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Kay Scarpetta bittet zu Tisch

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BuchDie Woche zwischen Weihnachten und Neujahr ist für

Kay Scarpetta, ihren langjährigen Kollegen Fete Marinound ihre Nichte Lucy Farinelli eine ganz besondere. Schonseit Jahren treffen sich die drei am 2. Weihnachtsfeiertag,um die Verbrechen des vergangenen Jahres zu vergessen.

Dann trennen sich ihre Wege: Lucy verbringt die Ferienallein in Kays Haus, Kay verreist zu ihrer Mutter undSchwester nach Miami, während Pete trotz der FeiertageDienst schiebt. Doch den dreien gemeinsam ist dieLeidenschaft fürs Kochen, bzw. in Petes Fall fürs Essen.Jeder hat für besondere Gelegenheiten das passendeKochrezept parat: Kays Festtagspizza für Lucy und Peteoder die Schlechte-Laune-Frühlingsnudeln für ihre Mutter;Petes todbringender Eggnog oder sein Chili auf dieSchnelle für einen Überraschungsgast; und nicht zuletztLucys verbrecherische Plätzchen und diverse andereKleinigkeiten für ihre ständig hungrigen Freunde undKollegen vom FBI.

Kay Scarpetta bittet zu Tisch gestattet einen humorvollenund doch einfühlsamen Blick hinter die Kulissen derungewöhnlichen Krimihelden aus Patricia CornwellsBestsellern. Feiertagsdepression,

Verwandtschaftsüberdosis, selbstgewählte Isolation an

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geselligen Tagen -selbst Helden müssen manchmal leiden.Und angesichts der Feiertagsvöllerei wird noch etwas klar:auch in Richmond, Virginia, scheint das alte Sprichwort zugelten: »Ein guter Magen kann alles vertragen.«

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AutorinPatricia Cornwell arbeitete als Gerichtsreporterin und

Computerspezialistin in der forensischen Medizin, bevorsie für ihre Thriller um Kay Scarpetta in den USA, inGroßbritannien und Frankreich mit hohen literarischenAuszeichnungen bedacht wurde. Die Autorin lebt inRichmond, Virginia, und Malibu. Weitere Titel sind inVorbereitung.

Bei Goldmann bereits erschienen Die Tote ohne Namen. Roman(43536) Ein Fall für Kay Scarpetta. (Mord am Samstagmorgen) Roman(44138) Ein Mord für Kay Scarpetta. Roman (44230) Trübe Wassersind tief. Roman (43537)

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Patricia Cornwell

Kay Scarpetta bittet zu Tisch

Aus dem Amerikanischen von Peter Beyer

GOLDMANN

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel

»Scarpetta’s Winter Table« bei Wyrick & Company, Charleston.

Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchessind chlorfrei und umweltschonend.

Deutsche Erstausgabe 11/1999

Copyright © der Originalausgabe 1998 by Cornwell Enterprises, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by WilhelmGoldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Berteismann GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Bavaria / VCL

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck: Presse-Druck Augsburg

Verlagsnummer: 44541 FB

Herstellung: Sebastian Strohmaier

Made in Germany

ISBN 3-442-44541-8

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Für Charlie

Editor & Freund

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1Der Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages war kalt

und windig. In dem ruhigen Viertel von Richmond, in demDr. Kay Scarpetta wohnte, waren die Bäume kahl undknarrten im Wind. Kerzen erhellten die Fenster ihresmodernen Steinhauses, und ein üppiger Kranz ausImmergrün und Stechpalmen hing in der Mitte der mitSchnitzereien verzierten Eingangstüre. Scarpetta hatte dieHecke neben der Veranda mit kleinen weißen Lichterngeschmückt und große rote Schleifen an den Lampenbefestigt. Seit dem frühen Nachmittag war sie in der Küchezugange, und jetzt hatten sich ihre Gäste eingefunden.

»Das reicht jetzt aber mit dem Sprit«, mahnte ScarpettaPete Marino, Chef der hiesigen Polizei, mit dem sie schonjahrelang zusammenarbeitete. »Bitte keineAlkoholvergiftung in meinem Haus!«

Marino hörte ihr gar nicht zu, sondern kippte zwei weitereSchnapsgläser Original Virginia Lightning in den Mixer.Jeder Gast sollte etwas ganz Besonderes zu dem Abendbeitragen, und sein Beitrag war Eggnog, wie an jedem 26.Dezember, dem schwärzesten Tag im Jahr. Scarpettabestand darauf, daß sie ihn immer alle drei gemeinsamverbrachten.

»Sie müssen ja nicht so viel davon trinken«, sagte

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Marino. »Ein, zwei Schlückchen, und dann kommt dasnächste an die Reihe.«

»Und was wäre das nächste?« fragte sie und klopfte miteinem langen Holzlöffel gegen den Topf. »Wo sind diegeräucherten Austern?«

»In der Speisekammer.«

»Gut. Man kann sie nicht einfach weglassen.«

»Das tue ich nie. Ganz egal, wer sie außer mir nochmag.«

»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Marinozufrieden.

Er war ein großer Mann mit riesigen Händen, mit denener finstere Gestalten an der Flucht hindern und sie zuBoden werfen konnte. Sein rotes Karohemd spannte überdem Bauch, und sein schütteres graues Haar warungebändigt. Scarpetta rührte die Tomatensauce, die aufdem Herd köchelte.

»Wein haben Sie aber doch, oder?« fuhr er fort. »Ichdenke, ich könnte heute abend mal zivilisiert auftreten undetwas anderes als Bier trinken. Hier, probieren Sie mal,Doc.«

Er goß einen Schluck Eggnog in ein Wasserglas undreichte es ihr. Sie nippte daran, und ihre Lippen brannten.Der Korn wärmte ihre Kehle und erhitzte den Magen. DieGedanken wurden klarer. Vieles, das nur vage und formlos

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gewesen war, gewann scharfe Konturen.

»Wow«, sagte die unerschrockene Rechtsmedizinerinaus Virginia. »Auf den Punkt. Dagegen läßt sich nichtssagen. Heute abend setzt sich niemand mehr ans Steuer.Um genau zu sein, verläßt heute keiner mehr auch nur dasHaus.«

»Ich bin noch gar nicht ganz fertig, er wird also nochbesser. Jetzt muß er erst mal eine Weile ruhen. Für einpaar Stunden haben Sie nichts zu befürchten. Jedenfallslang genug, um Ihre Pizza zuzubereiten. Um die kommenSie nämlich nicht herum. Schließlich machen Sie höchstenseinmal im Jahr Pizza.«

Tatsächlich verfügte Scarpetta sonst nicht über die Zeit,den halben Tag in der Küche zu stehen. Und obwohl Pizzaeigentlich kein Festtagsessen war, wurde sie doch bei ihrzu einem unvergeßlichen Erlebnis. Ihre Spezialität war eineeinzigartige Mischung aus Italien, Miami undEinfallsreichtum. Bisher war noch jeder, den sie zum Esseneingeladen hatte, ein anderer Mensch geworden.Scarpetta kochte mit Liebe und Phantasie. Ihre Kreationensollten besänftigen, heilen und Anflüge von Einsamkeitlindern. Jedem, den sie zum Essen einlud, widmete siesich von ganzem Herzen.

»Wo bleibt der Eggnog?« meldete sich Lucy Farinelliaus dem Wohnzimmer. Sie war Agentin des ATF, desBureau of Alcohol, Tobacco und Firearms, und Scarpettaseinzige Nichte. »Immer mit der Ruhe!« rief Marino zurück.

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»Ich will ihn aber jetzt!« »Pech gehabt!« »Wann denn?« »Inein paar Stunden!«

»Niemals! So lange halte ich es nicht mehr aus!« »KeinEggnog vor seiner Zeit!« donnerte Marino. »Dann gehe ichjetzt eben joggen. Meine Güte, immer dieseEnttäuschungen!«

»Tante Kay sagt, du kannst jetzt nicht gehen!« Lucysteckte ihre Sig Saur 9-mm-Pistole in das Schulterhalfterund schlang es sich bequem um die Hüfte. Sie ging in dieKüche und umarmte ihre Tante von hinten. Scarpettalächelte und rührte weiter. Lucy schnitt Marino eine Fratze.

