, dann wäre schon seinerzeit ein Großstaat entstanden. Und dennoch — unsere kleine Erde mit einer Fläche von nur 27 000 Li ist nur ein Staubkorn, wenn man sie von anderen, möglicherweise vereinig-ten Sternsystemen aus betrachtet. Auch die Bewohner Yeh-langs dünkten sich groß, und sie waren doch nur ein kleiner Bevöl-kerungsteil Chinas, das sie nicht kannten. Der Zusammenschluß von Staaten wird daher nie völlig zum Abschluß kommen. Da der Größenordnung eines Staates keine Grenzen gesetzt sind, sind auch die Möglichkeiten des Zusam-menschlusses von Nachbarstaaten unbegrenzt. Solche Vereini-gungen könnten sich bis hin zu den Sternensystemen und Spiral-nebeln erstrecken, und sie würden auch hier noch nicht ihre Grenzen finden. Ebenfalls ist auch die Möglichkeit zur Krieg-führung zwischen den Staatengebilden unbegrenzt, und die Niedermetzelung von Lebewesen schreitet immer weiter voran.

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Wieviel Blut mag schon auf anderen Sternen geflossen sein, wie viele Bewohner des Mars mögen sich schon bei kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Mars umgebracht haben! Meine Idee der Großen Gemeinschaft kann sich also nur auf die Erde beziehen. Der ganze Weltraum kann nicht mitein-bezogen werden, und deshalb werden auch die Kriege nie ein Ende finden. Sooft ich auch darüber nachgegrübelt habe, wie man die Kriegsgefahr aus der ganzen Welt verbannen könnte — ich habe keine Lösung des Problems gefunden. Deshalb will ich mich auch auf die Erde beschränken, auf der ich geboren wurde. Durch die Errichtung von Staaten ergab sich zwangsläufig eine Tendenz zum Patriotismus. Jeder wirkt zum Vorteil seines Staates und zum Nachteil anderer staatlicher Gemeinschaften. Wenn es auch nicht jedem Staat gelingt, einen anderen in sich einzubeziehen, so ist doch die Tendenz zu kriegerischen Erobe-rungen einhellig. Es kommt zu Annexionen schwächerer Staa-tengebilde durch stärkere, zu Bündnissen mit dem Ziel der Erweiterung der Staatsgebiete durch Gewalt. Diese kriegerischen Gewalttaten haben Jahrtausende hindurch die ganze Mensch-heit vergiftet, und die Auswirkungen lassen sich kaum ermessen; sie lassen sich kaum in Worte fassen. Ich komme nun auf das Phänomen der bestehenden Staaten zu sprechen. Allein schon die Existenz von Einzelstaaten bedingt, daß wegen ländlicher oder städtischer Territorien Streitigkeiten entstehen und daß die Menschen zu Soldaten ausgebildet wer-den. Ein kurzer Krieg kann schon Tausende, ja Zehntausende von Menschenleben fordern, die durch Pfeile oder Lanzen, Kanonen oder Giftgas zugrunde gehen. Der Boden des Schlacht-feldes wird mit ihrem Blut gedüngt, und die Gefallenen ver-wesen. Manchmal werden die Leichen in die Flüsse geworfen; manchmal werden die Toten in den gebrandschatzten Städten zu Asche. Es geschieht, daß streunende Hunde sich um die Leichen streiten oder daß Hunger und Pestilenz ganze Heere dahinraffen ... Wie sehr sich Eltern auch bemühen mögen, ihre Kinder zu pflegen und großzuziehen — sie bleiben machtlos

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gegenüber den Gefahren der Kriege, die ihre erwachsenen Söhne aus dem Leben reißen. Wie läßt sich dieser Jammer anders deuten als durch die Erkenntnis, daß Egoismus und Gewalt-tätigkeit nur dadurch die Oberhand gewinnen, daß Einzel-staaten ihre Souveränität mißbrauchen? (Die Kriege, die seit Jahrtausenden die Menschheit heimgesucht haben, haben nicht nur zu Tod und Schmerz, sondern zu unend-lichem Leid und Elend der Hinterbliebenen geführt. Wenn sich aus all diesem Leid Folgerungen ziehen lassen, dann kann man nur zu nachfolgenden Schlüssen kommen: Erstens ergibt sich, daß bei nur wenigen bestehenden Staaten auch nur selten Kriege ausbrechen, während andererseits die Kriegsgefahr bei der Existenz einer Vielzahl von Staaten groß ist. Wenn man beide Möglichkeiten miteinander vergleicht, dann wären auch Unterdrückungsmaßnahmen, die ein autokra-tisches Weltregime den Menschen auferlegt, weniger unheilvoll als die ständige Kriegsgefahr bei einer Kleinstaaterei. Zweitens läßt sich folgern, daß die vielen Erscheinungsformen des menschlichen Leidens auf die Barrieren zwischen den Einzel-staaten zurückzuführen sind.)

Kapitel 2

Um den Schaden staatlicher Souveränität abzuwenden, müssen Schritte zur Abrüstung und zur Abschaffung nationaler Schranken unternommen werden

Ich habe dargelegt, daß durch das Fortbestehen miteinander verfeindeter Staaten die Kriege und das menschliche Leid kein Ende nehmen können. Der ständige Kräfteverschleiß durch die Unterhaltung von Truppenverbänden erscheint sinnlos; auch die zwangsweise Einziehung zum Militär entzieht der Produk-tion ganz unnötigerweise Kräfte. Selbst gute und uneigennützige Menschen können nicht umhin, durch ihren Dienst für den Staat parteiisch zu handeln. Ihre Denkweise konzentriert sich

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nur auf das eigene Staatswesen. So kommt es, daß sie den Kampf um die Ausweitung der Staatsgrenzen und die Vernich-tung der Gegner als vornehme Pflicht betrachten, daß sie die Zerstörung fremder Staaten und die Niedermetzelung der Be-wohner feindlicher Länder als großen Erfolg feiern. Es werden zum Ruhm dieser Taten Denkmäler und Erinnerungstafeln eingeweiht, und die Geschichtsschreibung ist des Lobes voll. Nachfolgende Generationen sind überall auf der Welt stolz auf die Tapferkeit der siegreichen Väter. Man erkennt dabei nicht, daß der Ruhm des Sieges die Niedermetzelungen und Plünde-rungen verschleiert, daß durch die Lobpreisung des Geistes der Gewalt und des Egoismus nur Grausamkeiten und Gemein-heiten gerechtfertigt werden sollen. In Wirklichkeit haben sich die Kämpfenden nur gegenseitig wie wilde Tiere zerfleischt, haben sie wie Banditen die Bevölkerung überfallen und ausgeplündert. Da man dem Grundsatz der Güteranhäufung als moralisch gerechtfertigt betrachtet, hat sich der Geist der Gewalt im menschlichen Wesen eingenistet: Die Begehrlichkeit wird immer größer, und der Hang zur Gewalttätigkeit ergreift vom Men-schen Besitz. Das Kämpfen und das Morden findet nie ein Ende, und die Menschheit kann sich dadurch nie über die Stufe der wilden Kreatur oder des Räubers und Banditen erheben. Es wäre daher ein Widerspruch in sich, einerseits souveräne Staaten bestehen zu lassen und andererseits Fortschritte in der Ent-wicklung der menschlichen Gesinnung in Frieden und Gleich-heit anzustreben. Man kann nicht gleichzeitig gegensätz-liche Wege beschreiten. Schon im Altertum machten sich die Weisen Gedanken über dieses Dilemma; oftmals haben sie eine allgemeine Abrüstung erwogen. Das Bündnis zwischen den Sung, Chin und Ch'u im alten China war ein Schritt in dieser Rich-tung, und auch die griechischen Staaten des Altertums bemühten sich, durch vertragliche Abmachungen eine Abrüstung herbeizu-führen. In der Neuzeit werden häufig Abrüstungskonferenzen abgehalten, und bei Vertragsabschlüssen zwischen Einzelstaaten hat der Grundsatz der Waffenbegrenzung stets Vorrang. So-lange jedoch staatliche Barrieren weiterbestehen, solange starke

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und schwache, große und kleine Staaten nebeneinander ihr Dasein fristen, bleibt die Abrüstung ein Wunschtraum und ein Unding, so wie es utopisch wäre, aus Tigern und Wölfen zahme Lämmer machen zu wollen. Das Ziel, der Menschheit Frieden zu bringen, kann somit nicht ohne Abrüstung erreicht werden, und der Wunsch nach Abrü-stung kann nicht ohne Abschaffung staatlicher Souveränität verwirklicht werden. Die Staaten haben in Zeiten der Unruhe keine andere Wahl, als Maßnahmen zum Selbstschutz zu treffen, und solche Maßnahmen können bereits in Friedenszeiten den Weg zu Auseinandersetzungen bahnen. Die Menschen haben zu allen Zeiten immer wieder behauptet, daß es vielerlei Staaten geben müsse, so wie die Art und das Wesen der Einzelmenschen verschieden ist. Das ist ein verhängnisvoller Trugschluß. Im Gegenteil müssen wir uns jetzt, wo wir uns das Ziel gesetzt haben, die Menschheit von ihrem Elend zu befreien und durch das Suchen nach dem Glück in der Großen Gemeinschaft in Frieden und Gleichheit Befriedigung zu erlangen, bemühen, staatliche Barrieren abzubauen und durch die Abschaffung der Staatsidee die Gefahr des Nationalismus zu bannen. Diesem Ziel sollten die Besten und Einflußreichsten unermüdlich nach-streben; sie sollten sich niemals scheuen, ihre warnende Stimme zu erheben. Es gibt keine Alternative als den Abbau der staat-lichen Barrieren, wenn man die Menschheit retten will. Der Staat als solcher stellt die Höchstform einer menschlichen Organisation dar. Neben dem göttlichen gibt es kein höheres Gesetz als das staatliche. Dabei erstrebt jeder Staat seinen eigenen Vorteil, und es gibt keine allgemeingültigen Regeln, die das unterbinden, keine abstrakten Theorien, die dem staatlichen Egoismus entgegenwirken. Keine universellen Grundregeln kön-nen verhindern, daß eine Großmacht einen Kleinstaat schluckt, daß wie in der Natur der Schwächere durch den Stärkeren auf-gezehrt wird. Wenn auch viele weitsichtige Männer stets darauf hingearbeitet haben, durch Abrüstung Frieden und Ausgleich im gesamten menschlichen Bereich zu schaffen, wenn sie auch Staatsgrenzen einrissen, mit dem Ziel der Schaffung eines uni-

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versehen Einheitsstaates — ihre Bemühungen waren zum Miß-erfolg verurteilt. So betrachtet, ist dann nicht diese Hoffnung nur ein Trugbild in den Gehirnen guter Menschen, dieser Wunsch nach Abschaf-fung der Waffen, nach Auflösung der Staatsbarrieren, nach der >Großen Gemeinschaft<, der völligen Einheit der Welt? Aber der menschliche Geist kann nicht von diesem Wunschbild lassen, wenn er der Gemeinschaftsaufgaben eingedenk ist, wenn auch der Nationalismus nicht von heute auf morgen überwunden werden kann und Kriege nicht absolut der Vergangenheit ange-hören werden. Es wird der Zukunft überlassen bleiben, die allgemein erwünschte Tendenz zum Ziel zu führen. Eines Tages wird die Menschheit eine einzige, große Gemeinschaft sein. Das hodigesteckte Ziel wird nicht leicht zu erreichen sein, und es mag ein Jahrhundert dauern, bis die Aufgabe erfüllt sein wird. So sind auch das von Konfuzius prophezeite Zeitalter ewigen Frie-dens und völliger Gleichheit, die Lotuswelt Buddhas, Lieh-tzus Berg Tan-p'ing und Darwins Utopia keine nichtssagenden Wunschvorstellungen, sondern zukunftsweisende Wahrheiten.

über die historische Entwicklung der Staatsgrenzen von der Abtrennung zum Zusammenschluß als Vorgriff auf die Große Gemeinschaft

Die fortschreitende Umwandlung der Barrieren zwischen den einzelnen Staaten, die anfangs den Charakter der Abgrenzung hatten, später jedoch zum Zusammenschluß hinführten, läßt sich somit als natürlicher Entwicklungsprozeß ansehen. Der Prozeß der Vereinigung des alten China nahm einen Zeitraum von zweitausend Jahren ein: Er begann in der legendären Zeit von Huang-ti, Yao und Shun, wo es zehntausend Einzelstaaten gab, setzte sich dann fort in der Zeit von T'ang (des Gründers der Shang-Dynastie, angeblich 1766 v. d. Z.), wo es dreitausend Staaten gab; zur Zeit des Königs Wu (des Gründers der Chou-Dynastie, ca. 1122 v. d. Z.) gab es achtzehnhundert Staaten; während der >Frühling- und Herbst-Periode< (722-484 v. d. Z.)

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gab es etwa zweihundert Staaten; zur Zeit der >Kämpfenden Staaten< (403-221 v. d. Z.) bestanden nur noch sieben Staaten, die Ch'in im Jahre 221 v. d. Z. zu einem Reich vereinigte. Die alten Meder vernichteten tausend Einzelstaaten, um ihr Reich im heutigen Persien zu gründen. Vor der Zeit Buddhas umfaßte auch Indien mehr als tausend Staatengebilde. Der um die Zeit von 274-236 v. d. Z. regierende König Asoka vereinigte sie, und eine nochmalige Vereinigung erfolgte unter König Har-sha (606-647) und durch den Islam; die Engländer schufen später dort ihr Imperium. Zweitausend Jahre bestanden die zwölf Einzelstaaten Griechenlands, die dann durch Makedonien vereinigt wurden. Späterhin verleibte sich Rom ganz Griechen-land ein und herrschte über alle europäischen und nordafrika-nischen Staaten. In Europa gab es dann in den tausend Jahren der Feudalherr-schaft dreihunderttausend Edelleute in Deutschland, hundert-zehntausend in Frankreich und mehr als zehntausend in Oster-reich und England. Heute unterstehen diese Adelsherrschaften den in diesen Staaten etablierten Monarchien. Die fünfund-zwanzig deutschen Staaten haben sich zu einem Bundesstaat zusammengeschlossen, und in Italien haben sich elf Staaten zu einem Gesamtstaat vereinigt. Rußland hat sich Albanien einverleibt, Frankreich hat Annam und Tunesien besetzt, England hat Burma geschluckt, Japan hat sich Korea und die Ryukyu-Inseln angegliedert, und ganz Afrika ist neuerdings wie eine Melone aufgeteilt worden. Die übrigen, an der Grenze der Einflußbereiche liegenden Kleinstaaten wie Siam oder Afghanistan, gelten nur als Pufferstaaten. Staaten, die sich wie Ägypten an England oder wie Marokko an Frank-reich angeschlossen haben, können nicht lange unabhängig blei-ben. In einem natürlichen Ausleseprozeß verbinden sich somit Teil-staaten miteinander; starke und große Staaten verleiben sich schwache und kleine ein: Dies ist ein Vorzeichen für die Bildung einer >Großen Gemeinschaft<. Eine bessere Methode zum Zu-sammenschluß zu großen Staatsgebilden stellt die bundesstaat-

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liche Gründung von Deutschland und Amerika dar; die kleinen und schwachen Gliedstaaten haben vergessen, daß sie einmal eigenständig waren. Eines Tages werden die USA sich alle Staa-ten des amerikanischen Kontinents eingegliedert haben und wird Deutschland alle Staaten Europas umfassen. Dieser Prozeß bahnt schließlich den Weg zur >Großen Gemeinschaft<.

Die historische Entwicklung von wenig zu mehr Demokratie führt zur Großen Gemeinschaft hin

Gleich einem Naturgesetz entwickeln sich demokratische For-men seit ihren Anfängen bis zur vollen Entfaltung. So haben andere Staaten sich nach der revolutionären Gründung der Ver-einigten Staaten von Amerika dieser Entwicklung angeschlossen und ähnliche Verfassungen angenommen. Überall wurden Re-publiken gegründet; es entwickelten sich kommunistische Theo-rien, und Arbeiterparteien bildeten sich. Autokratische Staaten sind naturgemäß selbstherrlich und es ist in solchen Fällen schwierig, Vereinigungsbestrebungen mit gleichartigen Staaten durchzusetzen. Wenn Staaten dagegen demokratisch regiert werden, lassen sich Föderationen leichter durchführen. Die Men-schen können dann nämlich ihren Vorteil und ihr Wohlergehen anstreben, und wenn sie vernünftig durch befugte und weit-sichtige Männer auf die Vorzüge und Annehmlichkeiten der >Großen Gemeinschaft< hingelenkt werden, so liegt dies ganz im eigenen Interesse der Bevölkerung. Solche Bestrebungen können auf fruchtbaren Boden fallen, und die Menschen können hoffen, daß sie der Großen Gemeinschaft näherkommen, denn Anzeichen hierfür gibt es überall: Man braucht nur an die Ent-wicklung der Demokratie, der Verabschiedung von Verfassun-gen, die Diskussionen über Gewerkschaften und den Kommunis-mus zu denken. Da in konstitutionellen Monarchien der Herrscher machtlos ist, bedeutet auch diese Staatsform eine Hinwendung zur Demokratie. Eines Tages werden alle Monar-chien verschwunden sein, und alle Staaten werden sich in die Große Gemeinschaft eingliedern.

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Die drei Arten von Zusammenschlüssen von Staaten

Wenn wir der Großen Gemeinschaft näherkommen wollen, dann erscheint es zunächst erforderlich, durch eine allgemeine Abrüstung den Anstoß hierzu zu geben. Danach sollten sich alle Staaten zusammenschließen, und schließlich soll eine allgemeine Gesetzgebung die ganze Menschheit erfassen. Wenn nach diesem Schema vorgegangen wird, dann wird eines Tages die Große Gemeinschaft Wirklichkeit werden. Die Zusammenschlüsse von Staaten umfassen drei Arten: Erstens können sich gleichartige Staaten vereinigen; zweitens kann jeder Staat seine eigene Ver-waltung beibehalten, untersteht jedoch einer zentralen Regie-rung, und drittens können die Namen und Grenzen der Teil-staaten abgeschafft und unabhängige lokale Selbstverwaltungen eingesetzt werden, die der Regierung unterstehen. Diese drei Regierungsarten sind in ihrem Gefüge jedoch von den Zeitum-ständen abhängig, da sich ein sofortiger Zusammenschluß aller Länder nicht bewerkstelligen läßt.

Die sechs Hindernisse bei Zusammenschlüssen von Staaten

I. Gegensätzliche Eigeninteressen 2. Abneigung der Staaten, ihre Souveränität aufzugeben 3. Auch nach Gründung einer starken Union die Abneigung der Mitgliedstaaten, Gesetze der Zentralregierung zu übernehmen, die zu ihren eigenen Interessen im Gegensatz stehen 4. Fehlen der Gleichberechtigung großer und kleiner Staaten; Probleme der angemessenen Vertretung bei der Legislative 5. Probleme bei der Angleichung der Gesetzgebung im Hinblick auf divergierende Interessen der Staaten 6. Auch nach Inkraftsetzung und Bewährung einer Union die Gefahr schwerwiegender Differenzen, die wie im amerika-nischen Bürgerkrieg zu einem Bruch führen können (Diese sechs Arten von Hindernissen lassen sich bei der Betrach-tung der amerikanischen Geschichte erläutern. Zusammenfas-send läßt sich sagen, daß eine rasche und leichte Umwandlung

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der gegenwärtigen Verhältnisse zu dem Idealzustand der >Gro-ßen Gemeinschaft< ein unmögliches Unterfangen darstellt: »Bevor wir von der winterlichen Kälte zur sommerlichen Wärme gelangen, müssen wir die Frühlingsstürme erleben, be-vor wir von der Ebene auf die Spitzen der Berge kommen, müssen wir hügeliges Land durchwandern ... Wenn wir somit von den gegenwärtigen Bedingungen ausgehen, müssen wir auf dem Wege über Abrüstung und Zusammenschlüsse zu einer uni-versellen Gesetzgebung gelangen, und erst danach werden wir allmählich der Großen Gemeinschaft näherkommen.

Zusammenschlüsse von Staaten nehmen ihren Anfang in kleinen Vereinigungen und Gleichschaltungen

Wie soll ein Zusammenschluß seinen Anfang nehmen, sollen sich die Tausende von Staaten gleichzeitig vereinigen, oder sollen sich zunächst kleine Bünde bilden, die sich später zu einer gro-ßen Union zusammenschließen? Unbedingt sind kleine Bünde das Anfangsstadium. Der kleine Bund bildet einen Zusammen-schluß von zwei oder drei Staaten, die gleich stark sind und die gleiche Interessen vertreten. Demnach sollen sich die großen Staaten der Erde zu einem ewigen Bund und zu gegenseitiger Unterstützung vereinigen. Die Lenkung der staatlichen Angele-genheiten obliegt heute den Bürgern, und es ist ganz offensicht-lich, daß hierin Vorteile und Nachteile liegen können. Im Altertum, so in der Zeit der >Kämpfenden Staaten< des alten China (4o3-22r v. d. Z.) beanspruchten die Herrscher und ihre Gefolgsleute dieses Recht. Die Verhältnisse lassen sich nicht durch Absprachen zwischen Einzelmenschen zum Vorteil oder zum Nachteil ändern: Wir müssen gleichartige Verhältnisse, gleiche Möglichkeiten zur Machtausübung schaffen, mit dem Ziel der gegenseitigen Hilfe und Gleichberechtigung. Kein Staat soll eine solche Machtfülle besitzen, daß er sich alle anderen Staaten einverleiben kann. Selbst bei einem mächtigen Staat wie Rußland, der die autokratischen Verhältnisse sehr weitent-wickelt hat, macht das Volk seine Rechte geltend und fordert

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eine Verfassung. Somit wird Rußland schon in wenigen Jahr-zehnten zur Republik werden, wenn es sich nicht zur Konstitu-tionellen Monarchie entwickelt.*) Sobald die Regierungsform demokratisch geworden ist, geht die Tendenz zur Aggressivität automatisch zurück. Auch Rußlands Angriff auf die Türkei mißlang; im Krimkrieg 1854/56 ver-bündeten sich zunächst England und Frankreich, späterhin auch Preußen, listerreidi und Sardinien zur Allianz, um den rus-sischen Absichten entgegenzutreten. An diesem Beispiel wird deutlich, daß kein Grund zu der Befürchtung besteht, China könne einmal in die Lage kommen, benachbarte Staaten zu schlucken und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Nachdem einmal Zusammenschlüsse von Staaten mit gleicher Regierungsform und mit gleicher Machtfülle erfolgt sind, kön-nen die Einigungsbestrebungen fortgesetzt werden, und Staaten auf dem gleichen Kontinent mit gleichem Glaubensbekenntnis und von gleicher Rasse können sich vereinigen. Ein Beispiel hierfür sind die Staaten des amerikanischen Kontinents. Der Grundsatz, daß alle Amerikaner sich selbst regieren wollen und keine Mächte anderer Erdteile amerikanisches Gebiet beherr-schen lassen, ist durchaus richtig. Sollten die Mächte Europas oder Asiens, die über größere Bevölkerungsmassen verfügen, sich in amerikanische Angelegenheiten einmischen, dann würden sich sicherlich alle amerikanischen Republiken zur Verteidigung zusammenschließen und kraft ihrer republikanischen Verfas-sung ihre Interessen zur Geltung bringen. Die Hälfte des Globus würde sich zu einem Staatenbund vereinigen, und alle Staaten Amerikas zusammen wären unbesiegbar. So sollten sich auch die Staaten Europas und Asiens zu großen Konföderationen zu-sammenschließen. Australien wird eines Tages ein unabhängiger Staat sein, denn England wird es auf die Dauer nicht aus der Ferne beherrschen können. So wird sich Australien von England trennen, und dem Beispiel Amerikas folgend, seine Unabhängig-

*) Anmerkung des Autors: Ich habe diese Betrachtungen im Jahr 1884 niedergeschrieben; zwanzig Jahre später wurde in Rußland eine Verfassung verkündet.

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keit proklamieren. Andererseits könnte es sich aber auch mit einem anderen Staat zu einem Bund zusammenschließen. Wenn sich die Staaten der beiden Erdhälften vereinigen, dann würde ein solches System dem völligen Zusammenschluß der

Welt nahekommen; es würden zwei Reiche, die die halbe Erde umfassen, gleichzeitig bestehen. Wenn es möglich wäre, die Kontinente zusammenzuschließen, warum sollte es dann unmög-lich sein, die ganze Erde zu vereinen? Innerhalb der nächsten hundert Jahre werden daher alle schwa-chen und kleinen Staaten von der Landkarte verschwinden; alle monarchischen und autokratischen Regierungsformen werden weggefegt, und überall wird die republikanische Verfassungs-form eingesetzt; Demokratie und Gleichheit werden in hellem Licht erstrahlen. Die Völker der zivilisierten Nationen werden ihre Bildungsarbeit ausweiten, und Völker auf niedriger Kultur-stufe werden allmählich aussterben. Im Zuge der allgemeinen Entwicklung wird der Wunsch der Menschheit darauf gerichtet sein, eine Einheit der ganzen Erde zu verwirklichen. Wie eine unaufhaltsame Strömung wird das geistige Streben der Mensch-heit sich dem Ziel völliger Gleichheit und beständigen Friedens annähern. Die schwachen und kleinen Staaten, die sicherlich in den nädl-sten hundert Jahren verschwinden werden, sind Schweden, Dänemark, Holland und die Schweiz, die sich mit Deutschland vereinigen werden. Die kleinen osteuropäischen Staaten werden sich möglicherweise an Rußland anschließen, und selbst orienta-lische Kleinstaaten wie Afghanistan, Korea, Siam, Agypten und Marokko könnten ihre Selbständigkeit verlieren.*) Spanien und Portugal werden sich zunächst mit Frankreich ver-einigen; möglicherweise werden sie sich auch an England an-schließen. Vielleicht wird es nicht lange dauern, bis Spanien demokratisch regiert werden wird. Die konservative Politik Persiens und der Türkei gefährdet den Bestand dieser Staaten.

*) Anmerkung des Autors: Ich habe diese Zeilen im Jahre 1884 ver-faßt; schon zwanzig Jahre später geriet Korea unter japanischen Einfluß.

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Es ist schwer zu beurteilen, wie lange es dauern mag, diese isla-mischen Staaten zu reformieren; es könnte mehr als hundert Jahre in Anspruch nehmen, dort Wandlungen herbeizuführen, denn trotz jahrhundertelanger Beziehungen zu anderen Staaten haben die Moslems stets ihre Eigenständigkeit beibehalten. Es ist auch nicht abzusehen, ob ideologische oder machtpolitische Einflüsse anderer Nationen sich schon innerhalb der kommenden hundert Jahre im islamischen Gebiet durchsetzen werden. Mög-licherweise werden sich diese Länder mit Indien zu einem gro-ßen asiatischen Staat zusammenschließen. Nicht nur in der Türkei und in Persien, sondern auch in Indien spielt der Islam eine große Rolle, und die Religion könnte die Vereinigung dieser Länder fördern. Obwohl Indien von England beherrscht wird, könnte es möglich sein, daß England infolge eines verlorenen Krieges mit Deutschland sein Imperium aufgeben müßte. Im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Indiens wäre es sehr wahrscheinlich, daß es sich mit Persien und der Türkei zu-sammenschließen würde. Wenn man die restlichen Staaten Asiens in Betracht zieht, würden dann nur noch China und Japan als unabhängige Nationen eine Rolle spielen. Sollte jedoch Japan sich zur Republik erklären, dann wäre der unab-hängige Status auch dieses Landes gefährdet. Vielleicht wird sich auch China mit Japan und Indien vereinigen! Die Staaten Südamerikas sind religiös uneinheitlich, und die Arbeit ihrer Regierungen hat Mängel, da diese Republiken übereilt gegründet wurden. Die Europäer werden sicherlich unter irgendeinem Vorwand Einmischungsversuche unterneh-men. Dem werden sich die Nordamerikaner ebenso sicher ent-gegenstellen, und hierin läge eine große Kriegsgefahr. Falls die Südamerikaner von einer überseeischen Macht angegriffen wer-den, dann würden sie sich zu einem Staat vereinigen, mit Bra-silien als Vormacht, oder sie würden sich mit Nordamerika verbünden oder zusammenschließen. Da die fünf Staaten Mit-telamerikas in letzter Zeit schon in Verhandlungen über die Bildung einer Union sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis sich diese verwirklicht hat.

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Die Haager Konferenz legt den Grundstein für die Bildung einer Großen Gemeinschaft

(Die Erste Haager Friedenskonferenz, die auf Anregung des Zaren von Rußland 1898 zusammentrat, stellt einen ersten Schritt auf dem Wege zur Verständigung der Nationen und zum Zusammenwirken der Weltmächte dar. Es gibt viele Mög-lichkeiten zur Zusammenarbeit auf internationaler Basis, wie den Weltpostverkehr, das zwischenstaatlich geschützte Patent-wesen oder die Öffnung konservativer Staaten für demokra-tische Ideen. Hierzu zählt auch die Abkehr von autokratischen Zuständen in Ländern wie Persien, der Türkei oder Siam. Wenn es zu einer einheitlichen Weltverfassung kommt, dann deutet alles darauf hin, daß die Menschheit zu einer parlamentarischen Gesamtregierung neigt. Die >Große Gemeinschaft< wird in den kommenden zwei oder drei Jahrhunderten verwirklicht werden und schon innerhalb der nächsten hundert Jahre wird eine voll-ständige politische Union in Kraft sein.)

Kapitel 3

Die Einsetzung einer parlamentarischen Versammlung als erster Schritt auf dem Wege zur Großen Gemeinschaft

Die zunächst angestrebte Regierungsform der zusammen-geschlossenen Weltstaaten sollte keine Präsidialherrschaft, son-dern die Einsetzung parlamentarischer Vertretungen sein, nach-dem gleichberechtigte Einzelstaaten ihre Regierungsform vereinheitlicht haben. Man müßte diese Staatsform also nicht all-gemein als Republik, sondern als parlamentarische Demokratie bezeichnen. Im ersten Stadium der Vereinigung würde die Machtentfaltung der Einzelstaaten noch erheblich sein, und daher könnten sich die Volksvertreter des Gesamtstaates nur zu allgemeinen Erörterungen treffen. Eine solche parlamentarische Körperschaft wäre dann mit der Volksvertretung in der Schweiz

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vergleichbar, weniger mit derjenigen in den USA. Da aber die Teilstaaten sehr weit voneinander entfernt liegen, wäre auch das schweizerische System hier nicht anwendbar. Die Verwaltungsspitzen und Volksvertretungen müßten zu-nächst durch Wahlen ermittelt und dann von den Einzelstaaten delegiert werden. Jeder Staat würde dann einen oder mehrere Vertreter stellen, oder die Anzahl der Delegierten würde wie in Deutschland der Größe des Staates angemessen sein. In Anbe-tracht der Möglichkeit, daß große Teilstaaten dann ihre Macht durchsetzen könnten, wäre jedoch dieses System wahrscheinlich nicht ideal, denn kleinere Staaten könnten sich benachteiligt fühlen. Da also in diesem Stadium die Macht der Einzelstaaten noch groß ist, kann weder ein Präsident noch ein Ministerpräsident eingesetzt werden. Statt dessen müßte ein mit Mehrheit gewähl-ter Parlamentspräsident an der Spitze stehen, der wie ein Oberbefehlshaber von verbündeten Truppen fungieren würde. Er dürfte jedoch keine allgemeine Befehlsgewalt besitzen, son-dern seinen parlamentarischen Status beibehalten. In den De-batten soll die einfache Stimmenmehrheit entscheiden. Die Struktur der neuen parlamentarischen Regierung soll sich dann aus diesem Stadium weiterentwickeln. Konfuzius hat sinn-gemäß gesagt: »Drachen ohne Köpfe müssen verschwinden. Welch ein Glück, wenn das Kreative, das Große, sich in seiner Struktur ändert, dann wird die Welt in Ordnung gebracht sein.«

Das Weltparlament soll nur über die Gleichstellung in den internationalen Beziehungen beraten

Solange die Macht der Einzelstaaten noch bedeutend ist, soll das Weltparlament nur über die Richtlinien der Beziehungen zwi-schen den Staaten beraten. Andere Regierungsangelegenheiten sollen den Gesetzen der Einzelstaaten unterworfen bleiben. Das Parlament sollte ähnliche Funktionen haben wie beispielsweise das von Bismarck ins Leben gerufene deutsche Zollparlament.

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I. Das Parlament soll öffentlich interessierende Angelegenhei-ten in den Beziehungen der Staaten untereinander gesetzlich regeln. Auf der Grundlage des bestehenden internationalen Rechts sollen sich diese zwischenstaatlichen Beziehungen und die Beziehungen zwischen Einzelpersonen gestalten. Das Parlament soll gehalten sein, entsprechende gesetzliche Maßnahmen zu treffen, wobei der Weltfriede als Hauptziel im Auge behalten werden soll. Jedes Parlamentsmitglied soll jederzeit Vorschläge machen können. Sobald die Einzelstaaten die vom Parlament beschlossenen Gesetze genehmigt haben, sollen diese überall auf der Erde in Kraft treten. 2. Die in den Beziehungen der Einzelstaaten zueinander ent-stehenden Probleme sollen nach der gemeinschaftlichen Gesetz-gebung behandelt werden. Nach parlamentarischer Aussprache und Mehrheitsbeschluß müssen sich die Einzelstaaten dieser Entscheidung unterwerfen. 3. Alle Einfuhr- und Ausfuhrzölle sollen allmählich einander angeglichen werden. Der Handel soll frei und unbeschränkt abgewickelt werden, damit kein Staat eine Monopolstellung einnehmen kann. 4. Alle Maße und Gewichtsbezeichnungen sollten durch das Parlament in allen Ländern auf die gleiche Basis gebracht wer-den, um die Begriffe zu vereinheitlichen und überflüssige Um-rechnungen zu vermeiden. 5. Die Bemühungen des Parlaments sollten darauf gerichtet sein, die Umgangs- und Schriftsprachen in den Staaten in ein neues System zu bringen. Das Ziel sollte eine Vereinheitlichung sein, damit die Verständigung vereinfacht wird und damit der gegenwärtige Zwang zum Erlernen fremder Sprachen entfallen kann. Das Erlernen der Sprachen sämtlicher Staaten stellt nur einen Verlust an Zeit und Energie dar; eine Vereinheitlichung wäre ein generell nutzbringender Lernprozeß für alle Men-schen. Umgangs- und Schriftsprachen sind Ausflüsse des menschlichen Willens und daher künstliche Gebilde. Sie müssen eine all-gemeingültige Form gewinnen; wenn sie auf weltweiter Basis

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vereinheitlicht werden, dann wäre dies eine zweckmäßige Maß-nahme. Man kann Sprachen nicht wie mathematische Regeln oder philosophische Gesetzmäßigkeiten betrachten; sie sind fle-xibel und sind geeignet, bei Ausschaltung von Ungereimtheiten und komplizierten Konstruktionen, eine Sprachform anzuneh-men, die eine allgemeine Kommunikation von Gedanken ermöglicht. Solange jedoch Einzelstaaten bestehen und die Bar-rieren nicht abgebaut werden, hält jeder Staat an seiner eigenen Methode der Jugenderziehung fest, und das Erlernen der eige-nen Staatssprache dient als Mittel zur Festigung des Patriotis-mus und des Fortbestandes des Staates. Man kann daher Na-tionalsprachen nicht mit einem Federstrich abschaffen. Man sollte sich aber darauf einigen, eine universelle Umgangs- und Schriftsprache zu bestimmen, und man sollte die Menschen aller Nationen verpflichten, diese Sprache zu erlernen, die zur inter-nationalen Kommunikation dienen soll. Dann würden jeweils nur zwei Sprachen zu erlernen sein, nämlich die eigene Staats-sprache und die Universalsprache. Unendlich viel Zeit und Energie ließen sich dadurch einsparen; diese Kräfte könnte man anderweitig viel nutzbringender einsetzen. Hier gilt das Sprichwort: »Es ist nützlich, das nicht zu tun, was weder scha-det noch nützt.« Ein solches zielbewußtes System der Erlernung von Sprachen würde mit dem nutzlosen Vergeuden von Stu-dienjahren Schluß machen und produktive geistige Energien freilegen. Es wäre ein unermeßlicher geistiger Gewinn für alle Menschen. Wenn sich dieser Gewinn so umsetzen ließe, daß er der Wissenschaft und Kultur zusätzlich zugute käme, dann wären solche Maßnahmen sogar dem Fortschritt der Zivilisation dienlich. Und wenn die Barrieren zwischen Staaten und Rassen abge-schafft worden sind, dann wird sich auch der Gebrauch von Nationalsprachen und Rassendialekten erübrigen. Dann werden die Schriftzeichen der Landessprachen nur noch für Gelehrte von Interesse sein, wie es heute schon bei Griechisch und Latein der Fall ist oder bei den altchinesischen Sprachen Chuan und Li oder dem indischen Pali und Sanskrit.

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6. Wenn ein Einzelstaat sozialschädliche, den Frieden oder die Zivilisation bedrohende Maßnahmen trifft, dann soll das Welt-parlament ihn zur Revision dieser Maßnahmen auffordern. 7. Wenn ein Einzelstaat den Kodex der Zivilisation und des sozialen Friedens verletzt und sich außerhalb der übernationa-len Ordnung stellt, dann soll das Weltparlament durch den Einsatz eines gemischten Truppenkontingents die Ordnung in diesem Staat wiederherstellen. Widerstände sollten mit mili-tärischen Mitteln gebrochen werden, das Staatsgebiet besetzt und eine neue Regierung eingesetzt werden. 8. Das Weltparlament soll über Haushaltsmittel verfügen, die aus einem gemeinsamen Fonds der Einzelstaaten stammen. Die von den Einzelstaaten zu leistenden Beiträge sollen jährlich festgelegt werden. 9. Das Weltparlament soll auf exterritorialem Gebiet liegen. Die Bewohner dieses Gebietes sollen ihre Nationalität ablegen und als Mitglieder der Weltregierung einen bürgerrechtlichen Sonderstatus erhalten. to. Wenn ein kleiner Einzelstaat den Schutz des Weltparla-ments anruft, dann soll dieses Beauftragte ernennen, die die Regierung dieses Kleinstaates übernehmen.

Wenn die Einzelstaaten befestigte Grenzen haben, dann sollen diese von Beauftragten der Weltregierung kontrolliert werden. r z. Alle Meere außerhalb der Küstenschutzzonen der Einzel-staaten sollen von der Weltregierung kontrolliert werden. Die Meere sollen gemeinschaftlich verwaltet werden. Unterentwik-kelte Inseln sollen internationalisiert und die Bewohner Welt-bürger werden. Für Fischfang und Seeschiffahrt in internatio-nalen Gewässern sollen Gebühren erhoben und an einen Welt-Gemeinschaftsfonds abgeführt werden. 13. Die in den Einzelstaaten gewählten und an das Weltparla-ment delegierten Abgeordneten sollen jährlich ausgetauscht werden. Diese Delegierten sollen jedoch keine einflußreichen Minister sein, da sie bei ihrem Eintreten in die Weltregierung den offiziellen Status verlieren, den sie in ihrem Heimatland

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innehatten. Dies ergibt sich aus ihrem neuen, überregionalen Aufgabenbereich. Eine analoge Regelung ergibt sich auch aus dem allgemeinen Aufgabenbereich der Parlamentarier der Ein-zelstaaten, die zwar an ihrem Wohnort gewählt werden, aber nicht nur für diesen zuständig sind.*) 14. Es soll den Mitgliedern des Weltparlaments überlassen blei- ben, ob sie als Weltbürger im exterritorialen Gebiet wohnhaft bleiben oder in ihre Heimatstaaten zurückkehren. 15. Auf den Weltmeeren sollen gemeinschaftlich geführte See- streitkräfte die Erhaltung friedlicher Zustände garantieren. Ein rebellierender Einzelstaat soll als gemeinsamer Feind angesehen und erobert werden. Die Bewohner eines solchen Staates sollen dann die Weltbürgerschaft erhalten. Die Stärke dieser Seestreit- kräfte soll von der Weltregierung festgelegt und den Erforder- nissen entsprechend gestaltet werden. 16. Das Weltparlament soll sich das Ziel setzen, eine allgemeine Abrüstung herbeizuführen. Die Weltregierung soll Stärke und Zusammensetzung von Truppen und Seestreitkräften sowie von Bewaffnung und Rüstungsfabrikation feststellen. Das Welt-parlament soll in der Lage sein, bei Rüstungen der Einzelstaaten über die Erfordernisse der Selbstverteidigung hinaus zu inter- venieren. über diesen Rahmen hinausgehende Rüstungen sind zu untersagen. Im jährlichen Turnus sollen außerdem Maß-nahmen erörtert werden, die eine Reduzierung der Rüstungen zum Ziel haben. In Fällen, wo Staaten mit gemeinsamer Grenze zur Abwehr von Angriffen ihre Rüstungen erhöhen, soll die Weltregierung mit Hilfe von Truppen aus der Weltbürgerschaft diese Grenze bewachen und durch Verminderung der Kriegs-gefahr dafür sorgen, daß die rivalisierenden Staaten ihre Trup-penstärken verringern. 17. In Fällen, wo zu Einzelstaaten gehörende Kolonien oder autonome Gebiete sich der Weltregierung unterstellen wollen,

*) Anmerkung des Autors: Eine solche Regelung läßt sich bei monar-chistischen Verhältnissen nicht durchführen. Sie ist erst dann denkbar, wenn die republikanische Regierungsform sich in den Einzelstaaten durchgesetzt hat.

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sollen sie gemeinschaftlich regierte Territorien werden. Da sie dann dem Weltparlament unterstehen, soll dieses dafür sorgen, daß eine kleine Zahl Abgeordneter die Verwaltung in diesen Gebieten übernimmt. 18. Die Bürger in den gemeinschaftlich regierten Territorien sollen unabhängig von ihrer Volks- oder Rassenzugehörigkeit rechtlich gleichgestellt sein. 19. Die Einzelstaaten dürfen keine separaten Abmachungen treffen oder Geheimverträge schließen. 20. Die Menschen in den einzelnen Staaten sollen nach freier Wahl ihre Staatsbürgerschaft behalten oder eine andere anneh-men dürfen. Wegen ihrer blutsmäßigen Verschiedenartigkeit sollen sie keinerlei Restriktionen unterworfen sein.

Kapitel 4

Die Errichtung einer Weltregierung als weiterer Schritt auf dem Wege zur Großen Gemeinschaft

Wenn es gelingt, ein Weltparlament zur Durchsetzung einer gemeinschaftlichen Gesetzgebung ins Leben zu rufen, dann wer-den sich innerhalb weniger Jahrzehnte alle Staaten zusammen-schließen. Die Gesetze der Mitgliedstaaten werden sich anglei-chen; das Interesse der Einzelstaaten, sich zu Lasten anderer Mitgliedstaaten zu bereichern und die Nachbarn zu unterdrük-ken, wird immer geringer werden. Die Zahl der Weltbürger in den gemeinschaftlich regierten Territorien wird sich ständig vergrößern, und viele autonome Gebiete werden sich der Welt-regierung unterstellen. Die Macht der großen Einzelstaaten wird sich dann schrittweise verringern. Durch die Verstärkung demokratischer Organisationsformen innerhalb der Staaten wird die Machtfülle der Regierungen dahinschwinden. Es wird sich dann ein Bundesstaat ähnlich dem amerikanischen bilden: Die Gesetzgebung in den Einzelstaaten wird allmählich eine Zentralisierung der gemeinschaftlichen Staatsgewalt herbeifüh-

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ren, wie sie in Washington besteht. Selbst Staaten mit erblichen Monarchien werden sich so verhalten wie die deutschen Teil-staaten, und republikanische Staaten werden Formen annehmen, die mit den Vereinigten Staaten von Amerika oder dem Kanto-nalsystem der Schweiz vergleichbar sind. Auch starke und weit-räumige Staaten werden sich in das Weltsystem einordnen müs-sen, da sie an weiteren Annexionen gehindert werden. Wenn dieses Stadium erreicht ist, dann kann die Konstituierung der Weltregierung erfolgen, dann kann die Machtentfaltung der Großen Gemeinschaft überall zum Zuge kommen.

Grundzüge der Weltregierung

r. Jedes Jahr soll das Truppenkontingent jedes Staates redu-ziert werden. Die Weltregierung soll für jedes Jahr den Einzel-staaten die jeweilige Rüstungsstärke vorschreiben. Die allmäh-liche Verringerung der Truppenstärke soll bis zur Abschaffung jeglicher Streitkräfte fortgesetzt werden. Wenn man so vorgeht, daß jedes Jahr um zehntausend Mann abgerüstet wird, dann wird in einigen Jahrzehnten das Stadium der totalen Abrüstung der Staaten erreicht sein. Die Kriegführung verschlingt immer wieder gewaltige öffent-liche Mittel, und so müßte sich im Falle der Abschaffung der Streitkräfte die Möglichkeit ergeben, diese freiwerdenden Mit-tel friedlichen Gemeinschaftsaufgaben zuzuführen: der Errich-tung von Schulen, Krankenhäusern und sozialen Institutionen, der Erschließung von neuen Wohngebieten, dem Straßenbau, dem Schiffsbau und der Forschung zur Förderung der zivilisa-torischen Entwicklung. Unschätzbare Vorteile ständen dann der Menschheit offen! Die Senkung der Kosten für die Militärhaushalte führt zu einer erheblichen Minderung der Steuerlasten und somit zur Befrei-ung der Völker aller Welt von einer schweren Bürde. Dieser Vorteil steht an erster Stelle.

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Zweitens könnten die Menschen ohne Angst leben, wenn sie nicht Soldaten zu werden brauchen, wenn sie nicht befürchten müssen, zum Ruhme eines Heerführers im Kriege verwundet oder getötet zu werden oder gar ihr Leben lang dahinzusie-chen. Die ganze Menschheit würde aufatmen, wenn es keine Gefallenen und Hinterbliebenen mehr gäbe. Drittens könnten die Menschen, die sonst ihr Leben als Soldaten verbringen müssen, nunmehr nutzbringenden Berufen zugeführt werden und als Lehrer, Bauern, Künstler oder Händler arbeiten. Die berufliche Struktur würde sich grundlegend zum Vorteil verändern. Viertens wäre dafür gesorgt, daß das menschliche Leben die ihm gebührende Wertung erfährt und die produktive Leistung höher als bisher eingeschätzt wird, wenn es keine Grausamkeit durch Kriegführung mehr geben wird, wenn plündernde Horden ebenso wie Schilde und Lanzen, Gewehre und Kanonen un-bekannte Begriffe sein werden und Kriegsleiden wie Brand-schatzung, Seuchen und Obdachlosigkeit der Vergangenheit an-gehören. Fünftens sind dann Kanonen und andere Kriegswaffen völlig nutzlos und überflüssig. Wenn es gelingt, die Waffenproduktion abzuschaffen und statt dessen Gerätschaften herzustellen, die die Ausbreitung der Zivilisation fördern, wenn das Interesse an der Beseitigung des Gegners umschlägt in ein Interesse an der Wohl-fahrt der Mitmenschen, dann würde die ganze Welt von diesem Sinneswandel profitieren. Sechstens läßt sich sagen, daß die Konzeption einer solchen Weltregierung nutzbringender, rechtschaffener und wohltätiger wäre als irgendein Regierungskonzept der Vergangenheit oder der Gegenwart. Sie könnte die Weltgeschichte zum Guten wen-den und den Menschen Zufriedenheit bringen. 2. Nachdem die Streitkräfte der Einzelstaaten allmählich ab-geschafft worden sind, kann man auch daran gehen, die gemein-schaftlichen Truppenverbände nach und nach abzubauen. Das Endziel bleibt die Beseitigung sämtlicher Streitkräfte. 3. Monarchen, deren Herrschaftsbereiche schon lange konstitu-

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tionell regiert werden, besitzen keine Gewalt mehr. In solchen Fällen sind die Monarchen lediglich wohlhabende und hoch-geschätzte Einzelpersonen. Obwohl Titel wie Kaiser, Kaiserin und dergleichen erblich sind, lassen sie sich in Anredeformen wie >Hoheit< oder >Exzellenz< umwandeln; man könnte die Titel auch gänzlich abschaffen, nachdem die zur Zeit regierenden Mon-archen verstorben sind, besonders wenn kein Thronerbe vor-handen ist. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß sich das Prinzip der Gleichheit aller Menschen nicht mit monarchischen Titeln vereinbaren lassen wird, besonders in Hinblick darauf, daß die historischen Herrscher oft rücksichtslose Despoten gewesen sind. Künftigen Thronerben werden die verhaßten Herrschertitel abgesprochen werden müssen. 4. (Die Nationalsprachen müssen abgeschafft werden, da sie ein Haupthindernis auf dem Wege zur Vereinheitlichung der Welt darstellen.) S. Die Erde soll in zehn Kontinente aufgeteilt werden. Europa bleibt als Kontinent bestehen. China, Japan, Korea, Annam, Siam und Burma sollen sich zum Ostasiatischen Kontinent zu-sammenschließen. Die Südseeinseln sollen von diesem Kontinent abhängige Gebiete werden. Das sibirische Territorium soll den Namen Nordasiatischer Kontinent erhalten. Zentralasien, be-ginnend am Kaspischen Meer, soll sich mit Indien zum West-asiatischen Kontinent zusammenschließen. Ganz Amerika, bestehend aus Nord-, Mittel- und Südamerika, soll in drei Kontinente aufgeteilt werden. Australien soll ebenso wie Afrika als Kontinent erhalten bleiben. Jeder Kontinent soll ein Auf-sichtsorgan mit Regierungsfunktion erhalten. Die innerhalb der Kontinente noch vorhandenen Einzelstaaten sollen Beauftragte wählen, die solche kontinentalen Regierungsämter verwalten. Die kontinentalen Aufsichtsorgane werden überflüssig, sobald es keine Einzelstaaten mehr gibt. 6. Um die Selbstverwaltung innerhalb natürlich begrenzter Ge-biete sicherzustellen, soll jeder große Einzelstaat in mehrere kleinere politische Teilgebiete aufgegliedert werden. Auch eine örtliche Selbstverwaltung soll sich konstituieren. Die neugeschaf-

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fenen Gebiete sollen ihre alten Staatsbezeichnungen ablegen und neue Namen erhalten, die sich von den geographischen Grenzen herleiten. Die Kontinente sollen in mehrere solcher Gebiete aufgeteilt werden. 7. Der Erdball soll in hundert Breitengrade aufgeteilt werden, je fünfzig Grade nördlich und südlich des Äquators. Ebenfalls soll eine Längeneinteilung in hundert Grade erfolgen. Jeder Grad soll in zehn Minuten nach Länge und Breite aufgegliedert werden, so daß sich innerhalb eines Quadrats hundert Minuten-quadrate bilden, die durch die Nordsüd- und Ostwestrichtung voneinander abgegrenzt sind. Jede Minute soll in zehn Li (Meilen) nach jeder Richtung unterteilt werden, so daß sich in jedem Minutenquadrat hundert Einzelquadrate ergeben. Die so nach Graden, Minuten und Li aufgeteilten neuen Gebiete sollen kartographisch erfaßt werden, und die innerhalb der Gebiete wohnhaften Personen sollen nach ihrem Aufenthaltsgebiet als >Menschen des Planquadrats Soundso< registriert werden. Unterhalb des Längenmaßes Li würde dann eine weitere Auf-teilung in zehn Liang nach beiden Richtungen erfolgen; jedes Liang würde in zehn Yin, jedes Yin in zehn Chang, jedes Chang (>Klafter<) in zehn Ch'ih und jedes Ch'ih (>Fuß<) in zehn Ts'un (>Zoll<) unterteilt werden. Alle alten Maße und Gewichte beruhen auf dieser Einheit Ts'un, besonders die Maß- und Gewichtsbestimmungen von Metallen. Die gesamte Erde wird somit in ho 000 Planquadrate nach der Gradbestimmung aufgeteilt. Dies entspricht einer Einteilung nach einer Million Quadratminuten, hundert Millionen Quadrat-Li, zehn Milliarden Quadrat-Liang, einer Billion Quadrat-Yin, hundert Billionen Quadrat-Chang, zehntausend Billionen Qua-drat-Ch'ih und einer Trillion Quadrat-Ts'un. Jeder Grad wird etwa die doppelte Größe der jetzigen Erdgrade haben. Diese Gradeinteilung wird dann die Gebietsgrenzen bestimmen, und alle Ortsbestimmungen werden sich nach der Lage innerhalb der Planquadrate richten. Wenn einmal die Zeit kommt, wo die ganze Erde bevölkert ist, dann wird es keinen Streit zwischen den Einzelstaaten mehr geben, weil sie nicht mehr existieren

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und statt dessen die Verwaltungsbehörde eines durch die Grad-einteilung gebildeten Gebietes die Regierungsfunktion über-nommen hat. 8. Die Zeitrechnung soll mit der Konstituierung der >Großen Gemeinschaft< beginnen. Eine Weltzeitrechnung soll ihren An-fang nehmen, die keinen Platz hat für die Zeitbestimmung nach Daten, die auf Religionsstifter oder Monarchen zurückgehen. Im Zuge der Vereinheitlichung sollen dann historische Daten nach der Jahreszahl vor der Gründung der Großen Gemein-schaft bestimmt werden. 9. Maß- und Gewichtsbestimmungen sollen auf der ganzen Welt vereinheitlicht werden. Andersartige Systeme oder Be-zeichnungen sind abzuschaffen.

c). (Für alle Bezeichnungen soll das Dezimalsystem übernom-men werden; andere Meßsysteme sind abzuschaffen, da das Dezimalsystem in seiner Anwendung zeit- und kraftsparend ist.)

f. Auf der ganzen Welt soll eine einheitliche Schrift- und Gebrauchssprache eingeführt werden. Die Verschiedenartigkeit des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks ist abzuschaffen. Zum Zweck der Untersuchung des sprachlichen Ausdrucks der einzelnen Gebiete müßte ein der Erde nachgebildeter, kugel-förmiger Klangraum konstruiert und in der Luft aufgehängt werden, der einen Durchmesser von mehreren hundert Metern besitzt. Mehrere Personen aus jedem Planquadrat müßten in den Unterabteilungen dieses Klangraumes vorsprechen, wenn sprachliche Unterschiede vorhanden sind; sind solche Unter-schiede nicht erkennbar, dann genügt jeweils eine Person für den Zweck der Untersuchung. Nachdem somit Vertreter sämtlicher Volksgruppen der Welt — zivilisierte und unzivilisierte Sprach-gruppenvertreter — in diesem großen Klangraum zusammen-geführt worden sind, sollen Philologen und Fachgelehrte für Akustik die sprachliche Ausdrucksweise der Versuchspersonen untersuchen. Diese Sachverständigen sollen dann die einfachste und klarste Ton- und Sprechkonstruktion als neue Weltsprache formulieren. Die am leichtesten verständlichen Sprechlaute sol-

