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Kapitel 1 Vom Wachsen und Gedeihen Van Helmonts Weide und die Schönheit der exakten Messung Das erste, was Studenten über die Chemie lernen, ist wahrscheinlich, dass sie viel mit Messen und Wiegen zu tun hat: Soundso viele Gramm von diesem Pulver sollen zu soundso vielen Millilitern von je- ner Flüssigkeit gegeben werden. Kein Wunder, dass sich eine Syn- thesevorschrift liest wie ein Kochrezept. Dieses Bedürfnis nach Quantifizierung bei der Untersuchung der Stoffe und ihrer Umwandlungen ist keineswegs offensichtlich. Bei den antiken griechischen Philosophen ist davon jedenfalls wenig zu spüren; sie versuchten, die Natur mit verschwommenen qualitativen Kategorien, Neigungen und Tendenzen, Vorlieben und Abneigungen zu erklären. Aristoteles dachte, die Dinge fallen nach unten, weil sie einen natürlichen Drang »nach unten« haben. Empedokles behaup- tete, das Mischen und Trennen seiner vier Elemente, das alle Stoffe dieser Welt hervorbringe, sei das Ergebnis von »Liebe« und »Streit« – ein reizvolles Bild! Ich will damit natürlich nicht sagen, dass man sich in der Antike überhaupt nicht um Quantitäten kümmerte. Natürlich kann man kein Bauwerk ohne Maße und Proportionen errichten und keinen 13 Brillante Denker, kühne Pioniere. Philip Ball Copyright © 2007 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN 978-3-527-31680-9 Vilvoorde bei Brüssel, frühes 17. Jahrhundert. Jan Baptista van Hel- mont, ein f lämischer Arzt, demon- striert, dass alle Dinge letztlich aus Wasser bestehen, indem er eine Wei- de in einem Blumentopf wachsen lässt und dabei nichts als reines Was- ser zuführt. Seine Feststellung, dass Wasser die ursprüngliche Substanz ist, steht im Einklang mit der bibli- schen Schöpfungsgeschichte und stützt auf diese Weise die christliche Basis der »chemischen Philosophie« van Helmonts. Seine erst posthum veröffentlichen Ideen bilden den Schlussakkord einer halbmystischen Sicht der Chemie, die bald darauf der von René Descartes verfochtenen streng mechanistischen Philosophie Platz machen sollte.

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Page 1: Kapitel 1 Vom Wachsen und Gedeihen - · PDF filezu erklären. Aristoteles dachte, die Dinge fallen nach unten, weil sie ... Chr.), das in der lateinischen Übersetzung als Physica

Kapitel 1

Vom Wachsen und Gedeihen

Van Helmonts Weide und die Schönheit der exakten Messung

Das erste, was Studenten über die Chemie lernen, ist wahrscheinlich,dass sie viel mit Messen und Wiegen zu tun hat: Soundso vieleGramm von diesem Pulver sollen zu soundso vielen Millilitern von je-ner Flüssigkeit gegeben werden. Kein Wunder, dass sich eine Syn-thesevorschrift liest wie ein Kochrezept.

Dieses Bedürfnis nach Quantifizierung bei der Untersuchung derStoffe und ihrer Umwandlungen ist keineswegs offensichtlich. Beiden antiken griechischen Philosophen ist davon jedenfalls wenig zuspüren; sie versuchten, die Natur mit verschwommenen qualitativenKategorien, Neigungen und Tendenzen, Vorlieben und Abneigungenzu erklären. Aristoteles dachte, die Dinge fallen nach unten, weil sieeinen natürlichen Drang »nach unten« haben. Empedokles behaup-tete, das Mischen und Trennen seiner vier Elemente, das alle Stoffedieser Welt hervorbringe, sei das Ergebnis von »Liebe« und »Streit« –ein reizvolles Bild!