»Weißt du noch, wie Marino seinen ersten Eggnog füruns gemacht hat?« erinnerte Lucy sie. »Wilden Truthahn,und zwar in rauhen Mengen. Rote Lebensmittelfarbe wegenWeihnachten, klar. Schlagsahne mit Pfefferminzbonbonsoben drauf, und das Ganze in eisgekühlten Bierkrügen. Mitdiesen abscheulichen Schokoladenplätzchen, die dugemacht hattest.« Sie zeigte auf Marino. »GrünerZuckerguß. Kleine Weihnachtsbäumchen ausCocktailzahnstochern, die in der Mitte steckten — undinnen waren sie roh!«

»Du machst mich noch ganz krank!« rief Scarpetta. Lucybrach in lautes, unkontrolliertes Lachen aus. Sie hielt sichden Bauch, hopste in der Küche von einem Fuß auf denanderen und kam aus dem Prusten gar nicht mehr heraus.Ihre Tante rührte derweil weiter um.

»Und an die Bäume hat er kleine rote Liebesperichen

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geklebt. Wie Ornamente. Und Sternchen oben dran. Wieman es im ersten Ausbildungsjahr für die perfekteBedienung lernt!«

Lucy konnte kaum noch sprechen, da ihre Augen vorLachen und Kreischen tränten.

Marino betrachtete sie finster.

»Jeder muß schließlich irgendwo anfangen«, sagte erdann.

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Marinos todbringenderEggnog

Heute abend wollte er drei Leute bewirten, doch es warnun einmal seine Art, von allem mehr zuzubereiten alsgesund oder notwendig war. Wenn man ihn ansah, konnteman seinen Arbeitsstil, ohne daß es eines weiterenBeweises bedurft hätte, aus dem geröteten Gesicht undseiner beachtlichen Körpergröße ableiten. Er begann miteinem Dutzend Eier, die er allesamt mit Gewalt aufschlug.Das Eigelb wanderte in den Mixer, das Eiweiß in eineSchüssel aus rostfreiem Stahl. Er schlug das Eigelb steifund zog ein Pfund Puderzucker darunter.

Während der Normalsterbliche Eggnog zumeist mitdunklem Rum oder Bourbon macht, untergräbt Marino dieÖkonomie Virginias und ist Stammkunde einer kleinenDestillerie in Familienbesitz, die Alkohol schwarz brennt.Falls Sie beim Einkaufen hervorragenden Branntweinsuchen, sollten Sie unbedingt ein paar Dinge beachten. Ersollte legal sein, und der Destillierkolben muß regelmäßigvon der ATF kontrolliert werden. Wichtig ist auch, daßKupferröhren, Kupferkessel, gefiltertes Wasser undhochprozentiger Korn verwendet werden. Der gute Stoff istden leichtentzündlichen Dämpfen, diebewußtseinsverändernd wirken, nicht unähnlich. Marino

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trinkt seinen Korn ab und zu gern aus einemSchnapsgläschen, er ist jedoch auch mit Eggnog gutverträglich, was ihm einen leicht veränderten Charakterverleiht. Marinos Eggnog ist für Kriminelle, aber auch fürjene, die gegen solche zu Felde ziehen.

Er wird Sie aufputschen — oder zum Schweigen bringen.Wenn Sie ihn nicht gewöhnt sind, sollten Sie ihn nur trinken,wenn Sie innerhalb der folgenden zwölf Stunden nichtvorhaben, zu verreisen oder sich auch nur schnell zubewegen.

In diesem Stadium muß Marinos Mischung so lange imKühlschrank in Verwahrung genommen werden, bis dieAromastoffe des Eis sich abgesetzt und dem starkenEinfluß des Alkohols nachgegeben haben.

Gegen fünf Uhr, als Lucy sich vor dem Kamin streckteund angesichts der Kälte warm anzog und Scarpetta nochetwas frischen Oregano in die Sauce gab, nahm Marinoden Mixer aus dem Kühlschrank. Er schüttete die ersteMischung in eine große Edelstahlschüssel und schlug miteinem Handmixer zwei Liter Schlagsahne unter. AlsScarpetta gerade nicht hinschaute, goß er schnell noch vierweitere Schnapsgläser Virginia Lightning dazu. Dannstellte er seine feurige Erfrischung zurück in denKühlschrank, wo sie noch ein Weilchen ausharren mußte.

Eine Stunde später joggte Lucy immer noch durch dieStraßen des West End, und Scarpetta legte mit einemheißen Zimttee in der Hand eine Arbeitspause ein. Marino

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schlug das Eiweiß, bis es steif, aber nicht trocken war, undgab es dann häufchenweise in die Schüssel. Er fügte dieEimixtur hinzu, wobei er sie beständig mit dem Quirlbearbeitete, bis sein Gebräu schaumig war. Er goß einGlas für Scarpetta und eins für sich ein und bestreute beidegroßzügig mit Kakaopulver.

»Fröhliche Weihnachten«, sagte er und stieß mit ihr an.

»Vielleicht wird das nächste Jahr ja besser.«

»Was war denn so schlecht an diesem?« wollte siewissen. »Ich kann nicht fassen, daß Lucy immer nochdraußen im Dunkeln herumläuft. Sie wissen doch, wiegefährlich das ist, Doc. Es gibt hier in der Gegend kaumStraßenlaternen, und die Gehsteige sind alle geborsten vonden Baumwurzeln. Vom Fahrstil der meisten Leute hier ausder Gegend einmal ganz abgesehen. Die jungeSportskanone glaubt wohl, ihr könne nichts und niemandetwas anhaben.«

»Müssen Sie gerade sagen, was?«

»Tja, mich gibt es aber noch, oder? Und zwar schon einganzes Weilchen länger als sie.«

»Ich glaube, Lucy kann ganz gut selbst auf sichaufpassen«, entgegnete Scarpetta.

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2Lucys Atem ging in eisigen Zügen, während sie in

Windsor Farms die Sulgrave Road entlanglief. DasGeräusch ihrer Nikes dröhnte über das Pflaster, und siegeriet ins Schwitzen. Weder die Laternen im Kolonialstilnoch die erleuchteten Fenster konnten ihr die Dunkelheiterhellen und den Weg weisen. Sie kannte die Strecke nochaus High-School - Zeiten. Damals hatte sie die Ferienhäufig bei ihrer Tante verbracht. Nach vier Meilen ging Lucyin ein meditatives Stadium über, und ihr Geist konnte sichauf alles konzentrieren, was er wollte. Was nichtzwangsläufig etwas Gutes verhieß.

Obwohl sie ausgesprochen gut gelaunt war, war sie nichtin Höchstform. Ihrer Mutter, die sie nicht wirklichgroßgezogen und aus Weihnachten nie mehr als einenleeren, schlaff über dem Herd hängenden Strumpf gemachthatte, war sie, wie immer während der Festtage, aus demWeg gegangen. Lucy verschärfte das Tempo. Der Unmutheizte sie auf, ließ ihr den Schweiß unter dem Pulloverrinnen und trieb sie tiefer in die schwarzen Schatten derBäume, die dort schon vor dem Bürgerkrieg gestandenhatten. Mutter hatte ihr zu Weihnachten wieder einmal einKopftuch geschickt, dieses Mal in Marineblau und mitFransen, und wieder mit ihrem Monogramm in einer Ecke.

Die Monogramme machten es Lucy schwer, die Tücher

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Die Monogramme machten es Lucy schwer, die Tücheran Secondhandläden oder die Heilsarmee zu geben, unddas war natürlich von ihrer Mutter beabsichtigt. Ihre Mutterwählte die Geschenke immer im Hinblick auf sich selbstaus, sie waren eine Art Kontrollmechanismus. Sie legtekeinen Wert darauf, was Lucy sich wünschte oder was fürein Mensch sie war, und mit Tüchern war Lucy bereits bisan ihr Lebensende eingedeckt. Sie hatte auch keinenBedarf an Notizbüchern oder Kosmetiktäschchen,ebensowenig wie an vornehmen Uhren mit elastischemArmband. Sie war bei der Bundespolizei, schoß mitPistolen und der MP 5 und flog Hubschrauber. Sie liefHindernisrennen, hob Gewichte, bearbeitete Fälle vonBrandstiftung, nahm Leute fest und sagte vor Gericht aus.