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len die Grundelemente eines neuen Alphabets werden. Konkrete Begriffe sollen auch einen begrifflichen Schriftausdruck finden, während Abstrakta in der am leichtesten verständlichen Schrift-form aus den bisher verwendeten Sprachen festgelegt werden. Es würde ein großer Vorteil sein, wenn zur Vermeidung unnöti-ger Energieverschwendung die chinesische Sprache unter Hinzu-fügung eines Alphabets als neue Weltsprache Eingang finden könnte. Wenn man die Erleichterung des sprachlichen Ausdrucks im Auge behält, dann stellt sich die chinesische Sprache und Schrift als Vereinfachung dar, da es für eine Sache nur eine Bezeichnung gibt, ein Schriftzeichen für einen Begriff und einen Laut für ein Schriftzeichen. In Indien und in Europa gibt es mehrere Ausdrucksweisen für die gleiche Sache, mehrere zusam-mengestellte Schriftzeichen für einen Begriff und mehrere Laute für eine Schriftzeichenkombination. Aus diesem Grunde ist die chinesische Ausdrucksweise einfacher als diejenige Indiens, Euro-pas und Amerikas. Ein Buch oder ein Brief kann im Chinesi-schen weitaus schneller verfaßt werden als in den europäisch-amerikanischen oder den indischen Sprachen. Wenn man die Bedeutung der Sprache in ihrer historischen Entwicklung als geschäftliches und persönliches Ausdrucksmittel betrachtet, so hat das Chinesische eine viel längere Geschichte hinter sich als die Sprachen Indiens, Europas und Amerikas. Im Chinesischen gibt es allerdings nicht Ausdrucksformen für verschiedene neue Be-griffe, und die entsprechenden europäischen und amerikanischen Bezeichnungen müßten ergänzend hinzugefügt werden. Vergleichbar mit dem Pekinger Dialekt und noch besser als die-ser bringen jedoch die französische und die italienische Sprache die Vokale klar zum Ausdruck. Wenn man das bestmögliche Klangbild einer neuen Weltsprache schaffen will, dann muß man die reinsten und klarsten Töne zugrunde legen, harmonische und gewissermaßen musikalische Klänge anstreben. Sprachen, die klangreich rein und gut ausgeformt erscheinen, werden im allgemeinen in Gebieten zwischen den vierzigsten und fünfzig-sten Breitenkreis gesprochen. Eine neue, vereinheitlichte und schnell erfaßbare Weltsprache ließe sich schaffen, indem man

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chinesische Sachbegriffe zugrunde legt, die Laute jedoch durch Alphabetzeichen darstellt und eine einfache Schreibweise erfin-det. Wilde Tiere leben auf der Erde, deshalb sind ihre Laute auch verworren; Vögel leben in den Lüften, weshalb ihr Singen auch klar klingt. So kann man die Sprechweise der in den Tropen lebenden Völker auch als verworren und tierähnlich primitiv betrachten, während die Laute der Polarvölker klar wie Vogelzwitschern klingen. Deshalb sollten die phonetischen Klänge der vereinheitlichten Weltsprache solchen Lautbildern entnommen werden, die den Volkssprachen der zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Breitenkreis ansässigen Menschen zugehören. Wenn einmal das System der neuen Sprache fest-gelegt worden ist, wenn Bücher darüber erschienen sind und die neue Schrift im Unterricht Eingang gefunden hat, dann wird nach einigen Jahrzehnten die neue Ausdrucksform auf der gan-zen Welt verbreitet sein. Die bisherigen Nationalsprachen haben dann ihren Gebrauchswert eingebüßt, und bisher ge-bräuchliche Schriftformen werden nur noch dokumentarische Bedeutung haben und zu Forschungszwecken dienen. 52. (Die Durchsetzung der Großen Gemeinschaft erfordert auch eine Reform des Kalenders und anderer Zeitmessungsmethoden. Der Mondkalender geht auf die Antike zurück, während der Sonnenkalender auf der späteren Erkenntnis beruht, daß die Erde die Sonne umkreist. Im Chinesischen sollte das Jahr mit den Begriffen >Nien< oder >Ch'i< erfaßt werden, anstelle der Bezeichnung >Sui<, da diese auf der Vorstellung beruhte, daß die Sterne die Erde umkreisten. Es besteht im übrigen keine Notwendigkeit, das Jahr mit dem ersten Tag eines bestimmten Monats beginnen zu lassen, da auch jeder andere Tag des Jahres als Beginn der Sonnenumkreisung eingesetzt werden könnte. Statt dessen könnte die Tagesbestimmung unter Zugrundelegung der Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen erfolgen. Hierbei wäre ein Jahresbeginn am Tag des Frühlingsanfangs zweck-mäßig, da dieser Zeitpunkt überall auf der Erde gleich ist und da er mit dem Erwachen des Lebens zusammenhängt. Die vier Jahreszeiten könnten als vier >Umkreisungsabschnitte< bezeich-

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net werden, anklingend an die Umkreisung der Sonne durch die Erde und an das Wandern der Erde von der ersten Tagund-nachtgleiche zur ersten Sonnenwende und weiter zur zweiten Tagundnachtgleiche und zum zweiten Sonnenwendepunkt. Für die Menschen der Antike lag es nahe, den Kalender nach den Mondphasen zu bestimmen. Schwierigkeiten ergaben sich durch die fehlende Übereinstimmung der Bewegungen von Erde und Mond. Der Sonnenkalender gestattet eine genauere Zeit-bestimmung, wenn auch die unterschiedliche Anzahl der Tage, die auf die einzelnen Monate entfallen, den Kalender absurd erscheinen läßt. Sobald die Ära der Großen Gemeinschaft in China beginnt, muß der Mondkalender abgeschafft werden. Der Wechsel dürfte der chinesischen Bevölkerung nicht ganz leicht-fallen, da sie sich seit vielen Jahrhunderten an ihn gewöhnt hat. Als Zwischenlösung bietet sich die zeitweilige Verwendung des alten moslemischen Mond-Sonnen-Kalenders an. Wie bei allen zu messenden Einheiten soll auch der Tag nicht in zwölf Tages- und Nachtstunden, sondern nach dem Dezimal-system eingeteilt werden. Demgemäß würde es zehn Stunden geben, die jeweils in zehn Untereinheiten einzuteilen sind; auch die Untereinheiten sollen aus je zehn gleich kurzen Zeiteinheiten bestehen. Hiervon ist schon im >Tso Chuan< die Rede. Die Dauer der Woche soll weiterhin sieben Tage betragen; wenn dies auch ein Durchbruch des Dezimalsystems darstellt, so hat sich doch dieser Zeitabschnitt im Laufe der Geschichte fest ein-gebürgert. Die Menschen brauchen nach mehreren Arbeitstagen einen Ruhetag, der nach fünf Tagen noch nicht erforderlich scheint, aber nach neun Tagen schon überfällig wäre. In jeder Stadt und an den Hauptstraßen soll es Zeittürme geben. Aus ihnen soll der jeweilige Stand der Sonne und der Erde ersichtlich sein, und durch graphische Darstellungen an den vier Turmseiten soll die astronomische Zeit, auch in bezug auf den Stand der wichtigsten Sterne, erkennbar sein. Es soll auch kleine Zeitmesser geben, die die Menschen bei sich tragen und in ihren Wohnungen aufstellen. Dies läßt sich durchführen, auch ohne die einfache Bevölkerung zu verwirren, die noch an dem Mond-

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kalender festhält. Die Vorteile des neuen Zeitmessungssystems werden gerade im Vergleich zu den alten Methoden bald all-gemein anerkannt werden. Bei den einzelnen Völkern hat es im allgemeinen drei verschie-dene Bezugstermine gegeben, die als Beginn einer Zeitrechnung galten. Der Anfang der Regierungszeit des regionalen Herr-schers ist der erste Bezugstermin; die zweite Möglichkeit, eine Zeitrechnung zu beginnen, war die Thronbesteigung eines Kai-sers, während die Geburt eines Religionsstifters eine dritte Möglichkeit darstellt. Anhand historischer Zeitbestimmungen läßt sich belegen, daß die ersten beiden Methoden Verwirrung und Unsicherheit in die kalendermäßige Festlegung eines Da-tums gebracht haben. Eine Zeitrechnung, die auf der Erinnerung an einen Religionsstifter fußt, hat generell Aussicht auf Bestand, denn die monarchische Regierungsform hat sich überholt und wird innerhalb des kommenden Jahrhunderts abgeschafft wer-den. Allerdings gibt es viele Religionen auf der Welt, und es läßt sich leicht voraussagen, daß die Anhänger der einen Reli-gion ihren Anspruch auf ihre eigene Zeitrechnung nicht zugun-sten einer anderen Religion aufgeben würden. Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, und gerade in diesem Zusammenhang läßt sich ein Mehrheits-beschluß nicht durchführen. Nach der Vereinigung der Welt und Vereinheitlichung der Verhältnisse wird die Gleichschaltung aber auch die Religion erfassen. Der Universalglaube ließe sich dann mit >Feng-t'ien<, einem Himmelsdienst, umschrieben. Die Zeitrechnung sollte je-doch nicht nach der Einführung einer solchen Universalreligion, sondern nach der Errichtung der Großen Gemeinschaft begon-nen werden. Problematisch wäre die Festlegung eines bestimm-ten Datums, da der Beginn der Weltära schwerlich zu präzisie-ren ist. Man könnte vorschlagen, den Beginn der Ära der Großen Gemeinschaft auf den Frühlingsanfang des Jahres fest-zulegen, in dem der erste große Schritt auf diesem Wege erfolgt ist. Das Jahr des Zusammentritts der Ersten Haager Konferenz könnte als Beginn der Weltära angesehen werden, denn es stand

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auch am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach der Zeit-rechnung des Westens und entsprach dem chinesischen >Keng-tzu<, dem Jahr des Wechsels und des Anfangs. Alle historischen Daten müßten, ausgehend von dieser neuen Zeitrechnung, geän-dert werden.) Die Fortschritte auf dem Wege zur >Großen Gemeinschaft< sind in vielfältiger Weise anzustreben, auf dem Wege über Konfe-renzen und Zusammenschlüsse. Man kann noch nicht die Rechts-verhältnisse für die Ära des Friedens und der Gleichheit end-gültig vorausbestimmen, da in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Veränderungen erforderlich sein wird. Anhand einer Ta-belle der Drei Zeitalter möchte ich die Entwicklung zur >Großen Gemeinschaft< aufgliedern. Die folgende Zusammenstellung soll eine Generallinie für die Durchsetzung dieser Bestrebungen darstellen.

Darstellung der Drei Zeitalter, in denen sich die Entwicklung der Welt zur >Großen Gemeinschaft< vollziehen soll

r. Das Zeitalter der Unordnung in dem Stadium, als die ersten Maßnahmen zur Gründung der Großen Gemein-schaft getroffen werden

z. Die alten Staaten verbünden sich

Das Zeitalter der Festigung des Frie-dens und der Gleichheit im Weiterentwick-lungsstadium der >Großen Gemein-schaft<

Neue Gemein-schaftsstaaten wer-den gegründet

Das Zeitalter des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit im Stadium der Voll-endung der >Großen Gemein-schaft<

Die Staaten sind abgeschafft, es gibt nur noch den gemeinschaftlichen Weltstaat

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A 3. Die Regierungen der Einzelstaaten haben noch alle Staatsgewalt inne. Internationale Delegiertenkonfe-renzen unter Einschluß sämt-licher Staaten finden statt

A 4. Fortsetzung der internationalen Gemeinschafts- konferenzen, jedoch noch keine Bildung einer Gemeinschafts-regierung

Die Landgebiete unterstehen den Staaten; die Meere gehören keinem Herrschaftsbereich an

A 6. Nach Beschluß-fassung auf inter-nationalen Konfe-renzen schließen sich die Einzelstaa-ten zusammen

A S.

In den zusammen-geschlossenen Staaten werden erstmalig Gemein-schaftsregierungen gebildet, deren Mitglieder durch ein gemeinschaft-liches Parlament ernannt werden

Teile der Territo-rien der Einzel-staaten werden der Gemeinschafts-regierung unter-stellt, ebenso einige Inselgebiete

Die Meere und die kleinen Meeres-inseln werden von der Gemeinschafts-regierung ver-waltet

Einzelstaaten können den Ge-meinschaftsstaaten beitreten; sie dür-fen sich nur noch teilen, aber nicht mehr auf einzel-staatlicher Basis zu Großstaaten zusammenschließen

Die ganze Erde untersteht einer Gemeinschafts-regierung. Verwal-tungsbeauftragte besorgen die Exekutive, Parla-mentarier die Legislative. Sämt-liche Staatsgrenzen sind abgeschafft

Die gesamte Erde wird von der Gemeinschafts-regierung verwaltet

Die Erde ist ein-schließlich der Weltmeere ein gemeinschaftlich verwaltetes Territorium

Alle bisherigen Staaten unterste-hen der Gemein-schaftsregierung. Die bisherigen Staatennamen wer-den abgeschafft

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7. Die Menschen sind Untertanen der alten Staaten

8. Die internationa-len Konferenzen werden von geschäftsführenden Vorsitzenden ge-leitet, unterstehen aber keiner Schirmherrschaft

9. Alle Staaten stehen unter der Leitung von Monarchen oder Präsidenten, die unabhängig voneinander regie-ren

Die Menschen ent-ziehen sich allmäh-lich der alten staatlichen Autori-tät und unter-stellen sich der Gemeinschafts-regierung

Die Gemeinschafts-regierung hat einen geschäfts-führenden Vorsit-zenden, aber keinen Staatspräsi-denten oder Monarchen. Ein Monarch darf nicht als Vorsitzender fungieren

Die meisten Staa-ten werden von Präsidenten, manche noch von Monarchen ver-waltet; alle unter-stehen jedoch der Kontrolle durch die Gemeinschafts-regierung

Die alten Staaten bestehen nicht mehr. Die Men-schen werden Weltbürger unter der Gemeinschafts-regierung

Die Gemeinschafts-regierung hat nur Mitglieder und Beauftragte, aber keinen Geschäfts-führer und keinen Präsidenten oder Monarchen. Wich-tige Angelegen-heiten werden durch Mehrheits-beschluß entschie-den

Die Einzelstaaten und Herrschafts-bereiche sind abge-schafft. Regionale Geschäftsführer leiten die Ver-waltungen unter der Kontrolle der Gemeinschafts-regierung

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A io. Die Einzelstaaten sind völlig souve-rän und autonom. Die internatio-nalen Konferenzen haben nur be-ratende Funktion

A r r. Es gibt noch keine Gemeinschafts-regierung. Die internationalen Konferenzen wik-keln sich unter Mitwirkung der Menschen und der Beamten der Einzelstaaten ab

Die Einzelstaaten besitzen nur noch eingeschränkte Souveränität und Autonomie; wich-tige Angelegen-heiten werden durch die Gemein-schaftsregierung entschieden

Die Gemeinschafts-regierung kann sich der Mitwir-kung der Menschen und der Beamten aus den Einzel-staaten nach eige-nem Ermessen bedienen

Es gibt keine Staaten mehr; wichtige Entschei-dungen werden nur noch durch die Volksvertreter getroffen. Die Völker der Welt verwalten sich selbst unter der Oberaufsicht durch die Gemeinschafts-regierung

Sämtliche bisheri-gen Staaten sind abgeschafft. Die vereinigten Völker unterstehen einer Gemeinschafts-regierung und tragen gemeinsam die Verantwortung

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ei 12. Internationale Kongresse finden statt. Gemein-schaftlich regierte Territorien gibt es noch nicht

13. Die internationalen Konferenzen be-fassen sich nicht mit den inneren Angelegenheiten der Einzelstaaten. Die Staaten be-sitzen unein-geschränkte Ho-heit zur Regelung ihrer inneren Verwaltung

Die Gemeinschafts-regierung baut Städte, ernennt Beamte, baut Schiffe und errich-tet Vorratslager, kauft und nutzt Gelände aus dem Besitz der Einzel-staaten — alles mit Einverständnis der Staaten. Ent-sprechende Ver-fügungen werden erlassen

Obwohl die Ge-meinschaftsregie-rung keine Hoheitsrechte aus-übt, werden den-noch die Rechte der Einzelstaaten in bezug auf wich-tige Verwaltungs-funktionen ein-geschränkt, wie im Militär- und Finanzwesen, bei der Post und bei der Gesetzgebung

Die Gemeinschafts-regierung kann überall gemein-nützige Industrien errichten und Ver-waltungsanord-nungen treffen, wie z. B. Errich-tung von Städten oder Lagerhäusern

Die Staaten sind abgeschafft. Die regionalen Ver-waltungsorgane besitzen nur ein-geschränkte Hoheitsrechte, die von Zeit zu Zeit neu festgelegt werden

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A 14. Die internationalen Konferenzen über-nehmen die Ver-antwortung für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit der Einzelstaaten

A i5. Die Beschlüsse der internationalen Konferenzen haben als Gemeinschafts-beschlüsse Vor-rang vor der Gesetzgebung der Einzelstaaten

A 16. Die Einzelstaaten befolgen die Vor-schriften und Be-schlüsse der internationalen Konferenzen

A 17. Einzelstaaten schließen Bündnis-verträge ab

A 18. Einzelstaaten kön-nen Verträge schließen; sie kön-nen Bündnisse abschließen oder aufkündigen

Die Gemeinschafts-regierung ist ver-antwortlich für den Schutz der Einzelstaaten nach innen und außen

Die Gesetzgebung der Gemeinschafts-regierung ersetzt die einzelstaat-lichen Vorschrif-ten; sie ist grund-sätzlich vorrangig

Das gemeinschaft-liche Parlament ratifiziert die Ge-setze der Einzel-staaten

Die Existenz der Einzelstaaten be-ruht sowohl auf Verträgen als auch auf der Gemein-schaftsverfassung

Einzelstaaten dür-fen nicht mehr Verträge schließen oder aufkündigen. Das gleiche gilt für Bündnisse

Nach Abschaffung der Staatsgrenzen hat die Gemein-schaftsregierung uneingeschränkte Schutzhoheit

Die gesamte Erde untersteht einer gemeinschaftlichen Gesetzgebung

Die Gesetze der Gemeinschafts-regierung haben überall Gültigkeit

Nach Abschaffung der Staatsgrenzen gilt nur noch die Gemeinschafts-verfassung

Da es keine Staa-ten mehr gibt, entfällt auch die Möglichkeit, Ver-träge oder Bünd-nisse zu schließen

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19. Internationale Konferenzen haben keine Macht-befugnisse, die Rechte der Einzel-staaten einzu-schränken

2o. Die Regierungs-hoheit verbündeter Staaten erfaßt außenpolitische, jedoch nicht innere Angelegenheiten

21. Einzelstaaten sind souverän; die internationalen Konferenzen üben keine Hoheits-rechte aus

22. Staaten, die an internationalen Konferenzen nicht teilnehmen und deren Beschlüsse nicht mittragen, sind zu boykot-tieren

Die Gemeinschafts-regierung hat die Befugnis, Rechte der Einzelstaaten einzuschränken

Die Befugnisse der Gemeinschafts-regierung erfassen die Außenpolitik der Einzelstaaten, nach und nach aber auch die Innen-politik

Die Gemeinschafts-regierung delegiert Hoheitsrechte an die Einzelstaaten

Staaten, die die Beschlüsse der Gemeinschafts-regierung nicht übernehmen, sind wie Rebellen zu bekämpfen

Trotz des Beste-hens einer Gemein-schaftsregierung bleibt die Auto-nomie der einzel-nen Regionen (Planquadrate) erhalten

Alle Territorien und Bevölkerungs-schichten werden politisch einheit-lich erfaßt

Nach Abschaffung der Staaten liegen alle Hoheitsrechte bei der Gemein-schaftsregierung

Da alle Menschen Bürger eines Welt-staates geworden sind, gibt es keine Rebellionen mehr

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A 23. Die an internatio-nalen Konferenzen nicht teilnehmen-den Staaten werden der Vor-teile der Kon-ferenzbeschlüsse nicht teilhaftig

Internationale Verwaltungs-behörden haben noch keine Rechte, auf die Gesetz-gebung der Einzel-staaten Einfluß zu nehmen

Gegen die Gemeinschafts-regierung rebellie-rende Staaten sind als Aggressoren zu unterwerfen

Die Gemeinschafts-regierung besitzt uneingeschränkte Autorität und überwacht die Gesetzgebung in den Einzelstaaten

Aufständische Gruppen oder Einzelpersonen, die sich Hoheits-rechte anmaßen, sind wie Kriminelle zu behandeln

Die einzelstaatliche Gesetzgebung ist abgeschafft; die Gesetzgebungs-kompetenz liegt bei der Gemein-schaftsregierung. Machtbefugnisse werden an die Ver-waltungsorgane der Regionen und Planquadrat-Gebiete delegiert

A 24.

B 1. Die Gesetzgebungs- kompetenz obliegt den Einzelstaaten. Die internationalen Konferenzen ent-scheiden nur über zwischenstaatliche Angelegenheiten

Obwohl die Kom-petenz zur Gesetz-gebung den Ein-zelstaaten noch nicht entzogen wurde, erhalten Ober- und Unter-haus des Gemein-schaftsparlaments Kompetenzen zu gemeinschaftlicher Gesetzgebung

Gemeinden und Regionen erhalten Selbstverwaltungs-rechte und regio-nale Amtshoheit; globale Richtlinien werden jedoch von Ober- und Unterhaus des Gemeinschafts-parlaments nach öffentlicher Dis-kussion erlassen

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2. Die internationalen Konferenzen be-raten über wich-tige internationale Rechtsangelegen-heiten, die von den Einzelstaaten zur Sprache gebracht werden. Auch andere Fragen der Ver-waltung können seitens der Regie-rungen zur Dis-kussion gestellt werden

3. Die von den inter-nationalen Kon-ferenzen aufgestell-ten Richtlinien werden von den Parlamenten der Einzelstaaten bera-ten; einschlägige Gesetze werden von den Ober-häuptern der Ein-zelstaaten unter-zeichnet und verkündet

Die Gemeinschafts-regierung und das Gemeinschafts-parlament beraten über strittige Rechtsfälle und divergierende Gesetzgebung innerhalb der Ein-zelstaaten

Die von der Gemeinschafts-regierung beschlos-senen Gesetze werden von den Parlamenten der Einzelstaaten rati-fiziert und von Staatsministern unterzeichnet; nach Mehrheitsbeschluß werden sie ver-kündet. Gegebe-nenfalls müssen noch die Staats-oberhäupter vor der Verkündung zustimmen

Die Gemeinschafts-regierung berät und erläßt all-gemeingültige Ge-setze und sorgt für deren Durch-setzung. Jedes Jahr werden all-gemeine oder regionale Verwal-tungsfragen neu erörtert und ent-schieden

Die von der Gemeinschafts-regierung beschlossenen Ge-setze werden von den zuständigen politischen Orga-nen unterzeichnet; nach mehrheit-licher Zustimmung werden sie ver-kündet

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B 4. Wenn eine Zwei-drittelmehrheit der Delegierten einer internationalen Konferenz der Änderung eines Gesetzes zustimmt, dann kann es geändert werden. Zur Inkraftsetzung ist eine Zwei-drittelmehrheit beim Regierungs-beschluß der Einzelstaaten erforderlich

B 5. Internationale Konferenzen fin-den turnusmäßig alle paar Jahre statt. Auch Sonder-konferenzen kön-nen einberufen werden, wenn mehrere Staaten über wichtige Angelegenheiten konferieren wollen

Wenn eine Zwei-drittelmehrheit der Parlamente der Einzelstaaten der Änderung eines Gemein-schaftsgesetzes zu-stimmt, dann kann es geändert wer-den. Zur Inkraft-setzung ist eine Zweidrittelmehr-heit im Gemein-schaftsparlament erforderlich

Das Gemeinschafts-parlament wird einmal im Jahr einberufen. Eine Sondertagung kann stattfinden, wenn mehr als die Hälfte der Einzel-staaten dies bean-tragt

Nach Abschaffung der einzelstaat-lichen Gesetz-gebung gibt es nur noch die Gesetz-gebungskompetenz des Gemeinschafts-parlaments nach dem Majoritäts-prinzip. Regionale Gemeinschafts-institutionen ver-walten lokale Angelegenheiten

Die Sitzungs-periode des Gemeinschafts-parlaments dauert das ganze Jahr an. Vor öffentlichen Wahlen finden jedoch keine Sit-zungen statt, die Mitglieder befin-den sich in ihren Wahlkreisen

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6. Es finden inter-nationale Kon-gresse statt; diese haben jedoch keine Ober- und Unter-häuser. Die von ihnen gefaßten Beschlüsse unter-liegen der Zustim-mungskompetenz der Regierungen

7. Die von den teil-nehmenden Regie-rungen entsandten Delegierten müssen Regierungsbeamte sein

Das Gemeinschafts-parlament besteht aus Ober- und Unterhaus. Vor Inkraftsetzung einer Verordnung müssen beide Häu-ser ihre Zustim-mung erteilen. Gegebenenfalls müssen die Einzel-staaten die Ver-ordnung gegen-zeichnen, um sie in Kraft setzen zu können

Das Oberhaus des Gemeinschafts-parlaments setzt sich aus Regie-rungsbeamten zusammen; das Unterhaus setzt sich je zur Hälfte aus gewählten Volksvertretern und gewählten Beamten zusam-men

Da es keine Einzel-staaten mehr gibt, entfällt auch die Wartezeit: Nach Beratung und Ver-abschiedung wird eine Verordnung sofort in Kraft gesetzt

Sämtliche Mitglie-der des Parlaments werden öffentlich gewählt von der gesamten Welt-bürgerschaft

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B 8. Die Konferenz-teilnehmer besitzen die doppelte Funktion als Dele-gierte und Beamte der Einzelstaaten

B 9. Jede Staatsregie-rung entsendet einen Konferenz-delegierten. Die Anzahl kann sich bis zu drei Dele-gierten bei großen Staaten erhöhen

B 1o. Die Delegierten vertreten ihre Heimatstaaten

Mitglieder des Gesamtparlaments müssen Staats-angehörige der Einzelstaaten sein; Angehörige nicht-beteiligter Staaten dürfen nicht ins Gesamtparlament einziehen

Die Mitglieder des Oberhauses — je zwei Delegierte aus jedem Staat —werden von den Regierungen ernannt bzw. den Parlamenten gewählt. Die Mit-glieder des Unter-hauses werden vom Volk der Ein-zelstaaten gewählt; die Anzahl richtet sich nach der Bevölkerungszahl

Die Mitglieder des Oberhauses ver-treten ihre Heimat-staaten; die Unter-hausmitglieder vertreten die Welt-bevölkerung

Jede Region wählt öffentlich im je-weiligen Gebiet seit langem an-sässige Vertreter ins Gesamtparla-ment

Da es keine Staa-ten mehr gibt, werden die Mit-glieder des Ober-hauses von den Planquadratgebie-ten gewählt; die Unterhausmitglie-der werden gemäß der Bevölkerungs-zahl jeder Region gewählt

Die Mitglieder des Gemeinschafts-parlaments ver-treten nur die Weltbevölkerung und keine beson-dere Region mehr

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3 i I. Die internationa-len Konferenzen haben keine ein-geschränkte Dele-giertenamtszeit

3 12. Die internationa-len Konferenzen können einen Prä-sidenten haben

3 13. Der Präsident und der Generalsekretär werden nach öffentlicher Ab-stimmung gewählt; die Mehrheit der Stimmen ent-scheidet

3 14. Die Delegierten werden von ihren Heimatstaaten entlohnt

Die aus den ein-zelnen Staaten stammenden Par-lamentsmitglieder werden jährlich oder, falls es zweckmäßiger erscheint, alle drei Jahre gewählt

Das Gemeinschafts-parlament hat keinen Präsidenten; Beschlüsse werden mit Mehrheit gefaßt

wie rechts

Die Parlaments-mitglieder bezie-hen Gehälter von der Gemeinschafts-regierung

Die Parlaments-mitglieder werden entweder alle drei Jahre oder, falls es zweckmäßiger erscheint, jährlich gewählt

Das Gemeinschafts-parlament hat kei-nen Präsidenten; Mehrheits-beschlüsse führen zur Verabschie-dung oder zur Ablehnung von Gesetzesvorlagen

Es gibt keinen Parlamentspräsi-denten; Beschlüsse werden öffentlich und mehrheitlich gefaßt

wie nebenstehend

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B i5. Die Qualifikatio-nen der Delegier-ten werden von ihren Staatsregie-rungen beurteilt; wenn sie sich gesetzwidrig ver-halten, werden sie in ihren Heimat-staaten vor Gericht gestellt

B i6. Die Delegierten unterstehen der Gerichtsbarkeit ihrer Heimat-staaten

Wenn ein Dele-gierter sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, kann er von seinem Staat abberufen werden; er darf jedoch nicht am Konferenzort strafverfolgt wer-den

Die Qualifikatio-nen der Parla-mentsmitglieder werden vom Gemeinschafts-parlament selbst beurteilt; wenn sich ein Mitglied gesetzwidrig ver-hält, wird es vom Gemeinschafts-parlament ange-klagt

Die Mitglieder des Gemeinschafts-parlaments unter-stehen keiner einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit

Ein Parlaments-mitglied, das sich strafbar gemacht hat, darf nicht von seinem Heimat-staat abberufen und bestraft wer-den. Die Straf-verfolgung ge-schieht auf Veranlassung des Gemeinschafts-parlaments

wie nebenstehend

Die Mitglieder des Gemeinschafts-parlaments ver-lieren bei gericht-licher Unter-suchung nicht ihren Sitz Ein Parlaments-mitglied, das schuldhaft gehan-delt hat, darf nicht von Gerichts-behörden straf-verfolgt werden. Das Gesamtparla-ment selbst ver-handelt öffentlich über den Fall

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Page 108: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

17. Ein schuldig gesprochener Dele-gierter wird durch seinen Staat mit Strafe belegt

18. Wenn ein Delegier-ter eines Einzel-staates sich als untauglich erweist oder krank wird, wird er durch Beschluß seiner Regierung durch einen anderen ersetzt

Ein schuldig ge-sprochenes Parla-mentsmitglied kann durch das Gemeinschafts-parlament bestraft werden, ohne daß hierfür das Ein-verständnis des Staates erforderlich ist. Die Bestrafung wird rechtsgültig, wenn zwei Drittel der Mitglieder dem Schuldspruch zustimmen

Bei Ausfall eines Parlamentsmit-gliedes wird seitens des Heimatstaates für einen Ersatzmann gesorgt. Die Parlamente der Einzelstaaten wäh-len die Mitglieder des Oberhauses; das Unterhaus wird von der Bevölke-rung gewählt. Die Staatsregierung kann außerhalb der parlamentarischen Sitzungsperiode vorübergehend einen Ersatzdele-gierten ernennen

wie nebenstehend

Bei Ausfall eines Parlamentsmitglie-des, z.B. durch Krankheit, werden in der Heimat-region des Abge-ordneten Neu-wahlen abgehalten

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Page 109: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

B 19. Die internationa-len Konferenzen werden von Dele-gierten aus den einzelnen Staaten beschickt; den Kon-gressen unter-stehen aber keine Verwaltungsorgane

Da alle Konferenz-teilnehmer von den Einzelstaaten delegiert werden, sollen die Staaten nur solche Dele-gierten bestimmen, die als verantwort-liche Minister ihre Staaten repräsen-tieren können

Die Verwaltungs-organe der Ge-meinschaftsregie-rung werden von den Parlaments-mitgliedern der einzelnen Staaten öffentlich gewählt. Jeder Verwal-tungsleiter muß zumindest von drei Staaten unter-stützt werden. Falls noch viele Einzelstaaten exi-stieren, dann müssen fünf Staa-ten einer solchen Wahl zustimmen. Großmächte dür-fen auch mehrere leitende Beamte in die Gemeinschafts-regierung ent-senden Sowohl verant-wortliche Minister als auch Parla-mentsmitglieder können die Inter-essen ihrer Staaten vertreten

Die Verwaltungs-organe der Ge-meinschaftsregie-rung werden vom Ober- und Unter-haus des Parla-ments gemein-schaftlich gewählt

Verdiente Persön-lichkeiten aus der ganzen Welt kön-nen bei Sitzungen ihre Ansichten vertreten

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3 2o. Die internationa-len Konferenzen beschäftigen keine Beamten

Die Gemeinschafts-regierung hat Beamte. Der Vor-sitzende der Ge-meinschaftsregie-rung hat das Recht, diese zu entlassen, zu degradieren, aber auch einzu-stellen und zu be-fördern. Ihre amt-liche Stellung in den Heimatstaaten wird hiervon aber nicht berührt

Die Beamten der Gemeinschafts-regierung werden von deren Vorsit-zenden degradiert oder befördert. Amtliche Sonder-rechte können von ihnen nicht ver-treten werden, da es keine Staaten mehr gibt

I. Wenn internatio-nale Konferenzen wichtige postalische und telegraphische Dienste beanspru-chen, kann die entsprechende Dienstleistung in den Einzelstaaten erbeten, aber nicht erzwungen werden

Die Post- und Telegraphendienste der Einzelstaaten unterstehen bei wichtigen Vor-haben der Gemein-schaftsregierung oder dem gemein-schaftlichen Beauf-tragten. Bei Ein-spruch eines gro-ßen Staates kann die Gemeinschafts-regierung die Durchsetzung die-ser Maßnahme zurückstellen

Alle Post- und Telegraphendienste unterstehen der Gemeinschafts-regierung

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C 2. Post- und Tele-graphendienste arbeiten zusam-men; außerhalb dieses internatio-nalen Netzwerks gibt es jedoch Staa-ten und Regionen, die an Nachrichten-verbindungen nicht angeschlossen sind

C 3. Die Einzelstaaten organisieren und erheben Gebühren für ihre eigenen Post- und Tele-graphendienste

C 4. Eisenbahnen, Kanäle, Grenz-anlagen und Stra-ßen können kein zusammenhängen-des Netzwerk ergeben Auf Grenzflüssen und -kanälen ist der Schiffsverkehr behindert

Post- und Tele-graphendienste aller Staaten sind miteinander ver-flochten

Die Gemeinschafts-regierung über-nimmt die Kosten für Post- und Tele-graphendienste und erhebt Gebüh-ren dafür

Eisenbahnen, Grenzanlagen und Straßen können so angelegt wer-den, daß ein Netz-werk entsteht

Auf Grenzflüssen und -kanälen ist der Verkehr nicht mehr behindert

Da es keine staat-lichen Verwaltun-gen mehr gibt, unterstehen sämt-liche Post- und Telegraphendienste einer gemeinschaft-lichen Leitung

Alle Gebühren für Post- und Tele-graphendienste fließen der Gemeinschafts-regierung zu

Nach Abschaffung der Staatsgrenzen werden die Ver-kehrsverbindungen vereinheitlicht

Alle Verkehrsver-bindungen sind vereinheitlicht

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5. Die Eisenbahnen sind nicht inter-nationalisiert

Die Betriebs-bedingungen und Gesellschafts-formen der einzel-nen Staatsbahnen sind uneinheitlich

Es gibt keine internationale Behörde, die den Eisenbahntransport überwacht und die Preise festlegt

Die Eisenbahnen gehören der Ge-meinschaft, um den Verkehr zu erleichtern. Wenn die Strecken durch Staatsgebiete füh-ren, soll der Bodenkauf ohne Schwierigkeiten erfolgen. Die Staatssouveränität wird hiervon nicht betroffen

Die Gesellschafts-formen und Be-triebsbedingungen der einzelnen Staatsbahnen wer-den allmählich vereinheitlicht

Die Gemeinschafts-regierung ist befugt, Bahn-transportbedingun-gen und Preise zu überwachen. An-gemessene Trans-portgebühren werden behörd-licherseits festgelegt für Steine, Kohle, Erze, Holz, Getreide, Dünge-mittel sowie wich-

Es gibt keine pri-vaten und Staats-bahnen mehr; alle Eisenbahnen unter-stehen der Gemeinschaft

Die Betriebs-bedingungen und Gesellschaftsfor-men der Eisenbah-nen sind überall einheitlich

Wie nebenstehend. In Notzeiten kann die Gemeinschafts-regierung die nied-rigstmöglichen Transportgebühren festlegen

III

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C 6. Jeder Staat sorgt für den Schutz seines Handels- und Transportwesens

C 7. Jeder Staat läßt seine Münzen prä-gen und sein Papiergeld drucken

C 8. Maße und Gewichte sind nicht stan-dardisiert; die internationalen Konferenzen bera-ten über Verein-heitlichung

tige landwirt-schaftliche und industrielle Pro-dukte. Die gesamte Erdbevölkerung zieht aus solchen Bedingungen Vor-teile — mit Ausnah-me von Großstaa-ten, die sich mög-licherweise den Vereinbarungen nicht anschließen

Die Gemeinschafts-regierung schützt den Handel der Einzelstaaten

Die Münzen und die Papiergeld-währung der ein-zelnen Staaten sind vereinheitlicht worden

Die meisten Maße und Gewichte sind vereinheitlicht; die Gemeinschafts-regierung wählt die bestgeeigneten aus, und die Ein-zelstaaten schlie-ßen sich allmählich der Vereinheit-lichung an

Ein Schutz ist nicht mehr erfor-derlich, da es keine Staatsgrenzen gibt

Es gibt keine staat-lichen Währungen mehr. Die Gemein-schaftsregierung läßt Münzen prä-gen und Papiergeld drucken

Maße und Ge-wichte sind völlig standardisiert

112

Page 114: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

9. Copyrights und Patentrechte für neue Bücher und Waren setzen sich allmählich überall durch

o. Der Copyright-schutz setzt sich allmählich überall durch

Maßnahmen zur Gesundheitsfür-sorge und zum Schutz gegen Seuchen werden überall getroffen; sie sind jedoch uneinheitlich

12. Die Reisenden sind an den Staats-grenzen Kontroll-maßnahmen unter-worfen

Copyrights und Patentrechte für neue Bücher und Waren sind über-all anerkannt

Der Copyright-schutz wird überall anerkannt

Die Maßnahmen zur Gesundheits-fürsorge und zum Schutz gegen Seu-chen sind in den Staaten vereinheit-licht worden

Die Kontrollen für Reisende an den Grenzen werden aufgehoben

wie nebenstehend

wie nebenstehend

Nach dem Fallen der Staatsgrenzen gibt es nur noch einheitliche Ge-sundheitsvorsorge-und Seuchen-schutzmaßnahmen

Nach Abschaffung der Staatsgrenzen gibt es keine Kon-trollen mehr

13. Es gibt nicht über- Banken werden

Die Banken unter- all Banken überall eröffnet stehen der

Gemeinschafts-regierung

113

Page 115: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

C 14. Da eine Gemein-schaftsregierung noch nicht existiert, verfügt jeder Staat für sich über seine Steuer-einnahmen

C 15. Die Einzelstaaten können Zölle erheben

C 16. Jeder Staat behält seine Steuerein-nahmen für sich

Die Gemeinschafts-regierung erhebt Steuern für die Seeschiffahrt, da ihr die Meere unterstehen. Falls die Steuereinnah-men nicht ausrei-chen, erhebt die Gemeinschafts-regierung zusätz-liche Abgaben von den Staaten. Groß-staaten können zeitweilig von der Steuerpflicht aus-genommen werden

Versandabgaben werden an die Gemeinschafts-regierung abge-führt

Die Gemeinschafts-regierung entschei-det über die Steuergesetz-gebung in den ein-zelnen Staaten. Sie berät auch über Möglichkeiten zur Linderung von Steuerlasten

Alle Steuern wer-den von der Gemeinschafts-regierung verein-nahmt

Alle Versand-abgaben werden von der Gemein-schaftsregierung vereinnahmt

Die Gemeinden erheben Steuern und führen Teile der Einnahmen an die Gemeinschafts-regierung ab

114

Page 116: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

17. Zölleund Abgaben werden vereinheit-licht und trotz der Grenzen allgemein durchgesetzt. Großstaaten kön-nen hiervon aus-genommen werden

18. Importe und Exporte werden mit Steuern belegt

19. Die Kosten für die Beilegung von Streitigkeiten zwi-schen den einzelnen Staaten werden gemeinschaftlich getragen

20. Die Finanzen der Einzelstaaten wer-den von keiner internationalen Organisation über-prüft

Einheitliche Zölle und Abgaben wer-den erhoben

Importe und Exporte werden mit Steuern belegt

Die Kosten für die Förderung des Handelsverkehrs und der öffent-lichen Gesundheit werden gemein-schaftlich getragen

Die Finanzen der Einzelstaaten wer-den gemeinschaft-lich zuerkannt und periodisch über-prüft

Durch den Wegfall der Staatsgrenzen gibt es keine Zölle und Grenzabgaben mehr

Importe und Exporte sind steuerfrei

öffentliche Wohl-fahrts- und Unterstützungs-zahlungen sowie öffentlicher Ver-kehr fallen zu Lasten der Gemein-schaft. Da die ganze Bevölkerung für die Gemein-schaft arbeitet, werden alle Ein-nahmen und Aus-gaben öffentlich verwaltet

Die Finanzen unterliegen der Verwaltung der Gemeinschafts-regierung

115

Page 117: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

C 21. Die jährlichen Haushaltspläne werden von den Staatsregierungen aufgestellt.

C 22. Unterlagen über die Bevölkerung der Einzelstaaten stehen den inter-nationalen Konfe-renzen nicht zur Verfügung

Die jährlichen Haushaltspläne der Staaten müssen regelmäßig der Gemeinschafts-regierung vor-gelegt werden

Unterlagen über die Bevölkerung der Einzelstaaten müssen der Gemeinschafts-regierung regel-mäßig und wahr-heitsgemäß vor-gelegt werden

Die jährlichen Haushaltspläne aller Gemeinden unterliegen der Kontrolle durch die Gemeinschafts-regierung

Nach Abschaffung der Staaten müs-sen Unterlagen über die Bevölke-rung aller Regio-nen der Gemein-schaftsregierung stets vorliegen

D 1. Hauptberatungs-punkt der inter-nationalen Konfe-renzen ist die Abrüstung. Nach und nach ent-senden alle Staaten Delegierte zu den Abrüstungs-konferenzen

Die Gemeinschafts-regierung entschei-det über Streitig-keiten und unterbindet krie-gerische Verwick-lungen. Die Ein-zelstaaten fügen sich dem Schieds-spruch

Es gibt keine Staa-ten mehr. Rüstun-gen sind abgeschafft worden

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Page 118: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

2. Wenn sich die internationalen Konferenzen dar-auf geeinigt haben, die allgemeine Abrüstung durch-zusetzen, können gegen einen weiter aufrüstenden Staat Zwangsmaßnah-men ergriffen werden

3. Die an den inter-nationalen Ab-rüstungskonferen-zen teilnehmenden Staaten unterhal-ten gemeinschaft-liche Polizei-truppen, deren Beförderung auf den Staatsbahnen jederzeit zu niedri-gen Gebühren möglich ist

4. Jeder Staat kann sein eigenes Heer unterhalten

Wenn ein Einzel-staat die Ab-rüstungsanord-nung der Gemein-schaftsregierung nicht befolgt, kön-nen Truppen der Gemeinschafts-regierung oder der verbündeten Staa-ten die Durch-setzung der An-ordnung erzwingen

Die Gemeinschafts-regierung ist eben-falls zu vorstehen-den Maßnahmen berechtigt

Die Verstärkung der Heere ist ver-boten

Da es keine Staa-ten mehr gibt, ent-fallen jegliche Zwangsmaßnah-men durch Trup-peneinsatz

Nach der Ab-schaffung der Staa-ten gibt es auch keine Truppen mehr

Heere der Einzel-staaten bestehen nicht mehr; die Militärpersonen können nur noch als Polizisten ein-gesetzt werden

117

Page 119: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Desgleichen für Giftstoffe

D 5. Die Staatsangehö-rigen dürfen jeder-zeit zum Militär-dienst einberufen werden

Desgleichen für die Marine aller Staa-ten Desgleichen für Kriegsschiffe Desgleichen für Waffen

Desgleichen für Giftstoffe

Die Gemeinschafts-regierung hat die allgemeine Wehr-pflicht in den Staa-ten abgeschafft. Sie darf nur noch Rekruten anwer-ben

Umwandlung in Seepolizei

Umwandlung in Polizeischiffe Umwandlung der Rüstungsindustrie in landwirtschaft-liche und gewerb-liche Industrie Die Herstellung von Giftstoffen und Vernichtungs-waffen ist streng-stens verboten, Herstellungs-methoden dürfen an niemanden wei-tergegeben werden

Auf der ganzen Erde ist die Wehr-pflicht abgeschafft worden. Nach Erreichung des zwanzigsten Lebensjahres muß jedoch jedermann eine einjährige Dienstpflicht ab-leisten

Desgleichen für die Marine

Desgleichen für Kriegsschiffe Desgleichen für Waffen

8

Page 120: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Die Bevölkerung der einzelnen Staaten trägt die Kosten für den Unterhalt der Streitkräfte

Die jeweiligen Streitkräfte werden von den einzelnen Staaten befehligt

Die Soldaten und Offiziere unter-stehen der staat-lichen Befehls-gewalt

6. Jeder Staat kann eine Marine und Kriegsschiffe unter-halten. Die inter-nationalen Kon-ferenzen beraten über Marine-angelegenheiten

Die Gemeinschafts-regierung hat die Steuerlasten für den Militärhaus-halt abgebaut; die Bevölkerung über-nimmt statt dessen die Kosten für Für-sorgemaßnahmen Obwohl die Streit-kräfte weiterhin der Befehlsgewalt der Einzelstaaten unterstehen, führt die Gemeinschafts-regierung die Oberaufsicht und trifft Maßnahmen zur ständigen Verminderung der Truppen Die Soldaten und Offiziere der Ein-zelstaaten unter-stehen der Ver-fügungsgewalt der Gemeinschafts-regierung

Die Kriegsmarinen werden nach und nach der Gemein-schaftsregierung unterstellt

Die Hälfte der von der Gemeinschafts-regierung erhobe-nen Steuern werden für Fürsorgemaß-nahmen verwendet

Alle Streitkräfte sind abgeschafft worden

Es gibt keine Staa-ten, keine Solda-ten und keine Offiziere mehr —nur noch die Polizei

Die Gemeinschafts-regierung hat alle Kriegsschiffe ab-geschafft; es gibt nur noch Passa-gier-, Post- und Handelsschiffe

119

Page 121: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Handelsschiffe der einzelnen Staaten können zu Kriegs-zwecken verwendet werden

D 7. Jedes Staatsober-haupt befehligt die nationalen Streitkräfte

D 8. Befestigungsanla-gen, Gebirgspässe und strategische Punkte unter-stehen der Kon-trolle der Einzel-staaten

D 9. Es gibt keine inter-nationalen Streit-kräfte

Die Handelsschiffe der einzelnen Staaten gehören der Gemeinschafts-regierung, die ent-sprechende Benut-zungsverfügungen erläßt

Die Gemeinschafts-regierung baut nach und nach die Befehlshoheit der einzelnen Staats-oberhäupter ab

Die Gemeinschafts-regierung über-nimmt die Kon-trolle der Befesti-gungsanlagen, Gebirgspässe und strategischen Punkte. Groß-mächte können eine gewisse Zeit noch von diesen Maßnahmen aus-genommen bleiben

Es gibt internatio-nale Streitkräfte

Da es keine Staa-ten mehr gibt, gehören sämtliche Seefahrzeuge der Gemeinschafts-regierung, und die Seeschiffahrts-bestimmungen werden einheitlich geregelt

Es gibt keine Staa-ten und keine Staatsoberhäupter mehr; also auch keine Befehls-hoheit über Streit-kräfte

Nach Einsetzen des allgemeinen Friedens und nach Abschaffung der Staatsgrenzen wer-den sämtliche Be-festigungsanlagen geschleift

Die internationa-len Streitkräfte werden abgeschafft

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Page 122: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Desgleichen für Kriegsschiffe Desgleichen für Kriegsausrüstungen

io. Es gibt kriegeri-sche Auseinander-setzungen zwischen den einzelnen Staaten, wobei es Verwundete und Tote gibt

I. Der Bevölkerung ist der Waffen-besitz verboten

12. Zwischenstaatliche Streitfälle werden auf internationalen Konferenzen aus-getragen; inter-nationale Gerichte bestehen jedoch noch nicht

Desgleichen für Kriegsschiffe Desgleichen für Kriegsausrüstungen

Die Staaten haben die Kriege abge-schafft. Bei Aus-einandersetzungen gibt es nur noch Gefangene und Verwundete, aber keine Toten mehr

Die Bevölkerung besitzt keine Waf-fen mehr

Zwischenstaatliche Streitfälle werden vor Gerichte der Gemeinschafts-regierung gebracht. Die zivile Gerichts-barkeit obliegt jedoch den Staa-ten. Die Gerichte der Gemeinschafts-regierung entschei-den aber über Streitfälle zwischen Personen verschie-dener Nationalität

Desgleichen für Kriegsschiffe Desgleichen für Kriegsausrüstungen

Nach Abschaffung der Staaten gibt es keinerlei Streit-kräfte mehr

Alle Waffen sind vernichtet worden

Die Gemeinschafts-regierung besitzt eine Gerichtsbar-keit, die über Streitfälle zwischen Personen der ver-schiedenen Regio-nen entscheidet. Zwischenstaatliche Differenzen beste-hen nicht mehr

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Page 123: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

• Streitfälle, die Meeresgebiete be-treffen, können zwischenstaatlich geregelt werden. Solche Fälle kön-nen aber auch auf internationalen Konferenzen erörtert und ent-schieden werden

E 2. Alle zwischen-staatlichen Streit-fälle werden von internationalen Konferenzen beraten

E 3. Die Bevölkerung wagt es nicht, Anklagen gegen die Staatsführung vor den inter-nationalen Konfe-renzen zu erheben

Da die Gemein-schaftsregierung hoheitliche Rechte über alle Meere besitzt, entscheiden Gemeinschafts-gerichte über See-rechtsstreitfälle

Die Gemeinschafts-regierung kann Beamte zur Schlichtung von zwischenstaatlichen Streitfällen ent-senden

Die Bevölkerung kann ihre Staats-führung vor dem Gemeinschafts-parlament verkla-gen

Das ganze Erd-gebiet, Land und Wasser, untersteht der Gemeinschafts-regierung

Wichtige Streit-fälle können durch beamtete Richter entschie-den werden

Die Bevölkerung kann die Verwal-tungsorgane vor dem Gemein-schaftsparlament verklagen

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Page 124: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

4. Auf internationa-len Konferenzen können zwischen-staatliche Streit-fälle, aber keine Anklagen gegen die Staatsober-häupter entschie-den werden

Das Gemeinschafts-parlament ent-scheidet über zwischenstaatliche Streitfälle und kann auch ein Staatsoberhaupt vor Gericht brin-gen, wenn es ver-brecherisch gehan-delt hat. Ein Schuldspruch darf aber nur mit Zwei-drittelmehrheit gefällt werden. Dann darf ein Staatsoberhaupt in seinen Rechten beschränkt oder sogar abgesetzt werden. Ein Appel-lationsverfahren ist zulässig

Das Oberhaus kann die ganze Welt betreffende Streitpunkte ent-scheiden; es kann sich auch mit Ver-fehlungen ange-sehener Persönlich-keiten befassen

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Page 125: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

E S. Die Grundsätze, nach denen Rechts-fälle behandelt werden, sind nicht überall gleich-artig. Die inter-nationalen Kon-ferenzen vertreten keine einheit-lichen Grundsätze zum Zivil- und Strafrecht, zum Handelsrecht, zum Recht der Beweis-aufnahme und zum Prozeßrecht

E 6. Menschen, die kei-nes Vergehens überführt sind, dürfen nicht inhaf-tiert werden. Rechtsfälle werden nicht sofort ent-schieden. Schieds-gerichte und Anwälte stehen nicht überall zur Verfügung

Die Grundsätze, nach denen Rechts-fälle behandelt werden, sind über-all gleichartig. Die Gemeinschafts-regierung berät und beschließt Zivil- und Straf-recht, Handels-recht, Beweisauf-nahmerecht und Prozeßrecht. Alle Staaten richten sich nach gleichen Verfahrensnormen

Ein Angeklagter wird nicht sofort inhaftiert. Unter-suchungen und Gerichtsverfahren müssen unverzüg-lich eingeleitet werden. Der An-geklagte darf Zeu-gen beibringen und Anwälte kon-sultieren

Nach Abschaffung der staatlichen Gerichtsbarkeit verfährt die Justiz überall nach den gleichen Normen. Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit werden einheitlich gehandhabt

Die Menschen be-gehen keine Ver-brechen. Richter werden überflüs-sig, da es keine Anklageerhebung und keine Ver-teidigung mehr gibt. Statt dessen gibt es öffentliche Anhörungs- und Schlichtungsver-fahren

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7. Vergehen können mit Geldstrafen belegt werden; Verbrechen werden hart bestraft

8. Ein Verbrecher kann hingerichtet werden; ein Ver-brechen darf aber nicht doppelt bestraft werden

9. Kapitalverbrechen werden unter Strafe gestellt

I. Die Gesetzgebung gilt nur innerhalb der Staatsgrenzen. Außerhalb ihrer Staaten dürfen die Menschen nicht überall ansässig werden und ge-nießen kein Wahl-recht

Geldbußen werden nicht aufgehoben. Verbrechen wer-den nicht überall hart geahndet

Es gibt keine har-ten Strafmaßnah-men mehr; das Leiden der Verur-teilten wird abge-schafft

Kapitalverbrechen dürfen nicht stren-ger als mit lebens-langer Haft bestraft werden

Die bürgerlichen Rechte in den ein-zelnen Staaten werden einheitlich gehandhabt. Alle Menschen werden ohne Unterschied vom Recht ge-schützt; sie kön-nen nach freier Wahl ihren Wohn-sitz bestimmen und genießen über-all das Wahlrecht

Die Menschen be-gehen keine Ver-brechen mehr; in-folgedessen gibt es keine Bestrafungen mehr. Statt dessen gibt es eine öffent-liche Ächtung

Bestrafungen sind abgeschafft wor-den. Das Leiden der Verurteilten gehört der Ver-gangenheit an

Sämtliche Bestra-fungen sind abge-schafft worden. Es gibt nur noch die öffentliche Ächtung

Alle Menschen sind Bürger der Großen Gemein-schaft. Alle Rechte und Privilegien werden einheitlich gehandhabt

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Page 127: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

F 2. Die Rechte und Privilegien der Menschen unter-liegen der staatlichen Gesetz-gebung; auslän-dische Rechte genießen sie nicht

F 3. Die Menschen dürfen nicht aus ihrem Staat in andere Staaten verziehen

F 4. Die Bevölkerung der einzelnen Staa-ten besitzt in anderen Staaten keinen Sonder-status. Ein flüchti-ger Krimineller muß nicht ausge-liefert werden

F S. Die Staaten ge-währen den Armen der eigenen Nationalität, manchmal auch den Bedürftigen anderer Staaten Unterstützung

Die Menschen unterstehen der Gesetzgebung der Gemeinschafts-regierung. Rechte und Privilegien dürfen nicht durch Gesetze des eige-nen oder fremder Staaten einge-schränkt werden

Die Menschen sind berechtigt, ihren Wohnsitz in einem beliebigen Staat zu nehmen

Die Staaten liefern gegenseitig die Kriminellen aus

Die Gemeinschafts-regierung gewährt allen Bedürftigen Unterstützung

Nur durch Ge-meinschaftsgesetz-gebung dürfen Rechte, Privilegien oder Freiheiten der Menschen ein-geschränkt werden

Nach Abschaffung der Staatsgrenzen dürfen die Men-schen überall siedeln

Es gibt nur noch solche Kriminelle, die sich gegen die Gemeinschaft ver-gangen haben