Ich will damit natürlich nicht sagen, dass man sich in der Antikeüberhaupt nicht um Quantitäten kümmerte. Natürlich kann mankein Bauwerk ohne Maße und Proportionen errichten und keinen

13Brillante Denker, kühne Pioniere. Philip BallCopyright © 2007 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN 978-3-527-31680-9

Vilvoorde bei Brüssel, frühes 17.Jahrhundert. Jan Baptista van Hel-mont, ein f lämischer Arzt, demon-striert, dass alle Dinge letztlich ausWasser bestehen, indem er eine Wei-de in einem Blumentopf wachsenlässt und dabei nichts als reines Was-ser zuführt. Seine Feststellung, dassWasser die ursprüngliche Substanzist, steht im Einklang mit der bibli-

schen Schöpfungsgeschichte undstützt auf diese Weise die christlicheBasis der »chemischen Philosophie«van Helmonts. Seine erst posthumveröffentlichen Ideen bilden denSchlussakkord einer halbmystischenSicht der Chemie, die bald darauf dervon René Descartes verfochtenenstreng mechanistischen PhilosophiePlatz machen sollte.

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Handel treiben, wenn man nicht weiß, wie viel man wovon kauft oderverkauft. Das Standardlängenmaß der alten Kulturen des Mittlerenund Nahen Ostens war die Elle, der Abstand vom Ellenbogen bis zurMittelfingerspitze. Im Ersten Buch der Könige erfährt man die Di-mensionen von Salomos Tempel in allen Einzelheiten; daran kannman ablesen, wie wichtig die Quantifizierung am Königshof der Is-raeliten gewesen sein muss. Auf 4000 Jahre alten ägyptischen Wand-malereien findet man zweischalige Waagen. Kostbare Stoffe wog manin Gran und Shekel. (Wie viele Gran einen Shekel ausmachen, war injedem Land individuell festgelegt. Händler im Mittelmeerraum führ-ten deshalb vermutlich verschiedene Wägesätze mit.)

Handwerker wussten auch, dass man die Zutaten im richtigen Ver-hältnis einsetzen muss, wenn man einen »künstlichen« Stoff herstel-len wollte (Chemie und Alchimie waren damals noch dasselbe). Einin Keilschrift überliefertes Rezept für Glas aus Mesopotamien gibt an,man müsse »sechzig Teile Sand, hundertachtzig Teile Asche von Was-serpflanzen [und] fünf Teile Kalk« mischen. In Alexandria wurdensolcherart Vorschriften gesammelt und in alchimistischen Schriftenaufgezeichnet. Allmählich wandelte sich dabei ihr Charakter: Die ale-xandrinischen Alchimisten, nicht mehr zufrieden mit dem rein prak-tischen, empirischen Wissen von den Stoffen, suchten nach den vonden griechischen Philosophen so gelobten vereinheitlichenden Prin-zipien. Spuren hinterließen diese Bestrebungen zum Beispiel in ei-nem Werk des ägyptischen Gelehrten Bolos von Mendes (um 200 v.Chr.), das in der lateinischen Übersetzung als Physica et Mystica be-kannt wurde und Vorschriften mit kryptischen Bemerkungen kom-mentiert wie: »Die Natur triumphiert über die Natur. Die Natur er-freut sich an der Natur. Die Natur obsiegt der Natur.«

Nicht die gesamte hellenistische praktische Wissenschaft versteck-te sich unter dem Mantel der Mystik. Archimedes und Hero zum Bei-spiel führten ausgeklügelte, quantitative Experimente aus, ohne siezu einer groß angelegten Naturtheorie zusammenfügen zu wollen. Inder Chemie aber waren Praktisches und Göttliches jahrhundertelangunzertrennlich. Arabische Philosophen, die zur Zeit der islamischenEroberung auf alexandrinische Texte stießen, nahmen alle Aspekteder alchimistischen Philosophie begeistert auf. Schriften, die dem ge-lehrten Moslem Jabir ibn Hayyan zugeschrieben werden und wahr-scheinlich von verschiedenen Mitgliedern der mystischen Isma’ili-Sekte im späten neunten und frühen zehnten Jahrhundert zu-

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sammengetragen wurden, thematisieren den Gedanken, dass alleMetalle aus zwei grundlegenden »Prinzipien« bestehen: Quecksilberund Schwefel. Sie sollten die klassischen Elemente des Aristoteles –der von den Arabern verehrt wurde – nicht ersetzen, sondern eine völ-lig neue Stufe bilden. Unter »philosophischem« Schwefel und Queck-silber sind nicht die Elemente im heutigen Sinne zu verstehen, son-dern flüchtige, ätherische Essenzen, eher Eigenschaften als Stoffe,die sich in allen damals bekannten sieben Metallen in unterschiedli-chem Verhältnis mischten.