Dorothy, ihre Mutter, war so anders als deren SchwesterKay, daß Lucy manchmal nicht glauben konnte, daß sie vonein und denselben Eltern abstammten. Sicher, Dorothybesaß einen überdurchschnittlich hohen IQ, verfügte jedochweder über gesunden Menschenverstand noch überUrteils-vermögen. Sie vermochte weder sich noch anderezu lieben, so sehr sie sich auch bemühte, die Leute zutäuschen.

Nie würde Lucy ihre Abschlußfeier an derPolizeiakademie in Glynco, Georgia, vergessen. Tante Kayund Marino waren dabeigewesen. Lucys Mutter hatte sichebenfalls auf den Weg dorthin gemacht, war aber aufhalber Strecke umgekehrt und nach Miami zurückgerast,nachdem sie sich mit ihrem damaligen Liebhaber amAutotelephon gestritten hatte.

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Lucy schlug nun eine Geschwindigkeit von siebenMinuten die Meile an und näherte sich mit Riesenschrittenwieder dem Haus ihrer Tante. Es ärgerte sie, daßScarpetta am nächsten Morgen nach Miami fliegen wollte,um ihre Mutter und Dorothy zu besuchen. Scarpetta würdeerst am Wochenende zurückkommen, was bedeutete, daßLucy den Jahreswechsel allein verbringen würde. Vielleichtkonnte sie in dieser Zeit ja einige ihrer Fälle aufarbeiten.

»Und du willst wirklich nicht mitkommen? Noch ist esnicht zu spät«, sagte Scarpetta, als Lucy außer Atem undmit geröteten Wangen in die Küche kam.

»O doch, es ist zu spät«, erwiderte Lucy und streifte sichihre Wollfäustlinge von den Händen.

»Probier mal. Vielleicht noch ein bißchen Basilikum?«Scarpetta tunkte den Holzlöffel in ihre Spezialsauce undhielt ihn ihrer Nichte zum Probieren hin. Lucy blies in diedampfende

Sauce, hielt ihre Lippen daran, um sich - als habe sie alleZeit der Welt - den Geschmack einer ganzen Symphonieauf ihrer Zunge zergehen zu lassen. Dann öffnete sie eineFlasche Evian.

»Ich würde nichts mehr drantun«, sagte sie nachdenklich.Ihre Melancholie hatte zugenommen, als sie ins Hausgekommen war und ihr Blick auf die gepackten Koffer ihrerTante fiel. Scarpetta hatte offensichtlich gepackt, währendsie gejoggt hatte.

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»Es ist nicht zu spät«, meinte Scarpetta, die genauwußte, wie ihrer Nichte zumute war. »Du hast noch eineganze Woche frei. Ich mache mir Sorgen um dich, wenn duallein bist. Das Haus kann eine furchtbare Leereausstrahlen. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Ich bin doch ständig allein«, hielt Lucy ihr entgegen. Sieöffnete den Kühlschrank, erspähte Marinos sündhaftenEggnog und freute sich schon darauf, von ihm überwältigtzu werden.

»Über die Ferien allein zu sein ist etwas anderes«, fuhrScarpetta fort. »Und natürlich hast du das schon oftgemacht. Zu oft. Und nie mit meinem Segen.«

Sie rupfte noch mehr Basilikum von den Zweigen, gabdie Blätter in die Sauce und rührte beim Reden um.

»Wenn du nichts mit deiner Mutter und deiner Großmutterzu tun haben willst, kann ich’s auch nicht ändern«, sagtesie. »Aber du kannst dich nicht für immer und ewigverstecken, Lucy. Irgendwann kommt der Tag derAuseinandersetzung. Warum ihn hinausschieben? Warumwillst du sie nicht so sehen, wie sie sind, und dann deinLeben weiterleben?«

»So wie du es getan hast?« sagte Lucy, aus der nun derganze Ärger hervorbrach, den sie in ihrem Herzenverborgen gehalten hatte. Scarpetta legte den Löffel hinund schaute ihrer Nichte in die Augen.

»Ich wünsche dir, daß du es viel früher hinkriegst als ich«,

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sagte Scarpetta ruhig. »Als ich so alt war wie du, Lucy,hatte ich niemanden, mit dem ich hätte reden können. Duhast wenigstens mich.«

Lucy schwieg einen Augenblick. Sie fühlte sich elend. Oftschon hatte sie eine grobe Bemerkung, eineungerechtfertigte Beschuldigung oder Beleidigungzurücknehmen wollen, die sie dem einzigen Menschen anden Kopf geworfen hatte, der ihr Liebe entgegenbrachte.

»Es tut mir leid, Tante Kay«, sagte sie.

Scarpetta wußte, daß sie es wie immer ehrlich meinte.»Aber, weißt du … Warum sollte ich hinfahren und michwieder zum Opfer machen lassen?« fing Lucy erneut an.»Um mich bei ihr für ihr gottverdammtes Tuch zubedanken? Damit sie mir Fragen über mein Leben stellenkann? Sie weiß doch nicht einmal, daß ich ein eigenesLeben führe, und vielleicht will ich ja auch gar nicht, daß siees weiß. Und möglicherweise fahre ich auch deshalb nichtmit, damit sie mir nicht, wie schon so oft, ein schlechtesGewissen einimpft.«

Scarpetta drehte sich wieder zum Herd. »Du solltest dirnie von irgendwem ein schlechtes Gewissen einimpfenlassen, Lucy«, sagte sie. »Da bin ich ganz deiner Meinung.Aber verbeiße dich nicht in dieser trotzigen Isolation, indemdu morgens, mittags und womöglich auch noch spätabendsan deinem Computer hockst oder im Schießstand stehst.Teile dein Leben mit jemandem. Du bestimmst jetzt, wo eslanggeht, nicht deine Mutter oder sonst jemand. Lache,

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erzähle Geschichten, geh ins Kino, bleib lange auf.Freunde. Irgendeinen mußt du doch haben auf dieser

Welt.«

Lucy lächelte. Sie hatte mehr als nur einen. »Lade siedoch ein«, bot Scarpetta ihr an. »Mir ist egal, wen. DasHaus ist groß genug, und der Kühlschrank ist voll.«

»Apropos«, erwiderte Lucy, »wann essen wir, und wasgibt’s zum Nachtisch?«

Mit schweren Schritten kam Marino durch die Tür. Er sahverschlafen aus, das Hemd hing aus der Hose, die Schuhewaren offen.

»Ist aber auch Zeit, daß Sie zurück sind, Miß ATF«,grummelte er.

»Du bist schuld, daß wir uns noch nicht an den Eggnogmachen konnten.« Er servierte den Drink in Whiskygläsern,und sie tranken auf ein weiteres gemeinsames Jahr.

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Scarpettas FesttagspizzaSie sollten nie auch nur in Erwägung ziehen, dieses

umwerfend herzhafte und wohlschmeckende Gericht zukochen, wenn Sie nicht reichlich Zeit mitbringen undwirklich bereit sind, harte, selbstlose Arbeit zu verrichten.Man will mit dieser Mahlzeit andere beglücken. Für sichallein nimmt man all die Mühe nicht auf sich, und dieWahrscheinlichkeit ist groß, daß man nach getaner Arbeitzu müde ist, um es genießen zu können. Es sei denn, manhat Reste für den nächsten Tag, und das kommtnormalerweise nicht vor.