Die Bedürftigen werden durch Maßnahmen der Gemeinschafts-regierung öffent-lich betreut

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Page 128: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

6. Die Staaten be-treuen die Kranken der eigenen Natio-nalität, manchmal auch Kranke aus anderen Staaten

7. Die Staaten sorgen für die Bestattung der Verstorbenen der eigenen Natio-nalität, manchmal auch für die Bestattung anderer Staatsangehöriger

Menschen können Liegenschaften be-sitzen. Wenn diese für öffentliche Zwecke benötigt werden, müssen sie angekauft werden

8. Verhaftungen oder Beschlagnahmun-gen von Häusern oder sonstigem Eigentum dürfen nicht ohne Anlaß vorgenommen werden. Durch-suchungen oder Festnahmen dürfen nur bei begründe-tem Verdacht erfolgen

Kranke werden in anderen Staaten genauso betreut wie in ihrem eige-nen Staat

Die Verstorbenen der eigenen und fremder Nationa-lität werden ein-heitlich bestattet

Ohne besonderen Anlaß dürfen pri-vate Liegenschaf-ten nicht weg-genommen werden

Die Sitten und Gebräuche haben sich gefestigt. Es kann aber noch Fälle geben, wo Durchsuchungen und Festnahmen erforderlich wer-den

Die Kranken wer-den in öffentlichen Krankenpflege-anstalten versorgt

Die Verstorbenen werden durch öffentliche Insti-tutionen in einer ihrem irdischen Wirken entspre-chenden Weise bestattet

Die Menschen be-sitzen keine priva-ten Liegenschaften

Die öffentliche Moral hat sich ge-festigt; Durch-suchungen und Festnahmen erübrigen sich

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Page 129: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

F 9. Die Menschen haben nicht das Recht völliger Unabhängigkeit

Die Rechte und Privilegien der Menschen sind ein-geschränkt

F io. Die Rechte und Privilegien der Menschen aus den einzelnen Staaten sind uneinheitlich

Die Bevölkerung wird staatlicher-seits besteuert

Die Bevölkerung hat keine voll-ständigen Bürger-rechte

Finanzielle Eng-pässe müssen durch die Bevölkerung überwunden werden

Alle Menschen sind völlig unab-hängig; nur in besonderen Aus-nahmefällen darf eingegriffen wer-den

Die Rechte und Privilegien der Menschen sind nicht eingeschränkt

Die Menschen der einzelnen Staaten gleichen sich all-mählich einander an; die Rassen bleiben jedoch uneinheitlich

Die Bevölkerung verpflichtet sich, öffentliche Aus-gaben zu tragen

Einem Verbrecher werden seine Bürgerrechte ent-zogen

Finanzielle Son-derleistungen wer-den von der Bevölkerung nicht mehr gefordert

Alle Menschen be-sitzen individuelle Freiheit; da es keine Verbrechen mehr gibt, entfällt auch jegliche Ein-schränkung der Freiheit

Jegliche Ein-schränkungen der Rechte und Privi-legien entfallen

Staaten- und Ras-senschranken sind abgeschafft wor-den; alle Menschen sind gleich

Die Bevölkerung wird aus gemein-schaftlichen Mit-teln versorgt

Die Menschen be-gehen keine Ver-brechen; alle besit-zen Bürgerrechte

Alle Bevölkerungs-teile tragen gleiche Lasten

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Page 130: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Die Bürger dür-fen aus rassischen oder körperlichen Gründen nicht mehr ungleich behandelt werden

Alle Staaten unter-binden jegliche Sklaverei

Die Staaten ver-bieten die Sklave-rei; die Menschen dürfen jedoch als Diener tätig sein

Religiöse Fragen und die Himmels-verehrung werden öffentlich disku-tiert; eine >Neue Religion< wird unter Zugrunde-legung der >himm-lischen< Vorstel-lungen aller Weisen begründet

Eine Ungleich-behandlung aus physischen oder das Geschlecht betreffenden Grün-den gibt es nicht mehr

Es gibt keine Staa-ten mehr. Die Sklaverei ist ab-geschafft; alle Menschen sind gleich

Die Menschen der bisherigen Staaten sind gleichgestellt; es gibt keine Diener mehr

Alle bisherigen Philosophien und alle neugeschaffe-nen Grundsätze werden allgemein anerkannt. Aus allen bewährten Grundsätzen wird eine einheitliche Religion begründet

I I. Die Bürger werden wegen verschiede-ner Rassenzuge-hörigkeit, Leib-eigenschaft oder wegen der Zugehörigkeit zum weiblichen Ge-schlecht ungleich behandelt

F 1z. Ein aus seinem Staat geflohener Sklave ist nicht mehr leibeigen

13. In manchen Staa-ten herrscht noch Sklaverei, die aber allmählich abge-schafft wird

14. Die Religions-ausübung wird staatlicherseits geregelt; die inter-nationalen Kon-ferenzen befassen sich nicht mit religiösen Fragen

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F 15. Die Menschen ver-ehren den Himmel; sie verehren aber den Geist in noch größerem Maße

F 16. Da es nur Einzel-staaten gibt, bestehen nur >kleine< Völker-schaften

F 17. Die Staatsober-häupter sind häufig Monarchen

Erblicher Adel, Bürgertum und Sklaven bestehen nebeneinander

Kein Geist wird mehr verehrt, sondern nur noch der Himmel

Es entsteht eine große Vereinigung (Ta T'ung) zu einem >großen< Volk

Die monarchischen Titel werden all-mählich abge-schafft; statt dessen gibt es >Präsiden-ten< und >Vor-sitzende<

Die Sklaverei ist abgeschafft; der erbliche Adel be-steht teilweise noch weiter

Auch der Himmel wird nicht mehr verehrt. Statt dessen werden die früheren Philoso-phen und die Humanität, d. h. die Seele des Men-schen, verehrt

Alle Menschen sind Bürger der Großen Gemeinschaft; sie sind somit das >Volk des Him-mels<

Anstelle von Monarchen und Präsidenten gibt es nur noch den parlamentarischen Präsidenten

Es gibt keinen erblichen Adel mehr. Alle Men-schen sind völlig gleich

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TEIL III Wie man die Klassenschranken abschaff} und alle Menschen gleichstellt

Kein Leiden der Menschheit wegen ihrer Ungleichheit ist so tiefgreifend wie ihre grundlose Aufteilung in Klassen. Es gibt vor allem drei Klassen, die in ihren Rechten beschränkt sind, nämlich niedrig bewertete Rassen, ferner Sklaven und schließ-lich das weibliche Geschlecht. Diese ungleiche Stellung widerspricht nicht nur den allgemei-nen Naturgesetzen (t'ien); sie steht auch im Gegensatz zum Fortschrittsgedanken. Am Beispiel Indiens können wir dies er-kennen. (Das Kastensystem in Indin trägt zur Verdummung des Einzel-menschen bei. Eine Ungleichstellung der Bevölkerung durch Ka-sten und Sklaverei hat es in Ägypten, Babylonien, Griechenland und im Fernen Osten gegeben, auch noch im Europa des Mittelalters. Diese Klassenunterschiede waren in Europa der Grund für den Rückfall des Kontinents in eine tausendjährige Periode der Finsternis und kulturellen Stagnation. Der Gedanke der Gleichstellung setzt sich aber in neuerer Zeit überall auf der Welt durch, und man kann diese Entwicklung zur Abschaffung der Klassenschranken als große, umwälzende Neuerung be-trachten.) Japan war in früheren Zeiten ein feudalistisches Land mit sei-nem Kaiserhaus, seinem Adel, der Grundbesitzerklasse und der einfachen Volksmasse. Die damalige Gesellschaftsstruktur Ja-pans läßt sich mit dem China der Ch'un-Ch'iu-Periode (722-481 v. d. Z.) vergleichen. Seit der Restauration im Jahre 1868 hat sich Japan innerlich so schnell entwickelt, daß es als ein starkes Land angesehen werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt haben manche Länder noch fünf verschiedene Gesellschaftsklassen, nämlich das Herrscherhaus, die Geistlichkeit, den erblichen Adel, das ge-meine Volk und die Sklaven, wie es in Ägypten, der Türkei, Per-sien und Rußland der Fall ist. Aus diesem Grunde ist die Türkei

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audi ein schwacher Staat, und selbst das nach außen hin starke Rußland ist innerlich erstarrt. Das amerikanische Volk hat die Gleichstellung erkämpft. Statt eines Monarchen gibt es dort einen Präsidenten. Die durch Wa-shington eingeführte Verfassung behandelt den erblichen Adel wie einen Fremdkörper, der abzuschaffen ist. Auch die Geist-lichkeit kann keine hohen Staatsämter bekleiden und sich nicht in öffentliche Angelegenheiten einmischen. Wegen der Befrei-ung der Negersklaven durch Lincoln brach ein blutiger Bürger-krieg aus, dessen Ergebnis die Gleichstellung aller Amerikaner als Staatsbürger war. Dennoch werden die Schwarzen nicht als vollwertige Bürger angesehen. Amerika gilt gleichwohl als Sym-bol der beginnenden Ära des Friedens durch Gleichstellung, und es ist deshalb das Land, in dem Ruhe, Wohlstand und Zufrieden-heit eingekehrt sind. Bis zur Ch'un-Ch'iu-Periode hin war China ein Feudalstaat mit erblichem Adel. Der Hochadel erbte die Staatshoheit, und der einfache Adel erbte die Lehensgüter. Das China der damaligen Zeit war zwar nicht ganz so rückständig wie Indien, läßt sich aber mit dem mittelalterlichen Europa und dem Japan vor der Restauration vergleichen. Der Gedanke der Gleichstellung geht auf Konfuzius zurück. Er betonte, daß zur Erreichung der Einheit des Reiches die Abschaffung des Feudalismus erforderlich wäre, und daß die erbliche Adelsherrschaft und die Ämterpatronage als sinnlose Tradition anzusehen sei. Das Lebensherrschafts-system früherer Zeiten wurde von Konfuzius befürwortet, um der Abschaffung der Leibeigenschaft den Weg zu ebnen. Er legte auch den Grund zu der Verfassung der Ch'un-Ch'iu-Periode, um die Macht des Herrscherhauses einzuschränken. Er stellte seine eigene Person selbst gegenüber seinen Anhängern nicht über Gebühr heraus und lehnte auch die Machtfülle der Geistlichkeit ab. Auf diese Weise wurde das Kastensystem in der chinesi-schen Gesellschaftsstruktur ausgemerzt. Jedermann wurde als einfacher Bürger betrachtet; jeder konnte aber auch aus dem gewöhnlichen Stand aufsteigen und geadelt werden, konnte Staatsbeamter oder Lehrer sein, konnte eine berufliche Lauf-

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bahn beginnen und zeigen, was in ihm steckte. Die Mißstände des Kastensystems waren überwunden. Diese auf dem Wirken des Konfuzius beruhende Entwicklung vollzog sich schon zwei-tausend Jahre vor vergleichbaren Vorgängen in Europa. Die Blüte und Kraft Chinas im Vergleich zu Indien ist nur dieser Entwicklung zuzuschreiben. Obwohl in der Folgezeit die Machtfülle der Herrscher ein-geschränkt wurde, ist das autokratische System nicht ab-geschafft worden; obwohl Kuang-wu die konfuzianischen Leh-ren anwandte und die Sklaven freiließ, wurde eine gewaltige Anzahl Leibeigener seit der Ming-Zeit in den Haushalten der Reichen beschäftigt. Manche Personenkreise, wie die Prostitu-ierten, die Bettler und die auf Hausbooten Ansässigen genießen bis jetzt nicht alle bürgerlichen Rechte; auch die Diskriminie-rung des weiblichen Geschehens ist noch nicht beseitigt worden. Solange diese Menschen als nicht gleichberechtigt behandelt werden, ist der Weg bis zur Erreichung des Ideals der Gleich-stellung noch weit. Ignoranz und innere Schwäche sind die Folge. Lediglich die Freiheit der Angehörigen des männlichen Ge-schlechts ist erzielt worden. Wenn aber eine weitere Reform sich durchsetzen läßt, dann ist der Weg zur allgemeinen Gleichstel-lung aufgezeigt. Der Himmel hat die Entstehung des Menschengeschlechts be-wirkt. Alle Menschen sind Brüder; alle sind im Grunde genom-men gleich. Wie ist es möglich, daß die Menschheit nach falschen Grundsätzen in Gesellschaftsstände aufgeteilt wird? Weshalb werden manche Gruppen falsch bewertet und diskriminiert? Wenn man diese Entwicklung betrachtet, dann erweist es sich, daß durch Kastenunterschiede und durch Betonung der Ungleich-heit die betroffenen Menschen absichtlich in Unwissenheit und Armut gehalten werden und daß der Staat schwach und zer-rissen bleibt, wie es das Beispiel Indiens zeigt. Das Gegenbei-spiel ist Amerika, wo die Klassenunterschiede völlig abgebaut werden und wo durch die Gleichstellung der Menschen Zufrie-denheit unter der Bevölkerung herrscht und der Staat organi-siert und im Aufschwung begriffen ist. In dem Ausmaß, wie sich

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Gleichstellung oder Ungleichheit in einem Volk auswirkt, läßt sich auch der jeweilige Stand der geistigen oder äußeren Ver-fassung der Menschen sehen; die Menschen werden dann ent-weder zur Unwissenheit oder zur Intelligenz herangezogen, sie sind entweder verelendet oder zufrieden, schwach oder stark, im Abstieg oder im Aufschwung begriffen. Wie weitreichend ist doch die Bedeutung der Gleichstellung! Konfuzius sprach in be-zug auf die Welt (t'ien-hsia) nicht von der Herrschaftsausübung, sondern von der Gleichheit; bei der Diskussion über den Fort-schritt in den Drei Zeitaltern, bezogen auf die Ch'un-Ch'iu-Periode, betonte er die >fortschreitende Gleichheit< und die >völ-lige Gleichheit<. Heutzutage ist die Sklaverei fast überall abgeschafft worden. China gebührt das Verdienst, als erstes Land unter dem Kaiser Kuang-wu diese Maßnahme ergriffen zu haben; Konfuzius war der erste, der die Beseitigung der Sklaverei vorgeschlagen hatte. Nachdem Lincoln in Amerika die Schwarzen befreit hatte, wurden bald überall auf der Welt die Sklaven freigelassen. Die noch heute in China verbreitete Leibeigenschaft ist deshalb um so beschämender, weil Herren und Leibeigene in China die glei-che Abstammung haben, während die amerikanischen Neger-sklaven einer anderen Rasse als ihre weißen Herren angehörten. Wenn man das allgemeine Naturrecht zugrunde legt, haben alle Menschen den gleichen Anspruch auf Selbstbestimmung und Un-abhängigkeit, und die Gleichstellung schließt jegliche Sklaven-haltung aus. Wenn man die Entwicklung der Menschheit betrach-tet, dann erweist es sich, daß bei Gleichstellung der Bevölkerung die Menschen intelligent und glücklich, wohlhabend und wider-standsfähig werden, während sie bei ungleicher Behandlung unwissend und elend, dekadent und schwach bleiben. Bei Bei-behaltung der Sklaverei ließe sich der Fortschritt einer Nation nicht weiterführen. Wenn man die Herkunft des chinesischen Volkes in Betracht zieht, dann muß man erkennen, daß sich die Fortsetzung der Leibeigenschaft nicht mit dem gemeinsamen Ursprung und der Brüderlichkeit aller Chinesen vereinbaren läßt. Die heiligen Gesetze des Konfuzius dürfen nicht gebrochen

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werden, und der Gemeinschaftssinn eines Kuang-wu oder Lin-coln darf nicht geschändet werden! Chinas Rückständigkeit auf diesem Gebiet ist um so beschämender, als es lange vor den anderen Nationen die Sklaverei abgeschafft hatte. (Wenn man die Geschichte der Sklaverei in China untersucht, dann läßt sich feststellen, daß sie niemals stark ausgeprägt ge-wesen ist. Kriegsgefangene wurden zwar mitunter als Sklaven eingesetzt, und es gab auch einen Menschenhandel; die Sklave-rei paßte jedoch nicht in das Wirtschaftssystem, da im damali-gen Agrarsystem jeder sein eigenes Stück Land hatte. Konfuzius betrachtete die Sklaven nicht als eine Gesellschaftsschicht; da-her wird die Sklaverei in den Kanonischen Schriften auch nicht erwähnt. Liu Hsin, ein Minister des Usurpators Wang Mang (9-23) erfaßte verschiedene Kategorien von Sklaven in dem Strafkodex, indem er irrtümlich das Gesetz auf Chou-kung zu-rückführte, den überall hochverehrten jüngeren Bruder des Grün-ders der Chou-Dynastie. Kaiser Kuang-wu erließ jedoch nach der Restauration der Han-Dynastie mehrere Edikte, in denen er die Sklaven den Bürgern gleichstellte. Im Zuge des Konfuzianismus wurde China somit das erste Land, das die Sklaverei ab-schaffte. Unter der Mongolenherrschaft verbreitete sich die Sklaverei, doch diese Tendenz rührte nicht von China her. Unter den Ming-Herrschern mußten viele Menschen aus wirtschaftlicher Not als Sklaven arbeiten. Die Lehren des Konfuzius hatte man vergessen, und man bezog sich auf die alten Gesetze über die Sklaverei des Liu Hsin, der die Bestimmungen Chou-kung unterscho-ben hatte. Jedoch setzte sich nur in zwei der achtzehn Provin-zen, nämlich in Kwangtung und Tschekiang, die Sklaverei in stärkerem Maße durch. Die Ch'ing haben einige Verordnungen über die Sklaverei; diese stehen aber im Gegensatz zum Natur-gesetz und zu den heiligen Lehren des Konfuzius.) Der Mensch ist ein Wesen, dem der Himmel das Leben geschenkt hat; die Staaten setzen sich aus lebenden Wesen zusammen. Keine Familie und keine Einzelperson lebt privat für sich allein. Es wäre sicherlich angebracht, Verordnungen zur Aufhebung der

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Leibeigenschaft zu erlassen. (Jedoch würden überstürzte Maß-nahmen den Unwillen der Herren der Leibeigenen nach sich ziehen; eine Freilassungsaktion sollte demnach unter Berück-sichtigung der Interessen aller Betroffenen durchgeführt wer-den. Nicht nur die Leibeigenen sollten freigelassen werden, son-dern auch den Außenseitern der Gesellschaft - den Bewohnern von Hausbooten, den leichten Mädchen, den Bettlern, den nied-rigen Amtsgehilfen und den Schauspielern — sollte ein bürger-licher Status zuerkannt werden. Die erste Gruppe wäre dem bäuerlichen Stand gleichzusetzen; die zweite Gruppe den Tän-zern und Musikern; die dritte Gruppe sollte zur Arbeit angehal-ten und organisatorisch erfaßt werden; die Vergehen der vier-ten Gruppe sind auf das Unvermögen zurückzuführen, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, während der Beruf der fünften Gruppe sich so segensreich auswirkt — er sorgt für Belehrung und Vergnügen —, daß man Schauspieler auf keinen Fall als Außenseiter behandeln sollte.) Am schlimmsten wirken sich die Rassen- und Kastengesetze in Indien aus. Alle Einschränkungen, die auf die Einteilung in Rassen und Kasten zurückzuführen sind, sollten daher völlig aufgehoben werden, um die Menschen gleichzustellen. Allen soll-ten die gleichen Berufschancen gewährt und das Recht auf Hei-rat außerhalb der Kaste zuerkannt werden. Die Gleichstellung wird sich dann einbürgern, wenn dieser Umwandlungsprozeß lange Zeit angedauert hat, und man kann hoffen, daß schließ-lich eine Einheit der indischen Bevölkerung erzielt wird. Auch in Ägypten, der Türkei und in Persien gibt es noch Kasten. Sie soll-ten sämtlich abgeschafft werden, um die Umstellung zur völli-gen Gleichstellung zu erreichen. Auch wenn die Nationen die Sklaverei abgeschafft und die Volksmassen völlig gleichgestellt haben, wird es immer noch den erblichen Adel, den geistlichen Stand und die Herrscher-häuser geben. Doch nach mehreren Jahrhunderten werden sich die Rechte des Volkes immer weiterentwickelt haben, und immer mehr Länder werden sich in Demokratien verwandeln. Alle wer-den dem Beispiel Amerikas folgen: Der Erbadel wird ab-

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geschafft und verboten werden, da er Zwietracht in die Be-

völkerung hineinträgt. Die Erkenntnisse der Naturphilosophie

werden sich ausbreiten, und die Anhänger überkommener Reli-

gionen werden zahlenmäßig geringer werden, während sich die

Neue Religion ständig ausbreitet. Die Geistlichkeit der alten Re-

ligionen wird ihren Einfluß verlieren, und eine Umwandlung zu

einer gleichgesinnten geistigen Haltung wird sich dann voll-

ziehen. Wenn die Länder der Welt nur noch Präsidenten als

Staatsoberhäupter haben und demokratisch geworden sind,

dann ist das Ende der Monarchien gekommen. Wenn es keine

Herrscherhäuser und Hofhaltungen mehr gibt, dann ist das Ziel

der Gleichstellung erreicht. Alle Männer und Frauen werden

gleichberechtigt und unabhängig sein, und wenn die Gleichheit

der Rechte sich allgemein durchgesetzt hat, wird die gesamte

Menschheit davon profitieren.

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TEIL IV Wie man eine Abschaffung der Rassenschranken und eine Verschmelzung der Rassen herbeiführt

Ein Sprichwort lautet, daß die größte Schranke zwischen den einzelnen Nationen im Vorhandensein vieler kleiner Einzel-schranken begründet ist. Je mehr kleine Schranken aufgerichtet werden, desto unheilvoller wirken sich die großen Schranken aus. Je mehr sich die Familien aus vermeintlichem Schutzbedürf-nis voneinander abkapseln, und je mehr Staatsgrenzen zum Schutz der Bürger aufgerichtet werden, desto schwieriger stellt sich die Gründung einer >Großen Gemeinschaft< in Frieden und Gleichheit dar. In China gibt es beispielsweise Schranken, die zur Abgrenzung der Provinzen, der Präfekturen, der Distrikte, Bezirke, Kreise, der Dörfer, Sippen und Familien dienen. Daher rührt auch die übertriebene Vorliebe, die die Chinesen für ihre Provinz, ihre Präfektur, ihren Distrikt, Bezirk, Kreis, ihr Dorf, ihre Sippe und ihre Familie entwickelt haben, andererseits aber auch die Abneigung gegenüber anderen Provinzen, anderen Prä-fekturen, anderen Distrikten, Bezirken, Kreisen, Dörfern, Sippen und Familien. Wenn auch die Erfüllung des menschlichen Glücks mit der Erreichung völliger Einheit (ta t'ung) gleichzusetzen ist, läßt sich nicht übersehen, daß die Anfänge des menschlichen Zu-sammenlebens auf der Errichtung von Schutzbarrieren um die Gruppe beruhten. Dieser Gewohnheit konnte man bisher nicht beikommen. Und selbst wenn die zwischen Familien und zwi-schen Staaten bestehenden Schranken abgebaut würden, bleibt noch immer der Weg zur Erreichung der >Großen Gemeinschaft< in Frieden und Gleichheit verbaut. Diese große Barriere ist die Schranke, die die Rassen voneinander trennt. Der Abbau dieser Schranke dürfte die schwierigste Aufgabe von allen Gleich-stellungsmaßnahmen sein.

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Auf politischem Wege läßt sich die >Große Gemeinschaft< durch Vereinigung aller Staaten verwirklichen. Dabei bleibt aber die Verschmelzung der Rassen ein schwer zu lösendes Problem. Doch wenn die Ausprägung der verschiedenen Zivilisationen an-geglichen worden ist, wenn die gleichen sozialen Voraussetzun-gen geschaffen werden, wenn sich die Völker vermischen und die gleiche Erziehung haben, so daß es keine oberen und unte-ren Bevölkerungsschichten mehr gibt, dann erleichtern diese Be-dingungen einen nachfolgenden Entwicklungsprozeß, eine durch-greifende Verschmelzung aller Völkerschaften. Dann wird es auch nicht schwerfallen, die Romanen, Germanen und Slaven in Europa zu vereinen. Auch in Asien werden die Chinesen, die Mongolen und die Japaner nach einer Vereinheitlichung ihrer Zivilisationen zu einer Einheit verschmelzen, da ihre geistigen und körperlichen Anlagen einander sehr ähneln. Schwierig dürfte es dagegen sein, Menschen von verschiedener Hautfarbe in diesen Verschmelzungsprozeß einzubeziehen. Auf der Erde gibt es nicht nur die Weißen und die Gelben, sondern auch die Schwarzen und die Braunen. Nicht nur die Hautfarbe, sondern auch die geistigen Anlagen dieser Menschenrassen sind sehr unterschiedlich. Wie lassen sich hier die Schranken beseitigen? Die silberhäutige Rasse hat sich über den Erdball verbreitet, während die goldhäutige Rasse zahlenmäßig die stärkste ist. Diese beiden Menschenarten, die Weißen und die Gelben, be-herrschen die Welt. Die Weißen sind stärker, während die Gel-ben nicht nur zahlreicher, sondern auch weiser sind. Aber die Erfahrung ist unumstößlich, daß beim Zusammenleben von Men-schen verschiedener Rassenzugehörigkeit der Verschmelzungs-prozeß einsetzt. Ich habe solche Erscheinungen bei Chinesen, die lange in England oder Australien, andererseits aber auch bei Weißen, die in China gelebt haben, beobachtet: Wenn sich die Menschen in ihren Eß- und Trinkgewohnheiten und in ihren son-stigen Lebensanschauungen ihrem Gastland anpassen, dann können auch Chinesen eine rosige Gesichtshaut wie die Euro-päer bekommen. Vorausgesetzt die Gelben ändern ihre Lebens-gewohnheiten, bewegen sich viel in frischer Luft und setzen sich

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der Sonne aus, und wenn sie sich mehrere Generationen lang miteinander vermischen, ihre Wohnsitze verlegen und vom Landesinnern an die Küste verziehen, dann würden sie innerhalb eines Jahrhunderts allmählich weißhäutig werden, und eine na-türliche Verschmelzung von Gelben und Weißen würde ihren An-fang nehmen. Schon vor der Vollendung der Großen Gemein-schaft wäre dann der Zeitpunkt gekommen, wo die gelbe Rasse sich den Weißen angepaßt hat und in dieser Rasse aufgegan-gen ist. Dann wird der Rassenunterschied verwischt sein, und es wird nur noch eine hellhäutige Rasse geben. Dennoch bleibt das Problem der Verschmelzung mit den beiden dunkelhäutigen Ras-sen, den Braunen und den Schwarzen, weiterbestehen. In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit hat es viele unter-schiedliche rassische Gruppierungen gegeben. Da aber nur die Stärksten überleben konnten, sind die weniger Lebenstüchtigen nach und nach untergegangen. Bis zur Jetztzeit haben sich vier Hauptrassen gehalten, nämlich die Weißen in Europa, die Gel-ben in Asien, die Schwarzen in Afrika und die Braunen in Ozea-nien. Manche davon haben sich als lebenstüchtiger und an-passungsfähiger als die anderen erwiesen. Wenn man diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung der Tüchtig-sten in der Entwicklungsgeschichte Chinas betrachtet, dann zeigt es sich, daß die Erschließung der ursprünglich von den drei Stäm-men der Miao-Ureinwohner bewohnten südlichen Gebiete erst durch die Nachkommenschaft der intelligenten gelben Herren-rasse erfolgte. Die in Honan, Kwangtung, Kwangsi, Yünnan und Kweitschou noch lebenden Reste alter Stämme wie die Miao, Tsung, T'ung, Chung und Yung sind die Überbleibsel der Urbevölkerung, die sich in unwirtliche Gebirgsgegenden zurück-gezogen hatte und dort fast ausgestorben ist. Die indianischen Ureinwohner Amerikas sind von den Weißen aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben worden; die Zahl der Überlebenden beläuft sich kaum auf eine Million. Vor einigen Jahrhunderten lebten noch mehrere Millionen Ureinwohner in Australien; heute gibt es nur noch einige Zehntausende. Auch die Urbevölkerung der Südseeinseln hat sich stark vermindert.

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Vor einigen Jahrtausenden ist die Urbevölkerung Indiens durch die arischen Einwanderer dezimiert worden. Wenn man diese Beispiele auf die noch bestehenden dunkelhäutigen Rassen überträgt, dann läßt sich voraussehen, daß die hundert Millio-nen Schwarzen in Afrika nach mehreren Jahrhunderten von den Weißen vernichtet worden sind; sollte dieser Fall nicht eintreten, dann werden sich Weiße und Schwarze vermischen, bis es schließlich eine Verschmelzung zugunsten der überlegenen wei-ßen Rasse geben wird. Eine solche natürliche Evolution wird sich nicht aufhalten lassen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt finden noch Auseinandersetzun-gen zwischen den Weltmächten statt; man kann aber gewiß sein, daß nach Ablauf mehrerer Jahrhunderte nach und nach das Tor zur Großen Gemeinschaft aufgestoßen wird. Und dieser Se-lektionsprozeß, der die Starken überleben, die Schwachen aber untergehen läßt, wird nach dieser jahrhundertelangen Entwick-lung zu einer Dezimierung der Braunen und der Schwarzen füh-ren. Dabei ist zu befürchten, daß beim Beginn der Ära der >Gro-ßen Gemeinschaft< nicht mehr viele Dunkelhäutige imstande sein werden, sich weiterhin durchzusetzen und ihre Rasseneigenart zu bewahren. Die indischen Rassen sind durchweg dunkelhäutig. Die Men-schen sind durch die heißen klimatischen Verhältnisse geprägt. Die dort lebenden Engländer nehmen eine gelbbraune Haut-farbe an, und die Nordländer vertragen nicht das Klima und leben ungern in dem sonnigen Land. Die Behausungen der armen Inder befinden sich in einem katastrophalen Zustand, und deshalb sterben jedes Jahr Zehntausende an Seuchen. Unter diesen Verhältnissen kann sich die Bevölkerung nicht vermehren; nach vielen Jahrhunderten wird es immer mehr Weiße in diesen Landstrichen geben, und die verarmten Ureinwohner werden wahrscheinlich allmählich aussterben. Es läßt sich also absehen, daß beim Beginn der Ära der >Großen Gemeinschaft< nur noch die weiße und die gelbe Rasse weiterbesteht. Die Schwarzen und die Braunen werden möglicherweise eliminiert sein. In In-dien werden sich noch Dunkelhäutige halten, aber sie werden

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versprengt leben, und selbst ihre Hautfarbe wird sich auf-gehellt haben. Das Ziel der Gleichstellung aller Menschen, der Vereinigung zur >Großen Gemeinschaft< in Frieden und Gleichheit ist aller-dings ein allgemeines Idealbild, denn die Tatsache der Un-gleichheit der menschlichen Wesen ist offenkundig. Wenn man das Ziel der Gleichheit herausstellt, dann ist es zunächst er-forderlich, die Möglichkeiten zur Aneignung von Fähigkeiten und zur Anpassung der körperlichen Eigenschaften an die Gegeben-heiten unter gleiche Voraussetzungen zu bringen. Wenn solche Möglichkeiten nicht geschaffen werden, dann bleibt das Ziel unerreichbar, dann ist kein Gesetz, keine staatliche Macht und kein guter Wille imstande, der Gleichstellung aller Menschen näherzukommen. Die Ungleichheit und die Verschiedenartigkeit der menschlichen Wesenszüge zu überwinden, ist eine sehr schwierige, langdauernde Aufgabe. Wenn es Lincoln auch unter Einsatz von Truppen und unter Blut-opfern gelungen ist, die schwarzen Sklaven zu befreien, die Gleichberechtigung der Schwarzen wird bis zum heutigen Tage von der amerikanischen Bevölkerung nicht anerkannt. Neger werden von der weißen Bevölkerung isoliert; die Lebensfüh-rung bleibt getrennt, Kontakte in Restaurants und in Verkehrs-mitteln werden vermieden, und selbst beamteten Negern wird kein öffentlicher Einfluß zugestanden. Der Präsident hat ver-sucht, verdiente und gebildete Neger besonders zu ehren, um damit die Rassenschranken zu überbrücken. Die Schwarzen ste-hen aber weiterhin in dem Ruf, unsauber zu sein, weshalb Rassenabneigung seitens der Weißen fortbesteht. Die Unter-drückung durch die weißen Amerikaner beruht nicht nur auf der Tatsache, daß die Farbigen nicht an Bildungsmöglichkeiten her-angeführt werden, sondern auf der Distanzierung vom äußeren Erscheinungsbild des schwarzen Menschen. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird sich erreichen las-sen, daß weiße und gelbe Menschen gleichgestellt werden, da sie sich weder in ihren Begabungen noch im Äußeren sehr von-einander unterscheiden. Aber allein schon vom Äußeren her

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kann man Argwohn und Furcht vor manchen Schwarzen empfin-den; der Anblick der unbeweglichen Gesichter, der animali-schen Körperformen und dunklen Glieder ruft bei vielen eine Abneigung hervor. Man kann sich kaum vorstellen, daß unter ihresgleichen erzogene weiße Frauen dazu neigen werden, Liebesverhältnisse und Lebensgemeinschaften mit Schwarzen einzugehen und sich auf eine gleiche Stufe mit ihnen zu stellen. Wie ist unter solchen Voraussetzungen eine Gleichheit und Ein-heit der Menschheit denkbar? Wenn man die Menschheit zur Gleichheit und Einheit hinführen will, muß man zunächst damit beginnen, das Aussehen und die körperlichen Eigenschaften zu vereinheitlichen. Wenn hier große Unterschiede weiterbestehen, dann bleiben auch die Ver-haltensweisen im Beruf und im Zusammenleben unterschiedlich. Wenn wir aber völlig verschiedenartige körperliche Eigenheiten verschmelzen wollen, so bleibt nur die Möglichkeit des Verkehrs zwischen Männern und Frauen als Weg zu einer Vermischung denkbar. Andererseits würde es der menschlichen Natur wider-sprechen, eine Vermischung der Rassen durch Verkehr zwischen Weißen und Schwarzen herbeiführen zu wollen. In Amerika hat es solche Fälle von Rassenmischung gegeben, und es wird nicht lange dauern, bis die Nachkommenschaft völlig die Eigenschaf-ten der weißen Bevölkerung angenommen hat. Mann kann je-doch kaum annehmen, daß die gesamte schwarze Bevölkerung sich das Aussehen und die körperlichen Eigenschaften der Wei-ßen zu eigen machen wird. Wenn sich das Außere nicht verän-dern und anpassen kann, dann besteht wenig Hoffnung, zur Einheit in der Großen Gemeinschaft zu gelangen. Das äußere Erscheinungsbild des Menschen, soweit es die Haut-farbe und die körperlichen Eigenschaften betrifft, hängt nicht nur mit der Rasse, sondern auch mit seiner Anpassungsfähigkeit an die Umgebung und an das Wetter zusammen. Auch die Er-nährung, die Lebensweise und die Art der Beschäftigung spielen hierbei eine Rolle. Die verschiedenartigen Eigenschaften erge-ben sich aus einer Kombination aller dieser Faktoren. (Wenn solche Faktoren ein anderes Eigengewicht besitzen, können sich

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auch andere Erscheinungsbilder entwickeln, wie das Beispiel der

amerikanischen Indianer zeigt, die den gleichen rassischen Ur-

sprung wie die Chinesen besitzen. Es gibt auch noch andere Bei-

spiele für die Anpassungsfähigkeit von Menschen an ihre Um-

welt, die zu einer Veränderung des Erscheinungsbildes bis zur

Angleichung an die äußeren Formen der im gleichen Raum An-

gesiedelten geführt haben. Wenn sich die Chinesen im Laufe des

kommenden Jahrhunderts mit Menschen aus westlichen Völker-

schaften immer mehr vermischen und sich dem europäischen

Lebensstandard anpassen, dann wird es nur noch wenige Unter-

scheidungsmerkmale zwischen östlichen und westlichen Men-

schen geben.) Wenn man verschiedenartige Beispiele der Veränderung der

äußeren Erscheinung von Menschen in Betracht zieht, die aus

ihrer Heimat in andere Gegenden gezogen sind, dann erkennt

man, daß sich die Hautfarbe durch das Klima beeinflussen läßt.

In gleichen Klimazonen besitzen die Menschen im allgemeinen

auch die gleiche Hautfarbe: In der kalten Zone sind sie weiß, in

der gemäßigten Zone gelb und in den Tropen dunkelhäutig. Je

näher sie am Aquator wohnen, desto dunkler sind sie. Die in

kalten kontinentalen Gebieten Lebenden sind gelbhäutig, wäh-

rend die 'Wüstenbewohner dunklere Hautfarbe besitzen. In den

Küstengebieten der gemäßigten Zone haben die Menschen eine

mehr gelbweiße, in den weit von den Küsten entfernten Gegen-

den eine mehr gelbbraune Tönung der Haut. In den Küstenzonen

der Tropen sind die Menschen mehr bräunlich, während die Be-

wohner der tropischen Inlandsgebiete und Wüsten eine tief-

schwarze Hautfarbe haben. Der Einfluß des Klimas auf die

menschliche Erscheinungsform läßt sich also nicht verkennen.

Da die Bildung der Menschenrassen mit der Anpassung an Um-

welt und Klima in engem Zusammenhang steht, besteht die

Möglichkeit, Erscheinungsform und Hautfarbe durch einen Wech-

sel der Umgebung zu ändern. Wenn man sich vorstellt, daß die

Menschen von brauner und schwarzer Hautfarbe in Küstenregio-

nen zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Breitenkreis oder

in kontinentale Gebiete zwischen dem dreißigsten und vierzig-

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sten Breitenkreis auswandern, dann würde sich im Laufe von

Generationen nicht nur das äußere Erscheinungsbild, sondern

auch die rassisch bedingte Hautfarbe ändern ... Solche neuentstandenen Mischrassen würden sich dann durch

immer wiederkehrende Eheschließungen der Menschen mit Wei-

ßen und Gelben weiterverbessern. Es ist nicht so, daß sich Men-

schen mit hellerer Hautfarbe von Dunkelhäutigen abgestoßen fühlen müssen; die Erfahrung zeigt, daß Weiße und Gelbe, die

lange Zeit mit Schwarzen zusammengelebt haben, diese nicht

mehr als häßlich ansehen. Es ist also damit zu rechnen, daß es

eines Tages zahllose Mischehen zwischen Hellhäutigen und

Dunkelhäutigen geben wird. Wenn man beabsichtigt, alle Menschenrassen zur Einheit hinzu-

führen, ist ein dreistufiger Plan erforderlich: Erstens müßten die

Volksmassen aus ungünstig gelegenen Gebieters auswandern

und in geeigneten Siedlungsräumen leben, zweitens müßte

durch Mischehen ein Verschmelzungsprozeß eingeleitet werden,

und schließlich müßten sie sich durch angemessene Ernährung und

Körpertraining angleichen. Nach diesem Dreistufenplan ließen

sich Fehlentwicklungen vermeiden, die Rassen würden allmäh-

lich hellhäutig werden, und die Verschmelzung würde sich nach

und nach durchsetzen.

Die Auswanderungsmethode

In den Gebieten Indiens, Afrikas und Ozeaniens, also in Territo-

rien, die nahe am Äquator liegen, sollen Institutionen zur

menschlichen und erzieherischen Weiterbildung sowie weiterfüh-

rende Schulen nicht errichtet werden. Die Menschen sollen erst als

Erwachsene dort ansässig werden. Um der Verbreitung der

Dunkelhäutigen in der tropischen Zone ein Ende zu setzen, müß-

ten die bisher dort ansässigen Neger nach Kanada und nach Ge-

bieten des südlichen Brasilien zwischen dem dreißigsten und

vierzigsten Breitenkreis auswandern. Dort könnten sie nicht nur

unbewohnte Gebiete besiedeln, sondern sie würden durch das

veränderte Klima auch ihr Äußeres verändern. Die tüchtigsten

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Dunkelhäutigen könnten vielleicht auch in Gebieten zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Breitenkreis an der Ostsee, der Nordsee oder am Schwarzen Meer angesiedelt werden. Die Um-siedlungsaktion würde auf Veranlassung der Regierung der >Großen Gemeinschaft< erfolgen müssen. Wohlhabende und tüchtige Schwarze würden den Umzug ohne Unterstützung durch-

führen können, während man die Auswanderung armer und un-tüchtiger Menschen mit öffentlichen Mitteln fördern müßte. Die Umsiedlungsaktion müßte sich das Ziel setzen, der Vermehrung und Ausbreitung untüchtiger Rassen in tropischen Gebieten einen Riegel vorzuschieben.

Die Methode der Mischehen

Nach Beendigung der Auswanderungsaktion würden die Brau-nen und Schwarzen dann mit Weißen und Gelben zusammen-leben. Es müßten dann Maßnahmen ergriffen werden, um die Schließung von Mischehen zu fördern. Alle weißen oder gelben Männer, die braune oder schwarze Frauen, und alle weißen oder gelben Frauen, die braune oder schwarze Männer heiraten, soll-ten besonders ausgezeichnet werden und einen »Menschlich-keits«-Orden erhalten. Dann werden sich viele Menschen zu

Mischehen entschließen, und der Verschmelzungsprozeß der Ras-sen wird rasch vonstatten gehen. Die so ausgezeichneten Per-sonen sollten dann den Ehrentitel >Rassenreformer< tragen. Man könnte hier einwenden: Würde sich eine Verschmelzung von tüchtigen mit untüchtigen Rassen sich nicht so auswirken können, daß bei künftigen Generationen das Untüchtige die Oberhand gewinnt? Nach meiner Meinung dürfte dieser Fall nicht eintreten. Wenn man viele Jahrhunderte vorausschaut, ist anzunehmen,

daß die braunen und schwarzen Menschen immer mehr in die »Minderheit« geraten. Überall werden sich die Weißen und die Gelben verbreitet haben. Man muß davon ausgehen, daß die

tüchtigen Menschen mit weißer und gelber Hautfarbe weitaus in der Überzahl sind, und selbst wenn bei Vermischungen mit brau-nen oder schwarzen Menschen untüchtige Nachkommen ent-

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stehen, würde sich dies zahlenmäßig kaum auswirken. Tüchtige Menschen würden sich schließlich überall durchsetzen.

Die Methode der Ernährungsverbesserung

(Die Art und die Zubereitung der Nahrungsmittel können nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch die Hautfarbe und die Ausstrahlung eines Menschen beeinflussen. Wenn es gelingt, Menschen von dunkler Hautfarbe dazu zu bringen, dieselben sorgfältig zubereiteten Speisen zu sich zu nehmen, wie es auch die Weißen und die Gelben tun, dann werden die Farbigen eines Tages weiß oder gelb werden. Das Gegenbeispiel der amerikanischen Neger sollte kein Anlaß sein, diese Zukunfts-möglichkeiten anzuzweifeln; die dortigen Schwarzen hatten seit unzähligen Generationen außerhalb Amerikas gelebt, bevor sie mit den Weißen in Kontakt kamen, und man kann daher nicht erwarten, daß sie innerhalb kurzer Zeit ihren Körpergeruch verlieren. Nach vielen Generationen werden sie jedoch zweifellos körperlich genauso anziehend sein wie ihre weißen und gelben Landsleute.)

Rassische Umwandlungen

(Die zuvor dargelegten Methoden könnten dazu führen, daß ohne allzu große Schwierigkeiten Braunhäutige mit Weißen und Gelben verschmolzen werden. Ein solcher Prozeß sollte inner-halb von zwei bis drei Jahrhunderten zum Abschluß kommen. Die schwarze Bevölkerung stellt demgegenüber ein schwer zu lösendes Problem dar, da sie im Vergleich zu hellhäutigen Men-schen körperlich und geistig benachteiligt erscheint. Die Förde-rung von Mischehen mit Schwarzen wird sich schwerlich durchset-zen lassen. In diesem Falle wäre die Massenauswanderung nach Kanada, Schweden und Norwegen und die Besiedelung der dortigen Territorien die einzige Lösungsmöglichkeit. Nach zwei bis drei Jahrhunderten würde sich die Hautfarbe der Nachkom-men der in die Nordländer Eingewanderten aufhellen, wozu auch

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die Verbesserung der Ernährungsweise beitragen würde. Auch Mischehen mit Hellhäutigen und Braunen dürften zu diesem Ver-schmelzungsprozeß beitragen. Man könnte also voraussagen, daß nach siebenhundert bis tausend Jahren die Nachkommen-schaft der schwärzesten afrikanischen Neger hellhäutig gewor-den sein wird. Wenn das Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< einsetzt, werden alle Menschen dieser Erde die gleiche Haut-farbe, das gleiche Aussehen, die gleiche Körpergröße und die gleiche Intelligenz besitzen. Dann werden alle Menschenrassen vereinheitlicht sein und in völliger Gemeinsamkeit — ta t'ung —leben.)

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TEIL V Wie man die Schranken zwischen den Geschlechtern abschafft und die Gleichstellung der Frauen erreicht

In vergangenen und gegenwärtigen Zeiten bemühten und be-mühen sich immer wieder Menschen um gerechte und gleich-artige Behandlung von unterdrückten und rechtlosen Mitbürgern, um die Durchsetzung aller gesetzlichen Möglichkeiten zur Ab-schaffung repressiver Methoden. Bei der Betrachtung der vieltausendjährigen Weltgeschichte muß man erkennen, daß diese Milliarden von Vorfahren Men-schen von vergleichbarer Intelligenz und ähnlichem Äußeren ge-wesen sind; man muß dabei auch berücksichtigen, daß es nicht nur Männer gewesen sind, sondern auch Menschen des anderen Geschlechts, denen sie in Liebe verbunden waren: die Frauen. Und dennoch haben die Männer das weibliche Geschlecht hart-herzig und skrupellos unterdrückt. Die Frauen wurden hintergan-gen, von der Außenwelt abgeschlossen, in ständiger Abhängig-keit gehalten, von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, ihrer Bürgerrechte beraubt, von Versammlungen ferngehalten. Noch schwerer wiegt die Tatsache, daß Frauen nicht studieren durf-ten, daß sie sich nicht frei äußern und ihren Geburtsnamen nicht an ihre Nachkommenschaft weitergeben konnten, daß sie weder an Vergnügungen, Reisen noch an Veranstaltungen teilnehmen durften und somit ans Haus gefesselt waren. Die Männer schreckten sogar vor körperlichen Demütigungen nicht zu-rück; Frauen wurden Keuschheitsgürtel angelegt, sie mußten sich verschleiern, ihre Füße einschnüren oder ihre Körper täto-wieren lassen. Diese Repressalien an Unschuldigen sind Ausfluß einer unmoralischen Einstellung. Selbst die Rechtschaffensten und Besten unter den Männern haben seit Jahrtausenden nichts gegen diese Mißstände unternommen; sie waren derart an den Anblick der unterdrückten Frauen gewöhnt, daß es ihnen nicht in

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den Sinn kam, ihnen zu helfen und Gerechtigkeit für sie zu ver-langen. Diese völlige Ungleichheit der Rechte ist ein ewiges, unerklärbares Phänomen. Ich möchte meinen Unwillen über die an Frauen verübten Unge-rechtigkeiten laut hinausschreien, denn ich bin von dem Wunsch erfüllt, die gegenwärtig mit mir lebenden achthundert Millionen Frauen vorm Untergang in einem Meer der Leiden zu bewahren. Ich strebe danach, künftige Frauengenerationen auf den Weg der Gleichstellung, der einheitlichen Behandlung und der Unab-hängigkeit und damit zum Glück zu führen. Der Dualismus in der Natur prägt sich nicht nur im Animalischen, sondern auch in der allgemeinen Verschiedenartigkeit von Män-nern und Frauen aus. Daß die Geschlechter verschiedenartige Merkmale haben, ist ein unumstößliches Naturgesetz. Dagegen sind sie in ihren menschlichen Anlagen gleichartig: Männer und Frauen besitzen die gleiche Intelligenz, ihre Gefühlsanlagen sind vergleichbar; sie sind moralisch oder unmoralisch; beide Geschlechter haben gleichartigen Körperbau, Köpfe, Hände und Füße, gleichgeformte Augen, Ohren, Lippen und Nasen. Gang, Sitzweise und Arbeitsformen sind gleichartig, ebenso wie Seh-, Hör- und Sprechvermögen. Männer und Frauen ernähren sich auf die gleiche Weise und tragen die gleichen Stoffe; ihr Er-kennungsvermögen und ihre Denk- und Handlungsweise beruhen auf den gleichen Grundlagen. Männer sind somit im Grunde nicht anders als Frauen oder umgekehrt. Aus diesen Erwägungen heraus darf man die Fähigkeit zur Berufsausübung der Frauen nicht anders einschätzen als die beruflichen Möglichkeiten der Männer, sei es nun in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Handel oder in anderen Erwerbszweigen. In der heutigen Landwirtschaft helfen sämtliche Bauersfrauen auf den Feldern mit. In vielen Ländern werden Frauen bereits in der Industrie und im Handel eingesetzt. Frauen besitzen die gleichen Fähigkeiten wie Männer, in Staatsstellungen tätig zu werden. Auch in China gibt es schon viele weibliche Schriftstel-ler. Die Geschichte erweist, daß es zahllose Frauen gegeben hat, die sich mit Entschiedenheit und Pflichteifer in beamteten

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und geschäftsführenden Stellungen bewährt haben. Ganz all-gemein läßt sich sagen, daß Frauen erwiesenermaßen die glei-chen Leistungen wie Männer erbringen können. Die Gleichstel-lung der Geschlechter ist nach den Regeln der Menschlichkeit ein universeller Grundsatz, und keine Abweichung von diesem Prinzip ist zulässig. Auch in fernster Zukunft wird die Ge-schlechtergleichstellung ein Grundpfeiler der Welt sein, werden alle Weisen diesen Grundsatz befürworten und wird die öffent-liche Meinung sich nicht davon abbringen lassen, dieses Ziel zu vertreten. Alle Wortgewandtheit und Eigensucht der Männer wäre dann fruchtlos, denn dieser Grundsatz ist unumstößlich. Durch die Geschichte hindurch bis zum heutigen Tage zieht sich das beklagenswerte Schicksal der unterdrückten Frauen. Das Ausmaß der Ungerechtigkeiten läßt sich kaum in Worten aus-drücken. Ich kann nicht umhin, die Männer für die endlosen Lei-den, die die Frauen in der Vergangenheit zu erdulden hatten, verantwortlich zu machen. I. Frauen sind daran gehindert worden, in öffentliche Dienste zu treten. (Überprüft man die geschichtliche Entwicklung aller Na-tionen, dann stellt sich heraus, daß Frauen nirgendwo hohe Staatsämter bekleidet haben. Der einzige vernünftige Grund hier-für wäre, daß Frauen von Natur aus dümmer als Männer sein müßten. Dies trifft aber nicht zu, denn wir kennen Frauen mit großen Fähigkeiten und Männer mit wenigen oder gar keinen. Konfuzius hat nie den Gedanken vertreten, daß Frauen von Staatsämtern ausgeschlossen werden sollten. Dennoch hat nie eine Frau eine hohe Staatsstellung bekleidet, während es immer wieder Männer ohne Talent in solchen Positionen gegeben hat. Hat es wirklich nie eine tüchtige Frau gegeben, die die Stellung des unfähigen Mannes ausfüllen konnte? Es ist ein Jammer, daß begabte Menschen oftmals nicht in die ihnen gemäßen Positionen aufsteigen dürfen, wie es sich immer wieder in der Geschichte gezeigt hat, wenn bedeutende Männer auf einflußlosen Posten gehalten wurden. Wie groß ist die Ungerechtigkeit aber erst für Frauen, von denen keiner die Chance gegeben wurde, ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen!

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(In jedem Land wirkt es sich äußerst ungünstig aus, wenn auf diese Weise die Tüchtigen nicht an die Macht kommen, anstatt daß dafür gesorgt wird, daß die Begabtesten die Staatsführung übernehmen. Die ganze Unsinnigkeit der Methode, Frauen von hohen Ämtern auszuschließen, zeigt sich schon darin, daß es so-wohl in Europa als auch in China fähige Herrscherinnen gege-ben hat. Wenn sie in der Lage gewesen sind, sogar als Kaise-rinnen hohe Verantwortung zu übernehmen, ist es absurd, den Frauen die Fähigkeit zur Amtsübernahme absprechen zu wollen. Der Ausschluß der Frauen von der Regierungstätigkeit geht auf 'Oberlieferungen und veraltete Gebräuche zurück, aber es ist un-natürlich und ungerecht, achthundert Millionen den Zugang zu den menschlichen Grundrechten zu verweigern. Darüber hinaus grenzt es an Dummheit, die Hälfte der Bevölkerung zu diskrimi-nieren. In Amerika sind in dieser Hinsicht schon einige Verbesse-rungen erzielt worden, indem man Frauen den Zugang zu man-chen Berufen geöffnet hat. Und doch reichen solche Maßnah-men bei weitem nicht aus, um den Kern des Übels zu beseitigen. Man handelt gegen den Willen Gottes und gegen das Natur-gesetz, wenn man den Frauen nicht alle ihnen zukommenden Rechte zugesteht.) 2. Frauen wurden nicht zu staatlichen Prüfungen zugelassen. 3. Frauen wurde die Wählbarkeit als Abgeordnete nicht zuge-standen. 4. Frauen wurden nicht die vollen Bürgerrechte zuerkannt. Hier-zu ist zu bemerken, daß die Frauen nicht freiwillig darauf ver-zichten sollten, das aktive und passive Wahlrecht auszuüben, indem sie sich darauf berufen, daß dieser Verzicht in der Ver-gangenheit gebräuchlich war. Wenn sie also gebotene Möglich-keiten nicht wahrnehmen, dann tragen sie teilweise selbst die Schuld daran, daß sie an der Öffentlichkeitsarbeit nicht teil-nehmen.) S. Frauen wurde der Zugang zur Politik verschlossen. 6. Frauen wurde nicht die volle Selbständigkeit zuerkannt. (Obwohl Männer und Frauen von Natur aus die gleichen Rechte genießen, sind die Frauen schon immer den Männern untertan

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gewesen. Sie haben ihre Unabhängigkeit in dreierlei Hinsicht verloren: a.) Sie haben immer die Anordnungen ihrer Ehemänner befolgt und sich nicht mit diesen auf die gleiche Stufe gestellt. b. Sie haben ihren Familiennamen abgelegt und mit der An-nahme des Namens des Ehemannes ihre Identität aufgegeben. c. Sie sorgen nicht mehr für ihre eigenen Angehörigen, sondern fühlen sich nach der Heirat verpflichtet, für die Angehörigen des Ehemannes zu sorgen. Die Unselbständigkeit kann so weit gehen, daß die Ehefrau nach dem Tode ihres Mannes ihrem Sohn zu gehorchen hat. Alle diese Sitten verstoßen gegen die Menschenrechte.) 7. Frauen wurde die freie Entfaltungsmöglichkeit beschnitten. Alle Menschen sind Geschöpfe des Himmels; deshalb haben auch alle Menschen Freiheitsrechte, die ihnen der Himmel ge-schenkt hat. Die Menschen sollen sich als freie Wesen entfalten dürfen; sie sollen lernen dürfen, was sie sich in den Kopf ge-setzt haben, sie sollen ohne Einschränkungen ihre Meinung äußern, sie sollen sich frei bewegen und ihren Vergnügungen nachgehen dürfen, und sie sollen nach freier Wahl einen Partner des anderen Geschlechts aussuchen dürfen. Alle Menschen be-sitzen diese Grundrechte, und ein Verstoß gegen die Gewäh-rung dieser natürlichen Freiheiten stellt eine gewaltsame An-maßung dar. In Europa und in Amerika besitzen die Frauen in neuerer Zeit diesen Freiheitsspielraum; sie können frei ihren Be-ruf wählen, dürfen frei reden, sich unterhalten, umherreisen, ihren Ehegatten wählen und sich scheiden lassen. In anderer Hinsicht sind sie den Männern hingegen nicht gleichgestellt. Alle asiatischen und afrikanischen Länder beschränken aber noch immer die Freiheiten der Frauen. Der Lebensstandard in diesen Ländern mag höher oder niedriger sein — die Einschränkung der Frauenrechte ist allen diesen Staaten gemeinsam.