Von der pseudotheoretischen Fassade abgesehen sind Jabirs Schrif-ten relativ unkompliziert und deutlich formuliert, sofern sie die Her-stellung chemischer Substanzen beschreiben. Abu Bakr Muhammadibn Zakariya al-Riza (latinisiert Rhazes), der große arabische Arzt deszehnten Jahrhunderts, gibt in seinen exakten Vorschriften auch sehrpräzise Mengen an:

»Nimm zwei Teile ungelöschten Kalk und einen Teil gelbenSchwefel und digeriere beides mit dem vierfachen [Gewicht] Was-ser, bis es rot wird. Filtere es und wiederhole den Vorgang, bissich die rote Farbe zeigt. Sammle alles Wasser und koche es, bisnur noch die Hälfte übrig ist. Dann kannst du es verwenden.«

Wer dies tut, erhält Calciumpolysulfid, eine Substanz, die die Farbemancher Metalle oberflächlich ändert. Diesen Effekt brachte man mitder Transmutation, dem wichtigsten Ziel der späten Alchimisten, inZusammenhang.

Westliche Alchimisten und Handwerker kopierten diese quantitati-ven, auf sorgfältigen Wägungen und Messungen beruhenden Rezep-te im frühen Mittelalter nahezu kritiklos. Die Alchimie galt jedochnicht als respektable Wissenschaft; der naturwissenschaftliche Lehr-plan an Universitäten beschränkte sich auf Geometrie, Astronomieund die Mathematik der musikalischen Harmonie. Obwohl die Al-chimie das quantitative Vorgehen förderte und die Erfindung neuerGerätschaften motivierte, blieb sie deshalb eine Spielart der Koch-kunst, gelernt aus Büchern; die Messungen, die sie erforderte, fandennicht wirklich Eingang in die naturwissenschaftliche Methodik. Feh-ler in den alten Schriften wurden dabei regelmäßig weitergetragen.Ein mittelalterliches Rezept zur Herstellung des leuchtend roten Pig-ments Vermillon aus Schwefel und Quecksilber – für Alchimisten ei-

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ne offensichtlich interessante Umsetzung – verlangte viel zu vielSchwefel, weil es auf den theoretischen Überlegungen der arabischenAlchimisten über das »richtige« Verhältnis zwischen den beiden Aus-gangsstoffen beruhte und nicht auf den Proportionen, die für die che-mische Reaktion geeignet sind.

Nur eine kluge, außergewöhnliche Persönlichkeit konnte in diesemUmfeld erkennen, dass sich durch Messungen mehr über die Welt er-fahren lässt. Ein solcher Mann war Kardinal Nikolaus von Cusa (1401–1464), einer der vergessenen Helden der frühen Naturwissenschaftenund ein Bilderstürmer, fest entschlossen, seine Weisheit nicht aus al-ten Büchern zu beziehen, sondern sich selbst eine Meinung zu bilden.In seinem Buch Die belehrte Unwissenheit (»De Docta Ignorantia« – einTitel, der die Vorliebe der Gelehrten widerspiegelt, widersprüchlicheHypothesen aufzustellen und dann zusammenzuführen), erschienen1440, vertrat er (hundert Jahre vor Kopernikus) die Ansicht, die Erdekönne nicht der Mittelpunkt des Sonnensystems sein. Die Erde, sag-te Nikolaus, sei eine Kugel, die um ihre Achse rotiert, größer als derMond, aber kleiner als die Sonne. Und sie bewege sich.

Für seine naturphilosophischen Untersuchungen verwendete Ni-kolaus Feinwaagen und Zeitmesser, beispielsweise Sanduhren. Erschlug vor, die Geschwindigkeit fallender Körper mithilfe eines Fall-turms festzustellen, und riet zur Vorsicht: Bei einem solchen Experi-ment müsse man den Luftwiderstand berücksichtigen. Dies zeigt,dass Nikolaus nicht nur über quantitative Fragen nachdachte (jeder-mann wusste, dass alle Gegenstände zur Erde fallen – wer aber küm-merte sich um die Fallgeschwindigkeit?), sondern auch in der Lage war,einen Versuch zu idealisieren: Er wollte das Resultat nicht unbesehenhinnehmen, sondern überlegte, welche Faktoren es stören könnten.