Beginnen wir mit dem Einkauf. Für einige der Zutatenmüssen Sie Spezialitätengeschäfte und Feinkostlädenaufsuchen, die eine große Auswahl an Gourmetproduktenund importierten Käsen anbieten. Eine der wichtigstenZutaten, die Scarpettas Pizza von allen anderenunterscheidet, ist der VollmilchMozzarella, den sieverwendet. Man erhält ihn in Kugeln, die in Salzlakeeingelegt sind. Ungefähr vier Kugeln dürften reichen, aberdas hängt ganz davon ab, wie dick Sie die Käseschichthaben möchten und wie viele Pizzas Sie machen wollen.Nehmen Sie keinesfalls entrahmten Mozzarella! Außerdembenötigen Sie ungefähr ein halbes Pfund Fontina oderParmesan. Auch das Mehl ist ungemein wichtig. Scarpettaklappert bekanntermaßen Bagelläden ab und überredet die

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Besitzer, ihr fünf oder zehn Pfund Glutenmehl zu besorgen.Sie bevorzugt den Boden außen knusprig und innen weich.Hefe brauchen Sie auch.

Der Belag bleibt ganz Ihnen überlassen, Sie können allesverwenden, was Ihnen schmeckt. Scarpetta hat ihreeigenen Vorlieben, und für das nachweihnachtliche Essenhat sie eine Tradition entwickelt. Es ist ihre Art, das Bestebis zum Schluß aufzuheben. Als Symbol für etwasBesseres, auf das es sich zu freuen lohnt - ganz gleich, obdie Nachbarn Berge von Weihnachtsabfall herausgestellt,Vorsätze über Gymnastik und Diäten gefaßt oderVerwandte verabschiedet haben, die sie sonst nie zusehen bekommen.

Scarpetta hat folgendes auf ihrem Einkaufszettel stehen:Grüner Pfeffer, Zwiebeln, frische Krauter wie Oregano undBasilikum, frische Pilze, Artischockenherzen, mageresRinderhackfleisch, Peperoni, geräucherte Austern,italienische Würste, geschälte Tomaten (der MarkeProgresso, falls Sie keine frischen oder selbsteingemachten haben), Olivenöl, frischer Knoblauch, undder Käse, von dem schon die Rede war. Denken Sieunbedingt daran, daß Mozzarella und Gemüse beimKochen viel Wasser ziehen. Fangen Sie deshalb schon amVorabend damit an, die Mozzarellakugeln in Käsetücher(oder Handtücher) zu wickeln und in den Kühlschrank zulegen. So wird ein Teil der Flüssigkeit absorbiert.

Zerkleinern Sie das Gemüse und pochieren Sie es.

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Lassen Sie es dann in einem Sieb abtropfen und drückenSie alle Flüssigkeit aus. (Die Brühe kann man für eineSuppe oder einen Eintopf aufheben.) Legen Sie dasGemüse in eine große Schüssel und lassen Sie esabkühlen. Vermischen Sie es mit geriebenem Parmesanund Fontina. Jetzt ist es an der Zeit, mit der Sauce zubeginnen. Es ist ganz einfach. Vermischen Sie dieTomaten mit Krautern und viel gepreßtem Knoblauch undein paar Tropfen

Olivenöl. Köcheln lassen. Mit dem Dessert beginnen.

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Scarpettas Limonenkuchenaus Kindertagen

Machen Sie sich erst gar nicht die Mühe, wenn Sie nichtüber frische Limonen verfügen. Scarpetta ist eineunerbittliche Richterin, was das betrifft. Der Limonenbaumihrer Eltern trug ihre Lieblingszitrusfrucht in Hülle und Fülle.An harten, bitteren Tagen ging sie aus dem Haus undsuchte im Sonnenschein des Gartens Trost, wo dereinsame Baum, nicht viel größer als ihr Vater, am Zaunemporwuchs. Sie füllte dann ihre Taschen mit Limonen undsammelte sie in ihrem Rock. Scarpetta machte darausFruchtsaft und Kuchen, und schon ging es jedermann einklein wenig besser. War sie gekränkt, einsam oder traurig,brachte sie die Früchte zu ihren Nachbarn. Ihre Familiebesaß nur diesen einen Baum, und Scarpetta betrachteteihn als den ihren. Als sie im reiferen Teenageralter war,starb er allmählich ab. Sie besuchte eine Reihe vonGewächshäusern, zog Gartenspezialisten zu Rate sowiedas Landwirtschaftsministerium und sogar einenPflanzenpathologen aus Cornell, wo sie studierte. Sieerfuhr, daß es sich um eine Zitruskrebskrankheit handelte,der Tausende von Limonenbäumen im Süden Floridas zumOpfer gefallen waren. Sie besprühte ihren Baum mitNährstoffen und schnitt die toten Äste heraus. Sie sorgte

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dafür, daß die Wurzeln nicht vom Rasenmäher verletztwurden und der Stamm nicht in stehendem Wasser faulte.Doch mit dem Baum ging es weiter bergab: Wunden amStamm, Blätter wurden gelb und fielen ab. ScarpettasBaum war schon lange tot, bevor sie ihn aufgab. Sie ließnicht zu, daß ihre Mutter ihn fällte.

Heutzutage sind Limonen nur schwer zu bekommen, wasden Nachtisch um so seltener und wundervoller macht.Dann und wann findet Scarpetta Limonen bei Ukrop’s,kauft umgehend den Laden leer und friert den Saft ein. Siehatte daher einen Vorrat zur Hand, als Marino und Lucy zuGast waren. Scarpetta taute eine halbe Tasse Saft auf, dieauch eine Spur Limonenschale enthielt.

Ihr Boden entsteht nach einem Grundrezept, bei demzwei Tassen gewöhnlichen Mehls mit einer Zweidritteltasseweicher Butter verknetet werden. Einige Tropfen Wasserdarüberspritzen und den Teig hauchdünn auf einemKuchenblech verteilen. Im Backofen goldbraun backen.

Den Limonensaft mit einer Büchse Eagle-Brand-Kondensmilch mischen (die ist genauso brauchbar wieetwas, das auf eigene Kreationen zurückgeht). Eine PriseSalz und zwei nur sanft geschlagene Eidotter hinzufügen.Umrühren, bis die Masse angedickt ist und auf denKuchenboden gießen. Wenn niemand zusieht, den Löffelablecken, und die Ränder der Schale mit den Fingernsauber wischen.

Kein Gramm verschwenden. Aus den beiden restlichen

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Eiweiß und zwei Löffeln Zucker rasch Eischnee schlagen.Quirlen, bis das Ganze steif, aber nicht trocken ist, unddann in großen Portionen auf der Masse verteilen. 15Minuten im Backofen backen, bis der Kuchen leichtgebräunt ist. Dann die Aufmerksamkeit wieder demHauptgang zuwenden.

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Scarpettas Festtagspizza(Fortsetzung)

Inzwischen sollte Ihre Sauce schon dick und ergiebiggeworden sein. Weiter köcheln lassen, umrühren undwenigstens 45 Minuten, bevor Sie bereit sind, all daszusammenzurühren, worauf die anderen schon sehnsüchtigwarten, legen Sie einen

Pizzastein in den sehr heißen Backofen. Für den Teigeinen Teelöffel Salz, eine Prise Zucker und einen Teelöffelaktiver Trockenhefe in einer Vierteltasse warmen (nichtheißen) Wassers auflösen. Sobald die Mischung schaumigist, mehrere Tassen konzentrierten Glutenmehls und einenEßlöffel Olivenöl hinzufügen. Zehn Minuten auf einemmehlbestäubten Untergrund mischen und kneten. Teig ineine eingefettete Schüssel geben und mit einem Handtuchbedecken. An einem warmen Platz gehen lassen.

Scarpetta bevorzugt einen sehr einfachen Salat ausRucola oder einen Eissalat, oder was auch immer Ihnenam besten gefällt. Mitunter gibt sie Tomaten, geschabteKarotten oder gewürfelten Sellerie hinzu, aber das ist dannalles. Ihre Salatsauce besteht aus einem kräftigenRotweinessig, Olivenöl, gepreßtem Knoblauch, frischgemahlenem Pfeffer und Oregano. Für besonders hungrige

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Mäuler streut sie vielleicht noch etwas zerbröckelten Fetadarüber. Mischen Sie die Salatsauce erst dann unter denSalat, wenn Sie Ihre Gäste zu Tisch bitten.