Frauen sind in ihrer freien Gattenwahl eingeschränkt

(Frauen sind häufig genötigt, Männer zu heiraten, die nicht zu ihnen passen. Wenn solche Ehen unglücklich werden, ist der

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Grund hierfür nur darin zu sehen, daß bei der Heirat reine Zweckmäßigkeitserwägungen eine Rolle gespielt haben. Diese Situation wird in einem Sprichwort ausgedrückt: »Heiratet man ein Huhn, muß man picken; heiratet man einen Hund, muß man Knochen fressen.« In diesem System wird mit den Frauen um-gesprungen, als wären sie Spielsachen; sie werden entrechtet und versklavt.)

Frauen leben wie Gefangene

(Während die europäischen und amerikanischen Frauen sich frei bewegen können, herrscht in China noch die alte Sitte, daß die Frauen immer zu Hause bleiben müssen. Die Chinesinnen dür-fen nicht umherreisen oder außerhalb ihres Hauses einen Beruf erlernen. Die Frauen in Indien und in der Türkei sind in noch stärkerem Maße gefangen; die leben abgeschlossen, besonders wenn sie verwitwet sind, und sie tragen noch den Schleier. Solche Sitten sind nicht nur unnatürlich und unmenschlich, son-dern sie schaden auch dem körperlichen und seelischen Wohl-befinden.)

Frauen werden körperlich bestraft

(Die Sitte, Nasen oder Ohren zu durchbohren, um darin Ringe zu tragen, erinnert an alte, barbarische Strafmaßnahmen, wie das Abschlagen der Füße, der Ohren oder der Nase. Aber auch in China gibt es noch eine überkommene Sitte, die einer Bestra-fung gleichkommt: das Einschnüren der Frauenfüße. Solange diese Sitte nicht abgeschafft worden ist, sollte China nicht die Stirn haben, sich als zivilisiert oder als Kulturnation zu bezeich-nen. Als ich mich durch die Gründung der Gesellschaft gegen das Einschnüren der Füße (1883) und durch meine Eingabe an den Kaiserhof (1883) gegen diese Unsitte wandte, fand ich be-geisterte Zustimmung.)

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Frauen werden versklavt

(Die Frauenarbeit ist durchaus mit einem Sklaveneinsatz ver-gleichbar: Frauen sind an die Hausarbeit gefesselt; ihre Tätig-keit beschränkt sich auf immer wiederkehrendes Kochen, Wa-schen, Putzen und Flicken. In chinesischen Familien müssen die Frauen das tun, was ihre Ehemänner oder ältere Verwandte männlichen oder weiblichen Geschlechts anordnen. Die Frauen dienen ihren Familien wie leibeigene Mägde. Die weiblichen Familienangehörigen müssen von Kind an Dienstleistungen ver-richten, während den Männern alle Rechte zukommen. Auch in höheren Gesellschaftsschichten wird auf respektvolle Unterord-nung der Frauen geachtet.)

Frauen werden zum Spielzeug herabgewürdigt

(Männer beurteilen Frauen nur vom Standpunkt ihrer Schönheit und nach sexuellen Gesichtspunkten. Die Menschenwürde der Frauen spielt dabei keine Rolle. Da alle Menschen Geschöpfe des Himmels sind, darf es keine Wertungskategorien geben. Den-noch werden die Frauen zu Spielzeugen herabgewürdigt.)

Frauen dürfen sich nicht weiterbilden

(Die geistige Bildung ist für uns alle lebenswichtig, besonders aber für Frauen, da sie die Kinder erziehen. Sie ist auch die Vor-aussetzung für die Selbständigkeit, für das eigene Fortkommen und für die Gleichstellung der Frauen mit den Männern. Die Praxis zeigt jedoch, daß Frauen die Weiterbildungsmöglichkei-ten verschlossen bleiben, sogar in Familien, deren männliche Mitglieder eine Schulbildung genossen haben. Die weiblichen Begabungen sind also zu allen Zeiten ungenutzt geblieben. In Europa und Amerika haben sich zwar einige Fortschritte ge-zeigt; aber auch hier befassen sich die Frauen, sofern sie über-haupt studieren, nur mit konventionellen Studien, wie mit dem Lernen der französischen Sprache oder der Musikausübung. So-

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bald sie heiratsfähig werden, geben sie ihre Stellungen auf. Als Erwachsene beschäftigen sich auch solche modernen Frauen mehr mit dem Lesen von Romanen und mit Gesellschaftsspielen als mit ernsthaften Studien. Für die Weiterbildung der Frauen wird also nicht in ausreichendem Maße gesorgt, und die Frauen-rechte sind nicht sichergestellt. Dies stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar: es kommt einer Versklavung, Gefangen-setzung und Erniedrigung der Frauen zu Puppen nahe. Weder die Weisen der Geschichte noch die Religionen haben den Frauen die ihnen zukommenden Rechte zugestanden. Es ist erschreckend, daß diese barbarischen Sitten noch immer nicht abgebaut worden sind. Selbst sogenannte rechtschaffene Männer haben nichts getan, um den Frauen ihre Lage zu erleich-tern. Wenn man zu den Urzeiten zurückblickt, dann muß man feststellen, daß die handwerklichen Fertigkeiten und Künste nicht von Männern, sondern daß sie zuerst von Frauen ausgeübt worden sind. Die Männer befaßten sich damals mit der Jagd und fanden keine Zeit, verfeinerte Techniken zu ersinnen. Es müssen also Frauen gewesen sein, die die Fertigkeiten des Kochens, der Feldbestellung, des Häuserbaus, des Webens, der Seidenverarbeitung und der Kleideranfertigung entwickelten, ebenso wie sie die ersten Künste, wie das Malen, das Spielen von Instrumenten und das Schreiben ersannen, während die Männer noch ihrer primitiven Beschäftigung mit der Jagd anhingen. Es gibt auch historische Beispiele, die zum Vergleich herangezogen werden können! Man erinnere sich an starke und schwache Staatsgebilde, wie an das mongolische Reich im Vergleich zu den sechs Dynastien und der Südlichen Sung: »Die Zivilisation ist nicht in starken, sondern in schwachen Staaten hochentwickelt.« Es ist beschämend, auch bei der heutigen Aus-breitung der Zivilisation feststellen zu müssen, daß Frauen, die den Grundstein zur zivilisatorischen Entwicklung gelegt hatten, immer noch den Männern untertan sind, die sich nur auf ihre körperliche Überlegenheit stützen können.) Die Unterlegenheit der Frauen hat man damit begründet, daß sie kleiner und schmächtiger als Männer sind. Aber dies Argu-

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ment ist unhaltbar, denn es hat oftmals bedeutende männliche Persönlichkeiten gegeben, die sehr klein von Gestalt waren. Auch der Aufschwung des japanischen Reiches, dessen Bewohner von sehr schmächtiger Gestalt sind, würde sich mit solchen Argu-menten nicht vereinbaren lassen. Man hat auch gemeint, daß die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts auf den kleineren Umfang des Frauengehirns zurückzuführen sei. Untersuchungen in der Universität von Tokio haben jedoch ergeben, daß auch hier keine Unterschiede bestehen, mit Ausnahme der Tatsache, daß Gehirne von Frauen etwas weniger wiegen als diejenigen der Männer. Es wird die Meinung vertreten, daß Männer, die viel Geistesarbeit leisten, klüger werden und besser aussehen, wäh-rend Frauen bei geistiger Tätigkeit ihr Gehirn erschöpfen und häßlich werden. Das ist aber reine Spekulation, und man sollte solchen unbewiesenen Thesen keinen Glauben schenken. Die monatlichen Perioden machen Frauen zum Militärdienst phy-sisch untauglich, aber das ist kein Grund, die Gleichwertigkeit der Geschlechter in Frage zu stellen. Man muß den Wert eines Menschen individuell beurteilen, und zahllose Frauen sind weit-aus begabter als Männer. Die Diskriminierung der Frauen steht im Widerspruch zur Natur und zu den wohlverstandenen Inter-essen der Menschheit. Die Unterdrückungsmethoden, die den Frauen ihre Gleich-berechtigung entzogen, reichen weit in die Urzeit zurück, und sie stützen sich auf religiöse Überlieferungen und Gebräuche. Ihre Situation hat sich mit der fortschreitenden Zivilisation und der Aufklärung gebessert. Aber die strikte Einhaltung der Keuschheitssitten und der Trennung von Männern und Frauen gründet sich auf dem Wunsch, die Familien reinzuhalten und nur eheliche Söhne den Familiennamen tragen zu lassen. Im Zeitalter des Mangels an Frieden und Glück sind Sippenregeln und religiöse Vorschriften im Lichte der Erhaltung und Weiter-führung der Familie zu sehen. Ohne Familienbande würde jeder nur seinen eigenen Neigungen nachgehen; wir würden in primitive Verhältnisse zurückfallen, wo Männer und Frauen ge-dankenlos Verkehr miteinander pflegten, in animalische Zu-

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stände, wo es noch keine Religion und Kultur gab. Die Schaf-fung der Familie war auch die Grundlage für den Schutz der Kinder. In den primitiven Verhältnissen der Vorzeit oblag den Männern die Jagd und der Kampf, weshalb die Frauen automa-tisch in eine schwächere Position gerieten; als sich dann Religio-nen und staatliche Ordnungen ausbreiteten, hatten die Männer schon die Herrschaft übernommen. Die Frauen hatten sich seit Urzeiten an ihre Unterlegenheit gewöhnt und sahen ihre Ent-rechtung als naturgegeben an. In der Vorzeit wurde die Abstammung und das Erbe mütter-licherseits übertragen, wie es auch heute noch bei primitiven Völkerschaften der Fall ist. Wegen des unterschiedlosen Ver-kehrs zwischen den Geschlechtern kannte das Kind häufig nicht den Vater, sondern nur die Mutter. Die Bindung zur Mutterseite trug jedoch nicht in genügendem Maße zur Ausbildung einer Ge-sellschaftsordnung bei, und so entwickelte sich das System der Abstammung von der väterlichen Linie. Dies wirkte sich günstig auf den Fortschritt der Zivilisation aus; gleichzeitig war diese Entwicklung aber auch der Ansatzpunkt für den untergeordne-ten Status der Frau. Das Familiensystem, das sich auf Sitten und Gesetze gründet, hat zum Ziel, die männliche Überlegenheit zu legalisieren. Im Grunde genommen soll hiermit auch ein freier geschlechtlicher Verkehr der Frauen unterbunden werden und damit die Garan-tie für die Weiterführung des männlichen Erbgutes erhalten bleiben. Eine logische Konsequenz dieser Haltung ist auch die Sitte, daß Witwen nicht wieder heiraten dürfen. Auch die extreme Form der Selbsteinkerkerung oder des Feuertodes der verwitweten In-derinnen geht auf diesen Grundsatz zurück. Die Beharrlichkeit und die Tugend der Frauen steht also in engem Zusammenhang mit der Tatsache, daß sie nur einem Mann dienen. Die sexuelle Treue der Frauen muß man respek-tieren. Sie läßt sich vergleichen mit der Selbstkasteiung Buddhas und mit der patriotischen Selbsterniedrigung mancher Zeit-genossen der Ming-Periode, die als Kesselflicker und Bettler

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ihr Dasein fristeten. Eine solche Haltung ist ehrenwert und trägt zur Reinhaltung der Sitten bei. Wenn aber alle Menschen ihre Familienbande lösen wollten und sich zum Einsiedlerdasein ent-schlössen, dann würde die Menschheit innerhalb von fünfzig Jahren ausgestorben sein, und die Herrschaft über die Welt fiele wieder den Tieren anheim. Würde in China eine nationale Umwälzung ausbrechen, und würden alle Menschen ihren Glau-ben als Einsiedler und Bettler bekunden, dann wäre es mit der nationalen Zukunft des Landes vorbei, und China würde nur noch eine Kolonie ausländischer Mächte sein. Die Konfuzianer der Sung-Zeit vertraten sehr strenge Prinzi-pien; sie wollten den weisen Konfuzius sogar noch übertreffen. Sie ließen zahllose Witwen ihre Trauer zur Schau tragen und Kälte und Hunger erdulden. Aber diese himmelschreienden Ent-behrungen wurden von den Konfuzianern als edle Sitte betrach-tet. Eine Sittendoktrin kann aber nur dann segensreich sein, wenn die Menschen dadurch glücklicher werden und auch das, was sie ersehnen, in der Einhaltung der Vorschriften finden. Schon in den Shih-Schriften wird überliefert, daß die Regierung für die Zufriedenheit der Frauen zu sorgen hat. Eine Regierung ist nur dann als tüchtig zu bezeichnen, wenn die Menschen zu-friedengestellt sind und keine Entbehrungen durch Hunger oder Kälte zu erdulden haben. Es gehört aber auch zu Regierungs-maßnahmen, daß ein einzelner zum Wohle einer Gruppe ge-opfert wird. Wenn die Existenz eines Staates so hoch ein-geschätzt wird, daß das Leben seiner Bewohner demgegenüber unwichtig erscheint, dann können den Staatsinteressen sogar Menschen geopfert werden. Der Staat handelt aber unbillig, denn die universellen Rechtsprinzipien werden verletzt. Aber abgesehen von solchen Sondermaßnahmen läßt sich sagen, daß die Tätigkeit einer. Regierung immer darauf angelegt ist, den Staatsbewohnern Glück und Wohlfahrt zu verschaffen. Aus diesem Grunde ist der Grad des Leids oder des Glücks der Be-völkerung auch das einzige Kriterium für die jeweiligen zivilisatorischen Zustände und die Güte oder Böswilligkeit einer Regierung. Wenn das Volk glücklich und zufrieden ist, dann

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wird auch die Zivilisation gefördert und die Regierung ist tat-kräftig; wenn jedoch das Volk leidet und unglücklich ist, dann leidet auch die Zivilisation, und die Regierung wird unmensch-lich. Diese Erfahrungstatsache hat überall auf der Welt Gültig-keit. In den vergangenen Zeiten der Unordnung bildeten sich fami-liäre Grundvorstellungen heraus, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu regeln. Hieraus ergaben sich auch die Ungerech-tigkeiten und Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber den Frauen. Jetzt liegt es an uns, dieses repressive System zu ändern, denn wir sind in das Zeitalter des zunehmenden Friedens und beginnender Gleichheit eingetreten und wollen dem Fortschritt der Menschheit und der Vollendung der Zivilisation dienen. Das Zeitalter der Unordnung hatte die Menschen mit winterlicher Kälte umgeben, während das Zeitalter der Gleichheit sie frei und leicht wie der Hauch des Sommers umfächeln wird. Im I-ching, dem Buch der Wandlungen, steht geschrieben: »Eine Wandlung bewirkt Änderungen, und nach diesen Änderungen wird die Wandlung allumfassend. Die Wirkungen der allumfas-senden Wandlungen dauern an.« Im gegenwärtigen Zeitalter sind die Verhältnisse so weit gediehen, daß die moralischen Grundsätze, die menschliche Geisteshaltung und die Staats-formen in ihrer bisherigen Art umgestaltet werden sollten, um grundlegend neue Prinzipien zum Zuge kommen zu lassen. Hierzu gehört auch die Wandlung in der Haltung gegenüber den Frauen, und alle rechtschaffenen Männer sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Frauen, die sich äußerlich nur wenig von ihnen unterscheiden, zur vollen Gleichberechtigung zu verhelfen. Wir sollten jetzt die alten Mißstände gründlich be-seitigen und uns übler Sitten entledigen. Die Menschen sollten den Erbadel abschaffen und nicht mit Mitteln der Gewalt andere unterdrücken. Die Befreiung der Frauen von ihrem Joch ist eine Fortsetzung der großen Freilassungsaktion, die seinerzeit die Leibeigenen von ihrer Unterdrückung erlöst hatte. Ein Heer von Befreiern müßte den unterjochten Frauen zu Hilfe eilen. Die Gleichstellung der Frauen müßte in drei aufeinanderfolgen-

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den Zeitabschnitten erfolgen, in denen die nachstehenden Maß-nahmen ergriffen werden: t. Zunächst müßten Gefangenhaltung und Versklavung, Strafmaßnahmen und Einschränkungen besei-tigt werden. Damit finden ungeordnete Zustände ein Ende. 2. Die Vorschriften, die gesellschaftlichen Verkehr, Vergnügungen und Ausgehmöglichkeiten einschränken, müßten abgeschafft werden, so wie es in Europa und Amerika der Fall ist. Hiermit wird eine fortschreitende Gleichstellung erreicht. 3. Die ein-schränkenden Vorschriften, die Frauen daran hindern, öffentliche Verantwortung zu übernehmen, das aktive und pas-sive Wahlrecht auszuüben und volle Bürgerrechte zu genießen, müßten beseitigt werden, damit die Frauen auch nach außen hin den Männern gleichgestellt sind. Eine völlige Gleichberechtigung wird hiermit erzielt. Dies entspricht auch den Lehren des Konfu-zius, und allen Weisen in der Geistesgeschichte hat es am Herzen gelegen, das an Frauen verübte Unrecht zu beseitigen und damit Gleichstellung und Einheit zu erreichen. Nach Beseitigung aller dieser Einschränkungen werden die Frauen endlich in die Lage kommen, sich weiter zu emanzipieren. Die Voraussetzungen hierfür fasse ich im folgenden zusammen: t. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, eine vollständige Gleichstellung zu erreichen. Wir sollten zunächst Mädchenschulen errichten, die die gleichen Unterrichtsmethoden wie Knabenschulen haben. Mädchen, die eine Hochschulausbildung genossen haben, sollten akademische Titel erhalten und sie ihr ganzes Leben führen dür-fen, vergleichbar mit dem chinesischen >Chü-jen< und >Chin-shih< oder den westlichen Bezeichnungen >Bachelor< und >Dok-tor<. 2. Nach dem Studienabschluß und Ablegung einer Prüfung sollen die jungen Frauen Lehrerinnen werden können, oder sie sollen in beamtete Stellungen gewählt werden. Nur die Befähi-gung sollte hierbei entscheidend sein. Frauen sollten sogar in die Lage versetzt werden, bis zur Stellung eines Staatspräsidenten aufsteigen zu können. 3. Sobald Amtsstellungen frei werden, sollen Frauen in solche Position aufrücken. Wenn sie sich als Abgeordnete eignen, sollen

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sie auch Parlamentsmitglieder werden können. Frauen sollen audi als Delegierte bei internationalen Konferenzen fungieren. Sie sollen dort gleichberechtigt Sitz und Stimme erhalten. 4. Frauen müssen vor dem Gesetz unabhängig werden. Ein-schränkungen, die sich auf den Willen der Ehemänner gründen, sind abzuschaffen. S. Die europäisch-amerikanische Sitte der Annahme des Familiennamens des Mannes ist abzuschaffen und durch die Bei-behaltung des eigenen Namens zu ersetzen. 6. Frauen sollen völlig unabhängig ihren Ehegatten wählen kön-nen. Die Sitte, daß Eltern oder ältere Verwandte den zukünfti-gen Schwiegersohn bestimmen, ist abzuschaffen. Als Ein-schränkung soll nur noch die untere Altersgrenze von zwan-zig Jahren gelten, beziehungsweise der Abschluß des Studiums. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen die Mädchen noch dem Einfluß der Eltern unterliegen, danach aber völlig frei sein. 7. Die Staaten sollten Heiratsbeamte einsetzen, die die Aufgabe haben, Heiratswillige zu überprüfen und zu belehren. Die Paare sollten ihr Ehegelöbnis unterschreiben und dann die amtliche Heiratsurkunde erhalten. Sie müßten aber zumindest zwanzig Jahre alt sein. Eheschließungen von Jugendlichen müßten streng verboten werden. 8. Frauen müßten in der Offentlidikeit völlig selbständig wer-den. Sie müßten sich ihren gesellschaftlichen Umgang wählen können, unabhängig reisen und ihren Vergnügungen frei nach-gehen dürfen. Diese Rechte sollten ihnen jedoch erst mit zwan-zig Jahren nach Abschluß ihrer Studien zugestanden werden. Bis zum zwanzigsten Lebensjahr sollten sie unter Aufsicht der Eltern und älteren Verwandten stehen. Die Eltern sollten jedoch nicht zu streng sein, denn freier Ausgang und gesellschaftlicher Verkehr gehören zur Förderung der Entwicklung. Die noch aus den Zeiten der Ungeordnetheit herrührenden Schiddichkeits-regeln, die einen freien Zugang zu den von Männern bewohnten Räumlichkeiten verboten hatten, sollten völlig abgeschafft werden. 9. Zur Unabhängigkeit der Frauen gehört auch die Abschaffung

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veralteter Unsitten, wie das Einschnüren der Füße, die Taillen-schnürung, das Durchbohren von Ohren, Nase und Lippen zum Tragen von Schmuck, das Verschleiern und Verhüllen. Diese Neuerungen sollten unbedingt durchgesetzt werden, auch mit Hilfe öffentlichen Tadels oder durch Geldbußen bei Nichtein-haltung der Vorschriften. Andererseits sollten aber auch allzu freizügige westliche Unsitten streng verboten werden, wie das Entblößen der Schultern und das Entkleiden, auch das engum-schlungene Tanzen, das nur unzüchtige Gedanken weckt.

o. Wenn Frauen gleichberechtigt Umgang mit Männern pfle-gen, dann sollten sie im gesellschaftlichen Verkehr in keinerlei Rangordnung stehen; weder Männern noch Frauen sollte

generell der Vortritt zustehen, und es sollte auch kein Zwang bestehen, daß eine Dame immer in Begleitung eines Herrn sein muß. Gesellschaftliche Konventionen sollten insoweit abgebaut werden, als sie soziale Hemmnisse darstellen und zu Hinter-gedanken führen.

I. Frauen und Männer sollten gleichartige Kleidung und Schmuck tragen. Seit jeher haben sich die Geschlechter verschiedenartig gekleidet, einmal aus Schicklichkeitsgründen, zum anderen aber auch aus Eitelkeit. Allerdings dürfte bei gleichartiger Kleidung von Männern und Frauen die Einhaltung von Schicklichkeitsregeln schwierig sein. Seit alters her waren Anstandsvorschriften für Frauen von wesentlicher Bedeutung, besonders in jener Zeit, als die Frauen noch als Privatbesitz der Männer galten. Eine Gleichartigkeit der Kleidung war also da-

mals undurchführbar. Dies zeigte sich auch an der Kleidung der Schauspieler: Sie trugen bunte Sachen; auch männliche Schau-spieler mußten sich wie Frauen schminken. Dieses Beispiel ist all-gemein auf die Stellung der Frau in früheren Zeiten übertrag-bar, denn sie war wie eine Schauspielpuppe in den Händen des Mannes. Frauen durchbohrten ihre Ohren, schnürten Füße und Taillen ein, färbten ihre Zähne, rasierten die Augenbrauen,

schminkten sich, trugen Perücken und stelzten einher. Sie scheu-ten sich nicht, ihr Äußeres zu entstellen, um einem Mann zu ge-fallen. Dies galt auch für die Kleidung: Der Zwang zum An-

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ziehen nach der Mode verstärkte noch die Puppenhaftigkeit. Auch heute noch ist die Kleidung der Frauen verspielt, während sich Männer zweckmäßig anziehen. Die Funktion der Frauen als Spielzeuge in den Händen der Männer hat sich erhalten. Wenn im Zeitalter der Großen Gemeinschaft die neue Moral sich durchgesetzt hat, wird es nur noch wenige Unter-scheidungsmerkmale zwischen den Einzelwesen geben. In früheren Zeiten, aber auch in der Gegenwart tragen in monarchischen Staaten höhergestellte Schichten und einfache Menschen verschiedenartige Kleidung; in Amerika ist jedoch die Bekleidung führender Persönlichkeiten und die der Volksmassen einheitlich. Eine solche vereinheitlichte Tracht ist in keiner Weise nachteilig; sie trägt im Gegenteil zur Gleichstellung der Bevöl-kerung bei. Wenn diese Regel für Regierende und Regierte zu-trifft, wie sehr gilt sie dann erst für Männer und Frauen. Bezüglich der Kleidung sollten allgemeine Regelungen getroffen werden; sie sollte für Männer und Frauen gleichartig sein. Im Zeitalter des vollendeten Friedens und der völligen Gleichheit werden alle Menschen unabhängig und freizügig sein! Die Leute dürfen sich dann kleiden, wie sie wollen. Auch eine ungewöhn-liche Kleidung wird zugelassen, was dann die Tracht früherer Zeiten sein dürfte. Bei öffentlichen Versammlungen würden Männer und Frauen jedoch eine gleichartige Festkleidung an-legen. Sie sollten dann nicht verschiedenfarbige Sachen tragen, sondern durch das Äußere ihre einheitliche Gesinnung bekunden. Durch die Einheitskleidung wird auch das Verhalten der Men-schen gleichförmig zum Ausdruck kommen. Frauen werden dann gleichberechtigt mit Männern ihren Pflichten nachkommen und auch Amtsstellungen bekleiden oder als Lehrer und Vorgesetzte fungieren.

12. Die Wahl des Ehepartners bleibt der freien Wahl der heiratswilligen Männer und Frauen überlassen. Sie entschließen sich zum ehelichen Bund, wenn die gegenseitige Zuneigung sie dazu bewegt. Dieser Bund wird als >Vertrag zu intimen Bezie-hungen< bezeichnet. Die alten Strukturen, die sich auf die Herr-schaft des Hausherrn und die Dienerschaft der Ehefrau bezie-

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hen, werden dann entfallen. Da Männer und Frauen völlig gleichgestellt werden, sollen sie auch selbständig wie Staaten miteinander Verträge schließen können. Es gibt dann keine Be-deutungsunterschiede und Ordnungskriterien mehr; wenn sich irgendwelche Herrschaftsstrukturen herausbilden sollten, dann hätte der Ehebund seinen Sinn verloren. Die vom Himmel den Menschen übertragenen Rechte auf Gleichheit und Unabhängig-keit dürfen dann nicht mehr verfälscht werden, und die Gemein-schaftsregierung müßte alle Arten von Herrschaftsausübungen der Männer über die Frauen verbieten. Ein Ehebund darf nicht mehr und nicht weniger als die Besiegelung der Freundschaft zwischen zwei Partnern darstellen. 13. Die Ehebünde zwischen Männern und Frauen sollten zeitlich begrenzt sein; sie sollten keine lebenslangen Vertragsverein-barungen sein. Die Verschiedenartigkeit der menschlichen Natur ist dabei zu berücksichtigen. Metall ist hart; Wasser ist weich; Kälte und Wärme bedingen verschiedene Zustandsformen; Menschen können hartherzig oder mitleidig sein; es gibt süße

und bittere Geschmacksempfindungen, Klugheit und Dummheit in verschiedenen Abstufungen, fortschrittliche und reaktionäre Verhaltensweisen. Demgemäß läßt sich sagen, daß auch Liebes-paare niemals gleichartigen Geistes sind, und es ist durchaus möglich, daß sie sich nach einiger Zeit auseinanderleben und ein-ander fremd werden. Zwei Menschen können sich zwar ver-sprechen, einen Bund zu schließen; es kann jedoch sehr schwierig werden, dieses Versprechen lange Zeit hindurch einzuhalten.

Wenn der Zwang zum Zusammenleben weiterbesteht, gibt es unweigerlich Streitigkeiten. Es kann dazu kommen, daß sie nicht mehr miteinander sprechen, daß sie getrennt leben, daß sie ein-ander hassen und sich scheiden lassen oder daß sie sogar heimlich danach trachten, den Partner zu vergiften. Unzählige Ehepaare hat es auf der Welt gegeben, die verbittert bis ans Ende ihrer Tage aneinander gekettet waren und die sich gegenseitig nur Leid zufügten. Sie wagten aber nicht, den Bund aufzulösen, aus Furcht, in schlechten Ruf zu geraten, als unmoralisch oder ge-fühllos angesehen zu werden. So harrten sie zusammen aus, in

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unüberwindlicher Abneigung voreinander. Keinen Augenblick lang konnten sie mehr in Zufriedenheit leben. Es gibt daher selbst für weise und gutartige Menschen keinerlei Gewähr für einen unbegrenzten Fortbestand des ehelichen Glücks. Weiterhin läßt sich sagen, daß der Mensch häufig geneigt ist, neue Liebesverhältnisse einzugehen. Das ewige Einerlei mit dem gleichen Partner wird lästig und langweilig. Die Menschen sind auf der Suche nach Abwechslung und Schönheit. Auch in Fällen, wo ein Mann einen Bund mit einer schönen Frau geschlossen hat, kann leicht späterhin die Bekanntschaft einer noch tüchtigeren und besser aussehenden Frau gemacht werden, die besser zu ihm paßt als die erste Partnerin und die womöglich auch noch wohl-habend ist: Dann kann sich wiederum eine gegenseitige Zunei-gung einstellen, und man denkt daran, eine neue Verbindung einzugehen. Danach kann sich wiederum die Gelegenheit zu einem Partnerwechsel ergeben, wenn man seinen Neigungen folgt und nach Abwechslung trachtet. Ein Bund fürs Leben kann auch die Grundsätze der Freizügigkeit und Gleichstellung aller Menschen verletzen, denn die Lebensumstände sind ständigem Wechsel unterworfen. Im Zeitalter der Unordnung gründete sich der Bund zwischen Ehemann und Ehefrau nur auf der Vorstellung, daß durch ihn die Aufzucht der Nachkommenschaft sichergestellt werden sollte. Der Ehemann übernahm die Pflicht der Kindersicherung als seine persönliche Aufgabe, und deshalb war es zwangsläufig, daß es sich hier um lebenslange Ehebünde handelte. Mann und Frau waren ihr Leben lang aneinander gekettet, und alle Kinder stammten von dem gleichen Vater ab. Wenn aber das Zeitalter der völligen Gleichheit näherrückt, werden Männer und Frauen gleichberechtigt und unabhängig ihr eigenes Leben führen kön-nen. Alle Menschen werden dann der Gemeinschaftsregierung unterstehen; sie werden das >Volk des Himmels< in einer einigen Welt sein. Männer und Frauen werden sich nur noch ihren Neigungen entsprechend vereinigen; die Weiterführung der Familientradition von Generation zu Generation wird dann ganz in den Hintergrund treten.

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Kann man einen lebenslangen Zwangsbund befürworten, der immer wieder Leiden und Schwierigkeiten mit sich bringt? Es ist unmoralisch, den Menschen einen solchen Zwangsbund aufzunö-tigen. Wenn es tatsädilidi Paare gibt, die ständig glücklich mit-einander leben, dann wird es diesen natürlich gestattet werden, ihren Ehevertrag immer wieder zu erneuern, damit sie bis ans Lebensende zusammenbleiben können. Allen Ehebünden muß jedoch eine gegenseitige Zuneigung zugrunde liegen, und sie müs-sen frei vereinbart werden. Damit es den Vertragschließenden leichtfällt, die Vereinbarun-gen einzuhalten, müssen die Übereinkünfte zeitlich begrenzt werden. Menschen, die sich ineinander verlieben, brauchen dann nicht lange zu warten, bis sie einen Bund eingehen können. Ein Ehevertrag darf aber auch nicht zu kurz befristet sein, damit die Herkunft der Nachkommenschaft offenkundig bleibt. Die Men-schen können, wenn sie es wollen, ihr Leben lang zusammenblei-ben; sie dürfen aber auch den Vertrag beenden und den Partner wechseln, wenn das ihren Neigungen entspricht. In den Be-ziehungen zwischen den Geschlechtern soll Freizügigkeit herr-schen, wie es nicht nur der menschlichen Natur entspricht, son-dern auch in den allgemeinen Naturgesetzen deutlich vorgegeben erscheint. (Im alten China wurde die Scheidung schon durch Konfuzius und den Philosophen Han Fei-tze gutgeheißen. Sie ist auch in der chinesischen Gesetzgebung vorgesehen. Im Westen ist sie überall an der Tagesordnung. Die Ehe ist jedoch überall als lebenslanger Bund angelegt, und Geschiedene werden häufig verleumdet und mißachtet. Daher trachten auch unglückliche Eheleute nicht nach dieser Lösung, sondern bleiben geduldig bei-sammen trotz gegenseitiger Abneigung. Im Zeitalter der völli-gen Gleichstellung wird dagegen die Unabhängigkeit das höchste Gebot sein, und kein Partner, der sich mit dem anderen nicht mehr verträgt, wird zur Fortsetzung des Bundes genötigt wer-den. Durch das Prinzip der kurzen Vertragsdauer wird die Ge-fahr der Verleumdung oder Mißachtung eines getrennten Part-ners ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß das große Problem der

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sexuellen Unmoral entfallen wird, das seit jeher den Fort-schritt der Menschheit behindert hat. Denn es gibt kein Mit-

tel, geschlechtliche Begehrlichkeit einzudämmen; je mehr

Zwangsmaßnahmen ergriffen werden, desto stärker bricht der

Trieb durch. In der Großen Gemeinschaft wird jeder seine Nei-

gungen befriedigen können; das Problem der sexuellen Unmoral

wird dann der Vergangenheit angehören. Die Menschen brau-

chen dann keine Ehen mehr einzugehen, und sie brauchen auch

nicht verheiratet zu bleiben; wenn sie aber einen Bund schließen

oder ihn verlängern wollen, dann wird ihre Entscheidung re-

spektiert.) Deshalb sollte festgelegt werden, daß die Ehevertragsdauer ein

Jahr nicht überschreiten und einen Monat nicht unterschreiten

dürfte. Nur diejenigen, die in ihrem Bund glücklich bleiben,

sollten ihren Vertrag verlängern. Deshalb sollten auch Stellen eingerichtet werden, die für die

offizielle Besiegelung der Eheschließung zuständig sind.

Ehewillige sollten die örtlichen Ämter aufsuchen, wo der Kon-

trakt aufgesetzt wird. Sie hätten zu geloben, sich für die Dauer

des Ehevertrages zu lieben. Die Selbständigkeit wird den Frauen so lange verwehrt sein, wie

sie nicht gleichberechtigt mit den Männern ihre Ausbildung ab-

schließen und Diplome vorweisen können. Sie bleiben auch als

Hausfrauen unselbständig. Dennoch sollte man davon absehen,

alle bisherigen Gebräuche über den Haufen zu werfen, da sich

überstürzte Änderungen nachteilig auswirken können. So wäre

es ungerecht und ein Zeichen von Undankbarkeit, wenn eine alte

Frau sich plötzlich entschlösse, ihren Mann zu verlassen, da sie

ihr Leben lang von ihm unterhalten worden ist. Auch eine

schwangere Frau dürfte von ihrem Mann nicht plötzlich ver-

lassen werden. Die ganze Problematik hängt mit dem Mangel

an Ausbildung und Wissen der Frauen zusammen. Doch selbst

wenn eine Frau voll ausgebildet ist und ihre Bürgerrechte wahr-

nehmen kann, wird es sich häufig nicht vermeiden lassen, daß sie

zeitweilig von ihrem Ehemann abhängig ist. Deshalb muß auch

alles getan werden, um die Selbständigkeit der Frauen in jeder

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Hinsicht zu fördern und sie an der Verantwortung teilnehmen zu lassen. Soweit meine Gedankengänge, die darauf angelegt sind, die Zu-kunft der Frauen fortschrittlicher zu gestalten. Man darf hierbei aber nicht einen falschen Weg einschlagen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Bildungsstand vieler Frauen noch sehr niedrig, und wenn unvermittelt die völlige Selbständigkeit der Frauen verkündet werden würde, wenn sie ihre bestehenden Ehen auf-lösen und ihren Leidenschaften freien Lauf lassen könnten, dann würden Unruhe und Unordnung ausbrechen. Jedes Ding zu sei-ner Zeit; eine Entwicklung darf nicht übermäßig forciert wer-den, und falsche Folgerungen müssen vermieden werden. Der Verfasser will ausschließen, daß ihm die Verantwortung für eine Entwicklung angelastet werden könnte, die zum Verfall der Moral und der Sitten führt.

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TEIL VI Wie man familiäre Schranken abschafft und wie die Menschheit ein »Volk des Himmels« wird

Einführung

Die natürlichen Grundlagen der Liebe zwischen Eltern und Kindern

(Schon wenn man sieht, wie Vögel, Fische und wilde Tiere für ihre Nachkommenschaft sorgen, kann man ermessen, daß die Elternliebe die Grundlage alles Lebens ist. Diese Liebe ist spon-tan und naturgegeben; sie erwartet keine Belohnung und ist durch keine Vorschrift begründet. Sie ist vom Himmel eingege-ben und wurzelt in >Jen<, in der Nächstenliebe. Jedes Wesen liebt seine Nachkommenschaft, es hängt an seiner eigenen Art. So pflanzen sich die Geschöpfe immer weiter fort und verhin-dern das Aussterben der Gattung. Wenn die Liebe nicht fort-dauert, dann erlischt die Art, dann geht auch die Menschheit zugrunde. Der Grundpfeiler des Menschseins ist die Liebe zur eigenen Wesensart, die sich in der Fortpflanzung ausdrückt. Im Gegensatz zum Tier wird sich aber der Mensch dieser Liebe bewußt.)

Die Ursprünge der Vater-Kind-Beziehungen

(Wenn man zu den Ursprüngen der Menschheit zurückblickt, ergab sich aus der Notwendigkeit der Kinderaufzucht der Zwang, daß sich die Frau einem Mann anschloß, der ihr Hilfe und Schutz gewährte. Schließlich stellte sich die Sitte ein, daß die Erzeuger der Kinder Vaterpflichten übernahmen, die dann gesetzlich verankert wurden. Auch die Sitte, daß um einen ver-storbenen Vater drei Jahre lang getrauert wurde, gehört hier-zu.) In diesem Zusammenhang erscheint die Problematik der

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Vaterschaft für alle in einer Ehe geborenen Kinder unwichtig; die Hauptsache ist, daß die Kinder von der Frau geboren wur-den, die der Mann liebt, weshalb er auch seine Zuneigung auf die Kinder ausdehnt und ihnen Unterhalt gewährt. Dieser Grundsatz hat sich seit Urzeiten bewährt und gehalten; er ist die Voraussetzung für die Beziehungen zwischen Vätern und Kindern. (Da in grauer Vorzeit die Vereinigung der Geschlechter keinen Vorschriften unterlag, gab es noch keine Probleme der Vater-schaft. Es gab auch noch keine Familiennamen; die Kinder fühl-ten sich der Verwandtschaft der Mutter zugehörig.)

Begründung der ehelichen Verhältnisse und Entstehen von Familie und Sippe

(Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein System der dauernden Bindung von Mann und Frau. Ein solcher Lebensbund erwies sich als vorteilhaft, zumal da viele Paare auch den Wunsch zum Zusammenbleiben verspürten. Die Institution des dauernden Bundes wurde dann als heilig angesehen, auch aus dem Grunde, um Streitigkeiten wegen des Besitzes einer Frau auszuschließen. Dies war auch der Grundstein für die Institution der Familie, denn den Kindern war nunmehr ihr Vater bekannt, und alle fühlten sich durch blutsmäßige Bande und durch die Schaffung einer Häuslichkeit miteinander verbunden. Durch die Heiraten der Brüder und nachfolgende Kinderzeugung und Enkelauf-zucht bildeten sich schließlich Sippenverbände. Die Sippe fußte auf der ersten Elterngeneration; der Bund zwischen diesen Ehe-leuten bildete den Grundstock für die engere Familie und die ganze Sippe.)

Unterschiede in der Art und Stärke der Liebesbeziehungen bei Menschen und Tieren

(Familiäre Bindungen liegen zwar allen Beziehungen der Lebe-wesen zugrunde; der Unterschied zwischen Menschen und Tie-

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ren ist aber in der Tatsache zu sehen, daß Menschen eine um-fassendere Liebesfähigkeit entwickeln können. Diese Fähigkeit trägt dazu bei, daß Menschen den Tieren überlegen sind, denn sie schließen sich zu Gruppen zusammen, die einander bewußt unterstützen, während die Tiere Einzelwesen bleiben.) Den Menschen ist Wissen und Erfahrung zu eigen, die sich auf die Liebesfähigkeit und die Übertragung der Zuneigung auf die Nachkommenschaft gründet.

In allen Nationen gibt es soziale Beziehungen, doch die Sippenzusammengehörigkeit ist in China am höchsten entwickelt; deshalb ist China auch das volkreichste Land

(In allen Ländern der Welt haben sich soziale Beziehungen ent-wickelt, die mehr oder weniger bindend sind; China ist das Land, das mit seiner Sippenzusammengehörigkeit ein System geschaffen hat, das solche Beziehungen stark ausdehnt. Kein anderes Volk hat eine derart ausgeprägte Ahnenverehrung, und nirgendwo anders gibt es eine so umfassende Unterstützungs-bereitschaft innerhalb der Sippe wie in China, die sich sogar auf Verwandte im Ausland erstreckt. Hierin liegt auch der Grund für die Vermehrung der chinesischen Bevölkerung, die ein Drit-tel aller Erdbewohner umfaßt. Konfuzius schuf im Zeitalter der Unordnung eine Familien- und Sippenordnung, die der Bildung von Gruppen gleicher Abstammung sehr förderlich war und zur Gründung von Großfamilien anregte. Hierin liegt die große Leistung des Konfuzius. Der Abendländer hat dort seine Heimat, wo er zufällig lebt; der Chinese hingegen fühlt sich nur im Hause seiner Vorfahren beheimatet, auch wenn er in anderen Landschaften wohnt. Chinas Familienordnung ist somit das am weitesten entwickelte System dieser Art auf der Welt.)

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Die Sippenordnung als Anlaß für Abgrenzungs- und Entfremdungstendenzen

Ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl führt aber auch dazu, daß man sich von anderen abgrenzt. Den einen schenkt man seine Zuneigung; die anderen lehnt man dementsprechend in stärkerem Maße ab. Die chinesische Sippenordnung führt dazu, daß man sich mit den Menschen verbunden fühlt, die den gleichen Familiennamen führen, und daß man sich gleicher-maßen von allen anderen Menschen entfremdet. Alle Fürsorge und Unterstützung wird nur denjenigen gewährt, die den glei-chen Namen tragen; andererseits bilden sich leicht Feindschaf-ten zwischen Menschengruppen verschiedenen Namens heraus. Seit alters her hat sich diese Denkweise in der chinesischen Vor-stellungswelt ausgeprägt, und somit ist den Chinesen der Begriff der Nation viel weniger geläufig als das Gefühl der Zusammen-gehörigkeit mit Menschen des gleichen Namens, entsprechend der Familientradition. Wenn sich aber die Familien derart von-einander abgrenzen, dann schaffen sie tausende von Trennungs-linien im eigenen Volk. Wenn in China wohlhabende und barmherzige Menschen Geld spenden, dann opfern sie für die Ahnen, helfen sie den Armen oder unterstützen sie Schulbauten; aber hierbei haben sie nur ihre eigene Sippe im Auge. Andere Familienverbände empfangen keine Unterstützung, ganz zu schweigen von Geldern, die der Allgemeinheit zugute kommen könnten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl erstreckt sich aber nicht nur auf die Sippe; es erfaßt im weiteren Sinne auch die Menschen, die im gleichen Ort, im gleichen Distrikt oder in der gleichen Provinz wohnen. Auch hier, im räumlichen Zusammen-hang, kann man die Symptome der Anlehnung an Menschen beobachten, die in der gleichen Landschaft wohnhaft sind, wäh-rend Menschen aus anderen Wohngebieten abgelehnt werden. Es findet also nicht nur eine Absonderung des eigenen Sippen-verbandes statt, sondern auch eine gefühlsmäßige Trennung nach Distrikten und Provinzen. Es kommt gar nicht dazu, daß größere Geldbeträge für Schulen, Krankenhäuser, Altersheime

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oder Waisenhäuser gesammelt werden können. Diese unsinnige Einstellung hat derart um sich gegriffen, daß ein Zusammen-gehörigkeitsgefühl innerhalb des ganzen Volkes erstickt wird und daß zahllose winzige Völkchen ihr Eigenleben führen. Die vierhundert Millionen Bewohner Chinas helfen einander nicht, und deshalb ist auch die größte Nation der Welt gleichzeitig der schwächste Volksverband. In den vielen Nationen der Welt gibt es keine vergleichbare Erscheinung. Der Grund ist zweifel-los darin zu erblicken, daß die Sippen und die Ortschaften sich wie Festungen voneinander abgeschirmt haben und damit die ungesunde Entwicklung selbst verschuldeten.

Vorzüge und Nachteile der Sippenordnung im Vergleich zwischen China und dem Westen

(Der chinesische Ahnenkult ist eine sehr löbliche Erscheinung. Nationen ohne Ahnenverehrung lösen sich von ihren Ursprün-gen. Obwohl jedoch in anderen Völkern die Verehrung der Vorfahren nicht so fest wie in China verwurzelt ist, sind euro-päische und amerikanische Nationen nicht nur zivilisiert und tatkräftig, sondern in vieler Hinsicht auch weit überlegen. Große Geldbeträge werden für öffentliche Einrichtungen und für die Wohlfahrt des Volkes ausgegeben, nicht nur zur Förde-rung des Sippenverbandes, wie es in China üblich ist. Wenn man die Vorzüge und Nachteile der beiden Systeme gegeneinander abwägt, dann muß man die Methode, die der Allgemeinheit förderlich ist, befürworten. Aufs Ganze gesehen ist dem west-lichen System der Vorzug zu geben.)

Die Familie als Schutzverband

(Auf der ganzen Welt ist die Familie der Grundpfeiler des menschlichen Zusammenlebens. Von der Wiege bis zum Grabe hängen wir von der Familie ab, die uns Schutz, Hilfe und Trost gewährt. In der Not können uns auch die besten Freunde im Stich lassen; sie können sich sogar gegen uns wenden — die

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Familie hält aber im Guten wie im Bösen zusammen, auch wenn

einzelne Mitglieder mitunter anderer Meinung sind.)

Das Leid elternloser Kinder

(Ein Waisenkind ist unendlich zu bedauern. Wenn es in zivili-sierten Ländern auch in ein Waisenhaus kommt und nicht zu-grundezugehen braucht, sind seine Lebenschancen doch sehr

gering. Es kann sich an keinen Familienangehörigen anlehnen, erhält keine angemessene Ausbildung und kann in Leibeigen-schaft fallen. Doch Mitleid allein nützt den Waisen nichts; eine Lösung dieses Problems steht noch aus.)

Elternliebe und Kindesliebe

(Unter unendlichen Mühen und Opfern ziehen die Eltern ihre Kinder auf, bis sie erwachsen geworden sind. Doch viele Kinder müssen schon jung sterben, und viele erweisen ihren Eltern keine Kindesliebe. Somit wird häufig das Ideal der Eltern-Kinder-Liebe nicht erreicht. Dennoch ist die natürliche Liebe zwischen Eltern und Kindern die eigentliche Basis für die Existenz der

Menschheit; sie ist auch der beste Weg zu wahrer Humanität.)

Dankesschuld der Kinder

(Alles verdanken wir unseren Eltern, und diese Dankesschuld sollten die Kinder den Eltern zurückgeben. Wenn die den Kin-

dern erwiesene Liebe nicht vergolten wird, greift die öffentliche Meinung oder sogar das Gesetz ein, um den Ausgleich zu er-zwingen. Im Leben muß alles bezahlt werden, das ist eine

Grundregel. Da wir unseren Eltern verpflichtet sind, ist es auch unsere Aufgabe, diese Dankesschuld zu begleichen. Schon Kon-fuzius hat den Kindesdank als Verpflichtung herausgestellt. Undankbare Kinder sind verfemt; sie sind vergleichbar mit

säumigen Schuldnern. Ihre Schuld ist jedoch weitaus größer als

die eines Menschen, der nur das Entliehene nicht zurückgibt.)

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Die undankbare Haltung europäischer und amerikanischer Kinder

(Die westlichen Nationen gelten als zivilisiert, obwohl die dort herrschende Familienordnung dem zu widersprechen scheint. Auch im Westen obliegt den Eltern die Verantwortung der Kinderaufzucht; doch schon wenn sie heranwachsen, trennen sich die Kinder von ihren Eltern, und wenn sie geheiratet haben, widmen sie sich nur noch der neugegründeten Familie. Eltern und Kinder leben nur noch wie Freunde nebeneinander her. Wenn die Söhne reich geworden sind oder höhere Stellungen bekleiden, dann vergessen sie ihre Eltern und leben nur noch für ihre Frauen. Den Eltern werden ihre Mühen nicht vergolten. Alte oder kranke Eltern werden ebenso wie verwitwete Eltern-teile im Stich gelassen. Eine Engländerin hat mir erzählt, daß abendländische Eltern lieber Töchter großziehen als Söhne. Herangewachsene Söhne verlassen nämlich das Elternhaus, während unverheiratete Töchter weiter für die Eltern sorgen. Als der amerikanische Präsident McKinley starb, hinterließ er fast sein ganzes Vermögen seiner Frau. Seine Mutter erhielt nur tausend Dollar. Eine derartige Verhaltensweise wäre in China unmöglich. Selbst ein Staatspräsident lebt also nur für seine Frau, und wenn seine Eltern unvermögend sind, profitieren sie nicht von seiner Stellung. Nur selten wird gesetzlich verfügt, daß ein Drittel der Einnahmen den Söhnen verarmter Eltern zugute kommen soll. Im Westen wird kein Ahnenkult betrieben, wie er in China üblich ist. Ich sprach einmal mit einem Europäer, der sich be-wundernd über die chinesische Lebensart ausdrückte. Eine Ame-rikanerin sagte mir, daß Ansammeln von Reichtum notwendig sei, daß Aufziehen von Kindern jedoch eher hinderlich wäre, da diese nur Ärger bereiteten. Zwei mir bekannte englische Gou-verneure von Singapur blieben unverheiratet. In neuerer Zeit wollen Französinnen kinderlos bleiben; deshalb nimmt auch die Bevölkerung Frankreichs ab. Im Westen verstärkt sich die Tendenz, im Kinderreichtum keinen Segen mehr zu erblicken.)

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Nachteile der westlichen Familienordnung

(Wenn man nach den Ursachen forscht, weshalb der Westen trotz seiner fortschrittlichen Regierungssysteme die kindliche Dankesschuld ablehnt, so erkennt man den Grund in der west-lichen Vorstellung von Freiheit. Alle Menschen haben das Recht zur Selbstbestimmung und zur Befriedigung der eigenen Wün-sche. Das sichert aber nicht nur die freie Gattenwahl; sie führt auch zur völligen Unabhängigkeit der Ehefrauen von ihren Schwiegermüttern und zur Loslösung der Söhne von ihren Vätern. Die Trennung von den Eltern und die Bindung an den Ehegat-ten ist ein bedauerlicher Mißstand.)

Moralische Grundlagen der chinesischen Familienordnung im Vergleich zwischen Konfuzianismus und Christentum

(Es ist menschlich, bei allen Handlungen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Obwohl Väter ihre Söhne von Na-tur aus lieben, erwarten sie jedoch, daß ihnen ihre Mühen eines Tages vergolten werden. Alte und Kranke erwarten, daß sie von ihren Kindern und Enkeln umsorgt werden; Eltern rechnen damit, daß wohlhabende Nachkommen sie unterstützen. Kin-derreiche erhoffen sich daher größere Vorteile als kinderlose Ehepaare, denn die Kinder sorgen auch für ein angemessenes Begräbnis und für Opfergaben. Konfuzius hat die Dankesschuld der Kinder gegenüber ihren Eltern betont; da den Kindern die Abgeltung dieser Schuld obliegt, unterziehen sich die Menschen gern der Mühe, Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen. Hierin liegt auch der Grund, weshalb China das volkreichste Land der Erde ist. Die Verantwortung für die Kinderaufzucht ist im Westen ge-setzlich verankert. Es gibt aber kein Gesetz, daß die Kinder-zeugung vorschreibt, weshalb sich dann die Neigung zur Kin-derlosigkeit, wie bei manchen Französinnen, verstärkt hat. Es würde der menschlichen Natur widersprechen, Kinder großzu-ziehen, von denen man keine Dankbarkeit zu erwarten hat. So

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liegt auch nahe, daß viele Abendländer ihr Vermögen wohl-tätigen Institutionen vermachen und nicht die Kinder zu Erben einsetzen, mit denen sie sich nicht mehr verbunden fühlen. Wenn man wie im christlichen Glauben die Meinung vertritt, daß die Menschen Kinder Gottes sind, oder daß sie mehr dem Staat als den Eltern zu dienen haben, wie es die Einstellung im alten Sparta war, dann wird die Bedeutung der Elternschaft auf ein Minimum beschränkt. Der natürliche Grundsatz der Abgeltung der Dankesschuld durch die Kinder muß aber auf-rechterhalten werden, so wie es Konfuzius die Chinesen gelehrt hat.)

Nur wenige Chinesen können ihre Dankesschuld abtragen

(Man darf hierbei nicht verkennen, daß auch Chinesen nur gewöhnliche Menschen sind und wie die Bewohner des Westens danach trachten, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Es gibt auch in China nur wenige Menschen, die sich freiwillig ein-schränken, um das Ersparte ihren Eltern zugute kommen zu lassen. Für die meisten Chinesen sind die Kosten für den Unter-halt der eigenen Familie zu hoch, um auch noch zusätzlich für die Eltern sorgen zu können. Das Einkommen reicht kaum aus, um ein Ehepaar ernähren zu können, und sogar eine Einzelper-son, wie ein Priester, hat kaum genug zum Leben. Im Westen sind die Einkommensverhältnisse weitaus günstiger als in China, wo der Arbeitslohn kaum hinreicht — wenn man überhaupt ein Arbeitseinkommen hat. In meinem Heimatort gibt es viele Men-schen, die von ihrer Familie nicht unterstützt werden können; überall in China sind die meisten Kinder finanziell nicht in der Lage, ihren alten Eltern ihre Dankesschuld abzugelten.)