Nikolaus’ Zeitgenossen machten die Sterne für Naturereignisse al-ler Art, unter anderem das Wetter, verantwortlich. Er aber lachte dieAstrologen aus, nannte sie »Dummköpfe mit ihren Einbildungen«und meinte, das Wetter sei nicht durch das Vermessen von Bewegun-gen der Himmelskörper, sondern durch die Untersuchung der Luftvorherzusagen. Man brauche, so sagte er, nur ein bisschen Wolle ander Luft liegen zu lassen: Droht Regen, dann lässt die steigende Luft-feuchtigkeit die Wolle fühlbar feucht werden. Diese Beobachtung lässtsich sogar mit Zahlen untermauern – wie hoch die Luftfeuchtigkeitist, kann man durch das Abwiegen der Wolle (also die Quantifizie-rung des gebundenen Wassers) ermitteln.

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Nikolaus hatte auch eine gute Idee, wie man dem Geheimnis desPflanzenwachstums auf die Spur kommen könnte. Das Konzept desWachstums aus dem Samen war ein zentrales Sinnbild der neoplato-nischen mystischen Philosophie, der Basis eines Großteils der mittel-alterlichen Magie und Alchimie. Nikolaus erkannte die Chance, die-ser Frage durch ein quantitatives Experiment auf den Grund zu ge-hen:

»Wenn ein Mann ein Hundredweight Erde in einen großen irde-nen Topf gibt, einige Kräuter und Samen abwiegt, hineinpf lanztoder sät und sie dann so lange wachsen lässt, bis er nach undnach ein Hundredweight davon hat, dann würde er feststellen,dass sich noch immer fast ein Hundredweight Erde im Topf befin-det. Daraus könnte er schließen, dass die Masse der gewachse-nen Kräuter ausschließlich aus dem Wasser stammt.

Der Vorschlag war gut; in die Tat umgesetzt wurde er aber erst zwei-hundert Jahre später.

Ein unbequemer Einsiedler

Nikolaus hatte nicht annähernd so stark unter Repressalien zu lei-den wie Galilei, der das Pech hatte, die Idee eines heliozentrischenWeltsystems in weniger toleranten Zeiten zu vertreten. Galileis »Mar-tyrium« war allerdings vergleichsweise gelinde: Giordano Bruno, einweiterer heliozentrischer Rebell, brannte 1600 auf dem Scheiterhau-fen – nicht als revolutionärer Wissenschaftler, sondern als Ketzer. DerHausarrest, zu dem Galilei verurteilt wurde, wirkt im Vergleich dazuharmlos, doch die Bedrohung, dass er sich in etwas Schlimmeres ver-wandeln konnte, war allzeit gegenwärtig.

Im Wesentlichen aus diesem Grund blieben Jan Baptista van Hel-monts Arbeiten zu seinen Lebzeiten (1579–1644) unveröffentlicht.Auf Befehl der Inquisition nach Vilvoorde im Herzogtum Brabant ver-bannt, vermied der Forscher jeden weiteren Ärger mit der kirchlichenObrigkeit. Van Helmont (Abbildung 1) war kein Aufwiegler; er zog einbemerkenswert ruhiges und zurückgezogenes Leben vor. MehrereAngebote, bei Hofe als Leibarzt verschiedener Prinzen tätig zu wer-den, lehnte er ab. Hinter der Fassade äußerlicher Zurückhaltung aber

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war van Helmont ehrgeizig bestrebt, eine chemische Philosophie vonverblüffender Reichweite – tatsächlich die letzte ihrer Art – zu schaf-fen. Forderte man ihn auf diesem Gebiet heraus, so nahm er kein Blattvor den Mund.