Jetzt können wir mit der Pizza weitermachen. Wenn derHefeteig richtig aufgegangen ist, kneten Sie ihn noch etwasdurch. Mit den Knöcheln drücken Sie den Teig in denEcken des Blechs richtig an. Geben Sie Olivenöl über denPizzastein und legen Sie den Teig darauf. Achten Siedarauf, den Stein nicht zu berühren oder ihn falsch herumeinzusetzen, denn er ist glühend heiß. Gießen Sie einegroßzügige Lage Sauce auf den Teig. Darüber mindestens3 cm der Fleisch-Gemüse-Käse-Mixtur. Drücken Sie dieMozzarellakugeln noch einmal aus, um so viel Flüssigkeitwie möglich herauszubringen. Brechen Sie Stücke ausdem Käse und verteilen Sie sie oben auf dem Belag.Legen Sie Alufolie auf dem Backblech aus und schiebenSie es in der zweiten Einschubleiste in den Backofen.Dann kann die Pizza tropfen, wie sie will. Legen Sie denPizzastein ganz oben hinein und backen Sie Ihre Pizza aufhöchster Stufe. Wenn der Käse braun wird, nehmen Siedas Blech heraus und lassen es einen Moment ruhen. Inder Zwischenzeit servieren Sie den Salat und schenkeneinen guten Burgunder ein. Ob weiß oder rot, spielt keineRolle. Ein Puligny-Montrachet paßt gut und läutert.Scarpettas Pizza sollten Sie mit Messer und Gabel essen.

An diesem Abend nach Weihnachten war es im Hausruhig; Scarpettas Gäste saßen am Tisch und begannen zuessen und zu trinken. Nachdem sie es sich eine Weile

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hatten gutgehen lassen, brach Marino das Schweigen.

»Wenn jemand seine Austern nicht mag, kann er siegerne rüberreichen«, sagte er.

»Wie sollen wir die da überhaupt rauskriegen?« fragteLucy.

»Mit den Fingern. Vorausgesetzt, sie sind sauber.«»Das ist ja eklig.«

»Wer kümmert sich eigentlich um die Musik?« fragteScarpetta. Die drei schauten sich an, dann schob Marinoseinen Stuhl zurück. Er stand auf und ging zum CD-Spieler.Die rotkarierte Serviette steckte ihm vorne im Hemd. Erlegte Patsy Cline auf.

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3Das neue Jahr begann mit der Vertreibung des alten und

mit Vermutungen darüber, was ihnen bevorstand. Für Lucywar es ein Brunch am 2. Januar. In Richmond war esnaßkalt, schneite aber kaum. Lucy hatte den Ratschlagihrer Tante Kay befolgt und ein paar Freundinneneingeladen. Scarpetta war immer noch auf Besuch inMiami und konnte deshalb die Kochkünste ihrer Nichteweder überwachen noch genießen.

»Wer möchte ein Ei?« fragte Lucy ihre Besucher,allesamt Beamtinnen der Bundespolizei. »Was für eins?«»Hühnerei«, sagte Lucy. »Furchtbar witzig.« »Rührei«,offenbarte Lucy. »Okay.«

»Ich dachte, du machst Bloody Marys«, sagte eineFBIAgentin, deren vierte Versetzung sie in das WashingtonField Office der Hauptstadt gebracht hatte, wo sie nun vomVerbrechen überrollt wurde.

»Wie war’s mit Schinkenspeck?« fragte Lucy. Sie standin der Küche ihrer Tante mit all den Küchengeraten ausEdelstahl und kupfernen Hängeregalen mit Töpfen undPfannen der Marke Calphalon. Lucy nahm Eier, Schinken,Milch, Muffins und Gemüsesaft aus dem Kühlschrank. ImWohnzimmer brannte der Kamin; vereinzelt fielen kleine,eisige Flocken vom grauen Himmel. Es sah ganz danach

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aus, als würden Lucy und ihre Freundinnen heute im Hausbleiben. Lucy war eine energische Köchin, die beimArbeiten lieber allein war. Sie hatte ihre Rezepte im Kopf,und diese änderten sich während des Kochens.

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Lucys Bloody MarysNehmen Sie zunächst einen großen Glaskrug. Füllen Sie

ihn mit soviel Gemüsesaft, wie die Gäste verlangen.Pressen Sie Zitronen und Limonen (diesen Morgen zumBeispiel nahm Lucy zwei von jeder Sorte samtFruchtfleisch), und fügen Sie einige Eßlöffel des frischestenMeerrettichs bei, den Sie auftreiben können. Geben SieWorcestersauce, scharfe Pfeffersauce und frischen Pfefferdazu. Verzichten Sie auf Salz, wenn Ihnen das lieber ist.Wodka jedoch darf nicht fehlen. Wenn alles perfekt seinsoll, greift Lucy zu Skyy, Ketel One oder Belvedere.Stolichnaya oder Absolut kann man ebenfalls verwenden.Bei der Vielzahl der Gewürze kann man im Grunde auchjeden anderen Wodka nehmen. Wodka und Gläser imKühlschrank aufbewahren.

Gut umrühren und im Kühlschrank kalt stellen. Lucygarniert ihre Drinks mit einem Stück Staudensellerie, zweigroßen grünen Oliven und einem Zitronenschnitz auf einemZahnstocher. Sie verzichtet auf Eis, weil es die BloodyMary verwässert, schwach und unansehnlich macht. TrinkenSie nicht zuviel, bevor Sie den Grill anwerfen und zu kochenbeginnen.

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Lucys Gute-Laune-GrilltellerEier, Milch, Salz und Pfeffer nach Geschmack mischen

und abschmecken. Schaumig schlagen. Den Grill anheizen.Scarpetta meidet Propangas, sie bevorzugt ausSicherheits- und Geruchsgründen Holzkohle. Die Eimassein eine mit Öl eingefettete Kuchenform gießen. Pfanne mitdicken Schinkenstreifen und Fladenbrot auf die obersteLeiste des Grills stellen. Deckel darauf, um den Schinkenzu räuchern. Sie müssen ihn häufig wenden, weil das Fettheruntertropft und anfangen kann zu brennen (was einezusätzliche

Geschmacksnote hineinbringt, solange Sie die Sache imGriff haben). Wenn er gar ist, vom Feuer nehmen und Fettabschneiden. Sofort servieren.

Nach dem Essen gleich abwaschen, denn später werdenSie keine Lust mehr dazu haben. Beim Feuer immernachlegen, damit es nicht ausgeht. Vielleicht ist ja sogarSchnee liegengeblieben, und die Nachbarskinder kommenzum Spielen heraus. Dann können Sie ihnen durchsFenster zusehen und sich daran erinnern, wie es war, alsSie so jung waren und von ganzem Herzen hofften, amnächsten Tag würde die Schule ausfallen.

Hoffentlich haben Sie auch Freunde zu Besuch. ErklärenSie ihnen, daß sie wegen des Wetters nichts unternehmen

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können. Unterhalten Sie sich den ganzen Tag. Teilen SieGeschichten und Träume miteinander und sehen Sie zu,daß die Kälte draußen bleibt.

Lucys Freunde hatten beschlossen, daß sie eingeschneitwaren und es klug wäre, über Nacht zu bleiben. Es war derideale Abend für eine von Scarpettas Suppen. Sie hateinen ordentlichen Vorrat davon in der Tiefkühltruhe, weilsie Suppe immer in riesigen Portionen kocht. Lucydurchforstete die Tiefkühltruhe, in der Fach für Fach genaubeschriftet war.