Individuelle und graduelle Unterschiede elterlicher Fürsorge und kindlicher Dankbarkeit

(Eltern mögen noch so ungebildet, grob oder sogar grausam sein — da ist keiner, der nicht imstande ist, seinen Kindern

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Liebe zu geben. Dennoch gibt es nur wenige Kinder, so gut ihre moralische Erziehung sein mag, die ihren Eltern ihre Liebe ver-gelten. Woher rührt dieses Mißverhältnis?) Liegt es in der menschlichen Natur, daß den Eltern die Fähig-keit der liebevollen Fürsorge gegeben ist, während sie den Kindern fehlt? Es mag daran liegen, daß es leichtfällt, unter sich zu blicken, während das ehrerbietige Aufblicken Überwin-dung kostet. So liegt auch der Vergleich nahe, daß das Sorgen für die Kinder, die den Eltern unterstellt sind, leichter fällt als das Dienen für die Eltern, die den Kindern überlegen sind. Wenn solches Verhalten den natürlichen Anlagen entspräche, dann könnte man es auch als eine gute Sitte bezeichnen. Jeder Mensch muß jedoch erkennen, daß er seinen Eltern Dank schul-det, und daß seine eigenen Kinder wiederum ihm zu Dank verpflichtet sind. Woran mag es aber liegen, daß es den Men-schen schwerfällt, den Eltern zu dienen, während sie anderer-seits gern ihre Kinder großziehen? Dies scheint unerklärlich zu sein. Wenn man eine Erklärung für diese paradoxe Gegenüberstel-lung sucht, muß man erkennen, daß der Mensch sein Kind als Teil seines eigenen Körpers liebt. Damit beginnt auch die Für-sorge für das Neugeborene. Es liegt auch in der Natur des Menschen, daß er gern mit einem kleinen, einfältigen Wesen spielt. Manche Leute halten sich aus diesem Grunde Hunde oder Katzen und nehmen sie sogar mit ins Bett. In weitaus größerem Maße ist das Interesse an einem Baby begründet, das lachen oder weinen, strampeln und spielen kann. Außerdem ist es ein menschliches Wesen und kann schon Ahnlidikeit mit sei-nen Eltern besitzen. In Amerika gibt es neuerdings eine Insti-tution, die Kinder ausleiht. Kinderlose Paare kommen dadurch in die Lage, sich Babies oder Kleinkinder tageweise für zwei bis drei Dollar zu beschaffen, um mit ihnen zu spielen. Wenn Men-schen bereit sind, Geld für solche Zwecke auszugeben, wie gern würden sie erst Mittel für eigene Kinder aufwenden! Wenn man mit Kindern spielt, tut man das zum Vergnügen; sind es aber eigene Kinder, denen man Fürsorge und Erziehung angedeihen

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läßt, dann spielt der Gedanke an eine spätere Wiedergut-machung der elterlichen Mühen eine entscheidende Rolle. Die kindliche Dankbarkeit ist in Europa und Amerika wenig aus-geprägt, weshalb die Menschen sich auch nicht nach Nachkom-menschaft sehnen. In China liegen die Verhältnisse umgekehrt. Auch Heranwachsende sollten ihren Eltern schon Dankbarkeit erweisen; sie tun es, indem sie ihnen gehorsam sind. Wenn sie aber das Elternhaus verlassen haben oder auswärts studieren, dann ändern sehr viele Kinder ihre Einstellung gegenüber ihren Eltern. Sie bilden sich eigene Meinungen, individuelle Vorstel-lungen, auch den Eltern gegenüber und im Widerspruch zu ihnen. Wenn ihre Meinungen von denen der Eltern abweichen, dann lockert sich der Zusammenhalt; wenn sie sich dagegen weiterhin dem Willen der Eltern unterwerfen, dann fühlen sie sich unterdrückt. Obwohl sie sich Vätern und Müttern verbun-den fühlen, können unterschiedliche Lebensauffassungen zu einer Entfremdung führen. Eltern können bei der Erziehung nur ihre eigene Meinung vertreten, und wenn die Kinder nicht gehorchen wollen, können Schelte und Schläge häufig den Grund zu dieser Entfremdung legen. Dies ist der eine Gesichtspunkt. Wenn Eltern mehrere Kinder haben, müssen sie allen ihre Liebe zuteil werden lassen. Aber die Mittel reichen häufig nicht aus, um allen Kindern Unterhalt zu gewähren. Wenn auch noch widrige Umstände eintreten, wird es unmöglich, außer den Kin-dern auch noch die eigenen Eltern zu unterstützen. Dies ist der zweite Gesichtspunkt. Viele Kinder unterstützen nur ihre Mütter, da die Mutter als Einzelperson nur geringe Ansprüche stellt. Väter können da-gegen noch Nebenfrauen oder Konkubinen haben, und es kann schwierig werden, solche Ansprüche zu erfüllen. (Im Westen gewährt der Sohn seinen Eltern keinen Unterhalt; er lebt nur für seine Frau. Eltern haben deshalb lieber Töchter als Söhne, denn eine unverheiratete Tochter kann im Hause mithelfen. Wenn die Tochter dagegen heiratet, muß die Mutter mit dem Schwiegersohn auskommen, denn wenn es Schwierig-keiten gibt, wird ein Zusammenleben unmöglich.) Sehr sdiwie-

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rig kann es für einen Vater werden, wenn er einen widerspen-stigen Sohn hat. Er kann sich nicht von ihm lossagen; das Zusammenleben wird dann auch unerträglich. Allein die aus-geprägte Individualität ist die Ursache für solche dauernden Verstimmungen. Bei gleichartigen Lebensauffassungen wird das Zusammenleben leicht; es kann jedoch ständige Reibereien geben, wenn die Meinungen auseinanderklaffen. Die blutsmäßige Zu-sammengehörigkeit von Eltern und Kindern tritt in den Hinter-grund, wenn die Ansichten unvereinbar werden.

Der Zwang des Familienlebens als Quelle ständigen Argers

(Wenn viele Menschen genötigt sind, ständig zusammenzuleben, können entgegengesetzte Meinungen, Vorurteile, besondere An-gewohnheiten und Schwächen zu dauernden Streitigkeiten und Verstimmungen führen. Die chinesische Sitte des Beieinander-wohnens in einer Großfamilie zeigt die Schwierigkeiten auf, die durch diese Verhältnisse heraufbeschworen werden, wenn auch immer wieder darauf hingewiesen wird, daß es Musterbeispiele eines harmonischen Zusammenlebens gibt. Je mehr Mitglieder eine Familie hat, desto mehr Anlässe zum Arger ergeben sich. Menschliches Leid liegt dann in der Zusammensetzung der Fa-milie begründet.)

Die Vorteile der Familienordnung bringen auch Nachteile mit sich

(Die Weisen des Altertums empfahlen die Familienordnung als beste Möglichkeit zur Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse; da sie aber auch schon die Schwierigkeiten erkannten, die diesem System zugrunde liegen, gaben sie Ratschläge für das Zusammen-leben, drohten mit Strafen und stellten Belohnungen in Aussicht. Alle diese Bemühungen sind fruchtlos geblieben. Die zuvor dargelegten Schwierigkeiten verhindern, daß die Familienord-nung jemals zur Festigung des Friedens und zur völligen Gleich-heit hinführt; auch zur Vervollkommnung des menschlichen

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Wesens kann sie nicht beitragen. Die Familie ist eine in sich geschlossene Einheit; Eltern konzentrieren sich nur auf das Wohl ihrer Kinder. Im Vergleich zu der Vielzahl armer und ungebildeter Familien gibt es nur sehr wenige Wohlhabende,

die ihren Kindern das Beste angedeihen lassen. Deshalb kann auf familiärer Basis niemals eine allgemeine Gleichstellung er-zielt werden, denn es wird immer wieder nur wenige Menschen geben, die tatkräftig, intelligent und gutartig sind, im Gegen-

satz zu der Vielzahl schwacher, untüchtiger und schlecht gearte-ter Mitmenschen. Hinzu kommt, daß es schwierig ist, gute Eigen-schaften an die Kinder zu vererben, da ein gleichartiger Ehepartner sich nicht leicht finden läßt. In China stehen die

Aussichten für die Zeugung guten Nachwuchses besonders schlecht, da Kinder häufig von Konkubinen geboren werden, deren Wesen und Anlagen minderwertig sind. Es werden also immer wieder schlecht veranlagte Kinder geboren, so daß eine Gleichartigkeit des Nachwuchses unmöglich wird.)

Die Familienordnung als Ursache von Eigennutz und Unfrieden

(Die Familie als soziale Einheit schafft unweigerlich die Bereit-schaft des einzelnen, sich auf die Sicherstellung der Mitglieder

zu konzentrieren. Die Mittel für den Unterhalt vieler Familien-mitglieder lassen sich aber zumeist nur unter größten Schwierig-keiten beschaffen; oftmals ist dabei sogar Betrug oder Gewalt mit im Spiel. Nur in einer von tausend Familien können für die Kinder die materiellen und geistigen Voraussetzungen für ihr Fortkommen geschaffen werden. Dadurch entsteht ein extremes Mißverhältnis zwischen wenigen gutsituierten und vielen schlechtgestellten Kindern. Auch im Westen sorgt jeder nur für

seine eigene Nachkommenschaft, und dort wird zwar viel über Freiheit gesprochen, aber man ist weit entfernt von einer Gleich-stellung. Es gibt dort viele öffentliche Institutionen, aber die dort ohne elterliche Unterstützung lebenden Kinder haben nur

geringe Fortkommenschancen. Auch im Westen gibt es Hung-

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rige, Arme und Einsame. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Bedeutung des Geldes ermißt, die weitaus größer als in China ist. Alle Mittel sind recht, um zu Geld zu kommen. Das Laster der Geldgier vererbt sich von Generation zu Genera-tion, womit die Aussichten für den Eintritt in die Große Ge-meinschaft immer geringer werden.)

Die Familienordnung als Haupthindernis auf dem Wege zur völligen Gleichheit

Die nachteiligen Auswirkungen des Familiensystems lassen sich wie folgt zusammenstellen: 1. Gebräuche und Erziehungsmaßnahmen sind unterschiedlich. Wenn eine Familie schlechte Erbanlagen hat, denn gehen diese zumeist auf die Nachkommenschaft über, und das menschliche Wesen läßt sich nicht zur Reife bringen. 2. Die Kinderpflegemaßnahmen sind unterschiedlich. Krank-heiten werden auf die Kinder übertragen, und die Erbgesund-heit wird nicht sichergestellt. 3. Wenn Kinder zur Welt kommen, haben sie häufig keine angemessene Heimstatt. Die Kinder können sich nicht geistig entwickeln; die Nachkommenschaft gewinnt keinen Spielraum zur Entfaltung der Intelligenz. 4. Wenn Jugendliche nicht gleiche Rechte genießen, bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr schulisch ausgebildet zu werden, können sich die menschlichen Charaktere nicht gleichartig entwickeln und vervollkommnen. 5. Wenn den Menschen nicht jederzeit medizinische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, schweben sie immer in Gefahr, krank zu werden. 6. Wenn nicht alle Menschen bis zum Erwachsenenalter zum Schulbesuch angehalten werden, dann bleiben sie ungebildet und primitiv. Die jungen Menschen müssen gerade wegen ihrer ver-schiedenartigen Anlagen geformt und gleichartig erzogen wer-den. Bei Kindern ist dieser Erziehungsprozeß noch leicht; Er-wachsene lassen sich dagegen kaum mehr umformen. Im

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Zeitalter des vollendeten Friedens und der völligen Gleichheit wird daher die Erziehung von der Familie auf die Schulen über-gegangen sein; im Zeitalter der Festigung des Friedens und der Gleichheit werden Schulen und Familien gleichermaßen für die Erziehung sorgen, während im Zeitalter der Unordnung die Erziehungsmaßnahmen noch der Familie obliegen. 7. Wenn Schulkinder nicht in Internatseinrichtungen leben, son-dern weiterhin im Familienverband bleiben, läßt sich keine gleichartige Erziehung erreichen. Die Einwirkung der Engstir-nigkeit der Familienmitglieder auf die Erziehung kann sich nachteilig bei der geistigen Entwicklung der Kinder bemerkbar machen; die Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft der jungen Menschen kann behindert werden. 8. Wenn ein Mann eine Familie zu unterhalten hat, lebt er naturgemäß nur für Frau und Kinder. Das Ziel der Großen Gemeinschaft läßt sich auf diese Weise nicht erreichen. 9. Bei einer großen Familie hat ein Mann für viele Angehörige zu sorgen. Der Existenzkampf konzentriert sich auf die Be-schaffung von Mitteln für den Unterhalt; Unlauterkeit und Habgier greifen um sich. 1o. Wenn Eigennutz, Habgier und Unredlichkeit um sich grei-fen, verschlechtert sich das Wesen der Menschheit; gute Eigen-schaften verkümmern. i i. Wenn alle Menschen nur das Wohl ihrer Familie im Auge haben, kümmern sie sich nicht um das gesundheitliche Befinden anderer, und es werden kaum öffentliche Mittel für Heilmaß-nahmen und Volksgesundheit ausgegeben. Wenn Krankheiten um sich greifen, wird die Menschheit nicht erbgesund werden. 12. Wenn durch Familieneigennutz privates Eigentum nicht öffentlich genutzt werden kann und wenn Bedürftige nicht von der Allgemeinheit unterstützt werden können, nimmt die Ar-mut und das Leid der Menschheit kein Ende. Wenn alle Menschen nur das Wohl ihrer Familie anstreben, dann können außerdem keine bedeutenden Mittel für Gemein-schaftsaufgaben zusammenkommen: für die Säuglingsfürsorge, die Kindererziehung, die Unterstützung alter und kranker

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Menschen. Es fehlen dann auch die Mittel für den Straßen- und Brückenbau, für Flußregulierungen und für die Einrichtung menschenwürdiger Behausungen. Für das Zeitalter der Unordnung wird die Familie ihre Bedeu-tung für das menschliche Zusammenleben behalten; wenn man das Ziel des völligen Friedens und der Gleichheit anstrebt, er-scheint die Familie jedoch als das Element, das den Weg zum Fortschritt der Menschheit blockiert und unüberwindliche Schranken errichtet.

Kapitel r

Einleitung: Um das Ziel der Großen Gemeinschaft in Frieden und Gleichheit zu erreichen, müssen wir die Familie abschaffen

Es ist unser Ziel, die menschliche Persönlichkeit zu vervoll-kommnen, schädliche Eigenheiten abzubauen und die Pflege der Gesundheit sicherzustellen. Dieser Wunsch wird sich im Zeitalter des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit verwirk-lichen lassen, wenn der menschliche Charakter zur Entfaltung gekommen ist, wenn Friedfertigkeit und Toleranz, Moral und Sitte einen Höchststand erreicht haben und alle Menschen sich bester Gesundheit erfreuen. Wir kommen diesem Ziel aber nicht näher, wenn wir uns weiterhin scheuen, die Familie abzuschaf-fen. Die familiäre Ordnung ist lediglich in den Zeiten der Unordnung und der Festigung von Frieden und Gleichheit zu befürworten; für die Erreichung des Zieles des ständigen Frie-dens und der völligen Gleichheit ist sie jedoch äußerst hinderlich. Die Familie blockiert den Lauf der Dinge wie ein abgesperrter Hafen, der den Weg der Schiffe ins freie, offene Meer behindert. Wenn man die Familie beibehält, würde man sich selbst Steine in den Weg legen. Auf dem Weg zur völligen Gleichheit, Unab-hängigkeit und Menschlichkeit muß nicht nur der Staat, sondern auch die Einrichtung der Familie überwunden werden.

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Die Lossagung von der Familie heißt undankbar sein und würde zur Ausrottung des Menschengeschlechts führen

(Eine solche völlige Gleichheit, Unabhängigkeit und Vollendung der Menschlichkeit sucht der >Brahmane<, der sich von der Familie und von der Welt lossagt. Auf diese Weise kann den Eltern aber nicht ihre Fürsorge vergolten werden, die sie diesen Menschen zuteil werden ließen.) Ich stehe den Leitgedanken und der Tiefgründigkeit des Buddhismus respektvoll, aber kritisch gegenüber. Wenn die Anhänger dieser Glaubensrichtung sich von ihren Eltern abwenden und der Welt den Rücken kehren, wenn sie ihre kindliche Dankesschuld nicht abgelten und sich nur auf sich selbst besinnen, dann erscheint mir diese Haltung als untragbar. Außerdem ist die Ausbreitung der Zivilisation allein von dem Weiterleben der Menschheit abhängig. Wenn sich die Bevölkerung vermindert, geht auch die Ausbreitung der Intelligenz zurück; die Welt würde bald wieder eine Wildnis sein. Wenn der Verkehr zwischen Männern und Frauen ver-boten würde, dann wäre auch das Menschengeschlecht zum Aussterben verurteilt. Nach fünfzig Jahren würden die zwei Milliarden Menschen nicht mehr existieren, und nach hundert Jahren gäbe es nur noch Steppe und Urwald, wilde Tiere und Insekten auf der Welt. Diesen Weg zum Untergang können wir nicht beschreiten. Es mag der geeignete Weg für einzelne Men-schen sein, doch für die Mehrzahl ist er nicht gangbar, da er dem menschlichen Wesen zuwiderläuft.

Die Abschaffung der Familie bereitet den Weg zur Großen Gemeinschaft vor

Wie können wir ständigen Frieden und völlige Gleichheit er-reichen, wenn wir einerseits dem Grundsatz der Abschaffung der Familie zustimmen, andererseits aber die Trennung von Eltern und Frau nicht ertragen können? Es gibt einen solchen Weg, dessen Begehung aber große Geduld erfordert, wenn er konsequent eingehalten wird. Die Abschaffung der Familie

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kann Genugtuung und Zufriedenheit mit sich bringen, ohne daß die Lossagung von den Seinen Leid hinterläßt. Der Mensch ist nicht nur ein irdisches Wesen, sondern ein Ge-schöpf des Himmels, weshalb er auch den Gesetzen des Himmels unterliegt. Die Herrschaftsformen werden aber von Menschen geschaffen, und wenn die Regierung der Großen Gemeinschaft die Herrschaft übernimmt, wird auch die Erziehung und Für-sorge Sache der Allgemeinheit werden.

Aufbau der gemeinschaftlichen Kinderfürsorge

Die erste Maßnahme ist die Gründung von Institutionen zur Menschwerdung, die alle schwangeren Frauen zu beherbergen haben. Ich möchte diese Institutionen so nennen, weil die Be-einflussung des menschlichen Wesens schon im Mutterleib begin-nen soll. Die Betreuung ihrer schwangeren Frauen obliegt nicht den Ehemännern. Die zweite Maßnahme ist die Gründung von gemeinschaft-lichen Säuglingsstationen. Das neugeborene Kind wird in diese Institution überführt und braucht nicht mehr von der Mutter betreut zu werden. Die dritte Institution ist der Kinderhort. Vom dritten Lebens-jahr an leben die Kleinkinder dort und brauchen nicht von ihren Eltern versorgt zu werden.

Aufbau der gemeinschaftlichen Erziehung

Die vierte Institution ist die Gemeinschafts-Grundschule. Von sechs Jahren an besuchen alle Kinder eine solche Schule und werden dort untergebracht und erzogen. Die fünfte Institution ist die Gemeinschafts-Elementarschule. Alle Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren besuchen eine solche Schule, werden dort untergebracht und erzogen. Die sechste Institution ist die Gemeinschafts-Mittelschule. Alle jungen Leute zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren besuchen eine solche Schule zu Weiterbildungszwecken.

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Die siebente Institution ist die Gemeinschafts-Akademie. Alle jungen Leute zwischen achtzehn und zwanzig Jahren lassen sich dort weiterbilden.

Aufbau der gemeinschaftlichen Kranken- und Wohlfahrtsanstalten

Die achte Institution ist das gemeinschaftliche Krankenhaus. Alle erkrankten Menschen werden dort zur Behandlung ein-geliefert. Die neunte Institution ist das gemeinschaftliche Altersheim. Alle alten Menschen von sechzig Jahren an, die sich nicht selbst behelfen können, werden dort untergebracht. Die zehnte Institution ist das gemeinschaftliche Armenhaus. Alle armen Menschen, die keine Angehörigen haben, werden dort beherbergt. Die elfte Institution ist das gemeinschaftliche Siechenhaus. Hier werden alle Menschen mit unheilbaren Krankheiten unter-gebracht. Die zwölfte Institution ist das gemeinschaftliche Krematorium. Alle Toten werden hierher überführt. Die Spanne des Lebens jedes Menschen erstreckt sich von der Geburt über die Kinderpflege, die Erziehung und Ausbildungs-förderung bis zum Alter, zur Krankheit, zum Leid und zum Tod. Alle diese Ereignisse und Lebensabschnitte werden einmal von der Gemeinschaft verwaltet werden; Eltern oder Kinder des Einzelmenschen werden dann nicht mehr damit befaßt. Die Eltern werden nicht mehr die Kleinkinder betreuen und die größeren Kinder erziehen müssen. Statt dessen werden die Kin-der in anderen Orten untergebracht, wo sie von Vater und Mutter nicht häufig besucht werden können. Da sie oftmals das Quartier wechseln, lernen sie sich auch nicht näher kennen. Dies bedeutet nicht ein Lossagen von der Familie, sondern ein Leben ohne direkten Kontakt mit der Familie. Das Problem der Un-dankbarkeit wird damit aus der Welt geschafft, da niemand einem anderen Familienmitglied verpflichtet ist. Die Durch-

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führung solcher Maßnahmen wird nicht schwierig sein, und wenn sie sich durchgesetzt haben, wird eine allgemeine Zufrie-denheit Einzug halten. Man könnte einwenden, daß Eltern und Kindern als Geschöpfen des Himmels ein Gemeinschaftsleben in der Familie vorher-bestimmt ist. Man muß andererseits aber das Schicksal unehe-licher Kinder mitberücksichtigen. Heutzutage gibt es in Frank-reich, Amerika und Australien viele außereheliche Geburten; auch in Japan werden jedes Jahr Tausende von Kindern gebo-ren, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Kung Jung hat solche Verhältnisse als Folge sexueller Ausschweifungen bezeichnet. Die Freiheit der Menschen bringt naturgemäß viele außerehelichen Geburten mit sich. Die Aufzucht dieser Kinder wird sich nach den Verhältnissen der meisten Menschen aus-richten müssen: Die Mehrzahl der Bevölkerung ist arm und bringt nicht die Mittel für den Unterhalt der Kinder auf, wes-halb auch in den meisten Fällen eine öffentliche Kinderfürsorge notwendig ist. Wenn einmal alle diese Probleme gemeinschaft-lich angepackt worden sind, ist der Weg zum ständigen Frieden und zur völligen Gleichheit in der Großen Gemeinschaft nicht mehr weit.

Kapitel 2

Institutionen zur Menschwerdung

Schon im Mutterleib bilden sich die Anlagen des noch nicht geborenen Menschen. Schon hier beginnt er seinen Lebensweg; hier liegen die Wurzeln seines Wesens. Hier werden auch die Voraussetzungen zu seinen tausend Möglichkeiten geschaffen. Zu allen Zeiten der chinesischen Geistesgeschichte hat es immer Kritiker der Regierungsmaßnahmen und der gesetzlichen Be-stimmungen gegeben, Menschen, die die Herrschaftsform und das menschliche Zusammenleben (Ch'ih) auf eine neue Basis bringen wollten. Die Menschen sind in ihrer Mehrzahl aber ungebildet und verfangen sich immer wieder in den Maschen

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des Gesetzes; sie stolpern über Fallen und zappeln wie Fische im Netz. Schon Konfuzius hat zum Ausdruck gebracht, daß es daher der menschlichen Natur entspricht, Obrigkeitsverfügun-gen >schamlos zu umgehen<. Solche Verhältnisse entsprechen dem >Ch'ih< im Zeitalter der Unordnung; sie stehen noch völlig im Gegensatz zur Vollendung des menschlichen Wesens in der Ära des ständigen Friedens und der Gleichheit. Wenn man den Fortschritt der menschlichen Entwicklung, der geistigen Bildung und der inneren Güte vor Augen hat, muß man auch ständig die Erziehungsformen und die Sitten weiterentwickeln. Man darf nicht nachlassen, die Menschen zu lehren, ihren Gemeinschafts-geist (Jen) zu fördern, ihnen moralisches Verantwortungsgefühl (I) einzuflößen, sie zu aufrichtiger Handlungweise (Hsin) hin-zuführen, sie zur Ordnung (Ch'i) durch geeignetes Sozialver-halten (Li) hinzulenken, sie auf das Gute aufmerksam zu machen und vom Bösen abzuwenden, sie zur Reinheit und Mäßigung (Chieh) zu erziehen und zur Anerkennung der Re-geln (Ch'in) zu bewegen.

(Die überkommenen Erziehungsmethoden, die die Vervoll-kommnung des Verhaltens und die Einhaltung der Sitten zum Ziel haben, sind nicht erfolgreich, da nur wenige aus Büchern lernen können und da die Erziehung zu spät einsetzt. Der kind-liche Charakter bildet sich schon sehr früh; er wird durch das Elternhaus und durch die Umgebung beeinflußt.) Wenn der Charakter sich einmal gebildet und gefestigt hat, wird es sehr schwierig, ihn anzupassen oder umzuformen. Es ist kaum mög-lich, Erwachsene mit festgefügten Gewohnheiten zu erziehen und weiterzubilden ... Wenn die Erziehung erst nach der Geburt einsetzt, dann liegen die Anlagen des Kindes schon fest und die Charakterzüge sind schon vorgeformt. Im Gehirn haben sich bestimmte Eindrücke festgesetzt; es entwickelt sich weiter, den Einflüssen der Umwelt entsprechend. Chia I hat dies so zum Ausdruck gebracht: »Wenn man einen rechtschaffenen Menschen unterrichtet, muß man selbst rechtschaffen sein, wie man auch nur die Sprache des

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Landes Ch'i versteht, wenn man dort geboren und aufgewach-sen ist. Wenn man einen nicht Rechtschaffenen unterrichtet, dann ist man selbst nicht rechtschaffen, wie man auch nur die Sprache des Landes Ch'u spricht, wenn man dort geboren und aufgewachsen ist.« Wenn man im bösen und korrupten Zeitalter der Unordnung aufwächst, in der Zeit, wo die Menschen einander vernichten, dann wird diese Geisteshaltung auf das Kind übertragen, und es gewöhnt sich auch an Verderbtheit. Wie kann man auf eine gute Ernte hoffen, wenn die Saat nichts taugt? Es gibt keine Möglich-keit, in eine Ära des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit einzutreten, wenn man solchen Entwicklungen nicht Einhalt gebietet. Konfuzius, der große Weise der Antike, hatte in seinen tiefschür-fenden Gedankengängen dieses Problem schon erfaßt. Er ging auf die Wurzeln des menschlichen Lebens zurück und schlug vor, die Erziehung schon im Mutterleib beginnen zu lassen, schon vor der Heranbildung des Körpers und der Charakterzüge. Wenn es gelänge, daß alle Menschen auf diese Weise schon in ihren Anlagen vorgeformt werden könnten, dann könnte man der Entstehung des Bösen im Keim entgegenwirken, bevor das Kind seinen ersten Atemzug tut. Wenn die Quelle rein ist, dann gibt es auch in der Folge kein faules Gewässer. Dies ist eine Vor-bedingung zur Vollendung der Menschlichkeit in Frieden und Gleichheit. Leider kann dieses Verfahren nicht umgehend ver-wirklicht werden, da wir das Zeitalter der >Großen Gemein-schaft< noch nicht erreicht haben. Die Institutionen zur Menschwerdung sollen dazu dienen, die Anlagen des werdenden Lebens so zu gestalten, daß sich ein gesundes, tatkräftiges Wesen entwickeln kann. (Die Struktur des menschlichen Körpers und der Grad seiner Intelligenz werden auch von Landschaft und Klima beeinflußt. Um die Entwicklung vor der Geburt schon in geeigneter Weise zu steuern, müssen die Institutionen zur Menschwerdung in solchen Gebieten angesiedelt werden, wo Landschaft und Klima einen günstigen Einfluß ausüben können. Um die Vermehrung

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minderwertiger Rassen einzudämmen und gleichzeitig lebens-tüchtige Menschen heranzuziehen, müssen die Menschen aus ungesunden klimatischen Zonen ausgesiedelt werden. Obwohl dies ein schwieriges Unterfangen ist, das auch lange Zeit in Anspruch nimmt, ist dieser Umsiedlungsprozeß doch von ent-scheidender Bedeutung. Die Institutionen zur Menschwerdung sollen also in Gebieten angesiedelt werden, wo sich das ungebo-rene Kind am besten entwickeln kann: nicht in feuchtheißen Zonen, kahlen Gebirgsgegenden oder tiefen Tälern, sondern in entwickelten Landstrichen, wie an See- und Flußufern oder auf grünen Inseln.) Die Institutionen zur Menschwerdung müßten auf folgende Weise organisatorisch gestaltet und eingerichtet werden: r. Das Personal müßte sich aus ausgewählt tüchtigen und voll ausgebildeten Schwestern zusammensetzen. 2. Sobald die Voraussetzungen geschaffen worden sind, sollten die Schwangeren schon frühzeitig in den Anstalten beherbergt werden. Im Endzustand der Entwicklung sollten sie die gesamte Schwangerschaft in den Institutionen verbringen. 3. Den Ärzten wird die Entscheidung darüber überlassen, ob und wie oft die dort untergebrachten Frauen mit Männern Verkehr haben dürfen. Wenn Gefahr für das ungeborene Kind besteht, werden gesetzliche Verfügungen gegen einen solchen Verkehr erlassen. In der >Großen Gemeinschaft< darf man zwar allen seinen Neigungen nachgehen, doch die Kinder gehö-ren nicht mehr der Mutter, sondern sie unterliegen als Glieder der Großen Gemeinschaft auch dem Schutz der Allgemeinheit. Das Gebären von Kindern wird den Frauen zur Pflicht gemacht, und sie empfangen für die Übernahme dieser Verantwortung besondere Ehrungen von der Gemeinschaftsregierung. Da das Gebären aber eine offizielle Pflicht ist, muß auch dafür gesorgt werden, daß extreme Emotionen vermieden werden, was auch für den Geschlechtsverkehr gilt. Es ist jedoch schwierig, ihn monatelang zu verbieten, denn die Frauen bleiben unbefriedigt. Man sollte versuchen, die Leidenschaften dadurch zu zügeln, daß man nur einem bestimmten Mann den Verkehr mit der in

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der Anstalt untergebrachten Frau gestattet, und das auch nur in der Zeit, wo der Verkehr von einem Arzt genehmigt ist. Dieser Mann müßte zudem gesund und von ausgeglichenem Wesen sein. Die Regelung dieses Problems wirft zweifellos Schwierigkeiten auf. 4. In der Ära der >Großen Gemeinschaft< müssen den Müttern besondere Ehrungen zuteil werden, da die Geburt mit Schmer-zen verbunden ist und da sie in der Schwangerschaft wenig Abwechslung genießen. In diesem kommenden Zeitalter wird es nur die drei Ehrentitel Lehrer, Altester und Mutter geben. Mütter werden am höchsten geehrt werden, da die Schwanger-schaft Entbehrungen und Leiden mit sich gebracht hat. Der Status der Mütter wird niedriger sein als die Bewertung von verdienten Lehrern und Altesten, jedoch höherrangig als bei gewöhnlichen Lehrern und Ältesten. Der Mütterstatus wird auch nach der Kinderzahl abgestuft sein, und die Geburt jedes weiteren Kindes wird die Verleihung eines Ordens nach sich ziehen. Während Geburten Ehrungen erbringen, werden Abtrei-bungen verboten und bestraft. Die Bevölkerung wird sich ver-mehren, und Frauen werden gern Kinder zur Welt bringen. S. Es werden nur weibliche Ärzte beschäftigt. 6. Die Schwangeren werden periodisch medizinisch untersucht; wenn die Ärzte es zulassen, daß sich Krankheiten ausbreiten, werden sie zur Rechenschaft gezogen. 7. Die Ärzte schreiben die Diät und medizinische Behandlungen vor. 8. Die Ärzte entscheiden auch über die zweckmäßige Einrich-tung der Wohnungen, in denen die Schwangeren untergebracht sind. Sie sollen freundlich, sauber und hübsch ausgestattet sein. 9. Auch die Auswahl der Kleidung wird von den Arzten be-stimmt. Schwangere dürfen nicht ihre Körper einschnüren; sie sollen auch nicht tanzen oder prassen. to. Frauen gehen in den Anstalten nicht ihren Berufen nach, sondern befassen sich mit den Grundsätzen der Menschenliebe und Moral, mit Gesundheitspflege und Hygiene, mit der Ernäh-rung und Pflege der Säuglinge.

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r r. Es ist sehr wichtig, daß Mütter als verantwortliche Träger der Fortpflanzung sich der Wertbeständigkeit des Nachwuchses bewußt werden, und daß deshalb alle nachteiligen Einflüsse von ihnen ferngehalten werden. Eine geeignete Ärztin soll die Schwangeren in diesem Sinne beeinflussen und soll dafür sorgen, daß die Frauen beaufsiditigt werden. i z. Die Frauen sollen einen Klingelschmuck tragen, der bei ihren Bewegungen mitschwingt und nur dann Mißklänge er-zeugt, wenn sie sich erregen und dadurch hastig bewegen. 13. Es liegt im Sinne des ungeborenen Kindes, daß die Schwan-geren von hübsch gemalten Bildern umgeben sind und nur solche Bücher lesen, die von Liebe, Güte und Schönheit handeln. 14. Auch Besucher sollen die werdende Mutter nur erfreuen, und die aufsichthabenden Ärztinnen sollen alle solchen Besucher des Hauses verweisen, deren Benehmen oder Redeweise ihnen für das Wohl des ungeborenen Kindes ungeeignet erscheint.

15. In diesen Anstalten soll die Ausübung von Musik eine be-sondere Rolle spielen, denn sie kann die Stimmung in starkem Maße beeinflussen. Die Musik soll besänftigend und wohlklin-gend sein. 16. Am Beispiel der freiwillig kinderlosen Frauen, wie es sie in Frankreich gibt, kann man erkennen, daß Freizügigkeit und Bildung sie auf einen Weg führen können, der sie davon ablenkt, Kinder zu gebären und großzuziehen. Wenn dies schon im heu-tigen Frankreich der Fall ist, wie sehr wird sich diese Tendenz erst in der Ära der Großen Gemeinschaft verstärken, wenn alle Menschen freizügig sind und Frauen die gleichen Rechte wie Männer genießen! Wenn die Frauen aber aufhören, Kinder zu gebären, dann wird die Welt bald verwildern und versteppen, und die menschliche Zivilisation geht zugrunde. Das Ziel der Beglückung der ganzen Menschheit in der Ära der >Großen Gemeinschaft< könnte dann niemals erreicht werden, denn die Menschheit würde nicht mehr existieren. Sie würde untergehen an Kinderlosigkeit, so wie sie auch nicht fortbestehen könnte, wenn das Asketentum der ehelosen Mönche sich allgemein aus-breiten würde.

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Wir wissen, daß der Mittelweg auch für die Menschheit der einzig gangbare Weg ist. Extreme Vorstellungen lassen sich nicht durchsetzen. Nord- und Südpol sind zwei Gegensätze, und sie gleichen sich nur darin, daß dort ewiges Eis herrscht —in extremen Verhältnissen läßt es sich also nicht leben. Wir müssen einsehen, daß die Lebensgewohnheiten in den Zeiten der Unordnung und der wachsenden Festigung von Frieden und Gleichheit kein Idealzustand sind, aber man kann ihnen noch nicht beikommen. So ist auch die alte Sitte der Frauenunter-drückung und Ungleichbehandlung ein Überbleibsel der Ge-wohnheit, daß die Stärkeren — in diesem Falle die Männer —die Schwächeren unterjochen. Sicherlich ist die Tatsache, daß wir unsere Kinder betreuen und versorgen, darauf zurückzufüh-ren, daß wir uns selbst und das von uns Geborene lieben. Alle Lebensgewohnheiten des Zeitalters der Unordnung lassen sich hierauf beziehen. Wenn die damit zusammenhängenden Vor-stellungen auch nicht gerecht und glückbringend sind, so sind sie

doch die Ursache für die Ausbreitung der Menschheit gewesen, für ihr Triumphieren über die Wildnis der Vorzeit und für die Einrichtung ihrer Herrschaft über die Erde. Sie sind gleichzeitig die Ursache für die Entstehung der Zivilisation und für die Bildung der großen Nationen. Der Fortschritt muß also auf diesem Wege weitergehen. Wenn Menschen das Fleisch von Tieren essen, dann sind sie nicht mitfühlend im Sinne von >Jen<. Die alten indischen Glaubensregeln verbieten das Töten, und die Inder sind deshalb das barmherzigste aller Völker. Sie tun sogar Insekten und Ameisen nichts zuleide. Aber es gibt eine Unzahl Inder, die von wilden Tieren verschlungen werden. Die Fleischnahrung ist auch von großer Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Geistes. Durch diese Ernährungsweise kann der Mensch das Seine zu neuen Errungenschaften der Zivilisation beitragen. Man muß also die Grausamkeit des Tötens von Tieren im Licht der Vorzüge sehen, die der Fleischverzehr mit sich bringt. Die Gegensätzlichkeit der Auffassungen schafft einen inneren Zu-sammenhang; jede Medaille hat auch ihre Kehrseite.

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Wie schwierig ist es doch, Vorschriften einen dauernden Sinn zu geben! Wenn man eine Lücke schließt, dann öffnet sich eine andere. Es scheint so, als ob Vorschriften nur dazu da sind, um umgangen zu werden. Alles Neubegonnene trägt schon den Keim des Untergangs in sich. Es gibt keine Grundsätze, die für die Ewigkeit geschaffen sind. Wenn die Weisen neue Lebens-regeln aufstellten, dann richteten sie sich nach den Zeitumstän-den, und häufig war ihre Arbeit nur Flickwerk. Wenn man bedenkt, daß alle Menschen Geschöpfe des Himmels sind, daß alle körperlich und geistig auf der gleichen Stufe stehen, dann erscheint es als äußerst ungerecht und widersinnig, nur die Männer anzuerkennen und den Frauen einen unter-geordneten Status zuzuweisen. (Dabei läßt sich aber bei einer Gleichstellung von Männern und Frauen das Problem nicht übersehen, daß die Frauen es künftig ablehnen könnten, Kinder zu gebären und zu versorgen, was zu einer Abnahme der Bevölkerungszahl und zu einem Niedergang der Zivilisation führen würde. Dies ist das ernsteste Problem, dem die >Große Gemeinschaft< gegenüberstehen wird. Aus diesem Grunde muß die Abtreibung als schweres Verbrechen behandelt werden, schwerwiegender als selbst die Tötung eines Mitmenschen. Die schwerste Strafe für die Abtreibung sollte lebenslange Zwangs-arbeit sein, und der Schuldigen sollen alle Ehrenrechte aberkannt werden. Die leichteste Strafe soll zumindest die Schwan-gerschaftsmonate betragen, und die Frau ist von der Gemein-schaft zu ächten. Möglicherweise lassen sich Abtreibungen auch dadurch verhindern, daß man das Gebären erleichtert und andererseits harte Strafen und Entziehung von Rechten bei unerlaubten Eingriffen verhängt, also Abschreckungsmaßnah-men androht. Auch Ärzte und Apotheken sollten den Straf-bestimmungen unterliegen.) 17. Ärzte sollen besonders ausgezeichnet werden, wenn sie durch verbesserte Methoden dazu beitragen, daß die Entbindungen erleichtert werden. 18. In gut ausgestatteten Entbindungsstationen sollen aus-gesuchte Ärzte und Geburtshelfer Dienst tun. Ausgebildete

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Schwestern sollen die Säuglinge versorgen. Wenn die Mütter nicht ihre Kinder stillen, sollen sie sich entspannen, Musik hören, lesen oder Bilder betrachten. Die Mütter sollen nach der Ent-bindung zweckmäßig und gut ernährt werden. Zum seelischen Ausgleich sollen kulturelle Darbietungen in den Anstalten bei-tragen; es sollen Theaterstücke aufgeführt werden, und gemein-sam wird gesungen und musiziert. 19. Wöchentlich einmal sucht ein Standesbeamter die Anstalt auf, um die Geburten zu registrieren und sie an die Verwal-tungsstellen weiterzumelden. Wenn der Kindesvater bekannt ist, kann er benachrichtigt werden. 20. Während in der Vorzeit Kinder nach ihrer Mutter benannt worden waren — da der Vater häufig nicht bekannt war —, und sie in späteren Zeiten den Namen des Vaters führten, dürfte es im Zeitalter der Festigung der Gleichheit zweckmäßig sein, ihnen die Namen beider Eltern zu geben. Wenn jedoch das Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< einsetzt, werden die Kin-der von der Öffentlichkeit aufgezogen, und es besteht dann kein Anlaß mehr, Familiennamen beizubehalten. Wenn man einen Familiennamen führt, dann hat man auch Angehörige; die Existenz von Angehörigen ruft eine eigennützige Haltung her-vor, die zum allumfassenden Gemeinschaftsgeist im Wider-spruch steht. Statt der Namensgebung nach der Familie wird dann eine Art Stammbaumsystem den Neugeborenen identifi-zieren: Er wird registriert nach dem Planquadrat, nach der Entbindungsanstalt und nach seinem Geburtstag. 21. Die Ärze haben die Aufgabe, die Pflege des Säuglings und der Mutter sorgfältig zu überwachen. Sie legen auch den Zeit-punkt fest, an dem die Stillperiode der Mutter beendet wird und sie ihre Tätigkeit wiederaufnehmen kann. 22. Mütter sollen während der Stillperiode keinen Verkehr mit Männern haben. Wegen der Schwierigkeit, sich monatelang des Verkehrs zu enthalten, kann es ihnen jedoch vor Wiederauf-nahme des Beischlafs gestattet werden, sexuelle Hilfsmittel zu verwenden. Der Arzt legt den Zeitpunkt für die Wiederauf-nahme der sexuellen Freizügigkeit der Mütter fest.

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23. Nach dem Verlassen dieser Institution erhalten die Mütter

ihre völlige Unabhängigkeit zurück. Bei der Abreise werden

ihnen Ehrenzeichen verliehen, und sie werden mit dem Wagen

zu ihrer Wohnung gefahren. Alle Bekannten erweisen ihnen

besondere Ehren wegen der Geburt des Kindes. 24. Die Ärzte sorgen dafür, daß nur völlig gesunde, gescheite

und charakterfeste Schwestern in den Anstalten beschäftigt wer-

den. Sie sollen nach dem Urteil der von ihnen betreuten Mütter

eingestuft werden: Bei guten Zeugnissen sollen sie dekoriert

werden, bei schlechter Beurteilung sollen sie jedoch entlassen und

am Aufstieg zu höheren Stellungen gehindert werden. Bevor

Frauen Amtsstellungen jeglicher Art bekleiden dürfen, müssen

sie entweder in den Entbindungsheimen, in den Säuglingspflege-

stationen, den Krankenhäusern oder den Altersheimen Dienst

tun.

Kapitel 3

Institutionen zur Säuglingspflege

Diese Institutionen dienen gleichzeitig mit den Kinderhorten

zur Versorgung und Erziehung der Kleinkinder im Vorschul-

alter. Nachstehend wird das Organisationsschema umrissen:

r. Nachdem die Mütter die Institutionen zur Menschwerdung

verlassen haben und die Kinder entwöhnt worden sind, werden

alle Babies in Institutionen zur Säuglingspflege untergebracht.

2. Nur Frauen werden zur Kleinkinderpflege herangezogen;

sie werden von den Ärzten entsprechend ihrer Eignung und

nach charakterlichen Maßstäben ausgewählt und müssen völlig

gesund sein. 3. Dieses weibliche Pflegepersonal ist besonders hochzuachten,

da die Arbeit dieser Frauen für den Fortschritt der Menschheit

von entscheidender Bedeutung ist. Sie sind aufopferungsvoll

tätig; ihre Mühen werden ihnen aber nicht in gleichem Maße

wie Müttern vergolten, da die heranwachsenden Kinder ihre Mütter nicht einmal kennen.

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4. Wie in den Institutionen zur Menschwerdung soll auch in den Säuglingspflegeanstalten dafür gesorgt werden, daß die räumliche Umgebung heiter und geschmackvoll gestaltet wird: Blumen, Gartenanlagen, Teiche, Spielsachen, Bilder sollen die kleinen Kinder frohstimmen; sie sollen mit nichts Bösem und Unangenehmem in Berührung kommen. S. Die Aufsicht soll ausgewählt tüchtigen und charakterfesten Ärzten vorbehalten sein. Die Kinder sollen häufig untersucht werden; die Art der Ernährung und die Bekleidungsweise wird von den Ärzten vorgeschrieben. Bis zum Alter von zwei Jahren kommt auf jedes Kleinkind eine Betreuerin; danach können zwei oder drei Kinder von einer Pflegerin versorgt werden. 6. Nach Aufnahme der Kleinkinder in die Anstalt werden ihnen staatliche Namen gegeben. 7. Die Kinder werden mit erzieherischem Spielzeug versorgt werden, denn die Spielsachen sollen sie mit der zivilisierten Außenwelt vertraut machen und so gestaltet sein, daß sie beim Heranwachsen die Welt verstehen lernen. 8. Da Kinder sich leicht durch die Umgebung beeinflussen las-sen, muß darauf geachtet werden, daß die Standorte der Insti-tutionen günstig liegen, also keinesfalls in der Nähe von Fabri-ken, lauten Vorführungsstätten oder gar Krematorien. 9. Um ungünstige klimatische Faktoren auszuschalten, sollen die Standorte nicht außerhalb eines Streifens zwischen dem fünfzigsten und zwanzigsten Breitenkreis liegen. to. Die Betreuerinnen, die sich in der Kinderpflege hervorgetan haben, sollen ausgezeichnet werden, denn ihre Mühen und Ver-antwortlichkeiten sind noch höher zu bewerten als die Pflichten der leiblichen Mütter.

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Kapitel 4

Grundschulen

Das Organisationsschema stellt sich wie folgt dar: . Das Lehrpersonal der Grund- und Elementarschulen setzt

sich nur aus Frauen zusammen, da diese geduldiger, empfind-samer und verständiger sind als Männer. Solche Lehrkräfte sol-len charakterfest und von liebenswürdigem Wesen sein; es ist außerordentlich wichtig, daß Kinder in dieser Altersgruppe nur positiv beeinflußt werden, da sich diese Eindrücke langfristig niederschlagen und charakterbildend wirken. 2. In dieser Altersstufe ist mehr auf die körperliche Entwick-lung und Gesunderhaltung Wert zu legen als auf die geistige Ausbildung, denn der Grund zu einer lebenslangen guten Ge-sundheit wird in dieser Zeit gelegt. Kinder spielen lieber als daß sie arbeiten. Sie müssen dabei aber sorgfältig beaufsichtigt wer-den, damit sie nicht auf Abwege geraten; die Schullehrerinnen müssen daher nicht nur erzieherisch wirken, sondern auch Mut-terstelle an den Kindern vertreten. Jede Lehrerin soll nur wenige Kinder beaufsichtigen. 3. Wie die Kleinkinderfürsorgeanstalten sollen auch die Grund-schulen ihren Standort an geeigneten Orten mit unschädlicher Umgebung finden. 4. Die Schulen sollen mit allen Lernmitteln ausgestattet werden. Spielwiesen und Spielzeug sollen vorhanden sein; auch das gemeinsame Singen ist von Bedeutung. S. Der Lehrplan richtet sich nach den in der künftigen Ära auftretenden Erfordernissen. Da sich dann eine Universal-sprache durchgesetzt haben wird, bleibt für andere Beschäfti-gungen genügend Zeit. Wenn sich die Erziehungsmethoden verbessert haben, steht auch reichlich Zeit für Spiele und Zer-streuung zur Verfügung. Allerdings dürfen sich Spiele und Vergnügungen nicht nachteilig auf die Charakterbildung aus-wirken. 6. Die Schulen dürfen nicht in ungünstigen klimatischen Zonen

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errichtet werden, also nicht nördlich des sechzigsten oder südlich des zehnten Breitengrades.

Kapitel 5

Mittelschulen

Das Organisationsschema stellt sich wie folgt dar: r. Der Lehrplan richtet sich nach der Aufnahmebereitschaft und der Intelligenz der Schüler; er umfaßt das für ältere Schüler übliche Pensum. Verbesserte Erziehungsmethoden ermöglichen es den Schülern, schon in dieser Altersgruppe den Lehrstoff zu erfassen, der in früheren Zeiten Fünfzehnjährigen oder noch älteren Kindern vorbehalten war. 2. Die Schüler entwickeln allmählich Unabhängigkeit und Selbständigkeit; besonderer Wert wird auf die Anerziehung eines geeigneten Sozialverhaltens gelegt. Außerdem werden Körperertüchtigung und Musik gelehrt. 3. Da die jungen Menschen heranreifen, werden als Lehrkräfte sowohl Frauen als auch Männer beschäftigt. Die Schüler genie-ßen größere Freiheiten; gleichzeitig werden sie aber zu mora-lischem Verhalten, gutem Benehmen und akademischen Studien angehalten. Die Studien werden jedoch nicht intensiv betrieben. 4. Die Lehrer müssen charakterfest, gebildet und tüchtig sein, da die Lebenstüchtigkeit der Schüler von den Kenntnissen ab-hängt, die sie in diesem Alter erwerben. Auch die Schulleiter müssen sehr befähigte Menschen sein. S. Die Schulen müssen alle Lehrmittel zur Verfügung halten, die die Schüler mit der Arbeitswelt vertraut machen. Ferner ist für die Erholung und Zerstreuung der Lernenden zu sorgen. 6. Auch die Mittelschulen sind an Stellen zu errichten, die für den Lehrbetrieb förderlich sind. 7. Der Lehrplan dieser Schulen ist so zu verbessern, daß das Pensum der Oberklassen einem akademischen Lehrplan gleich-zusetzen ist.

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Jede Mittelschule soll zehntausend oder mehr Schüler auf-nehmen können. Alle Insassen haben sich einer strengen Schul-ordnung zu unterwerfen; sie haben zu bestimmten Zeiten auf-

zustehen und zu Bett zu gehen, und auch der Ausgang wird reglementiert. Die Schüler haben wie Soldaten anzutreten und sich klassenweise einzuordnen. Der Schulleiter kommandiert wie ein General, die Klassenleiter wie Oberste, und gewöhnliche Lehrer wie Hauptleute. Alles hat seine festgelegte Zeiteintei-lung — das Lernen, die Ruhepausen und das Spielen. Eine einheitliche Schülerkleidung wird getragen; die Schüler sollen uniformiert erscheinen. Durch die große Schülerzahl wird der Wetteifer angestachelt; auch die Klassengröße trägt zur För-

derung der Leistung bei. Auf diese Weise wird den Schülern auch eine einheitliche, moralische Lebensauffassung eingegeben. Schlechtigkeiten können sich innerhalb der Gruppen nicht ent-wickeln, denn sie werden als Schande betrachtet und dadurch im Keim erstickt.

Kapitel 6

Akademien

Das Organisationsschema stellt sich wie folgt dar: s. In der >Großen Gemeinschaft< wird jeder akademisch aus-gebildet. 2. Nach Abschluß der allgemeinen Ausbildung in der Mittel-schule dienen die akademischen Jahre der Spezialisierung. Ne-ben anderen akademischen Studien betreiben die jungen Leute ihre Fortbildung auf landwirtschaftlichem, industriellem und geschäftlichem Gebiet. Die Studenten können ihren Fakultäts-bereich selbst bestimmen und das Fach studieren, für das sie am besten geeignet sind. 3. In diesem Zeitraum wird der Fortschritt der Zivilisation von der Durchsetzung der Arbeitsteilung und dem Spezialwissen abhängen; jeder einzelne wird in seinem Beruf ein Fachmann

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sein. Die fähigsten jungen Leute werden mehrere Fächer studie-ren; aber auch weniger Begabte werden ihre Talente so fort-entwickeln, daß der Beruf sie ernähren kann. Alle Jugendlichen, auch die nicht sehr befähigten, werden durch das zwanzig Jahre andauernde Zusammenleben mit ihren Altersgenossen auf na-türliche Weise zum Lernen angeregt, da ihnen Lehrkräfte und Lehrmittel reichlich zur Verfügung stehen. Sie werden sich bewußt, daß sie ohne den Willen zum Lernen im Leben nicht weiterkommen, denn nach Abschluß der Ausbildung auf der Akademie sind sie auf sich selbst gestellt. Sie wissen auch, daß sie im Falle ihres Versagens in die Armenanstalt kommen, wo sie ihren Status einbüßen. Eine solche universelle Ausbildung ermöglicht es jedem einzelnen, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Diese Möglichkeit steht in der heutigen Zeit durchaus nicht jedem offen, und durch mangelnde Bildung werden nicht nur Talente vergeudet, sondern es wird auch der Keim zu Verbre-chen und Elend gelegt. 4. Die akademischen Studien müssen praxisnah angelegt sein: Ein Student der Landwirtschaft soll sich beispielsweise prak-tische Kenntnisse des Feldanbaus erwerben. Die Ausbildung soll sich nicht auf Bücherwissen beschränken. 5. Die einzelnen Fakultäten sollen so stationiert sein, daß sie maximale Ausbildungsmöglichkeiten schaffen; der praktische Nutzen der Fortbildung soll im Vordergrund stehen. 6. Als Lehrkräfte sollen erfahrene, wissenschaftlich gebildete Männer und Frauen beschäftigt werden. Die Anerziehung von Kenntnissen soll das Kernstück der akademischen Ausbildung sein; Körperertüchtigung und moralische Ausrichtung sollen je-doch nicht vernachlässigt werden. 7. Wie die Mittelschulen sollen auch die Akademien eine strenge Lernordnung vorschreiben. Die Lehrkräfte sollen autoritär vor-gehen, und die Studenten sollen wie Soldaten eine einheitliche Kleidung tragen. In der >Großen Gemeinschaft< sollen alle Erziehungsanstalten wie kleine Staaten organisiert sein, wobei die Schüler und Studenten als Bürger fungieren, während die Lehrkräfte als Verwalter und Minister dienen.

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8. Akademische Absolventen sollen Abschlußzeugnisse erhalten. Studenten, die die Abschlußprüfung nicht bestehen, werden von der Regierung nicht unterstützt; sie müssen sich selbst um einen Lebensunterhalt bemühen. 9. Besonders befähigte Studenten können weiterstudieren und erhalten dabei Unterstützungszahlungen von der Gemein-schaftsregierung.

o. Wer nach Abschluß der Ausbildung keine entsprechende Stellung findet, muß einfache Arbeiten verrichten; wenn auch hier keine Arbeitsplätze frei sind, erfolgt eine Einweisung in eine öffentliche Armenanstalt. Dort sind schwere körperliche Arbeiten zu verrichten; die dort Eingewiesenen haben einen untergeordneten sozialen Status.

Kapitel 7

Institutionen für die Armen

Das Organisationsschema stellt sich wie folgt dar: I. Alle Arbeitslosen und Minderbemittelten können in diese Anstalten aufgenommen werden. Sie müssen schwere Arbeiten verrichten; wenn sie berufslos sind, werden sie in bestimmten Arbeiten unterwiesen. 2. Der Unterhalt wird durch den Verkauf der durch die Arbeit geschaffenen Erzeugnisse bestritten; die Institutionen überneh-men die Kostendifferenz, wenn der Erlös unzureichend ist. Die Leute werden zu fleißiger Arbeit angehalten; Faulheit wird mit Strafe belegt. 3. Für die Insassen werden Ruhe- und Erholungspausen fest-gelegt. Zu bestimmten Zeiten wird ihnen Ausgang gewährt. 4. In den Anstalten werden Lehrkräfte und Ärzte beschäftigt. S. Die Insassen tragen Arbeitskleidung; die Quartiere sollen sauber, aber einfach eingerichtet sein. Zusätzliche Einrichtungen wie Erholungsanlagen, Gärten und Büchereien sollen nur in geringem Umfang vorhanden sein.