Van Helmont studierte an der Universität von Louvain, verzichteteaber auf einen akademischen Grad, da er derlei als pure Eitelkeit emp-fand. Abgesehen von der Unabhängigkeit des Geistes war er zunächstein eher traditioneller Mediziner; erst nachdem ihn eine Salbe, ange-fertigt gemäß der chemischen Medizin des Schweizer BilderstürmersParacelsus, von einer Flechte kuriert hatte, wandte er sich der »Phy-sick« der neuen Art zu. Die klassische Medizin der Renaissance, in

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Abb. 1 Jan Baptista van Helmont, f lämischer Arzt und Alchimist.(Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Library and InformationCentre, Royal Society of Chemistry)

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der Tradition des griechischen Arztes Hippokrates und des RömersGalen, betrachtete vier körpereigene Flüssigkeiten, die »Säfte«, als be-stimmend für die körperliche Verfassung. Paracelsus (1493–1541) be-hauptete im Gegensatz dazu, dass jedes einzelne Krankheitsbild mitspezifischen, aus der Pharmakopöe der Natur mithilfe der alchimisti-schen Kunst gewonnenen Heilmitteln behandelt werden müsse. Ei-nige Jahrzehnte nach dem Tod des Paracelsus wurden seine Ideen inganz Europa populär. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts stan-den in der Medizin zwei Fronten, die Galenisten und die Paracelsia-ner, einander gegenüber.

Van Helmont studierte die Schriften des Paracelsus und fand da-rin viele Gedanken, die ihm vernünftig erschienen. Allerdings war erkeinesfalls ein unkritischer Schüler. Paracelsus umgab seine chemi-sche Medizin gern mit einem Nebel obskurer Teminologie undschwülstiger Erklärungen. Die Menschheit, schrieb er, sei ein Mikro-kosmos, der sich im Makrokosmos des Universums spiegele; Störun-gen des Körpers könnten deswegen mit Störungen in der Natur ver-glichen werden, beispielsweise die Fallsucht (Epilepsie) mit demZucken der Erdoberfläche bei einem Erdbeben. Dieses Konzept derKorrespondenz zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gehört zuden zentralen Bausteinen der neoplatonischen Philosophie und warauch bei den Alchimisten aus Jabirs Schule beliebt. Van Helmont hin-gegen empfand diese Argumentation als reine Mystik – und die lehn-te er rundweg ab.

Stattdessen machte er sich an die schwierige Aufgabe, das Bewah-renswerte in Paracelsus’ Schriften vom Unsinn zu trennen – andersausgedrückt, die chemische Medizin von der chemischen Philosophiezu säubern. Allerdings bedeutet das nicht, dass van Helmont seiner-seits überhaupt nicht an Übernatürliches glaubte. Wie Paracelsus saher die Basis der Chemie in der christlichen Theologie. Seiner Mei-nung nach ersetzte er konsequent Spekulation durch strenge Theorie.Aus heutiger Sicht aber haben die Philosophien von Paracelsus undvan Helmont sehr viel gemeinsam.

So war von Helmont unter anderem ein Befürworter der paracelsi-schen Waffensalbe, einer Idee, die heute wie lächerliches Hokuspokusanmutet. Wunden, die von einer scharfen Waffe geschlagen wurden,sollte man mit einer speziell angefertigen Salbe behandeln, die nichtetwa auf den Schnitt, sondern auf die Klinge aufgetragen wurde. Sounwahrscheinlich es auch ist, dass auf diese Weise je einem Verwun-

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deten Heilung gebracht wurde – van Helmont war überzeugt, dassdieser Vorschrift eine vollkommen rationale, mechanistische Erklä-rung zugrunde liegt. Die Naturmagie der Neoplatonisten war mehrals nur Aberglauben. Sie beruhte auf der Vorstellung, die Welt sei vollvon verborgenen Kräften; als unanfechtbares Beispiel wurde der Mag-netismus betrachtet. Die Waffensalbe sammelte diese Kräfte, mit de-ren Hilfe sich die Lebensgeister des Bluts an der Klinge mit dem Blutim lebenden Körper vereinigen sollten.