»Hat jemand Hunger?« rief sie ihren Kameradinnen zu.Die hatten es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, wodas Feuer sie langsam müde machte, und waren nungerade dabei, aufregende Geschichten aus demPolizistinnenleben zu erzählen. »Wir verhungern!«

»Quatsch, kann doch gar nicht sein. Du futterst dochschon den ganzen Tag.« »Gar nicht.«

»Und wo sind dann bitte die ganzen Vollkornwaffeln hin?Und der Vermont Bauernkäse? Und die Erdnüsse?«

»Also, wie gesagt, ballerte ich gerade auf demSchießstand herum, als plötzlich überall Patronenhülsendurch die Gegend flogen. Auf einmal landet eine genauvorne in meinem Hemd. Ihr wißt ja, wie heiß die Dingersind.« »Autsch!«

»Ich zappelte herum, um sie wieder herauszuschütteln.«

»Nicht gerade die beste Idee, wenn du ein geladenes

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Schießeisen in der Hand hältst.«

»Wie war’s mit was Leichtem mit Huhn?« rief Lucy rüber.Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.

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Scarpettas bekömmlicheHühnersuppe

Einige Teelöffel Extra Virgin Olivenöl in einenausreichend großen Topf geben. Scarpetta nimmt immerTöpfe, die mindestens fünfzehn Liter fassen. Legen Siegehäutete Hühnerbrust ohne Knochen auf einSchneidebrett. Benutzen Sie keine Holzbrettchen, weil dieschwieriger zu säubern sind und Salmonellen unddergleichen beherbergen können. Scarpetta nimmt amliebsten Keramik oder Hartplastik. Das Fleisch mit einemsehr scharfen Messer in Würfel schneiden, dabei auf dieFinger achten.

Gasflamme auf mittlere Hitze stellen. Hühnchen im Topfanschmoren. Als nächstes hacken Sie die mildestenZwiebeln, die Sie auftreiben können. Scarpetta verwendetVidalia-Zwiebeln, wenn sie erhältlich sind, aber sie dürfendie Suppe nicht dominieren. Andere Gemüsesorten, dieman gut für dieses bekömmliche Gericht verwenden kann,sind beispielsweise Sellerie, Karotten, frische, in Scheibengeschnittene Pilze, rote Gemüsepaprika und geschnittener,frischer Spinat. Mindestens vier Dosen fette Hühnerbrühedazugießen.

Großzügig mit Lorbeerblättern und nach Gusto mit Salz

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und Pfeffer würzen. Abschmecken. Einige Stunden köchelnlassen, wieder abschmecken und dann gewürzmäßigverfeinern.

Scarpetta gibt oft ein, zwei Spritzer Sherry dazu undserviert die Suppe typischerweise in tiefenSteingutschalen. Hausgemachtes Sauerteig- oderMehrkornbrot ist eine gelungene Beilage zu diesemGericht. Wenn die Suppe kräftiger werden soll, können Sienoch Reis oder Risotto beifügen oder, was Scarpetta ammeisten liebt: Muschelnudeln.

Scarpetta empfiehlt dazu einen leichten Weißwein, essei denn, Ihr Verdauungsapparat ist gereizt oder Siemüssen nach einer Grippe oder Erkältung mit dem Essennoch Zurückhaltung üben. Dann ist Alkohol tabu, da er dasImmunsystem schwächt und die Abwehrkräfte - wie in allenLebenslagen - reduziert. Ist Wein jedoch angebracht, wähltsie einen Chablis oder einen Pinot Grigio. Bevorzugen Sieeinen etwas kräftigeren Wein, dann ist ein trockenerChardonnay wie Cakebread oder Sonoma-Cutrer genaudas Richtige.

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4Zur gleichen Zeit kochte Scarpetta in Miami, im Haus

ihrer Mutter. Das Wetter an diesem zweiten Tag des neuenJahres war anders als in Richmond. Die Sonne schien sowarm, daß man draußen sitzen konnte, und nachdem sieeinige Male in ihrem Liegestuhl in der Nähe desabgestorbenen Limonenbaumes im Garten eingenickt war,fühlte Scarpetta sich schuldig, wie immer, wenn sie es mitihrer Mutter zu tun hatte. Das Gras war kräftig und gabkaum nach, als Scarpetta ins Haus ging.

»Mutter?« rief sie.

Niemand antwortete, und Sindbad, der einenlasterhaften, verdorbenen Charakter hatte, verheddertesich zwischen Scarpettas Füßen. Der schielendesiamesische Mischlingskater wußte nur zu genau, daßScarpetta ihn nicht mochte, und war deshalb um soaufmerksamer.

»Mach Platz, bitte.«

Scarpetta schubste den Kater weg. Er schnurrte laut.

»Mutter?« rief sie wieder. »Sindbad, jetzt aber wirklich,verdammt noch mal!«

Dank Scarpettas Schuldgefühlen war die Küchenthekemakellos sauber und in der Spüle kein schmutziges

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Geschirr. Sie öffnete den Kühlschrank, als dieToilettenspülung im Flur rauschte.

»Mutter? Was möchtest du heute abend essen?Sindbad, ich warne dich!«

»Schrei den Kater nicht so an!« schrie Mrs. Scarpetta.Sie war nicht mehr die Jüngste und seit langem inschlechter gesundheitlicher Verfassung.

»Ich werde wohl mal einkaufen gehen«, sagte Scarpettain den leeren Flur hinein, während im Badezimmer dasWasser in den Abfluß rauschte und eine Schranktürezuschlug.

»Bring Klopapier mit!« schrie Mrs. Scarpetta wieder.»Was ist mit Dorothy?« »Was soll mit ihr sein?«

»Kommt sie zum Essen?« Scarpetta hoffte auf ein Nein.Sie setzten ihre laute Unterhaltung fort, während ihre Mutterins Schlafzimmer ging und Sindbad Scarpettas Beinattackierte.

»Ich glaube, sie ist verabredet«, antwortete Mrs.Scarpetta. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe ihr aber gesagt,sie soll ihn ruhig mitbringen.«

Sindbad biß Scarpetta in den Knöchel. Daraufhinversetzte sie ihm einen Tritt, nicht fest, aber er wußte, wasgemeint war. Schließlich fuhr Scarpetta mit dem Toyotaihrer Mutter ins Winn-Dixie. In Zeiten wie diesen, das wußtesie, konnte sie leicht wieder das Rauchen anfangen. Alssie an den Regalen mit Marlboros, Salems und Dunhills

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vorbeikam, packte sie eine unbändige Lust nach einerZigarette. Sie würde ein Schlechte-Laune-Gericht kochen.

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Scarpettas Schlechte-Laune-Einkaufsliste

Immer geht es dabei um Nudeln, denn Zeiten wie dieseerfordern die Zubereitung eines Essens, das ScarpettasEnergie, Gefühle und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.Bedächtig ging sie durch die Abteilung mit denMilchproukten und kaufte einen Karton großer Eier. Sieklappte den Deckel zurück und prüfte, ob keineszerbrochen war. Ein Ei war tatsächlich kaputt, so daß sieweitersuchte, bis sie mehr Glück hatte. Vorsichtig legte siedie Eierschachtel in ihren Einkaufswagen. Dann suchte sieein Stück Parmesankäse aus.

Sie legte noch ein Kilo Mehl zu ihren Einkäufen undwidmete sich daraufhin eine Weile der Naturkostabteilung.Hier sprachen die Leute spanisch und portugiesisch. Vielekauften Bananen, Ananas, Papayas, Limonen, Lauch,grünen Chili und

Gewürze. Scarpetta wollte Knoblauch, Brokkoli,Schalotten, Spargel, Karotten, Basilikum und Zucchtni. Siehätte auch noch Sauerrahm oder Fleisch, vielleicht auchHühnchen oder Schinken brauchen können, aber einüppiges, kalorienreiches Abendessen hätte dieSturmwolken in ihrem Inneren nur noch weiter verdunkelt.

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Obwohl sie derzeit keine Neigung verspürte, ihrer Mutteretwas Gutes zu tun, dachte sie an das Klopapier. Zu guterLetzt kaufte sie einen Sechserpack Buckler alkoholfreiesBier. Ihr war bewußt, daß Scotch, Irish Whiskey oder Weinsie bedrückt oder wortkarg machen würde.