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6. Alle Menschen, die mehr als einmal Insassen solcher Anstal-ten werden, sind nicht mehr als vollwertige Bürger zu betrach-ten; sie sollen sich durch ihre Kleidung von den anderen unter-scheiden und als Außenseiter diffamiert werden. Eine Ausnahme bilden Studenten, die nach dem akademischen Abschluß nicht innerhalb eines Jahres eine Stellung gefunden haben. Insassen, die sich durch gute Arbeitsleistung und Wohlverhalten bewährt haben, können von der Verwaltung zu Außenarbeiten abgestellt werden und werden nicht mehr diffamiert. 7. Das Hauptproblem besteht darin, daß die Insassen nicht zu Faulpelzen herangezogen werden, da in der Ara der Großen Gemeinschaft niemand um seine Existenz zu fürchten hat. Aus diesem Grunde muß in den Anstalten Faulheit unter Strafe gestellt und Fleiß besonders belohnt werden. 8. Wenn jemand viermal Insasse einer solchen Anstalt wird, muß er als Strafe besonders schwere Arbeiten verrichten, beim fünften Mal muß er sieben Tage Haft verbüßen, damit ihm sein schändliches Verhalten vor Augen geführt wird und damit er seine Einstellung ändert. 9. Die Leiter solcher Anstalten werden öffentlich gewählt und nach charakterlichen Gesichtspunkten und Lehrbefähigungen ausgesucht.

Kapitel 8

Krankenanstalten

Diese Anstalten sind wie folgt zu organisieren: I. Die Hospitäler haben alle Kranken zu versorgen; das Haupt-ziel der Gesundheitsfürsorge bleibt jedoch die Eindämmung aller Krankheiten durch tägliche medizinische Untersuchung sämtlicher Patienten. 2. Die Regierung sorgt für freie medizinische Behandlung und kostenlose Verabfolgung von Arzneimitteln. 3. Die Krankenanstalten werden in geeigneter Lage errichtet,

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und es wird dafür gesorgt, daß die Patienten neue Kräfte schöp-fen können, indem sie durch Veranstaltungen aufgeheitert wer-den und Lektüre zur Verfügung haben. 4. Für neue und erfolgreiche Behandlungsmethoden und vor-bildliche Krankenversorgung sollen die Ärzte von der Regie-rung ausgezeichnet werden. Ärztliche Fehlleistungen, die zum Tode eines Patienten führen, sollen hart bestraft werden. Sol-chen Ärzten sollen Berufsverbote auferlegt werden; gegebenen-falls ist auch eine Haftstrafe zu verhängen. 5. Als Pfleger können Männer oder Frauen beschäftigt werden; für jedes Dienstjahr erhalten sie Prämien. Sie können aber auch unehrenhaft entlassen werden, wenn die Patienten ihnen Fehl-leistungen nachweisen. Bevor Ärzte in Krankenanstalten ein-gesetzt werden, müssen sie dort ein Jahr lang als Pfleger arbei-ten. 6. Auch körperlich Behinderte sollen in solchen Anstalten be-handelt werden, und die Art ihrer Betreuung soll sich nicht von der Behandlung anderer Patienten unterscheiden. Schwerbehin-derte sollen in Spezialanstalten Unterricht in geeigneten Fertig-keiten erhalten. Es ist dabei anzustreben, daß sie sich nach Abschluß der Ausbildungszeit selbst unterhalten können; wenn dies nicht möglich ist, sollen sie ein Taschengeld erhalten und sonst von der Anstalt unterstützt werden. Es wird in Zukunft jedoch nicht damit zu rechnen sein, daß es viele Schwerbehin-derte geben wird. 7. Die Geisteskranken werden auf Inseln deportiert. Sie dürfen keine Nachkommenschaft haben. Sie werden mit landwirt-schaftlichen und ähnlichen Arbeiten beschäftigt, und die Hälfte des Arbeitseinkommens dürfen sie behalten. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird es jedoch kaum Geisteskranke geben, da sie sich nicht vermehren dürfen. 8. Menschen, die körperlich mißgestaltet sind, beispielsweise Hasenscharten haben, dürfen nicht heiraten und Nachkommen zeugen. Sie dürfen miteinander Verkehr haben, aber nur, wenn empfängnisverhütende Mittel angewendet werden. In späteren Zeiten sollen mechanische Hilfsmittel den Verkehr ersetzen.

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9. Die Gesundheitsbehörden haben durch geeignete Maßnah-

men den Ausbruch von Seuchen zu verhindern. Auch die Aus-

siedlung der Bevölkerung rechnet zu solchen Maßnahmen; die

entstehenden Kosten trägt die Regierung. to. Die Krankenanstalten sind in gesunden klimatischen Zonen

zu errichten. 1 I. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< werden sehr viele

Ärzte benötigt, da jeder nur einige hundert Menschen zu be-

treuen hat. In der ganzen Welt wird die Gesundheitspolitik an erster Stelle stehen; die Ernährung, Bekleidung, der Hausbau

und die sanitären Einrichtungen werden ärztlicherseits ständig

überwacht. Auch alle Gemeinschaftsinstitutionen werden von Medizinern kontrolliert. Jedermann wird täglich untersucht.

Die Ärzte kontrollieren auch die Wohnhygiene.

Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< gibt es keine Streit-

kräfte mehr. Die Befugnisse der Regierung beschränken sich auf

die Erweiterung des menschlichen Wissens, die Festigung einer moralischen Haltung, die Gesundheitsfürsorge und die Verlän-

gerung der Lebenserwartung sowie auf die Gestaltung glück-licher Lebensumstände. Die vornehmste Aufgabe der Regierung

ist hierbei der Gesundheitsschutz und die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Diese Zielsetzung wird also eine große

Anzahl von Arzten erforderlich machen. Die medizinischen

Fähigkeiten müssen hochentwickelt sein, denn die Ärzte tragen

die Hauptlast der Verantwortung. Nur die Besten werden dann im Gesundheitswesen tätig sein dürfen. Andererseits haben die

Mediziner dann aber auch den größten Einfluß im Gemeinwesen.

Im Zeitalter der Unordnung wird noch Gewalt angewendet;

das Militär hat die Oberhand. Im Zeitalter der Festigung von

Frieden und Gleichheit wird die Lehre und Forschung die größte

Rolle spielen. In der Zeit der Vollendung von Frieden und Gleichheit wird dann aber >Jen<, der Gemeinsinn, das zentrale

Thema darstellen. Dann werden die Mediziner an erster Stelle

stehen, und die Gesundheitspolitik hat den Vorrang. Alle Men-schen vertrauen sich von ihrer Geburt bis zum Tode den Ärzten

an. Die medizinische Verantwortlichkeit wird allumfassend; das

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Zeitalter der Großen Gemeinschaft wird eine Welt der Gesund-heitspflege sein. (Die große Anzahl und der Einfluß der Arzte trägt aber auch ein Gefahrenmoment in sich. Es könnte der Fall eintreten, daß eine Art medizinischer Weltanschauung um sich greift oder daß Mediziner politische Parteien beherrschen. Dies würde zu Kon-flikten führen, und ein Rückfall in das Zeitalter der Unordnung wäre zu befürchten. Diese beiden Gefahrenquellen müßten aus-geschaltet werden, um eine Erschütterung der Großen Gemein-schaft zu verhindern. Die wichtigsten Maßnahmen zur Erhal-tung der Gemeinschaft sind somit das Verbot der Abtreibung und die Verhinderung übermäßigen Einflusses der Mediziner.)

Kapitel 9

Institutionen für die Alten

Diese Institutionen sind wie folgt zu organisieren: r. Jeder über sechzig Jahre alte Mensch kann in den Anstalten aufgenommen werden. Da jeder mehrere Jahrzehnte für die Gemeinschaft gearbeitet hat, steht ihm auch eine öffentliche Altersversorgung zu. 2. Den alten Menschen wird jegliche Freiheit und Annehmlich-keit zugestanden. Auch wenn ein Insasse dieser Altenheime sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, soll er nur vorübergehend verfemt, aber nicht streng bestraft werden. 3. Das Pflegepersonal setzt sich aus Männern und Frauen zu-sammen. Wenn die alten Menschen ihren Pflegern eine aufopfe-rungsvolle, also >Jen<-gemäße Tätigkeit bescheinigen, werden sie ausgezeichnet; wenn sie jedoch von den Alten gehaßt werden, sind sie zu entlassen und am Aufstieg zu höheren Stellungen zu hindern. Bevor Männer in Amtsstellungen aufrücken oder als Lehrkräfte eingesetzt werden, müssen sie in Altenheimen oder Krankenanstalten Dienst tun. Auch Frauen müssen sich in die-sen Institutionen oder in den Kinderfürsorgeanstalten bewährt

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haben, bevor sie in den öffentlichen Dienst eintreten. Im Zeit-alter der Großen Gemeinschaft sollen die Altenpfleger den Be-tagten wie eigene Kinder dienen, da die alten Leute dann nicht mit der Fürsorge ihrer Nachkommenschaft rechnen können. 4. Alter und Pflegebedürftigkeit bestimmen die Anzahl der Helfer, die für jeden Heiminsassen eingesetzt werden. S. Die alten Leute sollen sich in den Anstalten wohl fühlen. Die Unterkünfte sollen gut eingerichtet sein; sie sollen inmitten von Gärten und Teichen liegen, und es soll für Unterhaltung und Zerstreuung gesorgt werden. 6. Die Institutionen für die Alten sollen die einzigen Gemein-schaftseinrichtungen sein, in denen die Insassen sozial abgestuft behandelt werden. Die alten Leute sollen nach Maßgabe ihrer früheren Leistungen in sechs Kategorien eingestuft werden: Die beiden obersten Standesstufen erfassen die Menschen, die ver-antwortliche Stellungen bekleiden und besondere Leistungen vorzuweisen hatten; die beiden mittleren Stufen setzen sich aus denjenigen zusammen, die rechtschaffen gelebt und sich in ihrer Tätigkeit ausgezeichnet hatten, während die beiden unteren Stu-fen die weniger verdienstvollen und untüchtigen Menschen in sich einschließen. Diese Standesabstufung soll dazu dienen, daß jeder sich seiner Pflichten im Leben bewußt wird, damit er im Alter seinen Verdiensten entsprechend behandelt werden kann. 7. Um diese Differenzierung zu unterstreichen, werden die alten Menschen ihrer Einstufung entsprechend unterschiedlich unter-gebracht. Die beiden oberen Kategorien leben in geräumigen, bequem und geschmackvoll eingerichteten Häusern; die beiden mittleren Ranggruppen in Häusern mit sechs Räumen (Schlaf-zimmer, Gästezimmer, Wohnraum, Arbeitsraum, Badezimmer und Abstellraum). Die beiden unteren Kategorien alter Leute werden in einfach eingerichteten Zweizimmerwohnungen mit Gemeinschaftsbade-zimmer untergebracht, da sie von der Gemeinschaftsregierung wegen ihrer eigenen Minderleistung keine weiteren Vergünsti-gungen zu erwarten haben. Sie werden nur wegen ihres hohen Alters versorgt.

zog

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8. Die Institutionen werden an solchen Stellen errichtet, die klimatisch günstig und schön gelegen sind. 9. Den Insassen werden in der Reihenfolge ihres Eintritts Quar-tiere zugewiesen; es wird ihnen gestattet, mit Bekannten zu-sammenzuziehen, und sie dürfen auch verreisen oder umziehen. 1o. Die Insassen dürfen mit anderen Personen zusammenwoh-nen, auch wenn ein solcher Wohngenosse noch nicht die vor-geschriebene Altersgrenze erreicht hat. Der Mitbewohner hat jedoch keinen Anspruch auf kostenlose Verpflegung und Unter-kunft. x I. Jeder Insasse wird täglich untersucht. Kranke werden in die Hospitäler verlegt. 12. Den alten Leuten werden Pferdewagen für Ausflüge zur Verfügung gestellt. Vielleicht gibt es bis dahin auch elektrisch betriebene Fahrzeuge für solche Ausflugsfahrten. 13. Die Gemeinschaftsregierung trägt die Kosten für die Eisen-bahnfahrten der alten Leute in folgender Weise: Die unteren Ranggruppen dürfen dritter Klasse im Umkreis von hundert Meilen um die Anstalt frei fahren; die mittleren Ranggruppen tausend Meilen in der zweiten Klasse, und die oberen Katego-rien können erster Klasse überall gratis mit der Bahn reisen. 14. Um die Insassen geistig anzuregen, werden täglich Vorträge und Lesungen über die Verhaltensweise (Tao) und über andere Themen veranstaltet. In den Anstalten dürfen auch Priester mitleben, und es werden in den Grundstücken Tempel errichtet. 15. Wenn ein Heiminsasse stirbt, wird seine Leiche in Seide ein-gewickelt, und der Sarg wird dann, eskortiert von Polizeisolda-ten und mit allen dem Verstorbenen zukommenden Ehren in die Institution überführt, in die alle Menschen kommen, die sich ihres irdischen Daseins erfreut hatten.

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Kapitel ro

Die Institution für die Verstorbenen

Es handelt sich hier um die gleiche Institution, die am Ende des

Kapitel I als >gemeinschaftliches Krematorium< bezeichnet

wurde. Die Einrichtung hat folgende Bestimmung:

I. Alle Personen werden nach ihrem Tode hierher überführt.

2. Dem Rang und den Verdiensten des Verstorbenen entspre-

chend wird die Leiche aufgebahrt und angekleidet. Die Trau-ernden versammeln sich und geleiten den Toten von der Trauer-

halle zum Krematorium. Nach der Einäscherung wird jedoch die

Trauer nicht fortgesetzt. Im Zeitalter der >Großen Gemein-schaft< ist der Familienverband aufgelöst; eine längere Trauer

ist also nicht angemessen. Sie würde die Nachlebenden auch nur

unnötig belasten.

3. Es bleibt den Betroffenen überlassen, ob sie Trauerkleidung anlegen. Gewöhnlich wird es so sein, daß der Verstorbene mit

seinem Lehrer oder Schüler, mit seinem Betreuer oder Kranken-

pfleger enger verbunden war als mit seinen leiblichen Ange-hörigen. 4. Die Trauer wird durch das Tragen eines Stückes schwarzen Tuchs auf dem Kopf, der Schulter, am Körper oder am Arm

bekundet. Der Trauernde besucht einige Monate lang keine

musikalischen Veranstaltungen.

S. Wenn Schulkinder sterben, werden sie vor der Einäscherung nur wenige Tage angekleidet aufgebahrt: Es werden drei Tage

für Studenten, zwei Tage für Mittelschüler, ein Tag für Grund-

schüler vorgeschlagen. Die Trauernden sind in diesem Falle

Mitschüler, Lehrer und Betreuer. Die in den Armenanstalten Verstorbenen werden drei, die toten Hälftlinge einen Tag lang

aufgebahrt. 6. Verstorbene, die sich besondere Verdienste erworben hatten,

können auch einbalsamiert werden, wenn es eine geeignete Methode hierzu gibt. Sie sollen begraben werden, und es soll ein

Grabstein mit einem Bild des Toten errichtet werden. Wenn das

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Gemeinschaftsparlament einen entsprechenden Beschluß faßt, soll neben dem Portrait in goldenen Lettern eine Inschrift mit den Verdiensten des Verstorbenen eingraviert werden. Je nach dem Grad von >Jen< und Bildung des Toten wird dieser als >Hsien< (Ehrenwerter) oder >Sheng< (Weiser) bezeichnet. Die Ehrenwerten erhalten rechteckige, die Weisen runde Toten-gedenktafeln. Verstorbene, die sich ganz besonders verdient gemacht haben, können auch mit beiden Arten von Tafeln geehrt werden; die Größe der Gedenktafel richtet sich nach den Leistungen, die der Geehrte in seinem Leben vollbracht hat. Die Trauerfeier, die mit der Errichtung des Grabsteines und der Gedenktafel verknüpft ist, wird gleichzeitig eine Versammlung von Trauernden aus nah und fern sein; wenn eine hochstehende Persönlichkeit verstorben ist, kann es sogar sein, daß sich Men-schen aus aller Welt am Grabe versammeln. Zur Trauerfeier gehören auch Musik, Weihrauch und Blumen sowie Ehren-bekundungen und Verneigungen. Die Verdienste des Verstor-benen bleiben somit allen in Erinnerung, und den Belangen des sterblichen Menschen ist Genüge getan. 7. Die Sitte der Einäscherung ist zu befürworten, da auf diese Weise die sterblichen Überreste am schnellsten beseitigt werden. Es ist sinnlos, die Leiche aufzubewahren, da sie doch nur zur Verwesung bestimmt ist. Im toten Körper steckt kein Geist und keine Seele mehr. Es besteht eine gewisse Abneigung gegenüber der öffentlichen Verbrennung, denn die Nachlebenden können den Anblick des vor ihren Augen in Rauch aufgehenden Toten nicht ertragen. In späteren Zeiten werden daher Vorkehrungen für völlige Einäscherung mit mechanischen Mitteln geschaffen werden. »Das Leben eines Menschen kommt aus dem Nichtsein zum Sein, und es geht aus dem Sein ins Nichtsein.« Es ist also eine schönere Sitte, den Körper dem Himmel zu übergeben als ihn in der Erde zu bestatten. In der Großen Gemeinschaft sollen alle Menschen zum Glück geführt werden, und es ist deshalb angemessener, sterbliche Überreste zu beseitigen als die Leben-den damit zu belasten. Es ist besser, hier auf Erden eine glück-liche Welt zu schaffen als nach der buddhistischen Methode den

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Leiden dieser Welt zu entfliehen, um dadurch glücklich zu wer-den. 8. In diesen Institutionen wird der Lebensweg des Verstorbenen aufgezeichnet, und es werden genaue Unterlagen über die Hin-terlassenschaft angefertigt. Was der Tote nicht testamentarisch anderweitig vermacht hat, geht zur Hälfte in öffentliches Eigen-tum über. Was der Verstorbene im Leben geleistet hat, wird schriftlich festgehalten und an die Historiker weitergeleitet, damit die Nachwelt davon Kenntnis erhält.

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TEIL VII Wie man durch eine gemeinschaft-liche Regelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft

Kapitel

Die Idee der gemeinschaftlichen Agrarwirtschaft als Mittel zur Überwindung der Ungleichheit und der Unterernährung

Der Weg zur >Großen Gemeinschaft< ist nicht gangbar, wenn er nicht auch die Landwirtschaft erfaßt. In China kann man Land kaufen und verkaufen, wodurch jeder in den Besitz eines kleinen Streifens Grund und Boden kommen kann. Ein derart kleiner Landbesitz läßt sich maschinell kaum bearbeiten. Hinzu kommt, daß es keine landwirtschaftlichen Fachschulen gibt, und die Bauern wissen nicht, wie sie den Ernteertrag steigern kön-nen. Die Grundbesitzer befassen sich zumeist nicht selbst mit der Bodenbearbeitung; sie verpachten ihr Land zu hohen Zins-sätzen. Wenn Dürrezeiten oder Überschwemmungen eintreten, müssen die Bauern unter schwierigsten Bedingungen ihr Leben fristen; auch wenn die ganze Familie mitarbeitet, ist kaum genug zum Essen da. Sie ernähren sich dann von Yamswurzeln und Brei, ohne ihren Hunger stillen zu können. In Extremfällen verkaufen sie sogar ihre Kinder, um den Pachtzins bezahlen zu können. Die Leiden dieser zum Skelett abgemagerten und in Lumpen herumlaufenden Bauern sind unbeschreiblich. Auch wenn überall im Lande landwirtschaftliche Schulen er-richtet würden, wenn gutes Saatgut und Düngemittel bekannt wären und wenn wie in Europa und Amerika die Felder maschi-nell bearbeitet werden würden — die Einzelwirtschaften in China sind zu klein, um eine Besserung der Lebensverhältnisse zu ermöglichen. Die Bauern kommen andererseits nicht in die Lage, große, brachliegende Landstriche zu bearbeiten, denn sie

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bleiben immer auf ihren kleinen Landbesitz beschränkt. Es kann sogar der Fall eintreten, daß sie überhaupt kein Land zu bestel-len haben; dann sind sie zu Bettlern und Landstreichern herab-gewürdigt und zum Hungertod verurteilt. Nicht nur in China gibt es solche katastrophalen Verhältnisse; abgesehen von neu-erschlossenen Gebieten in Amerika gibt es überall auf der Welt Hunger und Not. Am schlimmsten sind die Zustände in den alten Ländern Asiens, wo es nur wenig Gelände gibt, das sich neu erschließen ließe, und wo andererseits die Bevölkerung wächst. Schon Konfuzius betrachtete diese Verhältnisse mit Sorge und empfahl deshalb die Anwendung des Felderbewässerungs-systems. In späteren Zeiten befaßten sich die Menschen jedoch nicht mit Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen von Hun-gersnöten, und in weniger entwickelten Ländern ließ sich diese schachbrettartige Landbewirtschaftung auch nicht durchführen. Besonders für die Landwirtschaft gilt der Ausspruch des Konfu-zius: »Gleichstellung beseitigt die Armut«, und so bemühten sich in späteren Zeiten große Männer um eine gleichmäßige Vertei-lung des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Wang Ming be-schritt den Weg einer radikalen Abkehr von diesen Vorstellun-gen und verursachte dadurch Verwirrungen. Der französische Sozialtheoretiker Fourier stellte die These auf, daß große Ge-meinwesen von tausend Personen arbeitsteilig ein großes Areal bewirtschaften sollten. Seine Vorstellungen waren sehr >Jen<-bezogen, aber nicht praxisnah. Wenn es den Menschen gestattet wird, mit Grundeigentum zu handeln und wenn alle Grundeigner werden, dann wird der Reichtum nicht gleichmäßig verteilt, und man kommt dem Ziel der Gleichstellung nicht näher. Dies zeigt sich auch an der Re-gierungsform, die Holland auf Java eingerichtet hat: Grund-besitzer erhalten den Boden vom Staat, und die Menschen, die das Land bearbeiten, stöhnen unter der Last der zu leistenden Abgaben. Die Grundbesitzer führen sich wie Feudalherren auf, unter der Schirmherrschaft der Kolonialmacht. Auf diesem Wege kann das Ziel der Befriedigung und Gleichheit

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nicht erreicht werden; so sehr sich auch rechtschaffene Menschen darum bemühen, den Ungerechtigkeiten ein Ende zu setzen und Hungersnot und Entbehrungen zu verhindern, bleiben die Ur-sachen der Ungleichheit doch weiterbestehen. Wir müssen die Voraussetzungen zur Errichtung der Großen Gemeinschaft schaffen, die unerläßlich für die Befriedung und zum Glück der Menschheit sind; alle derzeitigen Methoden sind unzureichend für die Erreichung dieses Zieles, auch die Verbesserung der indu-striellen und menschlichen Fertigkeiten und die Durchsetzung von Rechtsvorschriften. Das Ziel der Schaffung von gleichen Existenzmöglichkeiten für die Bauern läßt sich vielleicht auf dem Wege über den Kommu-nismus erreichen. Solange aber familiäre und staatliche Bindun-gen weiterbestehen, kann auch die Eigensüchtigkeit nicht über-wunden werden. Die Abhängigkeit von Frauen und Kindern von den Ernährern bleibt bestehen, und der Staat dehnt seinen Einfluß immer weiter aus; da er Truppen unterhalten muß, wird die Steuerlast immer drückender. Unter solchen Voraus-setzungen lassen sich die Ideen des Kommunismus nicht durch-setzen. Nicht nur in der französischen Revolution, sondern auch im Amerika der Neuzeit war man nicht in der Lage, kommu-nistische Vorstellungen in die Tat umzusetzen.

Kapitel 2

Wenn die >Große Gemeinschaft, nicht die Struktur der Industrie umgestaltet, zerrütten Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital das Staatswesen

Die Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital haben sich in letzter Zeit immer stärker ausgeweitet, da die maschinelle Produktion die handwerkliche Fertigung verdrängt hat. Was vordem der einzelne durch seiner Hände Arbeit schaffen konnte, wird jetzt industriell erzeugt, und der Handarbeiter hat keine Existenzgrundlage mehr. Voraussetzung für die Schaffung der

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maschinellen Industrieanlagen ist jedoch die Ansammlung von Kapital, und große Geldgeber finanzieren Fabriken, Eisen-bahnen, Werften, Warenhäuser und landwirtschaftliche Güter. Die Existenz der Menschen hängt vom Bestehen ihrers Arbeits-platzes ab, und viele Tausende von Arbeitern sind auf den Lohn angewiesen. Die Bedingungen hängen ganz vom Wohlwollen des Kapitalisten ab; er kann die Löhne anheben oder senken, er kann fürsorglich oder ausbeuterisch sein. Die Wohlhabenden werden auf diese Weise immer reicher, und die Not verarmter Menschen vergrößert sich. Die Spaltung in arm und reich hat sich immer mehr vertieft, obwohl die industrielle Entwicklung sich noch im Anfangs-stadium befindet. Nach einigen Jahrzehnten aber wird das Maschinenzeitalter sich durchgesetzt haben. Es werden sich Aus-wüchse zeigen; Fabriken und Märkte werden ihren Einfluß auf die ganze Welt ausdehnen, überall wird es Banken geben, Eisen-bahnen werden die Erde umspannen, Handelsschiffe werden auf allen Meeren verkehren und ein Telegraphennetz wird die Erde umhüllen. Tausende, ja Millionen von Arbeitern werden in sol-chen Unternehmen beschäftigt sein, und die Wirtschaftsriesen werden sich wie ein kleiner Staat organisieren: Die Geldgeber werden herrschen, die Geschäftsführer werden verwalten und die Arbeiter sind den Volksmassen gleichzusetzen. Ein abgrund-tiefer Unterschied wird sich zwischen arm und reich auftun. Es steht zu befürchten, daß die früheren Auseinandersetzungen um Landgebiete im Zeitalter der Herrschaft des Adels über die Plebejer sich umwandeln in einen Kampf um Fabriken und Märkte, in eine Auseinandersetzung zwischen Armen und Rei-chen. Kriege zwischen Staaten werden aufhören, aber es wird kriegsähnliche Kämpfe zwischen den Gliedern dieser neuen Staatsgebilde geben. Neues Elend und Unglück wird dann über die Menschheit kommen. Die Geknechteten werden sich dann von ihren Fesseln befreien wollen, und in diesem Lichte muß man die Auseinandersetzun-gen sehen, die sich jetzt schon in Europa und Amerika zwischen Gewerkschaften und Kapitalgebern abspielen. Die jetzigen Ent-

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wicklungen stecken noch in der Anfangsphase, denn die Ge-

werkschaftsbewegung wird sich künftig immer stärker artikulie-

ren. Die Politik von >Blut und Eisen< wird diese Entwicklung

noch verstärken. Nicht starke und schwache Staaten werden in

Zukunft einander bekriegen, sondern reiche und arme Volks-

gruppen werden aufeinander losschlagen. Nach hundert Jahren

wird die ganze Welt mitten in dieser neuartigen Auseinander-

setzung stehen, da schon in der Gegenwart sozialistische und

kommunistische Ideen sich immer weiter ausbreiten. Die Proble-

matik des Privateigentums besteht aber so lange fort, wie wir

an der jetzigen Struktur der Familie festhalten; es besteht keine

Aussicht, die Kämpfe zu verhindern und die Lage zu verbessern,

solange die eigensüchtige Haltung der Menschen nicht beseitigt

wird.

Kapitel 3

Wenn die ›Große Gemeinschaft< nicht den Handel

organisiert, wird die wirtschaftliche Versorgung durch

Eigennutz gefährdet

Im Handel wird sich künftig der Widerstreit der Interessen-

gruppen noch weiter verstärken. Die Profitgier wird weiter

wachsen, obwohl die Fähigkeiten der Menschen sich in hand-

werklichen Fertigkeiten und in der Entwicklung geistiger Le-

bendigkeit am besten dokumentieren könnten: Statt auf die

Bearbeitung von Gold und Edelsteinen konzentriert man sich

lieber auf die Anfertigung und Unterschiebung von falschem

Schmuck. Der Verbraucher wird überall betrogen, im Handel

mit Arzneimitteln, Nahrungserzeugnissen und Fahrzeugen.

Aber auch wenn keine minderwertige Ware verkauft wird,

sorgt der Handel durch die Festlegung hoher Preise für seinen

Profit. Wenn die Menschen betrogen werden können, ist der

Handel mit im Spiel. Schamlos werden alle Vorteile wahr-

genommen, und das gegenseitige Vertrauen existiert nicht mehr.

Gleichartige Unternehmen konkurrieren erbarmungslos gegen-

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einander; Neid und Mißgunst herrschen. Audi Freunde kämp-fen miteinander um geschäftliche Vorteile oder stellen sich Fallen, in die der andere hineinstolpert. Da sie nur ihren Profit im Auge behalten, kommt der Dienst an der Allgemeinheit ins Hintertreffen. Charakterliche Werte gelten nichts mehr, und natürliche Regungen sterben ab. Alle Hoffnungen auf Erreichen des Zieles der Vollendung des Menschentums schrumpfen in nichts zusammen. In der Neuzeit wird die Theorie der natürlichen Auslese ver-treten; die Idee des Wettbewerbs wird als naturgegeben be-trachtet. Jeder Staat unterhält seine Truppenverbände und wartet nur auf die Gelegenheit, sich den Nachbarstaat einver-leiben zu können. Die Menschen sehen ihr Ziel darin, ihre Mit-menschen zu übervorteilen und zu mißbrauchen. Alle geschäft-lichen Erfolge beruhen auf der Ausnutzung der Konkurrenz-lage. Man vertritt die Meinung, daß der Fortschritt des Wissens und der Fähigkeiten, daß die Verbesserungen von Fertigkeiten und Techniken auf ständigen Wettbewerb zurückzuführen seien, daß das Überleben der Kräftigsten ein Naturgesetz wäre. Erst recht trifft dies für das Geschäftsleben zu. Wie kann aber eine Verderbtheit des Herzens, die im Willen zur Vernichtung der Existenz des Mitmenschen zum Ausdruck kommt, dem himm-lischen Naturgesetz entsprechen! Nicht alle Menschen besitzen die gleiche Ausdauer; wenn zwei Händler miteinander konkurrieren, dann ist der eine schlauer als der andere, und es gibt immer einen Verlierer. Die Nieder-lage wird zur geschäftlichen Katastrophe, denn wenn er sein Kapital verloren hat, verarmt auch der Reichste. Die Familie gerät in Not und Elend, wenn die Existenzgrundlage fehlt; Krankheit und Tod können die Folge sein. Ich habe häufig beobachtet, daß ein solcher Jammer nach geschäftlichen Miß-erfolgen eingetreten ist. Es kann aber auch geschehen, daß ein armer Mensch durch geschäftlichen Erfolg reich wird, doch kommt dies vergleichsweise selten vor; vielleicht einmal in tau-send oder zehntausend Fällen. Wenn ein Mensch reicher als zehn andere wird, ordnen sich diese ihm unter; wird er reicher

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als hundert andere, dann dienen ihm diese; übersteigt sein Reichtum das Vermögen von tausend anderen, dann versklavt er seine Mitmenschen. Reiche entwickeln Stolz, Arme dagegen Unterwürfigkeit. Der Stolz der Reichen kann so weit gehen, daß sie verachtungsvoll durch Gesten Befehle erteilen; die Un-terwürfigkeit der Armen kann bis zur fußfälligen Selbsbtver-leugnung führen. Den Auswüchsen von Stolz und Unterwürfig-keit sind keine Grenzen gesetzt. Eine solche Einstellung wider-spricht der Natur des Menschen und trägt in keiner Weise zur Charakterbildung bei. Stolz und Unterwürfigkeit sind aber die notwendige Folge einer Haltung, die das Konkurrenzstreben befürwortet und zwischen arm und reich Barrieren errichtet. Wenn heute über diese Dinge gesprochen wird, überwiegt die Meinung der Befürworter des Wettbewerbs, da man ihn als stimulierend für den Fortschritt betrachtet. Man sagt: Mangeln-der Wettstreit zieht eine rückschrittliche Tendenz nach sich. Dies ist auch für das Zeitalter der Unordnung zutreffend und ange-messen; in der Ära der >Großen Gemeinschaft< in Frieden und Gleichheit wäre eine solche Einstellung jedoch überaus gefähr-lich. Diese Haltung würde zur Katastrophe führen, denn das Wesen und die Bestimmung des Menschen widerspricht einer betrügerischen und korrupten Handlungsweise, die Elend, Krankheit und Tod, Stolz und Unterwürfigkeit nach sich zieht. Sie steht auch in direktem Widerspruch zur Zielsetzung, die Glück und Frieden der Menschheit zum Inhalt hat. Die Anhänger der Auslesetheorie durch Wettbewerb vertreten einen kurzsichtigen Standpunkt, denn sie nehmen sich die Natur zum Vorbild, verstehen aber nicht das Wesen des Menschen. Dies ist allerdings ein Standpunkt, der für die Verhältnisse im ungeordneten Zeitalter bezeichnend ist! Wenn wir die Aus-wüchse des Konkurrenzstrebens verdammen, andererseits aber familiäre und unternehmerische Eigenständigkeit bejahen, kom-men wir nicht weiter. Der Wettbewerb hat nur solange eine Daseinsberechtigung, wie die Familienstruktur und das Privat-eigentum bestehenbleiben und Privatpersonen die Geschäfte ihrer Unternehmen führen. Im Zeitalter der Unordnung läßt

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sich keine Veränderung dieser Strukturverhältnisse herbeifüh-ren. Aber es lassen sich Vergleiche zwischen den Auswirkungen der jetzigen Eigentumsverhältnisse und der späteren Überfüh-rung in Gemeinschaftseigentum anstellen, wobei die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft berücksichtigt werden.

Kapitel 4

Vergleich zwischen bäuerlicher Einzelwirtschaft und gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft

(Im wesentlichen sind Einzelbauern dadurch benachteiligt, daß sie die Marktchancen ihrer Erzeugnisse nicht vorhersehen kön-nen. Nur eine gemeinschaftliche, planmäßig geleitete Agrar-wirtschaft kann diese Nachteile überwinden und Verluste an Zeit, Arbeitskraft und landwirtschaftlichen Produkten aus-schließen.)

Kapitel 5

Vergleich zwischen Privathandel und Gemeinschaftshandel

(Private Einzelpersonen sind nicht in der Lage, ihre Geschäfte so zu führen, daß sie immer eine Übersicht über die erforderliche Lagerhaltung und die zu erwartende Nachfrage haben; je nach Größe des Vorrats und Stärke der Nachfrage steigen oder fallen die Preise. Gerissene Geschäftsleute können sich hierdurch berei-chern; die meisten Kaufleute ruinieren sich aber durch diese geschäftlichen Schwankungen. Um Rückschläge zu überspielen, versucht der Handel, unechte oder schlechte Ware abzustoßen und fügt dadurch den Verbrauchern großen Schaden zu. Selbst Regierungsverordnungen können die Kaufleute nicht daran hindern, Waren zu horten und den Markt zu überschwemmen, was einer Materialvergeudung gleichkommt. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird die ganze Erde

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ein einziger Wirtschaftsraum sein. Die benötigte Warenmenge

für die wachsende Bevölkerung wird ungeheuer groß; doch die

Erde kann nur eine bestimmte Menge von Produkten erzeugen.

Man kann dann den Bedarf der Menschen an den einzelnen

Produkten berechnen und verhindern, daß durch Überproduk-

tion Verluste entstehen. Der Handel kann aber nur dann die

Versorgung sicherstellen, wenn er dem Wirtschaftssystem der

Großen Gemeinschaft angepaßt wird.)

Kapitel 6

Vergleich zwischen Privatindustrie und Gemeinschaftsindustrie

(Der private Handel beruht auf vergleichbaren Bedingungen bei

der privaten Industrie: Auch hier gibt es ähnliche Probleme,

Überproduktion des einen Artikels und Unterproduktion des

anderen, steigende oder fallende Kosten und Absatzschwierig-

keiten. Hinzu kommt die Ungleichheit der Löhne, deren Höhe

durch das Angebot an Fabrikarbeitskräften bestimmt wird.

Dieser Existenzkampf und die Ungleichheit der Bedingungen

trägt zur Aushöhlung der Moral bei. Durch Konkurrenzstreben

können riesige Warenmengen unverkäuflich werden; Arbeits-

kraft und Materialien werden verschwendet. Nur wenn die

Privatindustrie abgeschafft wird, werden auch die wirtschaft-

lichen Voraussetzungen überschaubar.)

Kapitel 7

Gemeinschaftliche Agrarwirtschaft

(In der >Großen Gemeinschaft< werden Landwirtschaft, Indu-

strie und Handel öffentlich gelenkt werden. Der Grund und

Boden gehört der Gemeinschaft. Das private Unternehmertum

wird abgeschafft; auch der private Grunderwerb wird verboten.

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Die Gemeinschaftsregierung richtet ein Ministerium für die Landwirtschaft ein; die Verwaltungsstellen der Planquadrate gründen Landwirtschaftsausschüsse, und auch jedes kleinere Areal untersteht einem Büro für die Agrarwirtschaft. Dieses Büro beaufsichtigt das Studium von Landwirtschaftsschülern, denen nach Beendigung ihrer Ausbildung Bodenflächen zur Bearbeitung zugewiesen werden. Je nach dem Bedarf der Bevöl-kerung werden größere oder kleinere Flächen bestellt, um die benötigte Produktmenge zu erzeugen. Aufgrund von Jahres-berichten an die Gemeinschaftsregierung werden landwirtschaft-liche Erzeugungspläne aufgestellt, und die Ministerien für Industrie und Handel sorgen zusammen mit dem Landwirtschafts-ministerium für die Bedarfsdeckung. Forschungsstellen berichten fernerhin über Bodenbeschaffenheit und klimatische Bedingun-gen, damit anhand von Statistiken die Versorgung der Welt-bevölkerung planmäßig sichergestellt wird. Diese Berichte sollen auch die Möglichkeiten für eine planvolle Erschließung aller

vorhandenen Bodenflächen und den Anbau geeigneter Pflanzen schaffen. Agrarpläne sollen auch alle Details berücksichtigen, wie künstliche Düngemittel, Viehhaltung und landwirtschaft-liche Maschinen sowie die Zahl der Landarbeiter, die in dem jeweiligen Gebiet benötigt werden. Durch Erfassung aller Einzel-heiten lassen sich auch spezielle Bedürfnisse decken. Das Han-delsministerium schafft durch Vorausplanung die Möglichkeiten zur Lagerhaltung von landwirtschaftlichen Produkten und somit Vorkehrungen gegen Versorgungsschwierigkeiten bei Natur-katastrophen. Die Bauern kaufen Geräte und Düngemittel in den Lagerhäusern, die in den Dörfern eingerichtet werden.

Unter Aufsicht der Büros für Agrarwirtschaft wird in Abstän-den von einigen Li überall ein landwirtschaftlicher Betrieb eingerichtet, zu dem folgendes Personal gehört: Leiter, Inspek-tor, Hilfsinspektor, Geschäftsführer, Lagerverwalter, Buchhal-ter, Schreibkräfte und Lehrlinge. Die Größe des Betriebes richtet sich nach den jeweiligen Bedingungen, nach dem verfügbaren Maschinenpark und nach dem Stand der landwirtschaftlichen Entwicklung.

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Page 225: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Jedem Landwirtschaftsausschuß untersteht eine geologische For-schungsstelle, die Untersuchungen der Bodenbeschaffenheit an-stellt, die klimatischen Bedingungen statistisch erfaßt und die Eignung von Saatgut und Düngemitteln prüft. Die Berichte die-ser Forschungsstellen schaffen die Grundlagen für die Weiter-entwicklung des Gebietes. Auch Landwirtschaftsvereinigungen tragen zum Fortschritt auf diesem Sektor bei. Jede Landwirt-schaftsschule unterhält eine Forschungsstelle. Den Absolventen

kann die Leitung der Betriebe übertragen werden; nicht voll ausgebildete Landarbeiter dürfen nur dann in leitende Stellun-gen aufrücken, wenn sie sich durch besondere Leistungen be-währt haben. Hierfür können ihnen auch Auszeichnungen ver-liehen werden. Die Landwirtschaftsausschüsse werden personell in ähnlicher Weise wie die landwirtschaftlichen Betriebe ausgestattet. Sie gliedern sich in Unterabteilungen auf und unterhalten For-schungsstellen, die über die einzelnen Produkte Bericht erstat-ten. Absolventen der Landwirtschaftsschulen arbeiten in diesen Stellen. Den Ausschüssen unterstehen ferner die den einzelnen Betrieben des Gebietes zugeordneten Büros für Agrarwirtschaft. Die Zahl der Arbeitsstunden sowie der Ablauf der Landarbeit werden festgelegt; sobald die Mechanisierung der Landwirt-schaft weiter fortgeschritten ist, kann die Arbeitszeit verkürzt werden.) Jedoch wird die Landarbeit straff und fast militärisch organisiert; das Ausrücken zur Feldarbeit, die Pausen und der Beginn des Feierabends unterliegen festen Regeln. Die Leistung und der Arbeitswert jedes Bauern, Fischers und Bergarbeiters wird untersucht, und die Arbeiterschaft wird aufgrund dieser Ergebnisse in zehn Leistungsgruppen aufgeteilt. Wer sich durch seine Tüchtigkeit hervortut, wird aus der Masse der Arbeiter-schaft ausgesondert und zum Dienst in den landwirtschaftlichen Verwaltungsstellen herangezogen. Die Leiter dieser Stellen müs-sen jedoch das Fach studiert und Prüfungen abgelegt haben. Sie sind dann Beamte der Gemeinschaftsregierung oder der Land-wirtschaftsausschüsse der kontinentalen Regierungen. Die Bau-ern, Fischer, Schäfer, Bergleute und Waldarbeiter der untersten

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Leistungsgruppe erhalten die niedrigsten Löhne, die aber für ihren Lebensunterhalt ausreichend sind. Bei Bewährung können sie in höhere Leistungsgruppen aufsteigen. (Die landwirtschaftlichen Betriebe sind in der gleichen Weise auszustatten wie die zuvor beschriebenen Gemeinschaftsinsti-tutionen. Diese Einrichtungen sollen das Leben ausgestalten und den Alltag verschönern: Büchereien, Veranstaltungsräume und Gartenanlagen sollen ebenso zur Verfügung stehen wie Speise-säle, Einkaufsläden und wohnliche Unterkünfte. Die Wohnein-richtung soll der eines komfortablen Hauses der Jetztzeit ent-sprechen. An arbeitsfreien Tagen soll für Unterhaltung und Belehrung gesorgt werden. Die Unterkünfte werden kostenlos zur Verfügung gestellt; Essen und Kleidung bezahlt jeder aus seinem Lohn. Ein Zehntel des Lohnes wird als Spareinlage ein-behalten. Wenn jemand zeitweilig nicht arbeiten will, so wird ihm dies gestattet; stellt es sich jedoch heraus, daß er faul und arbeitsscheu ist, gilt er als unehrenhafter, diffamierter Außen-seiter. Um die Gleichheit aller Beschäftigten auch nach außen hin zu bekunden, wird darauf geachtet, daß die Lebensweise der höheren Beamten sich von der der anderen nicht unterscheidet. Für alle in diesen landwirtschaftlichen Berufen Beschäftigten wird die Möglichkeit geschaffen, in leitende Stellungen aufzu-steigen. Sie können sich in Schulungskursen weiterbilden und sich dann in der Praxis bewähren. In dieser kommenden Zeit wird die Arbeit keine Bürde mehr sein, und es wird für Unter-haltung und Bequemlichkeit gesorgt, die sich in früheren Zeiten Fürstlichkeiten kaum träumen ließen. Den Menschen wird die Last der Sorge um die Familie abgenommen; sie können ihre Persönlichkeit frei entfalten, leben nicht mehr in Angst vor Naturkatastrophen, können ungehindert in alle Gegenden rei-sen und erfreuen sich der Errungenschaften der hochentwickel-ten Zivilisation. Die Aufstellung und Durchsetzung von Wirt-schaftsplänen sorgt dafür, daß weder zuviel noch zuwenig produziert wird; überall auf der Welt wird die Güterversorgung organisiert. Die Vorteile, die die >Große Gemeinschaft< gegen-über dem jetzigen System schafft, sind unermeßlich.)

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Kapitel 8

Gemeinschaftliche Industrie

(In der >Großen Gemeinschaft< wird die gesamte Industrie-produktion öffentlich gesteuert. Dem Industrieministerium der Gemeinschaftsregierung unterstehen die Ausschüsse für indu-strielle Produktion bei den Verwaltungsstellen der Planqua-drate, die wiederum die in Gemeineigentum befindlichen In-dustriebetriebe lenken. Es wird darüber entschieden, welche Art von Industrien sich für die jeweiligen Gebiete eignen. Die Lei-tung der Fabrikbetriebe wird organisatorisch analog zu der Leitung der zuvor beschriebenen landwirtschaftlichen Betriebe aufgebaut. Studierte Fachleute bekleiden die leitenden Betriebs-stellungen und sind in den behördlichen Industrieverwaltungs-stellen tätig. Sie bleiben lebenslang in solchen Positionen und werden nach ihrer Tüchtigkeit in zehn Leistungsgruppen ein-gestuft. Jedes Verwaltungsorgan und jede Fabrik gehört einer Berufs-gruppe an, und die Arbeiter werden Mitglieder dieser Körper-schaften. Die Fachkörperschaften sorgen für die Unterweisung der Industriearbeiterschaft in neuen Erkenntnissen der Produk-tionsweise. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< werden die Industrie-anlagen unvorstellbar großräumig sein. Sie werden wie Staaten organisiert sein; die Leiter werden wie Regierende die Geschäfte führen. Die Ausstattung und Einrichtung der Beschäftigten-Unterkünfte wird den Bedürfnissen entsprechen, so daß die in Fabriken Tätigen in gleicher Weise wie die in der Landwirt-schaft beschäftigte Bevölkerung ihr Leben ausgestalten können.) In der barbarischen Vorzeit begnügte man sich mit einfacher Lebensweise; im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird jedoch die Ausgestaltung der Lebensformen vorrangig sein. Der einfachen Lebensweise entspricht die Erzeugung landwirtschaft-licher Produkte; bei der Ausgestaltung des Lebens gewinnt die industrielle Produktion immer größere Bedeutung. Der Mensch

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der Zukunft möchte sich mit gediegenen, schönen und seinen Geist beschäftigenden Erzeugnissen umgeben, und solche indu-striellen Produkte werden im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit allgemein begehrt sein. Die industrielle Produktion wird deshalb die höchste Wertschätzung genießen und jegliche neue Errungenschaft wird willkommen sein. Die Industrie-arbeit wird auch nicht mehr als Bürde betrachtet werden, denn es wird für Abwechslung und Unterhaltung durch freundliche Gestaltung der Arbeitsräume, Gesang und Musik gesorgt. Die Ausgestaltung der Verkehrsverbindungen und ein künftiger Luftverkehr werden die Menschen einander näherbringen, und vielgestaltige Neuerungen werden den Fortschritt beflügeln. (Regierungsmaßnahmen werden den Erfindungsgeist anregen und belohnen, indem den Neuerern nicht nur Auszeichnungen verliehen, sondern auch Geldpreise ausgezahlt werden. Dies wird auch der Weg sein, auf dem in dem kommenden Zeitalter Ansehen und Vermögen erworben werden können.) In den barbarischen Zeiten hatte es nur wenige gegeben, die sich industriell beschäftigten, und die Industrie genoß kein Ansehen. Im zukünftigen Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird dagegen der Industrieberuf höchster Wertschätzung würdig sein. Das ganze öffentliche Leben wird von der Industrie bestimmt; sie schafft auch die Grundlagen für Landwirtschaft und Handel, Postwesen, Stromerzeugung und Straßenbau. Nur die Medizin wird das gleiche Ansehen wie die Industrie genießen. Es wird in Zukunft auch keine schweren körperlichen Arbeiten mehr geben; überall werden Maschinen eingesetzt, und die Menschen werden nur noch die Maschinenarbeit überwachen. Ein Maschi-nist wird die gleiche Arbeitsleistung beisteuern, die früher hun-dert Mann verrichten mußten. Alle Arbeiter werden ausgebildet sein, und es wird kein Analphabetentum mehr geben. Im Zeit-alter des Friedens und der Gleichheit wird sich die Bevölke-rungszahl ständig vermehren, aber auch der Einsatz von Ma-schinen wird sich so ausgestalten, daß den Menschen die Arbeit von Maschinen abgenommen wird. (Diese umfassende Mechani-sierung wird dazu beitragen, daß die tägliche Arbeitszeit bis auf

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drei oder vier Stunden verkürzt werden kann. Die kurze Ar-beitszeit wird aber auch eine Scheu vor der Arbeit überwinden helfen, so daß es dann keine Faulheit mehr geben wird; die neugewonnene Freizeit läßt sich gut ausnutzen, indem den Arbeitern die Möglichkeit zur Weiterbildung gegeben wird. Die Arbeiterschaft wird durch das kommende Zeitalter zufrieden und glücklich werden, denn die Menschen brauchen nicht mehr für die Familie zu sorgen und sich um alte Angehörige zu küm-mern; sie brauchen keine Arbeitslosigkeit zu befürchten und können in ihrer reichlich bemessenen Freizeit Erholung und Entspannung finden. Jeder kann sich seinen Fähigkeiten ent-sprechend entfalten, und durch eine weltweite Planung werden die industriellen Erzeugnisse den jeweiligen Bedarf decken. Die Moral der Menschheit wird sich vervollkommnen; der Fort-schritt kann sich entfalten, und Zufriedenheit wird in die Her-zen einkehren. Im Vergleich zur Gegenwart sind die Vorzüge dieser künftigen Weltordnung unermeßlich.)

Kapitel 9

Gemeinschaftlicher Handel

Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird der Handel durch das Handelsministerium der Gemeinschaftsregierung ge-steuert. Es hat die Aufgabe, alle landwirtschaftlichen und indu-striellen Erzeugnisse so zu verteilen, daß die Versorgung der gesamten Weltbevölkerung sichergestellt wird. Die Verwal-tungsstellen der Planquadrate konstituieren Handelsausschüsse, und Verteilungsstellen, Lagerräume und Läden werden mög-lichst dicht beieinander an geeigneten Orten eingerichtet. Ahnlidi wie bei den landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben übernehmen Regierungsbeauftragte die Verwaltung des Han-dels. Die Ausschüsse und Verwaltungsbüros stellen anhand von Statistiken den Bedarf der Bevölkerung fest und sorgen für die Lagerung und den Vertrieb der benötigten Waren.

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(In jeder Stadt wird es nur ein zentrales Warenhaus geben, in einer Größenordnung wie ein ganzer Stadtteil. Die Waren werden wie auf einer Verkaufsmesse ausgestellt. Es wird nur zu Festpreisen verkauft. Die Waren können auch telefonisch be-stellt und ausgeliefert werden. Der tägliche Bedarf der Ver-braucher kann in Sammellieferungen oder auf Abruf zu Hause in Empfang genommen werden. Die Warenhäuser haben die Größe von Fabrikbetrieben; sie sind wie ein kleiner Staat organisiert mit Verwaltern, die wie Staatsbeamte fungieren, und mit Lagerarbeitern und Verkäufern, die die Staatsbürger darstellen. Im Vergleich zu den landwirtschaftlichen und indu-striellen Betrieben beschäftigen die Warenhausbetriebe jedoch bedeutend weniger Personal. Die heute übliche »Handelsatmo-sphäre« wird nicht zu spüren sein, da dieser Regierungshandel ein offizieller Warenverteilungsmechanismus ist. Die Preise wer-den den Wirtschaftsverhältnissen der kommenden Zeit ent-sprechen; das Niveau wird jedoch bedeutend niedriger als das heutige liegen.) Preisschwankungen, unter denen die Bevölkerung der Gegen-wart zu leiden hat, lassen sich auf planlose Anfertigung und Verteilung der Waren zurückführen, aber auch auf ein plan-volles Zurückhalten von Waren, um den Markt zu beherrschen. Was die Privatindustrie herstellt und der Privathandel vertreibt, gibt es auch nur in bestimmten Läden zu kaufen. Kleinbetriebe beschäftigen zehn Leute; Großbetriebe können über tausend Beschäftigte haben; aber überall gibt es viele falsch eingesetzte Verwalter und Büropersonal, das nur herumsitzt und sich die Zeit vertreibt. Auch der Vertrieb verursacht unnötige Kosten; der aufgeblähte Personalstand schmälert den Gewinn eines Unternehmens, anstatt den Umsatz zu fördern. In China ist fast die Hälfte des Vertriebspersonals überflüssig; auch in Europa ist ein Drittel bis ein Viertel der im Handel Beschäftig-ten überzählig. Wenn man den Warenbedarf einer Stadtbevöl-kerung statistisch erfaßt, genügt die Einrichtung eines Waren-hauses für den Gütervertrieb; der Fortbestand von Tausenden von Einzelläden würde sich dann erübrigen. Wenn man eine

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Page 231: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Verteilungsstelle zehntausend anderen gegenüberstellt, ergibt

das eine Ersparnis von neuntausendneunhundertneunundneun-

zig. Wenn man die ganze Welt zum Vergleich heranzieht, dann

würde bei einer theoretischen Verkäuferschar von einer Mil-

liarde Menschen, die unnötig in den Läden herumsitzen, neun-

hundert Millionen anderweitig verfügbar sein. Wenn dagegen

der Handel öffentlich gesteuert wird, dann wird auch die

Warenverteilung vereinheitlicht und vereinfacht; die Beschik-

kung der Lagerhallen und Warenhäuser kann mechanisiert

werden und Transportfahrzeuge sowie Schiffe werden für den

weltweiten Vertrieb eingesetzt. Alle Kosten, die der Zwischen-

handel verursacht, lassen sich dadurch einsparen. In einem

einzigen Verteilungszentrum können alle Arten von Waren zum

Verkauf vorbereitet und abgesetzt werden. Nur wenige Ver-

käufer werden hierfür benötigt: Wo früher in einer Großstadt

zehntausend Läden bestanden, die je zehn Verkäufer, zusammen

also hunderttausend Personen beschäftigten, wird in späterer

Zeit ein einziges Warenhaus mit zehntausend Verkäufern die

gleichen Aufgaben erfüllen können. Auch wenn einige tausend

Verkäufer zusätzlich eingesetzt werden müßten, so bedeutet

doch diese gemeinschaftliche Handelsorganisation eine bedeu-

tende Personaleinsparung. Diese Kostensenkung im Vertrieb

wird es möglich machen, die Preise der Waren um ein Vielfaches

zu ermäßigen. Aufgrund der niedrigen Preise wird der Bevöl-

kerung der Einkauf erleichtert. Alle auf der Welt erzeugten

Güter werden dann in den großen Warenhäusern angeboten;

jeden Tag findet eine Art Verkaufsmesse statt. Die Menschen

lernen alle Waren, die auch in entfernten Weltgegenden produ-

ziert werden, gründlich kennen, und auch in entlegenen Gebie-

ten wird alles zu haben sein. Auch die Preise werden nicht mehr

durch Verteilungsschwierigkeiten anziehen. Der Gemeinschafts-

handel wird den Bedarf schätzen und geeignete Verteilungs-

bedingungen schaffen. Wenn die Menschen ihr Lohneinkommen

für ihren Lebensunterhalt ausgeben, dann werden diese Gelder

an den öffentlichen Haushalt zurückfließen. Die Besteuerung

der Einzelpersonen wird entfallen; vor allem wird das Übel der

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Steuereintreibung abgeschafft. Im Zeitalter des Friedens und der

Gleichheit wird dem Wucher und den Pressionen ein Ende

gesetzt. Die Menschen können über ihr Einkommen frei ver-

fügen und haben immer ausreichend Geld für Unterhaltung und

Reisen zur Hand. Und strebt nicht jeder Vergnügungen und

Annehmlichkeiten an? (Gleichartige Lebensbedingungen wie für Beschäftigte in Land-

wirtschaft und Industrie werden auch für die im Handel Täti-

gen geschaffen. In den Warenhäusern werden Handelsschulen

eingerichtet, und die Lehrlinge können ihren Fähigkeiten ent-

sprechend beruflich aufsteigen.)