Eine Schrift, in der van Helmont die Waffensalbe 1621 verteidigte,wurde von einem prominenten Jesuiten angegriffen. Van Helmontantwortete mit einer Darstellung des Wirk»mechanismus« und ver-glich diesen unvernünftigerweise mit der Art und Weise, in der reli-giöse Reliquien Heilung »aus der Ferne« bewirken können. DieseÜberlegung fand die Universität von Louvain skandalös. Van Hel-mont wurde der spanischen Inquisition (zu dieser Zeit wurden dieNiederlande von den Spaniern regiert) vorgeführt, der Ketzerei fürschuldig befunden und konnte froh sein, nichts Schlimmeres als ei-nen Aufenthalt im Kerker erlitten zu haben, als einflussreiche Freun-de ihn befreien konnten. Danach war es van Helmont verboten,Schriften zu publizieren, die nicht zuvor durch die Zensur der Kirchegegangen waren. Sein Haus durfte er ohne spezielle Erlaubnis desErzbischofs von Mechelen nicht verlassen. Dieser Hausarrest wurdeauch nicht gelockert, wenn die Pest wütete; während einer Epidemieweigerte sich die Familie, ihn allein in der Stadt zurückzulassen, undzwei seiner Söhne fielen der Seuche zum Opfer.

Erst nach seinem Tod veröffentlichte sein Sohn und Erbe Francis-cus Mercurius seine Manuskripte über Chemie und Medizin. Die ge-sammelten Werke erschienen in lateinischer Sprache unter dem TitelOrtus Medicinae (eine deutsche Ausgabe unter dem Titel Aufgang derArtzney-Kunst, übersetzt von Christian Knorr von Rosenroth, er-schien 1683).

Ortus Medicinae enthält eine Fülle bemerkenswerter Ideen, insbe-sondere die Überlegung, dass die Verdauung (von Paracelsus als al-chimistischer Prozess betrachtet, gesteuert von Archeus, dem »inne-ren Alchimisten«) eine Art Gärung unter Mitwirkung einer Säure sei.Das Werk ist ein kurioses Gemisch aus Alt und Neu, Vorausblick undRückschritt. Als die mechanistische Philosophie von Descartes undseinen Anhängern eben in Europa Fuß zu fassen begann (und kurzbevor Isaac Newton sie in Principia Mathematica verfeinern sollte),

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stellte von Helmont die kartesische Trennung von Leib und Seele inFrage, indem er eine Art Lebenskraft postulierte, die alle Materie zumLeben erweckt. Diesen »Weltgeist«, von ihm spiritus mundi genannt,wollte er durch Destillation von Blut finden.

Gleichzeitig rief er dazu auf, der allein auf logischem Denken undmathematischer Abstraktion beruhenden Wissenschaft ein Ende zubereiten. Wissenschaft sollte sich stattdessen auf die Beobachtung,auf Experimente stützen. Um zu zeigen, wie weit man es mit diesemAnsatz bringen könnte, erklärte von Helmont, wie er nachgewiesenhatte, dass sämtliche Materie aus Wasser besteht.

Nun ja, nicht ausschließlich aus Wasser; noch ein zweites aristote-lisches Element fand Gnade vor van Helmonts Augen, nämlich dieLuft. Diese Luft aber, sagte er, sei inert und unveränderlich – und al-les andere sei folglich Wasser. »Erdboden, Lehm und jeder fassbareKörper ist wahrhaftig und stofflich ein Abkömmling des Wassers;durch Natur und durch die Kunst wird alles wieder zu Wasser ge-macht.«

Um diese Behauptung zu stützen, erläuterte van Helmont, wie er»durch Arbeit mit eigener Hand erfahren habe, dass alle Pflanzen un-mittelbar und stofflich aus dem Element Wasser allein entstehen.«Ob er den Vorschlag des Nikolaus von Cusa kannte oder nicht – je-denfalls hat er ihn in die Tat umgesetzt.

Sein Experiment erforderte eine Art von Geduld, die ein lebens-langer Hausarrest befördern mag. Van Helmont trocknete 200 PfundErde in einem Ofen, feuchtete sie mit Regenwasser an und gab sie ineinen Kübel. Hinein pflanzte er einen fünf Pfund schweren Weiden-schössling. Dann wartete er fünf Jahre lang ab.

Wenn nötig, goss er seinen Baum; ansonsten sorgt er dafür, dass imBlumentopf keine Fremdstoffe landeten. Um beispielsweise Staubfernzuhalten, bedeckte er »die Öffnung des Gefäßes mit einer Eisen-platte, die mit Zinn überzogen und mit vielen kleinen Löchern verse-hen war, um Wasser und Luft durchzulassen«. Mit anderen Worten:Wie Nikolaus von Cusa versuchte van Helmont, äußere Einflüsse, dieseine Resultate verfälschen könnten, möglichst auszuschließen.