Auf dem Heimweg fuhr sie lange Zeit in der West FlaglerStreet hinter einem roten Plymouth Horizon, dessenNummernschild an einem abgebrochenen Kleiderbügelbaumelte. Ein Seitenfenster war mit einem Stück Kartonzugeklebt. Das Auto war ganz offensichtlich gestohlen - wieso viele in Miami. Scarpetta hätte sich gerne von ihmferngehalten, doch das ließ der Verkehr nicht zu. EinMercedes mit violett getönten Scheiben fuhr an dernächsten Ampel beinahe auf ihren Wagen auf, und einPorsche jagte hinter einem Jeep her. Beide Fahrermachten obszöne Gesten und schrien sich in fremdenSprachen an. Die Sonne blendete Scarpetta.

Ihre Mutter wohnte im Südwesten der Stadt, nicht weitvon der Our-Lady-of-Lourdes-Academy, wo Scarpetta dieSchule besucht und die Nonnen beeindruckt hatte. Sieerreichte das Haus ohne Zwischenfall und stieg aus demAuto. Seit ihr der Umweltschutz am Herzen lag, benutztesie keine Plastiktüten mehr. Nun knisterten die Papiertüten,als sie ihre Einkäufe durch die Eingangstüre trug. Sofortbemerkte sie, daß die Alarmanlage nicht eingeschaltetwar.

»Mutter!« schrie sie, nicht zum ersten Mal an diesem

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Tag. »Du solltest doch die Alarmanlage nicht ausschalten!«

»Du machst dir immer zu viele Sorgen«, kam die Antwortaus dem Schlafzimmer. »Ich habe gerade ein Schläfchengehalten. Warum mußt du immer so rumnörgeln?«

»Hausfriedensbruch, Einbrüche, Vergewaltigungen. Dasalles passiert nicht erst, wenn’s dunkel ist.«

Scarpetta ging an dem alten Baldwin-Klavier vorbei, aufdem ihre Mutter nicht mehr gespielt hatte, seit es zumletzten Mal gestimmt worden war - und das mußte eineEwigkeit her sein. Ein Licht brannte, aber das half auchnicht viel, weil ihre Mutter die Vorhänge immer geschlossenhielt. Die Wanduhr tickte laut und vernehmlich. Derblaßblaue Teppich war abgelaufen und vom Schmutz derJahrzehnte nachgedunkelt. Kleine Porzellanfigürchen warenstrategisch geschickt aufgestellt. Seit Scarpettas Kindheithatte sich kaum etwas verändert.

Diese Jahre waren schmerzlich und unheimlich gewesen,und immer, wenn sie nach Hause kam, legte sich derSchatten der Vergangenheit wieder über sie. Ihr Vaterhatte fünf Jahre an Leukämie gelitten, bevor er im hinterenSchlafzimmer gestorben war, in dem ihre Mutter jetzt dieKleiderbügel hin und her schob. Scarpetta hatte gelernt,sich das Äußerste abzuverlangen, denn es war schwierig,Freunde zu finden, wenn man intelligent, sensibel und durcheinen schweren Verlust etwas aus der Fassung geratenwar. Schon früh hatte sie damit angefangen, zu kochen, zuputzen und sich um die Finanzen zu kümmern, während ihre

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Schwester mehr mit sich selbst beschäftigt war, Gedichteund Geschichten schrieb und sich mehr für Jungsinteressierte.

Scarpetta stellte die Tüten auf der Arbeitsplatte nebender Spüle ab und packte die Einkäufe aus. Sie wusch dasGemüse, schälte und schnipselte es. Eine Stunde späterspielte man Bach auf dem Klassiksender, den sie immereinstellte, wenn sie zu Hause war, und eine KugelEiernudelteig ruhte friedlich in einer Schüssel. Ein Topf mitWasser stand auf dem Herd bereit, und eine Bratpfannemit glänzendem Olivenöl wartete auf Gemüse. Geradehatte Scarpetta begonnen, den Parmesankäse zu reiben,als ihre Mutter in die Küche kam und sich an den Tisch amFenster setzte, von dem aus man in den Garten sehenkonnte. Scarpetta hatte die Vorhänge geöffnet. Draußenwurde es allmählich dunkel.

»Was hast du heute gemacht?« erkundigte sichScarpetta, während sie munter Käse rieb.

»Telephoniert.«

Mrs. Scarpetta raschelte mit der Zeitung, sah dieTodesanzeigen durch und wurde besorgt, wenn sie las,daß jemand in ihrem Alter gestorben war.

»Gloria ist in der Stimmung, Jose zu erschießen«,erzählte Mrs. Scarpetta.

»Schon wieder?«

»Ich weiß auch nicht, warum sie sich mit ihm abfindet.«

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»Die älteste Geschichte der Welt«, sagte Scarpetta, alssie den Teig überprüfte. »Man nennt das Fehlfunktion.«»Du weißt ja, wovon du sprichst.«

Mrs. Scarpetta schlug die erste Seite auf und schütteltesie, als habe sie sich schlecht benommen.

»Nie verstehe ich diese Cartoons. Verstehst du sie,Katie? Diese politischen. Wer ist denn das hier,beispielsweise? Bestimmt so ein Kommunist, der auf einerRakete reitet wie ein Cowboy.«

Die Anspielung auf die Partner, für die sie sich in ihremLiebesleben entschieden hatte, verletzte Scarpetta, dochsie behielt ihre Gefühle für sich. Es stimmte schon, daß siesich einen Fehlgriff geleistet hatte, als sie Tony heiratete.Als sie sich dann in Mark verliebt hatte, wollte sie sich wohlselbst bestrafen, und dann hatte sie sich noch einmal in ihnverliebt, viele Jahre später, als sie bereits geschieden under verwitwet war. Benton Wesley hatte ihr das Herzgebrochen, und sie hatte daraus gelernt, daß es immer einFehler ist, wenn eine Beziehung als Affäre beginnt. Obwohlseine Frau ihn letztlich aus Gründen verlassen hatte, dienichts mit Scarpetta und ihm zu tun hatten, war das Wissendarum, was sie getan hatten, als ein dunkler Fleckzurückgeblieben. Es lastete auf ihnen wie eine zerbrocheneFensterscheibe, etwas, das für immer zerstört war in demLeben, das sie gemeinsam hätten aufbauen können. Jetztgab es auch ihn nicht mehr.

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Scarpettas Schlechte-Laune-Frühlingsnudeln

Sie stellte ein Sieb in den Ausguß und bestäubte einSchneidebrett mit Mehl. Dann packte sie dieNudelmaschine aus, die sie ihrer Mutter vor ein paarJahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Es war eineeinfache italienische Rollecta 64 aus Turin und die bestemacchina per fare la pasta, die Scarpetta je in die Fingergekommen war. Sie bestimmte die Breite der Nudeln unddrehte an einem Knopf, um die Öffnung zwischen denglatten Rollen zu verkleinern, und schon bald bearbeitetesie Pastablätter, die so leicht und dünn waren, daß manfast durch sie hindurchschauen konnte. Sie rollte siezusammen und schnitt sie von Hand in Tagliolini. Da siesich mit Messern auskannte, stellte sie sich sehr geschicktan und schnitt sich nie. Bei den heutzutage grassierendenViren und heimtückischen Infektionen tat sie gut daran,Vorsicht walten zu lassen.

»Wann kommt Dorothy denn rüber?« zwang sichScarpetta zu fragen.

»Eigentlich sollte sie schon seit einer Viertelstunde dasein«, antwortete ihre Mutter und raschelte laut mit derZeitung. Nach einem langen Leben als Raucherin, das sie

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schließlich mit einem Emphysem hatte im Krankenhauslanden lassen, ging ihr Atem schwer.

»Soll ich dir den Sauerstoff holen, Mutter?« fragte Scar-petta. »Nein.«

Sindbad kam träge in die Küche spaziert. Er bliebstehen und schaute die Küchenchefin schief an. SeinSchwanz zuckte. Scarpetta erhitzte die Bratpfanne. Dannnahm sie ein Bier aus dem Kühlschrank und schenkte sichein Glas ein.