Kapitel io

Die Schaffung von Menschenrechten für Männer und Frauen

als Voraussetzung für die Errichtung der Großen Wirtschaftsgemeinschaft

Wenn man befürchtet, daß die Regierungsbeauftragten für

Landwirtschaft, Industrie und Handel sich selbst bereichern

könnten, so sind solche Bedenken dem Zeitalter der Unordnung

durchaus angemessen. In der Ara des Friedens und der Gleich-

heit werden die Menschen jedoch von ihren Familien lösgelöst

sein; ihnen werden weder Haus- und Grundbesitz noch Privat-

firmen gehören. Die Lösung der Familienbindung wird Zufrie-

denheit, inneres Gleichgewicht und eine gute Ausbildung zur

Folge haben. Aus diesem Grunde werden auch unehrenhafte

Handlungen nicht mehr vorkommen. Selbst wenn ein in öffent-

licher Stellung Beschäftigter Unterschlagungen begehen wollte,

wäre er nicht in der Lage, gestohlenes Gut weiterzuverkaufen,

da der private Handel abgeschafft worden ist. Sollte er dennoch

eine solche Tat begehen, dann würde er Gefahr laufen, lebens-

lang diffamiert und von der Gemeinschaft ausgestoßen zu

werden. Hinzu käme noch, daß alle Geldmittel der Bevölkerung

auf Bankkonten deponiert sind und die Menschen nur über

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nachprüfbare Mittel aus Arbeitslohn und Erfinderprämien ver-fügen. Sollte also ein Geschäftsführer plötzlich viel Geld in Händen haben, dann wäre er sofort der Unterschlagung über-führt. Niemand würde sich aber derartige Verfehlungen zu-schulden kommen lassen und sich der Verfemung aussetzen, da den Menschen die Sorge um die Familie und um die eigene Existenz genommen worden ist. Armut und Not werden im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit der Vergangenheit angehören. Ein geregelter Lebensweg ist den Menschen vor-gezeichnet, vornehmlich auch durch den Druck der öffentlichen Meinung; Erziehung und Bildung werden zur Steigerung der öffentlichen Moral beitragen. Schon Konfuzius war der Mei-nung, daß mit Auszeichnungen bedachte Menschen nicht zum Diebstahl neigen. Man sollte also keine Bedenken wegen der Gefahr unehrenhafter Handlungen der Wirtschaftsverwalter in der Zeit der >Großen Gemeinschaft< hegen. Wie kann die Aufgabe der Überführung der privaten landwirt-schaftlichen, industriellen und Handelsbetriebe im Gemeineigen-tum bewerkstelligt werden? Gewiß nicht auf dem Wege über öffentliche Obligationen. Die schwierigste Aufgabe auf dem Wege zur >Großen Gemeinschaft< ist in einer schnellen Beseiti-gung der nationalstaatlichen Barrieren zu erblicken. Demgegen-über erscheint die Abschaffung des privaten Unternehmertums sehr einfach: Sie beginnt mit der Auflösung der Familienstruk-tur. Also muß auch am Beginn des Weges zur Überwindung der Staatsgrenzen die Abschaffung der Familie stehen. Wollen wir wirklich die Familie auflösen? Ja, denn anderen-falls werden wir uns der vom Himmel übertragenen Menschen-rechte nicht vollauf bewußt. Alle Männer und Frauen haben das Recht auf Gleichheit und Unabhängigkeit. Die Ehe wird nur noch ein zeitlich begrenzter Vertrag über eine bestimmte Dauer von Monaten oder Jahren darstellen, und die Bezeichnungen Ehemann und Ehefrau werden abgeschafft. Wenn derartige Maßnahmen über einen Zeitraum von sechzig Jahren hinweg durchgeführt werden, wird es auf der ganzen Welt keine Fami-lien mehr geben. Kein Mann wird dann eine Frau für sich allein

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beanspruchen können, und keine Frau ist an einen bestimmten Mann gekettet; auch Eltern und Kinder leben voneinander unabhängig. Es wird niemand da sein, dem man seinen Nachlaß vermachen muß; Geld und persönlicher Besitz können an Freunde verschenkt werden, während Grundbesitz, Unterneh-men und Handelsware in Gemeineigentum übergehen. Dies ist der Weg zur >Großen Gemeinschaft<. Wenn die Grundeinheit der Weltbevölkerung nicht mehr die Einzelfamilie sein wird, dann wird auch die Abschaffung der Nationalstaaten erleichtert. Die Überwindung der Rassenschranken wird aber noch ein schwieriges Problem darstellen; in wenigen Jahren müßte es sich jedoch bewältigen lassen. Um die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in die Tat umzusetzen, ist die Beseitigung der Schranken, die in der Fa-milienstruktur begründet sind, der einzig gangbare Weg. Das Recht auf Selbständigkeit hat der Himmel den Menschen in die Wiege gelegt. Will man auf der ganzen Welt die Auswüchse des Privateigentums abschaffen? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängigkeit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Will man auf der ganzen Welt kriegerische Auseinandersetzungen verhindern? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängig-keit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Will man auf der ganzen Welt die Ras-senschranken abbauen? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängigkeit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Will man auf der ganzen Welt den Weg zu Frieden und Gleichheit in der >Gro-ßen Gemeinschaft< beschreiten? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängigkeit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Will man auf der ganzen Welt in ein Zeitalter der Glückseligkeit und Un-sterblichkeit eintreten? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängigkeit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Will man auf der ganzen Welt Seele und Geist beflügeln, ein Sein ohne Werden

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und Vergehen, ohne Wachsen und ohne Verfall schaffen? Gleich-heit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängigkeit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel den Menschen übertragen. Soll der menschliche Geist den Himmel erfüllen, unerschöpflich, unmeßbar, unendlich zur Entfaltung kommen? Gleichheit von Mann und Frau ist das Ziel, und Unabhängig-keit ist die Voraussetzung. Dieses Recht hat der Himmel jedem Menschen gegeben. Ich habe einen Weg gewiesen, wie man das Ziel der Großen Gemeinschaft in Frieden und Gleichheit errei-chen kann, wie man dadurch zur höchsten Vollendung gelangt: zur Glückseligkeit und Unsterblichkeit, zum Sein ohne Werden und Vergehen, zur unendlichen Beflügelung des Geistes. Ich sehne mich danach, meine Mitmenschen für immer von ihren Leiden und Sorgen zu befreien. Der Weg, den ich vorgezeigt habe, ist lediglich ein Ausfluß des Rechtes, das dem Menschen vom Himmel gegeben wurde: des Rechtes auf Gleichheit und Unabhängigkeit! Wenn dieser Weg bald beschritten wird, dann wird auch bald die Glückseligkeit einkehren; dauern die Vor-bereitungen lange, dann liegt auch noch ein langer Weg bis zum Einzug des Glücks in die Herzen der Menschheit vor uns. Leid und Sorge würden aber ihren Fortgang nehmen, wenn man sich nicht mutig auf diesen Pfad begibt. Es darf nicht geschehen, daß man sich mit dem Leid der Menschheit abfindet — man muß den richtigen Weg beschreiten, der glückbringende Verhältnisse schafft!

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TEIL VIII Wie man ein einheitliches und gerechtes Verwaltungssystem schafft und nach dem Prinzip Frieden und Gleichheit regiert

Kapitel r

Einteilung der Erde in hundert Grade

Die gesamte Erde soll so eingeteilt werden, daß sie aus so 000 Planquadraten besteht, die sich aus je soo Längen- und Breiten-graden ergeben. Die so geschaffenen Gebiete besitzen etwa eine

Ausdehnung von 40o chinesischen Li oder soo englischen Mei-len. Wenn man den asiatischen Kontinent als Beispiel anführt und Land- und Meeresgebiete mit einbezieht, so ergibt sich hier eine horizontale Ausdehnung von 7000 und eine verti-kale von 53oo englischen Meilen. Wenn man auch noch die Inselgebiete hinzurechnet, ergibt sich ein Flächenumfang von 700 Milliarden Quadrat-Li oder 17 Millionen englischen Qua-dratmeilen.* Da jedes Gebiet von so 000 Quadrat-Li einem

Grad entspricht, erhält man somit 1700 Planquadrate. Europas Fläche entspricht 21 Milliarden Quadrat-Li oder 3 700 000 eng-lischen Quadratmeilen. Die Anzahl der Planquadrate ist 37o.

Nordamerikas Längenausdehnung beträgt 450o, die Breiten-ausdehnung 3000 englische Meilen. Bei Einbeziehung der Insel-gebiete ist der Flächenumfang 8600 Quadrat-Li oder 8 600 000 englischen Quadratmeilen. Hier werden demnach 86o Plan-

quadrate entstehen. Südamerikas Fläche entspricht 6 500 000 englischen Quadratmeilen oder etwa 3o Milliarden Quadrat-Li, was 65o Planquadrate ergibt. Afrika umfaßt einschließlich der Inselgebiete s 548 000 000 englische Quadratmeilen oder

*) Anm. des Herausgebers: Diese und die folgenden Zahlen sind auf die in sich widersprüchlichen Ergebnisse zurückzuführen, zu denen der Autor am Schluß dieses Kapitels gelangte.

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5 48o 000 000 Quadrat-Li. Es ergeben sich somit r 550 000 000 Planquadrate. Zusammen mit den vielen Inseln hat Australien eine Fläche von 92 800 000 englischen Quadratmeilen oder 9 28o 000 000 Quadrat-Li, was 423 Planquadraten entspricht. Alle Landgebiete der Erde werden somit in 5 238 Planquadrate aufgeteilt. (Die Einteilung des Himmels und der Erde in 36o Grade stellt ein ungenaues und unpraktisches System dar, da es auf die Anfänge der Astronomie im Altertum zurückgeht. Die empfoh-lene Neueinteilung in ioo Grade erleichtert alle Berechnungen.)

Kapitel 2

Erschließung der Erdoberfläche

(Die isolierte Lage und die damit verbundene Rückständigkeit vieler Gebiete wird im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< durch eine Ausweitung der Transportmöglichkeiten, der Nach-richtenverbindungen und Umsiedlung der Bevölkerung über-brückt. Der unterentwickelte Zustand in Gebieten, die wegen starker Hitze oder Kälte für den Menschen klimatisch ungeeig-net sind, wird jedoch beibehalten.)

Kapitel 3

Planquadrate als Selbstverwaltungsgebiete

(Da es im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< keine Staaten und keine Befestigungsanlagen an geographischen Grenzen mehr geben wird, lassen sich die Gebietsgrenzen durch Markie-rungssteine an den Längen- und Breitenkreisen leicht festlegen. Jedes Planquadrat wird ein gemeinschaftliches Selbstverwal-tungsgebiet; es richtet Gemeinschaftsinstitutionen ein und ver-waltet die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel in öffentlicher Regie.

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Page 238: Kang Yu-wei - Ta Tung Shu, Das Buch von der großen Gesellschaft

Regierungsbezirke und Verwaltungsgebiete waren in ihrer Aus-

dehnung bisher durch geographische Grenzen bestimmt, sowohl

bei kleinen Bezirken als auch bei Staaten und Kontinenten.)

Dieses System eignet sich aber nicht für die Verwaltung der

>Großen Gemeinschaft<. Wenn ein kleiner Bezirk sich selbst

verwalten will, dann bleiben die Mittel und die Leistungen der Verwaltungsorgane unzureichend, und Wohlstand läßt sich nur

schwer erzielen. Auch für die Gemeinschaftsregierung werden

die Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben bei Tausenden oder

Zehntausenden von kleinen Unterbezirken zu umfangreich und

lassen sich schwerlich bewältigen. Auch Wahlen lassen sich in

dieser Vielzahl von kleinen Gebieten kaum durchführen, wenn

man Abgeordnete in das Parlament der Weltregierung entsen-

den will. Die Nominierung der Kandidaten und die Ver-

deutlichung der Wahlziele würde nur Verwirrung stiften.

Ortschaften und kleine Bezirke als Unterorgane der Gemein-

schaftsregierung sind ebenso ungeeignet wie die bestehenden

Staaten oder Kontinente, da sie sich von der Gemeinschafts-

regierung nur schwer kontrollieren lassen. Es würde dann wie-

der zu einer unterschiedlichen Einstufung der einzelnen Gebiete

kommen, und eine ungleiche Behandlung wäre die Folge.

In der >Großen Gemeinschaft< wird sich die Bevölkerung

selbst verwalten, und die Weltregierung setzt sich aus Volks-

beauftragten zusammen. Telefonleitungen werden die Nach-

richtenverbindungen zu allen Teilen der Welt sicherstellen. Da

also eine allseitige Kommunikation ermöglicht wird, besteht

auch kein Anlaß zur Errichtung einer Vielzahl lokaler Ver-

waltungsorgane durch Aufteilung der Kontinente und der ge-

genwärtig bestehenden Staaten. Nur die Regierungen der Plan-

quadrate sind durch ihre Anzahl und durch die gleichartige

Gebietsgröße geeignet, die Bevölkerung gegenüber der Gesamt-

regierung der Weltgemeinschaft zu vertreten. Als Organe der

Selbstverwaltung sind also die Regierungen der Planquadrate

die beste Lösung. (Der ganze Verwaltungsprozeß wird sich in der kommenden

Ara vereinfachen, da ein Netzwerk von Nachrichten- und

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Transportverbindungen alle Gebiete durchzieht, vergleichbar mit einer Großstadt der Gegenwart. Überall wird es ausrei-chend menschliche und materielle Reserven geben, um die Wei-terentwicklung der Gebiete sicherzustellen. Es wird etwa dreitausend Parlamentsmitglieder geben, die in der gleichen Anzahl von Planquadraten gewählt werden. Die Wahl dieser großen Anzahl von Parlamentariern dürfte sich leicht bewerk-stelligen lassen, da in jedem Planquadrat eigene Volksvertreter öffentlich gewählt werden, ebenso wie die Beamten der Ge-meinschaftsregierung durch Wahl in ihrem Stimmbezirk hervor-gehen. Der Ablauf der Verwaltungsfunktionen, die der Gemeinschaftsregierung und den Gebietsverwaltungen obliegen, vereinfacht sich durch den Ausbau der Nachrichten- und Ver-kehrsverbindungen immer mehr. Der wichtigste Vorteil ist aber darin zu erblicken, daß die Einsetzung von Gebietsverwaltun-gen der Planquadrate anstelle der bisherigen Staaten dazu beitragen wird, die künstlichen Barrieren abzubauen, die die Teile der Menschheit voneinander trennen.)

Kapitel 4

Der Aufbau der Weltregierung in der >Großen Gemeinschaft<

Die Gemeinschaftsregierung wird sich aus den folgenden zwan-zig Ministerien zusammensetzen: r. Ministerium für Volkswohlfahrt (als leitendes Ministerium, das die einzelnen Gemeinschaftsinstitutionen verwaltet; 2. Ministerium für Landwirtschaft (Ackerbau) 3. Ministerium für Viehwirtschaft 4. Ministerium für die Fischerei s. Ministerium für den Bergbau 6. Ministerium für die Industrie 7. Ministerium für den Handel 8. Ministerium für Finanzen (als einflußreichstes Ministerium, das die Banken und den Fiskus verwaltet)

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9. Ministerium für Entwicklungsaufgaben (als leitende Be-hörde für öffentliche Arbeiten und die Erschließung unterent-wickelter Gebiete) to. Ministerium für Wasserwirtschaft (als Verwaltungsbehörde für alle Wasserstraßen, auch für den Seeverkehr)

i. Ministerium für die Eisenbahnen 12. Ministerium für das Postwesen 13. Ministerium für das Nachrichtenwesen 14. Ministerium für die Schiffahrt 15. Ministerium für den Luftverkehr 16. Ministerium für das Gesundheitswesen 17. Ministerium für die Wissenschaft (auch als Forschungs-behörde für Wetterbeobachtungen) 18. Ministerium zur Förderung des geistigen Fortschritts 19. Ministerium zur Förderung des seelischen Fortschritts (Er-ziehung auf ethischem und religiösem Gebiet) zo. Ministerium zur Förderung der Freude (auch zur Förderung der Künste, Museen und Zoos) Die folgenden vier Gremien sollen als Organe der Gemein-schaftsregierung fungieren: i. Der Ministerrat soll zusammentreten, wenn besondere inter-ministerielle Verwaltungsprobleme auftreten. 2. Das Oberhaus des Parlaments soll über Gesetzgebung und Verordnungen beraten; es soll ferner gesetzliche Entscheidungen kontrollieren und Regierungsempfehlungen überprüfen, auch auf den Gebieten der Literatur und der Künste. Es setzt sich aus Vertretern zusammen, die in den Gebieten der Planquadrate gewählt worden sind. 3. Das Unterhaus des Parlaments soll als Archivzentrale und Verbindungsstelle fungieren, ohne daß Volksvertreter tätig werden. 4. Das öffentliche Informationsorgan soll die Nachrichten sam-meln, die sowohl zur Unterrichtung der Regierungsstellen als auch zur Verbreitung in der Öffentlichkeit bedeutungsvoll sind. Das Personal setzt sich aus gewählten Vertretern aus den ein-zelnen Planquadraten zusammen.

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(Den einzelnen Ministerien unterstehen Regierungsausschüsse, die sich wie folgt zusammensetzen: Direktor, Abteilungsleiter, Zweigstellenleiter, Generalsekretär, Schatzmeister sowie Schreib-kräfte und Dienstpersonal. Die Direktoren und Abteilungsleiter werden nach ihren Leistungen und ihrem Ansehen aus den Verwaltungsbehörden der Planquadrate ausgewählt.) Was die künftige Existenzberechtigung politischer Parteien be-trifft, so läßt sich allgemein sagen, daß nur ein Wettstreit den Fortschritt beflügeln kann. Ohne konkurrierende Meinungen kommt man nicht weiter. Andererseits sind aber Auswüchse des Wettbewerbs abträglich für die humanitäre Ausrichtung. Wenn heutzutage verfassungsmäßige Regierungen in den Ländern eingesetzt sind, dann ziehen Politiker überall umher, um für ihre Parteien zu werben, und ihre Reden bringen nur Ver-wirrung und Chaos. Sie stiften Verschwörungen an und treiben es in manchen Fällen so weit, daß sie mit militärischer Macht einander auszuschalten trachten. Vor den Wahlen veranstalten sie Volksversammlungen und verteilen an die Leute Speisen und Getränke, um sie zur Stimmabgabe für ihre Parteien zu bewe-gen. Auf solche Weise ist nicht mit einer fairen Auswahl poli-tischer Führer zu rechnen. Auch wenn die Wahl fair ist, so ist doch die Art des Wahlkampfs abzulehnen. Die Menschen wer-den übertölpelt, und der geistigen Entwicklung wird die Grund-lage entzogen. Diese Art der Auseinandersetzung darf in Zu-kunft nicht mehr geduldet werden. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird es weder Kriege noch Verschwörungen geben. Bei großen Gemeinschaftsvorhaben brauchen politische, autokratisch herrschende Führer nicht mehr an der Spitze zu stehen. Eine weltweite öffentliche Diskussion wird den Entscheidungen der einzelnen Exekutivorgane voran-gehen, bevor Gesetze und Verordnungen erlassen werden. Verwaltungsaufgaben von geringerer oder regionaler Bedeu-tung werden von den Regierungen der Planquadrate wahr-genommen, und Volksabstimmungen gehen wichtigen Entschei-dungen voraus. Obwohl die Gemeinschaftsregierungen dem Namen nach präsidialrepublikanische Strukturen haben, würde

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ein an der Spitze stehender Präsident keine Machtbefugnisse besitzen. Er würde lediglich die Entscheidungen der Gebiets-regierungen zur Kenntnis nehmen, die Verteilung der Haus-haltsmittel vorgelegt bekommen oder als Schirmherr der einzel-nen Förderungspläne der Regierung fungieren. Es ist daher nicht einzusehen, weshalb eine bestimmte Persönlichkeit die Präsidentschaft übernehmen sollte. Eine Ernennung der Mini-ster durch den Präsidenten würde ohnehin entfallen, da sie durch Wahl aus den einzelnen Regierungsausschüssen hervor-gehen. Am Wahltag gibt jeder auf telefonischem Wege seine Stimme ab. Die Mehrheit der Stimmen entscheidet über die Befähigung zur Amtsübernahme. Es wird keine lautstarken Wahlausein-andersetzungen geben, auch keine Auswirkungen von Aggres-sionen, die bis zum politischen Mord führen. Der menschliche Geist wird von den Niederungen der politischen Verunglimp-fung freigehalten. Die Bevölkerung des kommenden Zeitalters wird bei der Beurteilung der Auseinandersetzungen der Ver-gangenheit die Verwilderung der politischen Sitten mit Abscheu betrachten und sie als lächerliche Auswüchse empfinden. (Die künftige Entwicklung wird auch dazu führen, daß man vor einer Amtsübernahme aus Gründen der Bescheidenheit die hohe Ehre vorerst zurückweist, denn die öffentliche Meinung würde ein offensichtliches Strebertum verdammen. Hohe Amtsstellun-gen würden zudem eher Ehrenämter als Exekutivpositionen darstellen, da die tatsächlichen Entscheidungen der Allgemein-heit zukommen. Die Parlamentarier des künftigen Zeitalters werden ihren Pflichten mit Anstand und einer gewissen Würde nachkommen, Eigenschaften, die den Volksvertretern der Jetztzeit fehlen, weshalb diese auch kein Ansehen genießen. Innerhalb der Gro-ßen Gemeinschaft wird den Parlamentariern dagegen höchstes Ansehen zukommen, da sie durch Bildung und Erziehung zu Persönlichkeiten herangereift sind. Es wird drei Verwaltungsebenen geben: Ortsverwaltung, Ver-waltungsbehörde des Planquadrats und Gemeinsdiaftsregierung.

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Es wird keine Standesunterschiede mehr geben; nur solche Per-sonen, die sich durch umfassendes Wissen und > Jen< auszeich-

nen, sollen besonders geehrt werden.)

Kapitel 5

Der Aufbau der Gebietsregierungen

Dem Aufbau der Gemeinschaftsregierung strukturell entspre-

chend werden sich die Verwaltungsorgane der Planquadrate aus

folgenden Ausschüssen zusammensetzen: t. Ausschuß für Volkswohlfahrt

2. Ausschuß für Agrarwirtschaft (einschließlich Fischerei, For-

sten und Viehwirtschaft oder sonstige landwirtschaftliche Pro-

duktion des betreffenden Gebietes) 3. Ausschuß für den Bergbau

4. Ausschuß für die Industrie 5. Ausschuß für den Handel 6. Ausschuß für Finanzen 7. Ausschuß für Entwicklungsaufgaben

8. Ausschuß für Wasserwirtschaft 9. Ausschuß für Verkehr (Straßen, Schiffe, Eisenbahnen)

io. Ausschuß für das Gesundheitswesen . Ausschuß für die Wissenschaft (Erziehungsanstalten, Bib-

liothekswesen und Wetterstationen) 12. Ausschuß zur Förderung des seelischen Fortschritts

13. Ausschuß zur Förderung des geistigen Fortschritts

14. Ausschuß zur Förderung von Freude und Glück

Wie der Gemeinschaftsregierung werden auch den Gebietsregie-

rungen die folgenden vier Gremien zugeordnet: t. Gebiets-Ministerrat 2. Oberhaus des Parlaments, zusammengesetzt aus verdienst-

vollen älteren Bewohnern des Gebietes. Die Anzahl der Mitglie-

der bestimmt sich durch die Bevölkerungszahl; im allgemeinen

dürften mehrere hundert Parlamentsmitglieder zusammenkom-

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men. Die Vorsitzenden der Ausschüsse gehören ebenfalls dem Oberhaus an 3. Unterhaus des Parlaments als Archivzentrale und Verbin-dungsstelle 4. Öffentliches Informationsorgan, zusammengesetzt aus ge-wählten Gebietsbeamten und einem Beauftragten der Gemein-schaftsregierung. Das Gremium hat die Aufgabe, die Verhält-nisse im Gebiet des Planquadrats zu untersuchen und Meldun-gen an die Gemeinschaftsregierung weiterzuleiten, andererseits aber auch für die Unterrichtung der Öffentlichkeit zu sorgen. Das Fehlen juristischer Institutionen und von Behörden für aus-wärtige Beziehungen erklärt sich daraus, daß es weder Prozesse noch Strafverfolgungen gibt und daß es nach der Auflösung der Staaten keine Streitkräfte und kein Ausland mehr gibt. Alle Beamten gelten nur noch als öffentliche Bedienstete. Die Ausschußmitglieder werden auf Lebenszeit gewählt. Sie gehen aus örtlichen Selbstverwaltungsorganen hervor. Diese Beamten sind in fünf Rangstufen aufgegliedert.

Kapitel 6

Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen in der Gemeinschaft

(Die gesamte Bevölkerung wird sich umfassender Nachrichten-verbindungen und Verkehrswege bedienen können. Alle diese Einrichtungen unterstehen der Gemeinschaftsregierung. Aus-gebildetes Personal wird für die Aufrechterhaltung dieser Ver-bindungen eingesetzt.)

Kapitel 7

Entwicklungsvorhaben in der Gemeinschaft

(Das ehrgeizigste Gemeinschaftsvorhaben wird die Erschließung entlegener und unentwickelter Gebiete sein. Die von der

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Gemeinschaft unterhaltenen Anstalten werden in hochgelegenen Gebirgsgegenden eingerichtet, da die Bergluft der Gesundheit förderlich ist. Schöngelegene Landschaften, wie Höhenzüge, Berggipfel und Wasserfälle, werden parkartig angelegt und der Offentlichkeit zugänglich gemacht. Hängebrücken und Aus-sichtsstationen werden an solchen Stellen ausgebaut. Im Zeitalter der Unordnung wohnten die meisten Menschen in Felshöhlen; während der Zeit der Festigung des Friedens und der Gleichheit wohnten sie zumeist in Gebäuden in ebenen Gegenden. In der Ära des ständigen Friedens, völliger Gleichheit und vollendeter Glückseligkeit werden die Menschen wiederum im Gebirge wohnen, womit sich der Kreis schließt und ein neuer Anfang gesetzt wird. Im künftigen Zeitalter werden die Schiffe von unvorstellbarer Größe sein. Sie werden so komfortabel ausgestattet sein, daß die Menschen sich an Bord wie zu Hause fühlen. Die Wüsten werden durch Wasserzufuhr erschlossen; überall werden Kanäle gezogen und Brücken gebaut. Keine hundert Jahre werden ver-gehen, bis die ganze Erde bewohnbar geworden ist und allerorts Produktionsstätten errichtet worden sind, vorausgesetzt, daß die Gemeinschaftsregierung alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpft. Mit Hilfe von neuentwickelten Tech-niken lassen sich dann die großen Gemeinschaftsaufgaben ohne besondere Anstrengungen bewältigen.)

Kapitel 8

Kommunale Selbstverwaltung

(Die Städte der Zukunft werden auf Höhenzügen, an der Küste, auf Inseln, häufig auch an den Oberläufen der Flüsse liegen. Es wird kaum noch Privathäuser geben: Die Weltbevöl-kerung wird entweder in den von der Gemeinschaft unterhal-tenen Anstalten leben, oder es werden Gemeinschaftsunterkünfte errichtet, in denen die arbeitende Bevölkerung wohnt. Die

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Ressortministerien für Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Entwicklung werden für den Bau dieser Quartiere sorgen. Die Menschen werden also nicht mehr verstreut in kleinen Dörfern wohnen, sondern in großen Wohnunterkünften, die an ihre Arbeitsstellen angeschlossen sind. Durch Schaffung umfassender Transportmöglichkeiten können Landarbeiter in großen Lände-reien zum Einsatz kommen, und den landwirtschaftlichen Betrieben werden Gemeinschaftseinrichtungen, wie Verteilungs-zentren, Postämter und Eisenbahnen angeschlossen. Der land-wirtschaftliche Betrieb, der diese Einrichtungen besitzt, wird demnach in Zukunft unser heutiges Dorf ersetzen und stellt eine Selbstverwaltungseinheit dar. Der Betriebsleiter wird gleich-zeitig der Selbstverwaltung vorstehen, und die Leiter der Ge-meinschaftseinrichtungen werden ihn in dieser Tätigkeit unter-stützen. Ober lokale Fragen wird öffentlich diskutiert und abgestimmt. Wenn eine wichtige Angelegenheit höheren Regie-rungsstellen vorgetragen werden soll, verfassen die Betroffenen eine Petition, die der Betriebsleiter weiter gibt. Das kommunale Verwaltungsgremium tritt monatlich einmal zusammen, und ein Protokoll über die Tagesordnung wird an die Landwirtschafts-behörde weitergeleitet. In gleicher Weise verwalten sich auch die Industriebetriebe selbst, vergleichbar mit heutigen Kommunalverwaltungen. Der Betriebsleiter ist gleichzeitig Vorsteher der Verwaltung des in-dustriellen Produktions- und Wohnkomplexes. Jeder Komplex wird nicht nur die zehn Gemeinschaftsinstitu-tionen unterhalten, sondern auch alle anderen Arten von öffent-lichen Einrichtungen, wie Banken, Parks, Zoos, Museen, botanische Gärten, Konzerthallen, Kunstgalerien sowie Vortrags-räume, in denen ethisches Verhalten gelehrt wird; außerdem Schiedsgerichte und Wetterbeobachtungsstationen. Je nach Lage des Betriebes wird auch eine Forschungsabteilung für die Er-schließung von Wasserwegen oder Gebirgslandschaften den öffentlichen Einrichtungen zugeordnet. Im Turnus von einigen Monaten tritt eine Volksversammlung zusammen, der es auch obliegt, die Belegschaft dieser Gemein-

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schaftseinrichtungen zu wählen. Auf diesen Versammlungen hat jedermann Redefreiheit. Entscheidungen werden durch Mehr-heitsbeschlüsse gefaßt. Einwohner, die sich durch überragendes Wissen und >Jen< ausgezeichnet haben, bekleiden die leitenden Stellungen. Auch ein öffentliches Informationsbüro wird unter-halten.)

Kapitel 9

Banken in der Gemeinschaft

(Das Banksystem hat eine völlig zentralisierte Struktur. Auf den verschiedenen Verwaltungsebenen sowie in den Gemein-schaftsanstalten, den industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben werden Zweigstellen eingerichtet. Privatbanken wer-den abgeschafft. Die Einkünfte der Bevölkerung werden in die-sen Banken deponiert. Wer nicht arbeitet, kann von seinen Ersparnissen Abhebungen vornehmen. Die Gemeinschaftsregie-rung erhält monatliche Umsatzberichte von den Banken. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< kann es eine Silber-währung und eine Goldwährung geben; möglicherweise wird das Währungssystem auch nur auf dem Gold beruhen. Anstelle des Edelmetalls wird Papiergeld in Umlauf gebracht, in Schei-nen zu zehn, hundert und tausend Währungseinheiten. Das Gold wird in den Banken deponiert. Die Papiergeldausgabe obliegt ausschließlich der Gemeinschaftsbank.) Die Ausgabe von Geldscheinen durch die Druckerei der Gemeinschaftsbank erfolgt in reichlichem Umfang, so daß es keine Engpässe gibt und die Bevölkerung im Wohlstand leben kann. (Die in den Banken Beschäftigten werden wie bei den anderen Institutionen nach einem Auswahlsystem angestellt. Als Leiter werden wohlhabende Persönlichkeiten aus Handelsberufen be-schäftigt. Die Wohlhabenheit solcher Personen wird jedoch auf ihrem Erfahrungsschatz, ihren Leistungen und ihrer Vervoll-kommnung im Geiste des >Jen< beruhen.) Der Funktion des Bankensystems wird im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft<

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größte Bedeutung beigemessen, weshalb auch nur die Tüchtig-sten und Klügsten zur Leitung des Geldsystems berufen werden. Die gesamte Landwirtschaft, Industrie und der Handel wird von der Gemeinschaftsregierung geleitet, weshalb es auch keinen wirtschaftlichen Wettbewerb geben wird. Eine allgemeine Ge-lassenheit wird in die Herzen der Menschen einziehen. Dennoch ist der Wettstreit als Quelle des Fortschritts zu betrachten, denn wenn der persönliche Ehrgeiz beschnitten wird, nimmt die Nachlässigkeit überhand, wie es sich im Zeitalter der ersten chinesischen Dynastie unter den Hsia gezeigt hat. Eine deka-dente Grundhaltung führt immer zu einer rückschrittlichen Entwicklung; die Menschen werden stupide und träge, und Unglück und Zerstörung sind die Folge. Deshalb müssen wir uns vor dem überhandnehmen der Trägheit schützen, um die Große Gemeinschaft vor dem Rückfall in die Unordnung zu bewahren. Wenn man also die Menschen zu einem ehrgeizigen Wettstreit anspornt, muß man sich davor hüten, den Charakter zu ver-derben, denn eine kämpferische Einstellung würde zu Exzessen führen. Man muß sich nach beiden Seiten schützen: vor der Trägheit und vor dem übermäßigen Ehrgeiz. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird die gesamte Wirtschaft gemeinschaftlich geleitet: Landwirtschaft, Industrie und Handel, das Erziehungswesen, Eisenbahnen und Post, die Elektrizitätsversorgung, der See- und der Luftverkehr. Alle Menschen arbeiten, und der Arbeitslohn ist ihr einziges Ein-kommen. Da es weder Arme noch Reiche geben wird, könnte eine rückschrittliche Entwicklung einsetzen; die Menschen könnten an neuen Techniken und Errungenschaften uninteressiert wer-den. Die >Große Gemeinschaft< würde ihren Sinn einbüßen, wenn eine solche Interessenlosigkeit zum Stillstand der Ent-wicklung führte; sie würde wiederum in ein Zeitalter der Unordnung einmünden. Das Wesen des Himmels, der die Natur regiert, ist nicht fried-lich; es ist somit ungeordnet. Der Lebensweg des Menschen wird von den Einflüssen dieser Unordnung bedroht. Die Menschen streben daher nach Zusammenarbeit und nach einer friedlichen

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Ordnung. Wenn sie aber das Zeitalter des Friedens erreicht haben, dann kann auch dieses nachteilige Einflüsse ausüben. Durch die Überwindung von Mißständen können wir zu Teil-erfolgen kommen; vor allem müssen wir die Gefahr erkennen, die das Zeitalter des Friedens nach sich ziehen könnte. Wir müssen uns vor einer Entartung der Gesinnung bewahren und einen Mittelweg zwischen den beiden schädlichen Extremen —Trägheit und Kampfeslust — suchen. In den beiden nachfolgen-den Kapiteln sind die Möglichkeiten, die von der Gefährdung weglenken und zur Vollendung hinführen, aufgezeichnet und in ihren Auswirkungen beschrieben.

Kapitel ro

Leistungswettbewerb

Wie kann die Menschheit zum Fortschritt hingeführt werden, wenn im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< der ganze Le-bensablauf der öffentlichen Lenkung untersteht; wie können sich Verbesserungen durchsetzen, wenn es keinen Wettstreit gibt? Ein Stillstand würde nur zur Entartung führen; deshalb dürfen wir nicht untätig bleiben und müssen unsere Mitmen-schen zum Leistungswettbewerb anspornen. (Die regionalen Verwaltungsorgane müssen darauf bedacht sein, die Gemeinschaftsinstitutionen tatkräftig zu verwalten und auszubauen. Sie müssen auch das Verkehrsnetz und die Nach-richtenverbindungen aufbauen und unterhalten, wenn nicht die Gemeinschaftsregierung diese Aufgaben besser zur Durchfüh-rung bringen kann. Die Regierungen der Planquadrate lenken die Aktivitäten der landwirtschaftlichen, industriellen und Han-delsbetriebe ihres Bereichs selbständig. Die Bevölkerung jeder Region verantwortet eigenständig die Erfolge oder Verluste der Wirtschaft ihres Gebietes. Preiserhöhungen würde sich die Bevölkerung selbst auferlegen; freiwillige Entscheidungen ha-ben den Vorrang vor behördlichen Verordnungen. Gewinne würden der Gemeinschaft zufließen, wobei der einzelne nur in

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geringem Maße Einbußen hinnehmen müßte und gern seinen Betrag leisten würde. Alle, die sich um das Gemeinwohl ver-dient gemacht haben, sollten von der Regierung öffentlich aus-gezeichnet werden. Die Wirtschaften der Planquadrate würden bei öffentlichen Ausschreibungen und Ausstellungen miteinander wetteifern. Diese Art des allgemeinen Wettbewerbs trägt zum Wohlstand des einzelnen und zur Auszeichnung der Leistung der ganzen Region bei, und einer rückschrittlichen Entwicklung durch Stagnation wird ein Riegel vorgeschoben.)

Kapitel r r

Bildungsförderung

Wie kann im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< der einzelne zur Erweiterung seiner Kenntnisse angeregt werden, wenn die Arbeitslöhne sich nicht stark voneinander unterscheiden und es keine Aufgliederung in höhergestellte und untergeordnete Schichten mehr geben wird? Der Anreiz zur Weiterbildung könnte verkümmern; Ideen könnten sich nicht fortentwickeln, und keine neuen Errungenschaften würden ans Tageslicht gelan-gen. Geistig hemmende Faktoren würden einen Rückschritt der Zivilisation nach sich ziehen. Es gilt daher, den Wunsch nach Weiterbildung auf vier ver-schiedenen Gebieten anzuregen: i. Neue Bücher für alle wissenschaftlichen und künstlerischen Bereiche. Sie sollen die nachstehenden Themenkreise erfassen: a) Bücher über neue Grundsätze; Forscher, die neue Grundsätze

entwickeln, werden als Gelehrte und Weise geehrt; b) Bücher über neue Methoden; Forscher, die neue Methoden

erdenken, werden als geniale Menschen geehrt c) Bücher über neue Nutzanwendungen; Forscher, die zur

Wohlfahrt ihrer Mitmenschen beitragen, sind der besonderen Wertschätzung würdig

z. Neue Erfindungen oder materielle Neuerungen. Sie sind

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wertmäßig nach dem Nutzen für den einzelnen und für die Allgemeinheit abzustufen. 3. Neue Theorien in den verschiedenen Lehrbereichen. Auch diese sind nach ihrer Bedeutung abzustufen. 4. Neue Techniken und Verfahrensweisen; nicht nur Ferti-gunstechniken, sondern auch praktische Verfahrensweisen in Verwaltung und Erziehung sowie bei der Ausübung von Kunst und Musik. (Die Gemeinschaftsregierung wird einen Ausschuß, die Konti-nente werden Unterausschüsse und die Regionalverwaltungen werden kleine Gremien bilden, um alle diejenigen auszuzeichnen, die sich um die Bildungsförderung verdient gemacht haben. Diese Gremien werden über die Erteilung von Patenten ent-scheiden und die Forschungsvorhaben durch Zuwendungen un-terstützen. Die Auszeichnungen können auf zwei verschiedene Weisen erfolgen: Namentliche Ehrung durch Titel und mate-rielle Ehrung durch Geldpreise. Die Ehrentitel werden nach einer Rangliste verliehen, ent-sprechend der Anzahl der Erfindungen und Entdeckungen, auf denen die Auszeichnung beruht: Bei einer Neuerung erhält man den Titel >Gebildeter<; jede Neuerung wird mit einer Geldprä-mie belohnt, und bei zehn Neuerungen wird der Titel >Sehr Gebildeter< verliehen. Bei hervorragenden Leistungen wird der Titel >Gelehrter< vergeben; bei zehnmaliger Auszeichnung >Hochgelehrter<. Noch hervorragendere Persönlichkeiten erhal-ten die Titel >Genius<, und umfassend verdienstvollen Men-schen wird die höchste Würde eines >Weisen< zuerkannt. Die letztgenannten beiden Titelverleihungen unterliegen jedoch kei-nen festgelegten Voraussetzungen; das Gemeinschaftsparlament kann einstimmige Beschlüsse fassen, die hochgelehrte Persönlich-keiten in diese Rangstufen erheben. Der Titel >Gebildeten entspricht dem heutigen im Examenssystem gebräuchlichen chi-nesischen >Hsiu-ts'ai< (Bakkalaureus); >Sehr Gebildeter< ent-spricht dem >Chü-jen< (Magister); >Wissenschaftler< entspricht dem >Chin-shih< (Doktor); >Gelehrter< entspricht dem >Han-lin< (Akademie-Gelehrter); >Doktor der Gelehrsamkeit< entspre-

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chend dem >Ting-chia< (Rang in der Akademie) und >Höchst-gelehrter< entspricht dem >Chuang-yüan< (dem Examensbesten). Nur sehr selten dürften die Titel >Genius< und >Weiser< ver-liehen werden; im allgemeinen wäre eine solche Bezeichnung eine postume Ehrung. Nur wenige Persönlichkeiten dürften die höchsten Stufen dieser Rangordnung erreichen. Dagegen wird man bei der Zuerken-nung von Geldprämien für wissenschaftliche Verdienste nicht kleinlich verfahren, und es wird hunderte von Abstufungen in der Höhe der Geldpreise geben. Selbst die niedrigste Prämie wird so hoch bemessen sein, daß der Empfänger angespornt wird, seine Forschungen fortzusetzen. Persönlichkeiten, denen Ehrentitel zuerkannt worden sind, ma-nifestieren dies durch das Tragen von Abzeichen. Nach dem Tode wird die Erinnerung an die Verdienste dieser Menschen durch die Errichtung von Statuen und beschrifteten Grabsteinen wachgehalten. Die Zuerkennung des Titels >Gebildeter< erfolgt durch ein regionales Komitee, das sich aus allen >Wissenschaftlern< und >Doktoren< des betreffenden Planquadrats sowie Vertretern der Gemeinschaftsinstitutionen und Schulen zusammensetzt. Der Unterausschuß eines Kontinents verleiht auf Empfehlung der >Doktoren< den Titel >Gelehrter<. Wissenschaftliche Titel wer-den nicht von den regionalen Verwaltungsorganen zuerkannt; das Ministerium zur Förderung des geistigen Fortschritts ver-leiht hervorragenden Wissenschaftlern Ehrentitel wie >Doktor< in alleiniger Kompetenz. Der Zuerkennung von Prämien sind keine Grenzen gesetzt; bei jeder hervorragenden Leistung wer-den sie erneut vergeben. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird der Wettstreit der Menschheit auf die Suche nach Neuerungen und Erfindun-gen ausgerichtet sein.) Alle Energie gilt der Bildung! Fortschritt kann nur durch Bildung erzielt werden: die Beflügelung des Erfindungsgeistes dient der Festigung der >Großen Gemein-schaft<. Es wird keine Rückentwicklung mehr geben, wenn das menschliche Leben ständig neue geistige Impulse erhält.

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Kapitel 12

Förderung der Charakterbildung — >Jen<

(In der >Großen Gemeinschaft< wird es keine Monarchen, kei-nen Adel und keine Klassen mehr geben; die Menschen werden nur nach Ehren streben, die ihnen aufgrund ihrer Bildung und ihrer Charakterstärke — >Jen< — zukommen. Die Ansamm-lung von Vermögenswerten wird ihren Sinn verloren haben, da die früheren Aufwendungen für den Unterhalt der Familien, für Opfergaben und für Krankenbehandlung entfallen sind. Auch werden keine Gelder für große Wohnungen benötigt, da die Menschen nur paarweise zusammenleben, während die Kin-der in öffentlichen Anstalten untergebracht sind. Alle Kunst-schätze gehören der Allgemeinheit. Die Menschen brauchen nur für ihre Reisen Geldmittel. Ein gegenseitiges Wohlverhalten wird die Charakterbildung fördern: Die Gemeinschaftsregie-rung errichtet ein Ministerium, das die Bevölkerung zu dieser Haltung — >Jen< — ermutigen soll; auch in den kontinentalen und regionalen Verwaltungsorganen werden entsprechende Ausschüsse die Förderung dieser Bestrebungen unterstützen. Auf gleiche Weise, wie Persönlichkeiten wegen ihrer Bildung aus-gezeichnet werden, sollte auch die Charakterstärke geehrt werden. Die Rangabstufung nach den Verdiensten müßte auf folgende Weise erfolgen: Die unterste Stufe würde dann >Cha-raktervoller Mensch< sein, gefolgt von >Sehr charaktervoller Mensch<, >Persönlichkeit<, >Große Persönlichkeit<, >Wohltäter< und >Großer Wohltäter<. Die letztgenannten beiden Titel wür-den aber nur sehr selten vergeben werden. Diese Titel werden allen Menschen zuerkannt, die sich um das öffentliche Wohl verdient gemacht haben: Für besondere Lei-stungen in den Gemeinschaftsinstitutionen, für Bücher- und Geldspenden, für die Anlage von Parks oder den Bau von Brücken oder Straßen. Die in der heutigen Zeit üblichen Geld-spenden für die Unterstützung Notleidender wird es kaum mehr geben, da in der >Großen Gemeinschaft< für eine umfas-

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sende soziale Sicherstellung gesorgt ist. Besonderer Ehrungen würdig bleiben jedoch Leistungen für das öffentliche Wohl, wie Tunnel- oder Kanalbauten, und solchen verdienstvollen Men-schen werden auch Geldprämien zuerkannt. Wer sich sowohl durch Bildung als auch durch Charakterstärke von allen anderen Menschen hervorgetan hat, also zugleich ein >Weiser< und ein >Wohltäter< ist, wird Titel wie >Ehrwürdiger< oder >Göttlicher< erhalten. Bei öffentlichen Veranstaltungen oder bei Festessen werden alle Titelträger durch eine entsprechende Sitzordnung ausgezeich-net.) Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird nicht mehr der Abstammung, sondern der Tugend und dem persön-lichen Verdienst Ehre erwiesen. Die Menschen werden sich durch Gesinnung und Wohlverhalten, durch >Tao< und >Te< aus-zeichnen. Die Förderung der charakterlichen Qualitäten wird zur Festigung der öffentlichen Moral beitragen; die Menschen werden dann klug genug sein, sich den Gesinnungsfortschritt immerwährend zunutze zu machen. (Den Ehrerweisungen gegenüber >Weisen< und >Wohltätern< sind jedoch auch Grenzen gesetzt. Wenn ein religiöser Führer den Volksglauben auf seine Person vereinigt, dann könnte eine Volksverdummung die Folge sein. Die Weisen und Religions-stifter der Vergangenheit, die ihren Beitrag zur Schaffung der Grundlagen der >Großen Gemeinschaft< geleistet haben, können auch weiterhin im Rahmen ihrer Verdienste verehrt werden. Historische Persönlichkeiten werden allgemein nur dann ver-ehrt, wenn sie gemeinschaftsfördernde Leistungen vollbracht haben. In diesem Sinne würden Chu-ko Liang, der sich nur für China eingesetzt hatte, oder Bismarck, der nur für Deutschland Krieg geführt hat, keine Ehrungen zuteil werden dürfen. Dem-gegenüber würden Menschen wie Napoleon, der die Interessen des Volkes vertrat, weiterhin geehrt werden. Wegen ihres gro-ßen Einflusses auf spätere Generationen müßten auch bedeuten-den Philosophen wie Lao-tze, Chu Hsi und Wang Yang-ming oder beispielsweise Martin Luther, der Inder Manu oder der Entdecker Columbus immer in Ehren gehalten werden.)

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Kapitel 13

Schulen

(Da die Bildungsförderung ein Hauptziel in der >Großen Ge-meinschaft< sein wird, wird der Ausgestaltung der Schulerzie-hung besondere Bedeutung beigemessen. Die Gemeinschafts-erziehung endet erst mit dem zwanzigsten Lebensjahr. Hier lassen sich umfassende Fortschritte erzielen, da es nur noch eine einheitliche Sprache und Kultur geben wird, alle Erziehungs-mittel zur Verfügung stehen und die Versorgung der Schüler sichergestellt ist. Alle Lehrpläne werden zeitgemäß ausge-staltet. Die Lehrpläne dienen jedoch nicht nur der Förderung der Moral und des Wissens sowie der körperlichen Ertüchtigung: sie müs-sen so gestaltet werden, daß die praktische Ausbildung nicht zu kurz kommt. In den Akademien werden daher vornehmlich praktische Kenntnisse vermittelt. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Altertums wird künftig nur noch ein spezieller Zweig der Gelehrsamkeit sein. Man wird dann auf das Zeitalter der Unordnung mit Verwunderung zurückblicken, so wie wir im heutigen China befremdet und amüsiert auf die Vorzeit schauen, in der die wilden Stämme der Yao und Man herrschten. Auch verschwommene, logisch nicht erfaßbare Philosophien bleiben der Erforschung durch Gelehrte und philosophische Gesellschaften überlassen; solche Themen sind nicht Gegenstand eines Lehrplans der Zukunft und werden daher im Schulunter-richt nicht behandelt. Die Schultypen sind überall gleichartig; die jetzt herrschenden Mißstände der ungleichen Verteilung von Schulen sind dann überwunden, und es wird auch auf dem Lande weiterführende Ausbildungsstätten geben. Allgemein wird dafür gesorgt, daß überall gleichartige Lebensverhältnisse herrschen, mit Ausnahme der klimatisch ungünstig gelegenen Weltgegenden, in denen keine Gemeinschaftsinstitutionen errichtet werden. Das Ressort-ministerium der Gemeinschaftsregierung und Ausschüsse in den Regionalverwaltungen werden das Erziehungssystem über-

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wachen. Wenn Änderungen des Schulsystems eines bestimmten Gebietes vorgenommen werden sollen, dann treten die betref-fenden Schulleitungen zusammen und stimmen über die Vorlage ab.)