Als die fünf Jahre vergangen waren, wog er Baum und Erde einzweites Mal. Letztere hatte um zwei Pfund abgenommen; der Baumhingegen war enorm groß geworden. »Einhundert und vierundsech-zig Pfund Holz, Rinde und Wurzeln sind allein aus Wasser entstan-den«, stellte er fest und fügte hinzu, das Gewicht der Blätter, die im

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Laufe der Zeit gewachsen und wieder abgefallen waren, dabei nochgar nicht berücksichtigt zu haben.

Man könnte hier einwerfen, dass sich diese exakte quantitative Ar-beit hier gar nicht lohnt: Jedermann sieht sofort, dass die Erde nichtwesentlich abgenommen hat, während der Baum deutlich gewachsenist. Und worin liegt die Bedeutung der »164 Pfund«, wenn die Masseder Blätter fehlt? Darum geht es aber gar nicht. Zahlen sind harte, un-bestreitbare Fakten. Jeden, der an seiner Interpretation zweifelte,konnte van Helmont auffordern, freundlicherweise die Herkunft von164 Pfund Materie zu erklären (und Sie können sich vorstellen, wieabsurd der Gedanke gewirkt hätte, diese Masse können ausgerechnetaus der Luft stammen!)

Die Schönheit dieses Experiments liegt in der Klarheit der Kon-zeption: Was hätte übersehen werden können, wo könnten sich Feh-ler eingeschlichen haben? Hinzu kommt das Vertrauen auf die Zahl,das die Anekdote zu einem wissenschaftlichen Ergebnis macht. An-gesichts dessen ist es wahrlich schockierend, dass van Helmontselbstverständlich Unrecht hatte – Holz entsteht nicht nur aus Was-ser, sondern auch aus atmosphärischem Kohlendioxid, das von denBlättern aufgenommen und durch die Photosynthese in Zelluloseumgewandelt wird. Am Aufbau des Experiments und an van Hel-monts Interpretation lässt sich gleichwohl nichts aussetzen; vernünf-tigerweise können wir keine andere Schlussfolgerung erwarten. Da-rin liegt sicherlich eine ernüchternde Botschaft an den modernen Na-turwissenschaftler: Fehlt ein wichtiges Mosaiksteinchen, kann derSchein trügen, auch wenn das Resultat ganz »offensichtlich« ist.

Das Ende eines Zeitalters

Van Helmont trug noch mehr Beweise für die grundlegende Rolledes Wassers zusammen; sie waren allerdings von untergeordneter Be-deutung, weil ihnen die quantitative Exaktheit fehlte. Wovon leben Fi-sche, wenn nicht von Wasser? Verwandeln sich nicht alle festen Stof-fe in Wasser, sobald sie damit in Berührung kommen – Salze zumBeispiel, die sich zu »wohlschmeckenden Wässern« lösen? Natürlichkannte van Helmont jede Menge unlösliche Festkörper, aber er war(nicht ganz zu Unrecht) der Meinung, für jeden werde sich im Laufeder Zeit ein geeignetes Lösungsmittel finden. Er sprach von einem

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»universellen« Lösungsmittel, das alles und jedes auflöst. Vielefruchtbare Arbeitsstunden verbrachte er mit der Suche nach diesemAlkahest. (Worin hätte er es wohl aufbewahren wollen, falls seine Su-che erfolgreich gewesen wäre?)

Ebenso bedeutsam waren die Beweise, die er der Heiligen Schriftentnahm. Besagte die Schöpfungsgeschichte nicht eindeutig, dassGott die Welt aus Wasser geschaffen hat, »Wasser von Wasser« schiedund das Wasser unterhalb des Himmels an einem Ort sammelte, da-mit das Trockene sichtbar wurde? In der Morgendämmerung der Auf-klärung wurden theologische Aspekte in der Naturwissenschaft nochernst genommen.