Kapitel 14

Abschaffung der Strafen

Schon Konfuzius hat die Meinung vertreten, daß Strafprozesse abgeschafft werden müßten. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird das Ordnungsprinzip so weit zum Durchbruch gekommen sein, daß man von der Verhängung von Strafen absehen kann. Erst dann wird sich der Ordnungswille vollenden. Solange Unordnung in der Welt herrscht, wird auch das mensch-liche Leben von einer tragischen Verstrickung beherrscht, und die Menschen geraten immer wieder in Konflikte mit den Gesetzen, da sie in ihrer Einfalt das Gute nicht vom Bösen zu unterscheiden vermögen. Dann sind die Strafmaßnahmen hart: Verwandte müssen für den Übeltäter mitbüßen, und Straf-urteile schließen sogar körperliche Verstümmelungen und Ent-hauptungen ein. Noch schlimmer aber sind die Auswirkungen der Bestrafungen: Ein Niedergang der Sitten, eine schändliche, bösartige Abwendung von den natürlichen Regungen und himm-lischen Veranlagungen sind die Folge. Es hat immer Gründe für Strafmaßnahmen gegeben, da die Menschen verleitet werden, unrecht zu handeln; wenn ein Mann sich selbst und seine Familie zu unterhalten hat, kommt er leicht auf die schiefe Bahn. Es ist verständlich, daß Armut zu Un-rechtshandlungen verleitet. Dann kommt es zu Raub, Unter-schlagung, Betrug, Schmuggel, Erpressung, Unterdrückung, Glücksspiel und sogar zu Mord. Anstatt den Menschen von sei-ner Armut zu befreien, verurteilen wir ihn zu schweren Strafen. Wie kann ein Mensch sich aber vor Schande oder vor Strafe fürchten, wenn er nichts zu essen und nichts anzuziehen hat? Da es Fortpflanzungsorgane gibt, kommen immer wieder Men-

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schen zur Welt, und das Verlangen nach geschlechtlicher Ver-einigung läßt sich nicht abschaffen. Dies ist ein natürliches Verlangen, und es gibt kein Mittel, um Taten zu begegnen, die der Sinnenlust entspringen, und die Exzesse wie Vergewalti-gung, Ehebruch, Inzest, ja Mord in der eigenen Familie nach sich ziehen können. Obwohl es viele Tausende von frommen Hindus, Buddhisten und Christen gibt, die die Entsagung von der Sinnenlust predigen, wird doch nie ein Zustand der fleisch-lichen Enthaltsamkeit auf der ganzen Welt durchzusetzen sein. Selbst wenn man die Menschheit dazu veranlassen könnte, die-sen Predigten zu folgen, würden sich nur negative Folgen ein-stellen, denn in wenigen Jahrzehnten würde das Menschen-geschlecht ausgestorben sein. Die Erde würde dann wieder ein riesiger Urwald sein, in dem nur wilde Tiere hausen. Doch wenn auch das Menschengeschlecht sich selbst zum Untergang verurteilt hat, würde sich das Tierreich weiterentwickeln und so weit vervollkommnen, daß wieder Auseinandersetzungen zwi-schen intelligenten Wesen entstünden. Die Rückkehr zu primi-tiven Verhältnissen wäre also völlig sinnlos, denn die ganze Menschengeschichte, die nach langen Kämpfen zur Ausbildung der Zivilisation geführt hat, zeigt eine aufsteigende Tendenz. Wenn man die Gefahr der Auslöschung der Menschheit mit der Gefährdung durch sexuelle Unmoral vergleicht, so zeigt es sich, wie bedrückend der Aspekt des Untergangs gegenüber den geringfügigen Folgen sinnlicher Exzesse erscheint. Es ist daher gut und richtig, daß die Menschheit die religiösen Lehren nicht konsequent befolgt, denn sie würde sonst ihren Untergang heraufbeschwören. Daß der Sexualtrieb zu Ausschweifungen führen kann, ist eine bedauerliche Tatsache; allein durch Strafandrohungen läßt sich jedoch die Triebhaftigkeit nicht beseitigen, denn sie kann stär-ker sein als die Furcht vor Strafe und Schande. Solange es Herrschaftssysteme gibt, dauern auch militärische

Auseinandersetzungen und Eroberungen an. Solange das Fa-miliensystem bestehenbleibt mit seiner Rangordnung von Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder, führen die verwandt-

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schaftlichen Rechte und Pflichten zu Zwängen und Streitigkei-ten, zu Prozessen und Erbauseinandersetzungen. Solange die eheliche Zwangsgemeinschaft in ihrer jetzigen Form fortbesteht, wird es immer wieder Untreue geben, und solange der Ehebruch unter Strafe gestellt ist, erwächst daraus nicht nur Kummer und Haß; die tragischen Verwicklungen können sogar mit dem Tode eines der Beteiligten enden. Solange es einen Erbadel gibt, zei-gen sich immer wieder Fälle von Positionskämpfen, Schmarot-zertum, Betrug, Gewalt, Herrschsucht und Erpressung. Wenn man das Recht auf Privateigentum beibehält, nehmen die Pro-zesse um Grundbesitz, um Vermögenswerte und Häuser kein Ende. Wenn die Toten bestattet werden sollen, kann es Ausein-andersetzungen über die geeignete Ruhestätte geben. Solange es Zollgrenzen gibt, dauern auch Vergehen gegen die Steuergesetze fort. Solange es ein Militär gibt, bleibt auch ein hartes Kriegs-recht in Kraft. Solange es Klassenschranken gibt, wird es auch immer wieder Unterdrückungsmaßnahmen der oberen Stände geben, gegen die sich die Unterschichten auflehnen. Überall gerät man also mit den Gesetzen in Konflikt. Dem Menschen kann eine übermäßige Verantwortlichkeit nicht aufgebürdet werden: Wenn man im voraus weiß, daß die Ge-setze dem Wesen, den Wünschen und Leidenschaften des Men-schen widersprechen, erscheint es sinnlos, Hoffnungen in ihre Durchsetzungsmöglichkeit zu setzen. Die Gesetze erscheinen in diesem Licht wie Fallstricke und Stolperdrähte, um den Menschen ständig mit Strafverfolgung zu bedrohen; Strafmaßnahmen werden geradezu unvermeidlich. Niemals wird es gelingen, den Menschen aus diesem Teufelskreis zu befreien, wenn man nicht für Abhilfe sorgt und statt dessen immer neue Barrieren aufrichtet, wenn man mahnt und droht, wenn man sich zum Sittenrichter aufwirft und ständig über >Tao< und >Te< predigt. Wo liegt der Ausweg? Die gegenwärtigen Verhältnisse lassen keine Abhilfe zu; wie eine unheilbare Krankheit bedrohen diese Mißstände die Weiterentwicklung der Humanität. Aber auch ein schweres Leiden läßt sich überwinden, wenn man die rich-

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tige Medizin verordnet. Nach der Lehre des Konfuzius müssen Gesinnung, Wesen und Verhalten des Menschen miteinander im Einklang stehen, und Chuang-tze lehrte, daß es dem mensch-lichen Wesen widerspräche, sich außerhalb weltlicher Gegeben-heiten stellen zu wollen. Er stellte sich damit in Gegensatz zur Lehre des Mo-tze (479-381 v. d. Z.). Soll man den Lehren der Religionsstifter folgen und sich außerhalb der Welt stellen, damit aber auch übermenschliche, die Wesensart überfordernde Verhaltensweisen predigen? Nur die Gesinnung, die zur >Gro-ßen Gemeinschaft< hinführt, entspricht dem menschlichen Wesen, und nur aus dieser Haltung kann ein Ausweg aus der Verstrik-kung gefunden werden. Das Recht des Menschen auf Unabhängigkeit ist ihm vom Him-mel übertragen worden, und auch den Frauen stehen gleiche Rechte zu. Wenn sich die Geschlechter vereinigen, nehmen sie nur das natürliche Recht wahr, das Mann und Frau vom Him-mel verliehen worden ist. Was hat es für einen Sinn, Gebote und Verbote auf geschlechtlichem Gebiet zu erlassen? Wälle und Deiche werden doch durchbrochen, wenn sich die Natur ihr Recht verschafft und die Flut hereinbricht. Den Männern werden Liebschaften zugebilligt; Frauen werden jedoch verfemt, wenn sie sich einem Geliebten zuwenden. Straf-maßnahmen und Ächtungen auf diesem Gebiet dienen also nur der Festigung egoistischer Rechtsnormen, die sich die Männer geschaffen haben. Diese Unsitte der Rechtsverdrehung wird es in der >Großen Gemeinschaft< nicht mehr geben, denn die Men-schenrechte lassen keinen Unterschied zwischen Mann und Frau zu. (Erwachsene Menschen werden somit im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< völlige sexuelle Freizügigkeit genießen. Minder-jährigen, die das zwanzigste Lebensjahr noch nicht erreicht haben, wird dieses Recht nicht zuerkannt, denn sie unterstehen der Aufsicht ihrer Erzieher, die ihnen auf diesem Gebiet noch Be-schränkungen auferlegen müssen. Ausschweifungen und Exzesse werden nicht gerichtlich verfolgt, sondern durch Kennzeichnung als unehrenhafte Handlung öffentlich geächtet. Durch die sexu-

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elle Freizügigkeit wird erreicht, daß sich Erwachsene auch nicht mehr zum Mißbrauch von Kindern verleiten lassen, was ein Symptom des Zeitalters der Unordnung gewesen ist. Sollte es dennoch zu Fällen von Gewaltanwendung gegenüber Minder-jährigen kommen, müßte das Gemeinschaftsparlament über geeignete Maßnahmen beraten, die solche Exzesse verhindern.) Gesetze werden erlassen, um bösartige Handlungen zu verhin-dern. Sollte es auch noch im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit Menschen mit bösartigen Neigungen geben, dann wären dies Menschen ohne Selbstachtung, die sich auch vor Strafen nicht fürchten. Es wäre dann fruchtlos, sich der Mühe unterziehen zu wollen, neue Gesetze und Strafvorschriften zu erlassen. Dies gilt auch für andere Rechtsstreitigkeiten. Im Altertum hatte es keinen Strafkodex gegeben; Vergehen wur-den durch Diskussionen bereinigt. In der Jetztzeit gibt es Straf-gesetze zur Verhütung von Missetaten. Im Zeitalter des Frie-dens und der Gleichheit wird es wiederum keine Gesetze geben: eine Rückkehr zu den Anschauungen des Altertums. Dann wird die Bösartigkeit aus den Herzen der Menschen verbannt sein; man braucht sich nicht mehr vor einer schlechten Handlungs-weise zu schützen. Es wird auch keine Unzuchtsverbrechen mehr geben, da zwischen Männern und Frauen geschlechtliche Frei-zügigkeit herrscht. Es werden aber auch gleichgeschlechtliche Beziehungen vorkommen; sogar Sokrates wurden schon solche Neigungen zugeschrieben. Obwohl die Homosexualität nicht dem Prinzip von >Yin< und >Yang< entspricht und schädliche Auswirkungen haben kann, läßt sich andererseits auch nicht sagen, daß normale sexuelle Beziehungen völlig unschädlich sein müssen. Es besteht jedoch kein Anlaß, die Homosexualität zu verbieten, wenn ihr keine Gewaltanwendung zugrunde liegt. Alle Arten von Leidenschaften haben im System der Freizügig-keit ihre Daseinsberechtigung. Auf der Welt gab es ursprünglich keine Unterscheidung zwi-schen >Gut< und >Böse<; was wir jetzt für Recht und Unrecht halten, geht auf die Lehren der Weisen zurück. Im strengen Buddhismus wird die Unzucht geächtet; die Tatsache, daß Kon-

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fuzius eine Frau hatte, war ein Verstoß gegen diese Vorschrift, und er hätte deshalb zur Hölle verdammt werden müssen. Konfuzius vertrat die Meinung, daß die Zeugung von Nach-kommen eine Ehrenpflicht gegenüber den Ahnen sei; von dieser Warte aus betrachtet, verstießen die Religionsstifter Buddha und Christus gegen den konfuzianischen Geist. Aus der Lotus-Schule ist Shinran hervorgegangen, ein buddhistister Glaubens-lehrer, der ebenso wie Martin Luther als christlicher Reformator eine eheliche Verbindung eingegangen war. Die Welt hat diese Männer also nicht als Übeltäter mißachtet; im Gegenteil, sie hatten viele Anhänger ... Wir wissen also, daß sich >Gut< und >Böse< nur schwerlich definieren läßt, und die jeweiligen Zeit-umstände bestimmen die Bedeutung von >Recht< und >Unrecht<. Da Recht und Unrecht, Gut und Böse, Begriffe aus dem mensch-lichen Leben sind, läßt sich sogar das Weltgesetz nur aus der Grundhaltung des Zeitalters heraus definieren. Nach meiner Überzeugung ist eine den Menschen schädliche Haltung unrecht, eine fördernde dagegen Rechtens. Die Homosexualität ist seit alters her verpönt, da man in dieser Neigung eine Abwendung des Mannes von seinen ehelichen Pflichten erblickt hat; man hat sie seit jeher verboten, um den Fortbestand der Familie und des Menschengeschlechts sicherzu-stellen. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird es allen Männern und Frauen freigestellt, wie sie sich sexuell verhalten; es wird keine Unterscheidungsmerkmale in der Klei-dung geben, und allen werden die gleichen beruflichen Möglich-keiten offenstehen. Speziell im intimen Bereich wird die Diskri-minierung der einen oder der anderen Art des Verkehrs über-wunden. Auf diese Art wird allen Neigungen Genüge getan, und der Fortbestand der Menschheit gesichert. Wenn sich Menschen paarweise zusammentun wollen, wird ein Vertrag auf Zeit abgeschlossen, und niemand wird Einwände erheben, wenn es in solchen Fällen nicht Mann und Frau, sondern Menschen des gleichen Geschlechts sind. Demgegenüber muß der Intimverkehr zwischen Menschen und Tieren streng untersagt werden, da der Mensch als intelligentes

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Wesen sich nicht soweit erniedrigen darf. In der Vorzeit wird es häufig zu dieser Art des Verkehrs gekommen sein; man kann sogar unterstellen, daß sich der Ursprung des Menschen-geschlechts darauf zurückleiten läßt, daß sich intelligente Tier-arten durch Kopulation auf höhere Entwicklungsstufen geführt haben. Wenn man die Ursachen der Abnormitäten untersuchen wollte, käme man zu dem Ergebnis, daß die Möglichkeiten eines normalen Verkehrs zu stark eingeengt worden sind; der natür-liche Trieb läßt sich jedoch nicht reglementieren. (In der >Großen Gemeinschaft< wird Freizügigkeiqerrschen, und Ab-normitäten werden daher von selbst verschLinden. Sollten sich dennoch Perversitäten zeigen, müßte durch öffentliche Anpran-gerung oder unehrenhafte Entlassungen dagegen vorgegangen werden.) Die >Große Gemeinschaft< wird kein Kriegsrecht mehr brau-chen, da das Staatensystem abgeschafft worden ist. Rebellionen und Auflehnungen gegen die Obrigkeit werden dann unbe-kannte Begriffe sein, da das Herrschaftssystem überwunden wurde. Auch das System, das dem Zwangsverhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau zugrunde liegt, wird dann der Vergan-genheit angehören; durch Freizügigkeit wird die Unmoral überwunden; Eifersuchtsszenen und Scheidungsauseinanderset-zungen, die die Leidenschaften entfesseln und bis zu Tötungs-

delikten führen können, wird es nicht mehr geben. Das Fami-liensystem ist dann ebenfalls abgeschafft; gegenüber der Verwandtschaft gibt es keine Unterstützungsverpflichtungen mehr, die Rücksichtnahme auf die Angehörigen entfällt, und auch Erbstreitigkeiten gibt es nicht mehr. Die Adelsherrschaft ist überwunden; Einschüchterungen, Zwangseintreibungen, Selbst-erniedrigungen und Speichelleckerei sind damit abgeschafft. Pri-vateigentum wird es nicht mehr geben; Streitigkeiten über Grundbesitz, Produktion und Warenabsatz sind damit aus der Welt geschafft. Erdbestattungen sind abgeschafft; niemand wird wegen der Eignung der Ruhestätte einen Streit anzetteln. Auch Zollschranken gibt es nicht mehr, weshalb Steuerhinterziehun-gen und Schmuggel entfallen. Durch den Fortfall der Klassen-

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schranken wird den Auseinandersetzungen ein Ende gesetzt, die sich durch Unterdrückungsmaßnahmen der Oberschicht und die Rebellionen der Unterschicht ergeben hatten. Da es keinen Anlaß für strafbare Handlungen mehr geben wird, wird man auch von der Strafverfolgung absehen können. In der Zeit der >Großen Gemeinschaft< kann es zwar falsche Verhaltensweisen geben, jedoch keine kriminellen Verfehlungen. Dieses Fehlverhalten kann sich in Nachlässigkeit, Unhöflich-keit oder Klatsch ausdrücken; doch auch solche menschlichen Schwächen lassen sich durch jahrelange Schulung überwinden, da eine noble Gesinnung das Verhalten formen und vervoll-kommnen kann. Selbst wenn man den Fortbestand menschlichen Fehlverhaltens als naturgegebene Tatsache betrachtet, braucht wegen der Bedeutungslosigkeit dieser Schwächen das Strafrecht nicht einzugreifen. Daher wird es im Zeitalter der Großen Gemeinschaft alle Arten von Verwaltungsbeamten geben; die Berufe des Offiziers und des Strafrechtlers sind dagegen ab-geschafft. Fälle von Fehlverhalten in den einzelnen Berufs-gruppen, die dem gedeihlichen Zusammenleben abträglich sind, werden den zuständigen Leitern vorgetragen; sie lassen sich durch Verwarnungen, schlimmstenfalls durch Geldbußen aus der Welt schaffen. Doch auch bei hervorragenden Persönlich-keiten sind Streitigkeiten denkbar; auch im Zeitalter des Frie-dens und der Gleichheit werden sich Gegensätze nicht vermeiden lassen. In solchen Fällen werden öffentliche Schiedsstellen Recht und Unrecht gegeneinander abwägen und den Disput beenden. Die Einschaltung von Gerichten ist dann überflüssig. Wenn Friede und Gleichheit in der Welt herrschen, wird es auch keinen Anlaß zu Prozessen und Strafverfolgungen mehr geben. Jedermann wird sich die Gesinnung eines Gentleman zu eigen machen. Ein striktes Berufsethos wird die Handlungsweise im Arbeitsleben bestimmen. Auch eine Vernachlässigung der Pflich-ten wird keine rechtlichen Folgen nach sich ziehen. Nur in den nachfolgenden vier Bereichen wird es Verhaltensvorschriften geben, die über die Regelungen der Arbeitsweise von Amtsper-sonen hinausgehen.

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Kapitel 15

Vier Verbotsregeln

i. Gegen die Trägheit

Wenn Friede und Gleichstellung eingekehrt sind, werden alle Männer und Frauen ihre Freizeit genießen; sie werden sich in Parks ergehen, zusammen essen und trinken, singen und tanzen. Wenn sie jedoch ihren Vergnügungen allzu freien Lauf lassen, fehlt der Ansporn zur Arbeit, und letztlich würde ihr Weg in die Armenhäuser führen. Wenn die Trägheit um sich greift, würde ein allgemeiner Niedergang einsetzen; die Produktion würde stagnieren und dem Fortschritt der Zivilisation wäre ein Ende gesetzt, ja die Große Gemeinschaft selbst wäre zum Untergang verdammt. Ungeordnete Zustände würden wieder-um die Oberhand gewinnen, wenn nicht Verbotsregeln die Trägheit eindämmen. Arbeitsscheuen Menschen wird der Lohn für die Fehltage in Abzug gebracht; wenn sie mehr als einen Monat von der Arbeit fernbleiben, werden sie in Unehren entlassen. Die Wählbarkeit in Amtsstellungen wird solchen Personen entzogen, die lange Zeit durch Arbeitsscheu eine unehrenhafte Haltung bekundet haben. Wer in die Armenanstalten aufgenommen werden muß, hat dort schwere Arbeiten zu verrichten. Alle, die nicht erwie-senermaßen wegen ihrer Wohlhabenheit ein dauerndes Arbeits-verhältnis einzugehen brauchen, müssen ständig berufstätig sein, um nicht Lohneinbußen zu gewärtigen. In der >Großen Ge-meinschaft< ist jeder an seinem Platz in Wirtschaft und Verwal-tung mitverantwortlich; wenn er es an seiner Arbeitsstelle an Verantwortungsbewußtsein mangeln läßt, ist er für diese Posi-tion ungeeignet. Dies gilt sogar für jene, die ihre Seele läutern wollen und sich in die Bergeinsamkeit zurückziehen und Entsagung üben. Sie ha-ben keine weltlichen Bedürfnisse und lassen sich in kein gesell-schaftliches Schema einordnen; wie sollen sie jedoch in der

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künftigen Welt ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen,

wenn sie wie alle anderen die Leistungen der Gemeinschaft

zwanzig Jahre lang in Anspruch genommen haben? Die Ge-

meinsdiaft hat ein Recht auf Wiedergutmachung der Dankes-

schuld; selbst nach den strengen buddhistischen Glaubensregeln

darf man sich seinen Eltern und Ernährern gegenüber nicht

undankbar erweisen. Die Weltordnung schreibt vor, daß jede

Schuld beglichen werden muß; niemand darf sich dieser Pflicht

entziehen, indem er sich vor der Welt zurückzieht. Zwanzig

Jahre lang wird man auf Kosten der Gemeinschaft aufgezogen:

Zwanzig Jahre lang hat man auch die Dankesschuld abzutragen.

Deshalb sollte niemand vor Erreichung des vierzigsten Lebens-

jahres das Recht haben, sich von der Gemeinschaft zurückzu-

ziehen, um die Reinigung der Seele anzustreben. Nach Über-

schreitung dieser Altersgrenze ist er in seinen Entscheidungen

frei.

2. Gegen den Personenkult

Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit wird es keine

Rangunterschiede geben; Dienerschaft und Sklaverei, Monar-

chien und Militärherrschaft, religiöse Obrigkeit und das Papst-

tum werden abgeschafft. Konfuzius hat die Vision eines

»Schwarms von Drachen ohne Haupt« gehabt. Sollten aber

wieder Führer auferstehen, die kultisch verehrt werden, dann

würde das Prinzip der Gleichheit durchbrochen; allmählich

würden sich wieder autokratische Verhältnisse durchsetzen,

Streit und Mord würden wiederkehren. Das Zeitalter der Un-

ordnung wäre dann wiederhergestellt. Deshalb muß man sich

davor hüten, außerordentliche Persönlichkeiten so erstarken zu

lassen, daß sie wie Heilige verehrt werden oder das politische

Ruder an sich reißen können. Niemand darf sich das Recht

herausnehmen, über andere herrschen zu wollen; wer in dieser

verbrecherischen Weise gegen das Prinzip der Gleichheit ver-

stößt, müßte auf Beschluß des Gemeinschaftsparlaments ein-

gekerkert werden. Ein Rückfall in die Zeit der Wirrnis muß mit

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allen Mitteln verhindert werden, denn ein Auferstehen des

Personenkults würde den Frieden gefährden und den Ausgleich

vereiteln. Strenge Vorkehrungen müßten dagegen getroffen werden, daß

ein Mensch von gottähnlicher Weisheit sich zum Religionsstifter

aufwerfen und die Massen um sich scharen kann. Religiöse

Führungspersönlichkeiten können zwar den Massen Weisheit

und >Jen< predigen und dadurch nützlich sein; wenn sie jedoch

kultisch verehrt werden, kann eine Gesellschaftsstruktur wie-

derauferstehen, wie sie von Moses oder Mohammed gelehrt

wurde. Auch autokratische Verhältnisse könnten sich wieder

festigen, wenn Religionsführer weltliche Fürsten werden.

Die Menschen werden jedoch im Zeitalter des Friedens und der

Gleichheit so einsichtig geworden sein, daß sie kein Idol mehr

brauchen. Dennoch muß allen Bestrebungen entschlossen ent-

gegengetreten werden, die zum Aufbau eines solchen Idols auf

geistigem oder politischem Gebiet führen könnten. Die Macht

wird dann nicht mehr in den Händen einzelner, sondern vieler

Persönlichkeiten liegen, damit niemand eine große Anhänger-

schaft sammeln kann. Die größten Machtbefugnisse werden den

Ärzten zugestanden, da ihnen die Sorge um das menschliche

Wohl obliegt. Wenn dann ein Arzt wie ein Napoleon die Mas-

sen für sich begeistern kann, würde er sich zum Volksführer

aufschwingen können. Er könnte sogar die Herrschaft auf

Erden an sich reißen, wie ein religiöses Idol, dem die Massen

zuströmen. Dann würde die Tyrannei eines Weltkaisertums auf-

erstehen; ein neuer Ch'in Shih Huang würde mit Gewalt die

Menschenrechte beschneiden, Bücher verbrennen lassen, Anders-

denkende lebendig begraben und das Volk in die Verdummung

führen. Statt des Friedens würde die Unischerheit, statt der

Gleichberechtigung die Willkür um sich greifen. Die Auswir-

kungen einer solchen Katastrophe lassen sich schwerlich mit

Worten beschreiben. Der Personenkult muß daher, ehe er sich

ausbreiten kann, schon im Keim erstickt werden.

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3. Gegen die Herrschsucht

Allen menschlichen Handlungen liegt ein natürlicher Egoismus zugrunde. Dieser Selbsterhaltungstrieb führt zu einem bestän-digen Wettstreit, der im Wesen des Menschen verankert ist und auch ohne äußeren Anlaß aus sich heraus wirkt. Egoismus und Wettstreit waren es auch, die den Urmenschen den Antrieb gaben, in ihrer Auseinandersetzung mit den Kräften der Natur den Sieg davonzutragen. Den Menschen gelang es dadurch, die Herrschaft über die Erde zu gewinnen. Sie hatten damals aber nur für sich selbst zu sorgen und gerieten dadurch in Streit mit anderen, die vielleicht mehr als sie besaßen, was bis zur Ver-nichtung des Konkurrenten führte. Als sich später das Familien-system entwickelte, sorgte jeder nur für seine Angehörigen; beim Wettstreit um die Güter blieb die schwächere Familie auf der Strecke. Auch Sippen und Stämme bekriegten einander, und die Besitzstreitigkeiten nahmen kein Ende. Diese Entwicklung setzte sich fort, nachdem die ersten Staaten gegründet worden waren, denn auch die verschiedenen Menschenrassen hatten nur ihre eigenen Vorteile vor Augen und sahen im Andersfarbigen ihren Konkurrenten. Die Starken unterdrückten die Schwachen; die Gescheiten übervorteilten die Primitiven; die Mehrheit plün-derte die Minderheit aus. Dieser unmenschliche Widersinn feierte Triumphe. So hat auch Darwins Evolutionstheorie dazu beigetragen, den naturgegebenen Lebensanspruch des Stärkeren zu rechtfertigen und den Menschen zu dem Glauben zu verleiten, daß der Wett-streit ein ewiges Naturprinzip sei. Selbst große Geister fußen schamlos auf diesem angeblichen Rechtsanspruch und verteidi-gen den gnadenlosen Konkurrenzkampf im Sinne des Prinzips von >Blut und Eisen<. Der Gemeinsinn wird durch diese Herrschsucht ausgehöhlt. Der natürlichen Evolution liegt keine Einsicht zugrunde; der Mensch wird dagegen von der Erkenntnis der Zusammenhänge getragen. Die Liebesfähigkeit des Einzelmenschen muß so ge-steuert werden, daß sie sich auf alle Mitmenschen erstreckt,

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damit sich eine Gruppengemeinschaft herausbilden kann und letztlich die ganze Menschheit befriedet und gleichgestellt wird. Durch dieses Streben nach Vollendung erfüllen wir das himm-lische Naturgesetz, das uns in die Große Gemeinschaft hinein-führt. Allen Menschen kann dann der Fortschritt zuteil werden, der ihnen inneres Glück bringt. Dagegen würde eine Befolgung der Prinzipien der natürlichen Evolution eine Rechtfertigung der Unterdrückung darstellen; endlose Kriege wären die Folge. Der Stärkste würde übrigbleiben, aber auch sein Ende wäre unvermeidlich, denn die noch stärkeren Kräfte der Natur wür-den ihn letztlich verschlingen. In früheren Zeiten gab es keine Abhilfe gegenüber den Barrie-ren, die sich zwischen den Einzelmenschen und den staatlichen Gebilden auftürmten; die >Große Gemeinschaft< wird diese Gegensätze überwinden, sie wird immun gegen innere Anfällig-keiten sein. Sollen sich die unsicheren Verhältnisse der Vorzeit, in der Chuang-tze und Lao-tze gelebt hatten, für ewig fortset-zen? Die >Große Gemeinschaft< wird die Barrieren abtragen; die Menschen werden in brüderlicher Eintracht leben. Solange die Menschen selbst und ihre staatlichen Gemeinschaften unter-schiedliche Interessen vertreten, bleibt auch der Wettbewerb unvermeidlich; wenn sich jedoch das Gleichheitsprinzip durch-gesetzt hat, sind Auseinandersetzungen um die Herrschaft ge-meinschaftsschädigend. Im Zeitalter der Unordnung herrschte das Faustrecht des ein-zelnen; aber auch noch jetzt, wo Friede und Gleichheit in ihrer Bedeutung für die Menschheit erkannt werden, grenzt man sich von seinen Mitmenschen ab, und Schranken der Feindseligkeit bleiben bestehen. In der Zeit der >Großen Gemeinschaft< muß daher jeder für seinen Mitmenschen das gleiche Interesse wie für sich selbst aufbringen. Schon in den kanonischen Schriften wird hervorgehoben, daß man keine Güter anzusammeln und keine Kraft für sich selbst aufzuwenden braucht, auch wenn man lieber reich und mächtig wäre. In jeder kommenden Zeit wird die Streitsucht geächtet sein; der einzige Wettstreit wird das ehrgeizige Bemühen sein, sich in Bildung und >Jen< zu ver-

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vollkommnen. In diesem edlen Wettstreit werden die Menschen »auch ihren Lehrmeistern nicht nachstehen«, wie es Konfuzius ausgedrückt haben soll. Auch in den menschlichen Leidenschaften spiegeln sich die Aus-wirkungen eines kriegerischen Zeitalters wider: Das Erröten zeigt das Blut, das in einer Schlacht vergossen wird; der Zornes-ausbruch ist der Kanonendonner, Streitigkeiten sind wie ein Echo des Kampfgetöses. Die in Frieden und Gleichheit lebenden Menschen werden jedoch nicht zornig, sondern gelassen, nicht traurig, sondern glücklich sein. Alle, die dann noch zu Streit neigen, die ihre Herrschsucht nicht bezähmen können und Un-frieden stiften, müßten von der öffentlichen Meinung mit Schande belegt werden. Ihre Namen müßten veröffentlicht werden, damit sich andere vor ihnen in acht nehmen können. Sie dürften keine bürgerlichen Ehrenrechte ausüben. Dies gilt auch für alle, die im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit Rü-stungsmaterial herstellen wollen, was einem Aufruhr gegen die öffentliche Meinung gleichkäme, da jegliche militärische Ge-waltanwendung abgeschafft worden ist.

4. Gegen die Abtreibung

Diese letzte der vier Verbotsvorschriften wurde in Teil VI, Kapitel z, das von den >Institutionen zur Menschwerdung< handelt, ausführlich begründet.

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TEIL IX Wie man die Liebe zum Menschen-geschlecht auf alle Lebewesen ausdehnt

Wenn alle Menschen untereinander gleich sind, wird sich >Jen< als geistige Grundhaltung durchgesetzt haben. Da aber alle Lebewesen dem Urgeist entsprungen sind, ist auch der Mensch nur eine Gattung dieses Geistes. In der Vorzeit hatte der Urmensch nur die Erhaltung seiner eigenen Art im Sinn; alles menschliche Handeln war darauf gerichtet, sich und die Seinen zu schützen und Gegner zu vernichten. >Jen< war damals der Geist der Arterhaltung und der Liebe zur eigenen Gattung; auch wenn ein Mensch ein anderes Lebewesen tötete, handelte er im Geiste des >Jen<. Die Gattung eines Lebewesens ist jedoch nur die Summe äuße-rer Unterscheidungsmerkmale. Man ist mit allen Wesen ver-traut, die das gleiche Erscheinungsbild aufweisen; Lebewesen anderer Gattungen verabscheut und tötet man. Kinder, die unserem Samen entstammen, werden geliebt und gehegt, damit sie sich gut entwickeln können; Läuse, die im Körperschweiß gedeihen, sind verhaßt und werden vernichtet, damit sie sich nicht vermehren. So sind Kinder und Läuse gleichermaßen Geschöpfe, die mit dem eigenen Körper in Zusammenhang stehen; den einen wird jedoch Liebe, den anderen Abscheu ent-gegengebracht. Diese Gefühle entspringen unserem Sinn für die Unterscheidungsmerkmale der einzelnen Gattungen. Sollte dem Mutterleib ein andersartiges Lebewesen entspringen, dann wür-den wir dieses sofort vernichten; einen Hund oder eine Schlange würden wir nicht als Kind anerkennen. Dieser Abscheu geht sogar so weit, daß wir Säuglinge mit körperlichen Abnormitä-ten nicht großziehen wollen. Eltern lieben ihre Kinder nicht als solche; sie sehen in ihnen lediglich ein Abbild der eigenen Art. Auch Adoptivkinder lieben wir nur dann, wenn sie uns ähneln. Die Wertschätzung der Eigenart ist unermeßlich.

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Konfuzius hatte den Ahnenkult als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens befürwortet. Die Liebe zur eigenen Art er-streckt sich somit gleichzeitig auf die Vorfahren und die Nach-kommen; die Zuneigung kann sich auch auf Verwandte aus-dehnen. Die Gattenliebe ist die fleischliche Ausprägung der Liebe zur eigenen Art. Liebe zu einem Tier läßt sich in dieses Schema nicht einbauen. Demgegenüber ist aber die Freundes-liebe als Zuneigung zu einem Menschen, der die gleiche Sprache spricht, mit eingeschlossen; auch ein Herrscher kann geliebt werden, da er die Geschäfte des eigenen Staates leitet, und man kann Zuneigung zu Nachbarn empfinden, da sie am gleichen Ort wohnen. Man nimmt auch Abstufungen der Intensität der Zuneigung vor, nach der Weite der Entfernungen: Man fühlt sich Menschen aus der Umgebung mehr verbunden als solchen, die in fernen Landstrichen leben. Alle Lebewesen, die Menschen-gestalt besitzen, sind letztlich in diese Liebe mit eingeschlossen; dies ist die Basis für die Weltregierung und die Zivilisation. Die Rettung eines Menschenlebens wird belohnt; die Tötung wird bestraft. Wer jedoch ein andersartiges Lebewesen umbringt, versündigt sich nicht, auch die Hilfeleistung für die Kreatur erntet keinen Lohn. (Auch die Tiere fühlen sich nur zur eigenen Art hingezogen und holen sich Beute aus der anderen Gattung. Die Weisen, die nur Menschenliebe predigten, standen auf keiner höheren Gesin-nungsstufe als die wilden Tiere. Die Mitleidlosigkeit des Men-schen ist aber niedriger zu bewerten als der Blutdurst des Tigers, da der Mensch seine Intelligenz zu Hilfe nimmt, um seine Zerstörungswut zu beflügeln. Der Mensch ist die eigensüchtigste und mitleidloseste aller Kreaturen. Wer als Bandit andere Menschen umbringt, um geraubtes Gut seiner Familie zuzu-führen, wird als Verbrecher verfolgt. Wer dagegen in der Schlacht die Statsfeinde tötet, wird als Held verehrt und be-lohnt. Wenn dann die weisen Staatsführer vorgeben, beim Auf-bau des Gemeinwesens andere Lebewesen vernichten zu müssen, laden sie wiederum eine Schuld auf sich, denn die Tötung der Kreatur läßt sich vor dem Himmel nicht rechtfertigen.

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Im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte war es jedoch für die Menschheit unvermeidlich, die sie bedrohende Tierwelt zu ver-nichten, um selbst überleben zu können. Als es darum ging, ent-weder zu töten oder getötet zu werden, hat die Menschheit das geringere Übel gewählt. Wenn einst die >Große Gemeinschaft< verwirklicht wird, wird die Erde nur noch von Menschen bewohnt sein; Tiere, die der Menschheit gefährlich werden könnten, sind dann ausgerottet oder werden nur noch in Zoos zur Schau gestellt. Wenn man jedoch die gezähmten Tiere in Betracht zieht, erscheint es mitleidlos und dem Naturgesetz zuwiderlaufend, sie zu töten, denn man muß berücksichtigen, daß sie einen menschenähnlichen Verstand haben und Angst und Schmerzen empfinden können. Sie bedrohen nicht den Fort-bestand der Menschheit und müssen nicht unbedingt für Zwecke der menschlichen Ernährung geschlachtet werden. Die strengen Glaubensregeln der Hindus und Buddhisten, die sogar das Töten von Insekten verbieten, lassen sich allerdings in der Gegenwart nicht mehr verwirklichen. Die Lehre des Konfuzius stellt ein dreistufiges Programm heraus: Verwand-tenliebe, Menschenliebe und schließlich Liebe zu allen Lebe-wesen. Dieser Fortschritt in drei Stufen entspricht der Weiter-entwicklung in den drei Zeitaltern. Eine solche Gesinnung ist zwar im Sinne des >Jen< nicht so hoch zu bewerten wie die konsequente Haltung der Hindus und Buddhisten; sie weist jedoch einen gangbaren Weg in die Zukunft. Sogar das End-stadium der Liebe zu allen Lebewesen wird in der Epoche der >Großen Gemeinschaft< erreichbar sein, da man dann auf neu-entwickelte Nahrungsmittel zurückgreifen kann, die das Fleisch ersetzen. Die Menschen werden einmal den Fleischgenuß verab-scheuen, wie sie auch das Schlachten von Haustieren abgeschafft haben. Die Haustiere werden dann als Dienerschaft betrachtet; man wird sie nutzbringend einsetzen, aber auch pflegen und Zuneigung zu ihnen gewinnen. (In der Zwischenzeit muß jedoch dafür Sorge getragen werden, daß Schlachttiere mechanisch und schmerzlos getötet werden; es wird noch einige Zeit vergehen, bis sich alle Menschen auf den

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Genuß von Nahrungsmitteln, die das Fleisch vollständig erset-zen, eingestellt haben. Schlachttiere können zwar ihren Lebens-weg nicht auf normalem Wege vollenden, doch alle müssen ohnehin eines Tages sterben, und eine schmerzlose Schlachtung ist eine mitleidige Handlung bei aller Mitleidlosigkeit, die dem Akt der Tötung innewohnt. Die gelehrigsten und anhänglich-sten Tierarten werden in jener Zeit als Hausgefährten gehalten, besonders Affen und Papageien, da sie die menschliche Sprache verstehen. Auch Rinder, Pferde, Hunde und Katzen werden als Hausgenossen dienen, während das Wild in Gehegen versorgt wird und frei und unbehelligt durch die Landschaft streifen kann ...) Die Grundregel in der Einstellung gegenüber frei-lebenden Tierarten wird lauten: Wildtiere und Vögel, die Schä-den anrichten, müssen ausgerottet werden; harmlose Tierarten werden gehegt. Die Abschaffung der Unsitte, Tiere zu töten, wird sich im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< in mehreren Stadien voll-ziehen. Zunächst wird man davon absehen, nützliche und ver-ständige Arten wie Rinder, Pferde und Hunde zu töten. Wegen der Abschaffung der Fleischnahrung wird dann auch das Schlach-ten von Geflügel und Schweinen nicht mehr erforderlich sein. Schließlich wird man auch noch vom Fischfang absehen. In diesem Sinne wird es auch innerhalb der Epoche der Großen Gemeinschaft drei Entwicklungsstadien geben: Das Zeitalter der Unordnung, in dem noch Schlachttiere als Nahrung dienen; das Zeitalter der Festigung von Frieden und Angleichung, in dem Tiere schmerzlos getötet werden, und schließlich das Zeit-alter der Vollendung von Frieden und Gleichheit, in dem das Schlachten und jeder Wunsch, Fleisch zu verzehren, ein Ende gefunden hat. Welche Haltung soll man aber gegenüber dem absoluten Tö-tungsverbot, das im Buddhismus verankert ist, einnehmen? Auch diese Haltung ist falsch. Die Erde wird von Insekten bevölkert; wenn man sie nicht bekämpfen würde, dann wäre der Schaden für die Menschheit unermeßlich; Plagen und Krankheiten könn-ten sich ausbreiten ... Wenn man sich die Regel zu eigen macht,

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daß alle schädlichen Lebewesen auszurotten sind, gewinnt man die richtige Einstellung gegenüber dem Tierreich. In jener Zeit wird man jedoch schon Drogen erfunden haben, die Insekten von menschlichen Wohngebieten fernhalten, so daß man von der direkten Vernichtung absehen kann. Durch die Konstitution des menschlichen Körpers sind unseren Erkenntnismöglichkeiten und damit unserer Liebesfähigkeit jedoch Grenzen gesetzt. Wie kann man den Wunsch nach Voll-endung des >Jen<, nach umfassendem Verständnis für alle Kreaturen, zur Erfüllung bringen? Die Unzahl der Geschöpfe dieser Erde ist nach ihrer Größe sehr unterschiedlich; während das Größenwachstum beschränkt ist, gibt es nach unten hin keine Grenze. Winzige Mikroben, >Chiao-ming<, hausen auf dem Körper der Stechfliege; das Insekt weiß jedoch nichts von der Exisenz des Schmarotzers. Dennoch gibt es noch kleinere Lebewesen. Wenn man einen Wassertropfen durchs Mikroskop betrachtet, erkennt man die Vielgestaltigkeit des Lebens. In unendlicher Formenvielfalt bewegen sich diese Urgeschöpfe im Wasser; wer kann die Welt der Mikroben mit Worten beschrei-ben? Die Welt der Zukunft wird auch Mikroskope schaffen, deren Stärke die Vergrößerungsmöglichkeiten der Gegenwart um ein Vielfaches übertrifft. Heutige Instrumente lassen eine Ameise in Elefantengröße erscheinen; Mikroskope der Zukunft werden jedoch eine Mikrobe bis zum Umfang eines Fabelwesens vergrößern. Die Atmosphäre ist ein Tummelplatz der Kleinlebewesen. Im Vergleich zu ihnen ist der Mensch ein Geschöpf von riesenhaften Ausmaßen; mit jedem Atemzug vernichtet er eine Unzahl von Mikroben, mit jedem Fußtritt oder Handgriff bereitet er win-zigen Kreaturen ein Ende. Wenn man sich auch für gütig und >jen< hält, so hat man doch seit seiner Geburt weitaus mehr Kleinlebewesen getötet als es Sandkörner im Grunde des Ganges gibt. Soll man diesen Geschöpfen kein Eigenbewußtsein bei-messen? Wenn man sie durch das Mikroskop betrachtet, gewin-nen sie Leben; von dieser Warte aus gesehen, kann ihre Leben-digkeit auch als Ausdruck des Bewußtseins gewertet werden.

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Buddha lehrte, sich des Tötens von Lebewesen zu enthalten; dennoch tötete er selbst jeden Tag unzählige winzige Geschöpfe. Als Buddha Ananda zum Wasserholen schickte, erwiderte ihm dieser, daß Wasser Lebewesen enthalte und daß man es deshalb nicht trinken sollte. Buddha sagte darauf, was wir nicht sehen können dürfen wir trinken. Seine Antwort war ausweichend. Er hätte zugeben sollen, daß auch etwas Unsichtbares Leben in sich trägt; seine Stellungnahme ging dem eigentlichen Problem aus dem Weg. Dürfte man einen Menschen umbringen, nur weil er unsichtbar wäre? Andererseits kann man aber nur wegen der Existenz unsichtbarer Kleinlebewesen nicht das Wassertrinken abschaffen. Auch wenn Buddha sich des Trinkens enthalten hätte, die Atemluft hätte er nicht entbehren können, und die Tötung von Kleinlebewesen setzte sich fort. Wie kann man gütig zu allen Kreaturen sein — man muß atmen und kann sich nicht in ferne Sphären versetzen. Niemand ist in der Lage, die Gesinnung des >Jen< zur Vollendung zu führen. Konfuzius empfand einen Widerwillen gegen die Küche, in der das Fleisch der Schlachttiere zubereitet wird — aber kann man das Schlachten aus der Welt schaffen? Buddha schloß bei seinem Tötungsverbot unsichtbare Lebewesen aus; ein anderer Weg ist nicht vorgezeich-net. Das Leben ist unerschöpflich; auch die menschliche Verhal-tensweise schöpft aus dem vollen und kann sich nur innerhalb der vorgezeichneten Grenzen vollenden. Auch dem >Jen<, der Vollendung der menschlichen Gesinnung, sind Grenzen gesetzt, die man erkennen muß, um die Möglich-keiten der Liebesentfaltung gegenüber allen Kreaturen auszu-schöpfen. Doch selbst wenn in der Großen Gemeinschaft jeg-liches Töten abgeschafft würde, wäre man noch weit von der vollen Entfaltung des >Jen< entfernt. Das menschlich Erreich-bare ist wie ein Tropfen im Ozean, wenn man sich die himm-lische Vollendung des >Jen< ausmalt.

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TEIL X Wie man die Fesseln des Leidens abstreift und der Glückseligkeit zustrebt

In der Vorzeit litt der Mensch unter dem Hunger; er ernährte sich von Baumfrüchten und Wurzeln und jagte das Wild, um überleben zu können. Das Gefühl des Leidens verstärkte sich, wenn er sich nicht ausreichend ernähren konnte, und er fühlte sich glücklich, wenn er genug zu essen hatte. Wind, Regen und Nebel beeinträchtigten das körperliche Wohlbefinden, und so schützte sich der Mensch gegen die Unbilden der Witterung, indem er pflanzliche Fasern zu Stoffen webte. Wenn er sich nicht kleiden konnte, mußte er frieren und Not leiden und er war glücklich und zufrieden, wenn er Gelegenheit fand, seine Haut zu bedecken. Er litt, wenn er seinen Trieb nicht befriedi-gen konnte und war glücklich, wenn er einen Partner des anderen Geschlechts fand. In späteren Zeiten entwickelten sich die Geschicklichkeit und die Verfeinerung der Ansprüche. Le-bensmittel wurden gekocht, gebraten und gemischt; als Klei-dung wurde Seide verwendet und mit allen Farben des Regen-bogens getönt, um sich daran zu erfreuen; Gewänder, Kopf- und Schuhbekleidung kamen hinzu, um die Ansprüche zu befriedi-gen. (Auch die Verfeinerung der Wohnsitten und die Erotisie-rung des Zusammenlebens trugen dazu bei, das Glücksgefühl der Menschen zu erhöhen.) Das körperliche und seelische Wohl-befinden, das Freude und Befriedigung nach sich zieht, steigert auch den allgemeinen Glückszustand. Das Leid beruht auf der Unfähigkeit, diesem Glücksgefühl nahezukommen; es ent-springt einem Geist, der der Schwierigkeiten nicht Herr werden kann, einem schmerzgeplagten Körper, einer niedergeschlagenen, melancholischen Seele. Der Steigerung des Glücksgefühls sind keine Grenzen gesetzt; aber auch das Leid kann unermeßlich sein. Beide sind extreme, entgegengesetzte Empfindungen. Der Fortschritt liegt in der Suche nach allen erdenklichen Mitteln,

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die imstande sind, das Glück zu steigern und das Leid abzu-wenden. (Alle großen Denker und Erfinder hatten sich zum Ziel gesetzt, die Menschen materiell und sozial zu einer höheren Glücksstufe zu verhelfen. Ihre Bedeutung läßt sich an ihren Erfolgen auf diesem Gebiet messen, und auch ihre Methoden sind je nach Zeitumständen und räumlichen Gegebenheiten als wirksam oder nutzlos zu bewerten. In der >Großen Gemeinschaft< wird jedermann die Wohnung von der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die Wohnung wird an der Arbeitsstätte liegen, doch außerhalb des Wohn-bereichs werden überall große, komfortable Hotels entstehen, damit es die Menschen auf Reisen bequem haben. Man wird viel unterwegs sein und kann unter verschiedenen Unterkunfts-arten wählen. Wenn man gut wohnen will, kann man in Schlafwagen, Ballonkabinen oder auf Schiffen übernachten.) Bäume und Gräser blühen, können sich aber nicht fortbewegen. Schweine und Schafe haben etwas Verstand, können aber nicht weit fortlaufen. Die sagenhaften Greifvögel können jedoch mit einem Flügelschlag meilenweit fliegen. Dies kennzeichnet auch die Entwicklung der Mobilität des Menschen: In der Vorzeit lebten und starben sie im gleichen Dorf, ohne jemals zu ver-reisen, wie die Gräser und Bäume. In der Gegenwart erkunden sie ihre nähere Umgebung, wie es die Schafe und Schweine tun. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit werden sie sich jedoch wie ein Greif in die Lüfte erheben und die ganze Erde kennenlernen. (Die Gesundheitsbehörden werden ständig die Verhältnisse in den Gemeinschaftsanstalten und in den Privatunterkünften kon-trollieren. In den Hotels werden Klimaanlagen, elektrische Heizungen und Massagegeräte installiert. Auf den Meeren wer-den schnelle, elektrisch betriebene Schiffe verkehren, die allen Komfort, sogar Blumenanlagen, enthalten; viele Menschen wer-den ständig an Bord leben. An Land wird sich der Automobil-verkehr durchsetzen. Die Autos werden so groß sein, daß mehrere hundert Personen in ihnen Platz finden. Möglicher-

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weise wird der Elektroantrieb die Wagen in Gang halten; es kann aber auch sein, daß ein neuer Brennstoff ersonnen wird. Pferdewagen werden nur noch für kurze Entfernungen ein-gesetzt, vielleicht tritt aber der Elektroverkehr gänzlich an die Stelle dieses Transportmittels.) Die Wohnbereiche der Menschen im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< verlagern sich stufen-weise von Gebirgsgegenden auf die See, bis sie schließlich auch die Luft als Lebensraum in Anspruch nehmen. (Es wird keine Privathäuser geben, und deshalb werden alle Menschen gemeinschaftlich wohnen und gemeinschaftlich ihr Essen einnehmen. Die Funktionen der Dienerschaft und des Gesindes werden von Maschinen und Geräten übernommen. Die Mahlzeiten werden telefonisch bestellt, und das Servieren erfolgt automatisch: Durch eine Öffnung im Fußboden könnte der Eßtisch von der darunterliegenden Küche nach oben beför-dert werden. Die Zimmerwände werden mit Reliefs und Ge-mälden ausgeschmückt; Tischmusik und Tanz werden den Appe-tit anregen. Diese Ausgestaltung des Lebensbereichs wird die Daseinsfreude erhöhen. In jener Zeit werden die Menschen flüssige Nahrung zu sich nehmen. Diese Extrakte aus festen Nahrungsmitteln lassen sich leichter vom Körper verarbeiten. Es werden auch stimulierende, aber unschädliche Dämpfe eingeatmet. Die neuartige Ernäh-rungsweise trägt dazu bei, das menschliche Leben zu verlängern. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird sich die Ernäh-rungsweise stufenweise umgestalten. Die Fleischnahrung wird in drei Perioden abgeschafft: Anfangs wird noch allgemein Fleisch verzehrt, später wird der Verbrauch von tierischen Nahrungsmitteln zurückgehen, bis schließlich in der dritten Stufe auch Fische und Kleinlebewesen von der Speisekarte verbannt sind. Alle Wesen, die Verstand besitzen, werden dann den Schutz des Menschen genießen. Die Pflanzen sind jedoch in diese Schutzmaßnahmen nicht miteinbezogen, da ihnen kein Bewußtsein zu eigen ist. Deshalb wird der Mensch der Zukunft verstärkt pflanzliche Erzeugnisse zu seiner Ernährung heran-ziehen.

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Die Kleidung in der Welt der Gemeinschaft wird so beschaffen sein, daß sie Wetterschutz bietet und die Arbeitsbedingungen erleichtert. Es wird schöne und vielfältige Trachten geben; die Kleidung wird jedoch keine Unterscheidungsmerkmale aufwei-sen, mit Ausnahme der Ehrenzeichen für Verdienste auf den Gebieten der Bildung und des >Jen<. Alles, was der Ausbreitung der Zivilisation förderlich ist, wird weiterentwickelt. Im Leben des Menschen der Zukunft wird die Musik eine große Rolle spielen. Die Menschen werden ihre Körperhaare abrasieren und nur die Nasenhaare wachsen lassen, da diese für die Reinhal-tung der Atemluft benötigt werden. Solange der Mensch Haar-wuchs trägt, ist er noch mit dem primitiven Tierreich verwach-sen; wenn er sich der Haare entledigt, wird er sauber und zivilisiert. Männer und Frauen werden mehrmals am Tage baden; durch das Badewasser werden sie einen angenehmen Geruch verströmen. Dies ist jedoch nicht mit einer Parfümierung als sexuellem Anregungsmittel gleichzusetzen; die Badedüfte sol-len die Menschen in gute Stimmung versetzen und ein Unter-scheidungsmerkmal gegenüber den animalischen Gerüchen dar-stellen. Im Zeitalter des Friedens und der Gleichheit werden selbst häßliche Menschen anziehender wirken als die Schön-heiten der Gegenwart. Auch in den Toiletten wird für die Beseitigung der Gerüche gesorgt; selbst hier wird durch Ver-sprühen von Düften und Musik der Aufenthalt angenehm gestaltet.) Im Badezimmer können sich die Menschen vom Lärm der Welt zurückziehen und sich auf sich selbst besinnen; sie können dort träumen und friedlichen Gedanken nachhän-gen. (Jeder wird täglich medizinisch untersucht. Alle Phasen des Lebens vollziehen sich unter Aufsicht der Gesundheitsbehörden. Ansteckende Krankheiten wird es nicht mehr geben, und auf der ganzen Erde wird Reinlichkeit und Gesundheitsvorsorge ober-stes Gesetz sein. Alle Leiden werden äußerlich erkennbar und leicht zu behandeln sein; die öffentlichen Hospitäler werden fast leer sein, denn Schwerkranke werden dann nur noch die Tod-geweihten und Altersschwachen sein. Wenn schwer Leidende

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nach dem Urteil der Arzte unheilbar krank sind, dürfen sie schmerzlos von ihren Leiden erlöst werden, um den Todes-kampf zu beenden ... Wenn die medizinische Wissenschaft weiter fortschreitet und ideale Lebens- und Ernährungsweisen gefunden worden sind, wird es in Zukunft möglich sein, das Lebensalter auf hundert, zweihundert, ja auf tausend Jahre zu verlängern. Erst wenn man zwanzig Jahre lang der Gemeinschaft gedient hat und damit einen Ausgleich für die zwanzigjährige öffent-liche Ausbildung geschaffen hat, darf man sich mit Forschungen befassen, die ein Weiterleben und die Unsterblichkeit im Sinne haben. Mit vierzig Jahren darf man sich dann auch von der Welt zurückziehen und taoistischen oder buddhistischen Lebens-regeln nachhängen. In der Großen Gemeinschaft wird dies ein Idealbild des vollkommenen Menschen sein; die Weltabgeschie-denheit darf jedoch nicht die Gemeinschaftsleistungen beein-trächtigen, damit die Zivilisation weitere Fortschritte machen kann.) Das Christentum predigt die Gottesfurcht, Menschenliebe und Güte. Sünden müssen bereut werden, und das Jüngste Gericht soll den Menschen Furcht einflößen, damit sie nicht Böses tun. Wenn aber Friede und Gleichheit eingekehrt sind, werden die Menschen nur noch Liebe füreinander empfinden, und es wird keine Sünde mehr geben. Sie werden die allen Geschehnissen innewohnende Evolution begreifen, wodurch die Gottesver-ehrung überflüssig wird. Sie werden auch den Tag des Gerichts nicht mehr fürchten, da sie dann begreifen, daß nicht eine grenzenlose Zahl von Seelen den Himmel bevölkern kann. Des-halb wird auch die durch Jesus geschaffene Religion nicht der Glaube der Großen Gemeinschaft sein können. Im Islam gibt es Bindungen an den Staat, es gibt Herrscher und Untertanen und eheliche Zusammengehörigkeit. Im Zeitalter der >Großen Gemeinschaft< wird daher auch der Islam überwunden sein. Diese Glaubensrichtung betont zwar den Wert der mensch-lichen Seele; jedoch wird Gott ständig angerufen, weshalb der Islam nicht genügend innere Werte besitzt und unausgereift und

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oberflächlich erscheint. Die >Große Gemeinschaft< in Friede und Gleichheit ist daher das Ideal des Konfuzius, dessen Vorstellung von den drei Zeitaltern in der Zukunft verwirklicht werden wird. Schon im dem Buch der Wandlungen, wird von den Wechselbeziehungen von >Yin< und >Yang< gesprochen; man kann dieser Lehre anhängen, doch es werden sich keine Aus-wirkungen des ständigen Wechsels zeigen. Das große Leiden wird vorüber sein; die rettende Küste ist erreicht, und es wird kein Floß mehr benötigt. Im Zeitalter der Gemeinsamkeit wird man sich überall dem Studium der geistigen Grundlagen des Taoismus und Buddhis-mus widmen, man wird der Unsterblichkeit zustreben. Die Große Gemeinschaft ist die erste Zielsetzung, das Weiterleben hingegen das Fernziel. Die buddhistische Philosophie, ohne die Einschnitte von Geburt und Tod, legt nicht nur eine Welt-abgeschiedenheit auf; sie erhebt sich über die Welt und die Große Gemeinschaft. Wenn wir diese Gedanken weiterverfol-gen, verlassen wir die menschliche Sphäre und kommen Vor-stellungen über die Unsterblichkeit nahe. Wenn man sich ge-danklich mit der Unsterblichkeit befaßt, muß man jedoch er-kennen, daß vage und unausgereifte Begriffe das Weltgesetz nicht zu erfassen vermögen. Bei der Versenkung in die univer-sellen und subtilen Heilslehren des Buddhismus werden Worte und Gedanken letztlich überflüssig. Selbst ein Weiser kann sich durch Selbstbeherrschung und Versenkung noch mehr verinner-lichen. Der geheimnisvolle Kreislauf der Elemente und der Gestirne wird dann den Weisen keine unlösbaren Rätsel mehr aufgeben. Nach der Schaffung der >Großen Gemeinschaft< wird man sich also zunächst der Erfassung der Unsterblichkeit widmen. Dies ist die Anfangsstufe der Erleuchtung; auf der späteren Ent-wicklungsstufe wird man zum Bodhisattwa. Das Endstadium der Erleuchtung und Verinnerlichung liegt dann in der Erfas-sung der himmlischen Gesetzmäßigkeiten. Dieser Betrachtung habe ich mein Buch >Vorlesungen über die Himmel< gewidmet.

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TA T'UNG SHU ist der umfassendste Entwurf eines idealen Gesellschaftssystems, den China je hervor-gebracht hat. Er enthält zwar schon Spuren westlicher Ideen, ist aber geprägt vom chinesischen Wirklich-keitssinn. Er zeigt den Absprung vom Hier und Jetzt zu einer neuen Gesellschafts- und Lebensform, indem er in seine Beschreibung auch die notwendigen Übergangsstadien aufnimmt. Die hier geschilderte, in drei Phasen sich entfaltende Utopie bleibt dadurch kein starres U-topia, sondern gewinnt unmittelbare Dynamik, wird »Anweisung zum Handeln«. Sie ist an den realen Bedürfnissen und Konflikten der Menschen orientiert. In ihr verbinden sich buddhistische und konfuzianische, aber auch christ-liche und naturwissenschaftliche Vorstellungen zu der Konzeption einer Welt, die schließlich alle nationalen und gesellschaftlichen Schranken überwindet. Für das Verständnis des neueren China ist dieser philosophische Grundtext unentbehrlich.

K'ang Yu-wei (1858 —1927) war eine der faszinierend-sten und einflußreichsten Persönlichkeiten auf der Grenzlinie zwischen dem Alten und dem Neuen China. Er unternahm bereits 1898 den Versuch, in einer »Reform der Hundert Tage« China in einen moder-nen Staat umzugestalten. Das Ta T'ung Shu, nieder-geschrieben 1902, vollständig aber erst 1935 veröffent-licht, hatte in China einen fundamentalen Einfluß aufdie sozialen Zielvorstellungen der Reformer ebenso wie der Revolutionäre. Seine Wirkung ist auch heute noch unübersehbar.