Um seine Argumente zu untermauern, führte van Helmontschließlich noch ein hübsches alchimistisches Kunststückchen insFeld: Er konnte sogar Sand in Wasser verwandeln, indem er ihn miteinem Alkali zu »Wasserglas« (Natriumsilicat) schmolz, das sichwiederum durch Aufnahme von Luftfeuchtigkeit allmählich »ver-f lüssigte«. Man brauchte nur eine Säure zuzugeben, um die einge-setzte Menge Sand zurückzubekommen. Hier spielten wieder Quan-titäten eine Rolle: Van Helmont war von der Unzerstörbarkeit der Ma-terie überzeugt, weshalb sämtliche Umwandlungen unter Erhaltungder Masse verlaufen mussten.

Van Helmont kam nicht als Erster auf die Idee, die Welt könne ausWasser bestehen. Diese Ansicht vertrat lange vor ihm (im 16. Jahr-hundert v. Chr.) schon der griechische Philosoph Thales, Gründer dereinflussreichen Ionischen Schule, der im Übrigen ganz ähnlich ar-gumentierte: Wasser kann durch Verdampfung in »Luft« verwandeltwerden und durch Gefrieren in »Erde«, also einen Festkörper. DieseTheorie setzte sich genauso wenig durch wie später die Ansichten vanHelmonts.

Für dieses Scheitern gibt es keinen zwingenden wissenschaftlichenGrund; man könnte eher ungünstigen Umständen die Schuld geben.Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass die allumfassenden »chemi-schen Philosophien«, die in van Helmonts Arbeiten zu einer letztenBlüte kamen, gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts von Descar-tes’ mechanistischer Wissenschaft in den Hintergrund gedrängt wur-den. Van Helmont trug zwar dazu bei, Paracelsus’ Arbeiten auf einerationalere Basis zu stellen, ging aber lange nicht weit genug. Männerwie die beiden Deutschen Andreas Libavius und Johann Rudolf Glau-ber befreiten die Chemie wesentlich konsequenter von ihren neopla-

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tonisch-magischen Fesseln. Am Jardin du Roi, der königlichen medi-zinisch-pharmazeutischen Lehranstalt in Paris, entwickelte sich dieAlchimie weiter zur akademischen Disziplin der »Chymie«. 1661,Jahrzehnte vor dem Erscheinen von Aufgang der Artzney-Kunst, legteRobert Boyle mit The Sceptical Chymist bereits seine epochale Kritikan der althergebrachten Chemie vor – worin er zur Vorsicht bei derDefinition eines »Elements« riet und davor warnte, über verfügbareBeweise hinaus zu extrapolieren.

Naturforscher des siebzehnten Jahrhunderts konnten außerdemzwischen mehreren »Element«-Systemen wählen; einige davon wa-ren Verschmelzungen des aristotelischen Quartetts mit Paracelsus’ al-chimistischem Dreigestirn (Quecksilber, Schwefel, Salz). Van Hel-monts Zwei-Elemente-Schema bietet demgegenüber keinen sichtba-ren Vorzug. Nicht hilfreich war überdies, dass chemische Philoso-phien zunehmend mit politisch radikalen Kräften in Verbindunggebracht wurden, wie den böhmischen Rebellen, die mit ihrer Weige-rung, die Autorität des Heiligen Römischen Reichs anzuerkennen,1619 einen Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg lieferten. Auch inEngland wurde Radikalismus dieser Art von Cromwells Puritanernkritisch beäugt.

Van Helmont aber hinterließ andere bleibende Spuren. Er interes-sierte sich für den »Geist«, der in chemischen Prozessen wie bei-spielsweise Verbrennungen freigesetzt wurde und sich zweifelsfreivon gewöhnlicher Luft unterschied. Einen solchen Dampf, den »Holz-geist«, sammelte er über glühender Holzkohle; er stellte fest, dass die-ser Geist Flammen löschen konnte. Seiner Überzeugung nach leite-ten sich die Dämpfe nicht von Luft, sondern von Wasser ab, weshalber entschied, ihnen einen neuen Namen zu geben. Dazu borgte er sichbei Paracelsus das alte griechische Wort chaos und transliterierte esins Flämische: Gas. Herauszufinden, was Gase wirklich sind, standganz oben auf der Tagesordnung der Chemiker des nachfolgendenJahrhunderts.

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