»Gut, das Essen ist in zehn Minuten fertig«, sagte sie.»Iß mit, oder laß es bleiben. Wenn wir jedesmal aufDorothy warten wollten, wären wir schon zum Skelettabgemagert.«

Ihre Mutter seufzte. Als Scarpetta den Herd anschaltete,um Wasser aufzusetzen, zwängte sich Sindbad zwischenihre Beine.

»Wie war’s mit gekochter Katze über den Nudeln?«sagte Scarpetta und schubste den Kater zum x-ten Mal ausdem Weg.

»lii!« protestierte Mrs. Scarpetta empört. »Wie kannst dunur so etwas sagen!«

Scarpetta begann, Knoblauchzehen zu häuten, die siedann mit dem Gemüse anbriet. Sie zupfte frischesBasilikum von den Stengeln und gab es dazu, ebenso Salzund gemahlenen Pfeffer.

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»Das wird leicht und gesund«, sagte Scarpetta, wohlwissend, wie ihre Mutter darauf reagieren würde. Scarpettaempfand keinerlei Schuldgefühle, es ihrer Mutter einmalnicht recht zu machen. Im Gegensatz zu ihr hielt ihre Mutternichts von gesunder Ernährung. Sie fühlte sich davonverletzt und angegriffen. Scarpetta hatte schon früh gelernt,sich zu schützen, Verletzungen abzuschwächen und sichnicht in die Opferrolle drängen zu lassen. Von ihrer Familieließ sie sich nicht mehr gefallen als nötig. Sie war nunschon fast eine Woche in Miami und hatte gelinde gesagtdie Nase gestrichen voll; ihre Geduld war erschöpft, ihreNerven überreizt. Sie wollte nach Hause.

»Und wie sieht es mit Frikadellen aus?« beschwerte sichihre Mutter. »Das kann doch nicht wahr sein: keine Wurst,keinen Schinken oder so etwas?«

»Heute abend nicht«, antwortete Scarpetta.

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5Genau in diesem Moment, als Scarpetta viele Meilen

weiter südlich die Pasta in das kochende Wasser warf, sahPete Marino in Richmond nach dem Wetter. Er wardankbar, daß sein Dodge-Lieferwagen unter demaluminiumüberdachten Carport geschützt war. Sonst wäreer nämlich mittlerweile von einer Schneedecke vonmindestens fünf Zentimetern bedeckt gewesen. Diesennassen Schnee konnte er überhaupt nicht leiden, denn derbrachte die Gören aus der Nachbarschaft nur auf die Idee,sein kleines Haus mit Schneebällen zu bewerfen.Ansonsten war das Viertel, das im Süden des James-Flusses stand, kurz hinter der Turnpike Midlothian, eineruhige Gegend.

Derlei Angriffe erfolgten bei Dunkelheit und entluden sichin dumpfen Schlägen gegen seine Fensterscheiben, Türenund die Aluminiumverkleidung des Carports. Bis Marino andie Tür geeilt war, hattten die Verdächtigen bereits dieFlucht ergriffen und waren in den tiefen Schatten derBäume oder in diversen Häusern längs der Straßeverschwunden. Er war ein erfahrener Polizist, und dieFußspuren im Schnee zu verfolgen wäre für ihn ebensoleicht gewesen, wie einen Vergewaltiger zu verhaften, dersein Portemonnaie am Tatort zurückläßt, oder einen Dieb,der die Angaben aus seinem Führerschein auf der

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Rückseite des gestohlenen und von ihm eingelöstenSchecks hinterläßt. Doch, doch, so etwas kam häufiger vor,als brave Bürger sich vorstellen konnten, aber Kinder in derdunklen kalten Nacht zu verfolgen, womöglichauszurutschen und hinzufallen, das war etwas ganzanderes.

Marino zündete sich eine Marlboro an und öffnete einweiteres Bier, während er wartete. Er war bereit, in Mantelund Stiefeln, hatte den Fernseher leise gestellt und lauschteaufmerksam zur Vorderseite des Hauses. Der Schnee fielin dicken Flocken. Er selbst hatte während seiner Kindheitin New Jersey Schlimmeres angestellt, als Leute mitSchneebällen zu bewerfen. Nur war in seinem Fall damalsGewalt immer gerechtfertigt und angemessen gewesen,weil es brutale Kerle und Randalierer in dem Arbeiterviertelgab, in dem er aufgewachsen war. Er hatte nur dannzugeschlagen, wenn er sich wehrte, oder wenn es galt,einen Schwächeren zu beschützen. Nichts dergleichen,davon war Marino überzeugt, konnte die unverschämten,gedankenlosen Taten seiner kleinen Nachbarnrechtfertigen.

Allerdings berücksichtigte er dabei nicht die vielen Male,als er sie aus seinem Swimmingpool verscheucht oder sieverjagt hatte, wenn sie ohne Erlaubnis in seinem GartenFußball spielten. Die Tatsache, daß er sie angebrüllt unddem in der Nachbarschaft wohnenden Schnösel vomNaturschutzbund eine Zeitung ins Gesicht geklatscht hatte,hatte ihm eine Menge Feinde eingebracht. Ebenso wie die

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Geschichte mit Jimmy Simpson, als er mit seinemPrivatwagen angehalten und dem Zehnjährigen befohlenhatte, das Bonbonpapier aufzuheben, das dieser geradeauf die Straße geworfen hatte.

»Du kannst von Glück sagen, daß ich dir keineGeldstrafe aufbrumme«, hatte er zu dem blauäugigenJungen gesagt.

»Ich bin doch nicht von zu Hause ausgerissen«, hatteJimmy entrüstet geantwortet. Ohne Beweise dafür in derHand zu haben, war sich Marino sicher, daß es sich beiJimmy Simpson um den Anführer der Bande handelte, undbald, davon war er überzeugt, würde er diesen kleinenRabauken auffrischer Tat ertappen. Dann würde er mit demJungen in die Wohnung seiner alleinerziehenden Muttermarschieren und ihnen etwas über Erziehungsheime undGefängnisse ins Stammbuch schreiben.

Der erste Artilleriebeschuß erfolgte Punkt acht Uhr.Schneebälle gingen auf der Vorderseite des Hausesnieder. Einen zweiten Angriff wartete Marino gar nicht erstab. Sofort war er aus dem Haus und hatte den Feind auchschon im Visier.

Jimmy Simpson war alleine und stand nur wenige Metervon Marino entfernt auf der Veranda. Auf frischer Tatertappt, war der Junge vor Schreck gelähmt. Er blieb wieangewurzelt stehen und riß die Augen weit auf. Marinostapfte die Treppe hinunter, die schweren Stiefel knirschtenim Schnee.

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»Was zum Teufel fällt dir ein?« bellte er los.

Jimmy fing an zu weinen. Er duckte sich und hielt sich dieArme vors Gesicht, als wäre er schon einmal von Größerenverprügelt worden.

»Wußte ich’s doch, daß du das warst!« fuhr Marinostreng fort, der jetzt dicht vor ihm stand. »Ich hab’s schonimmer gewußt, du kleiner Dreckskerl. Und was, wenn dasFenster jetzt kaputt wäre?«

Jimmy weinte und zitterte am ganzen Körper.

»Ich hab doch gar keinen ans Fenster geworfen«,erwiderte er kläglich. Marino konnte ihm das Gegenteilnicht beweisen.

»Hmm? Und wie fändest du es, wenn ich Schneebälleauf euer Haus werfen würde?« fragte er schroff, aber nichtmehr ganz so laut.

»Das war mir egal.«

»War’s nicht. «

»Doch.«

»Na ja, aber deiner Mutter wäre es nicht egal.«

»Doch, jedenfalls wenn Sie nichts kaputtmachenwürden.« »Du kleiner Scheißer«, sagte Marino und spähtedurch den Schnee zu den milchigen Flecken der Fenster,wo in Jimmys kleinem Backsteinhaus Licht brannte.

»Sie sind ja auch nicht gerade nett zu mir«, sagte Jimmy

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und ließ die Arme wieder sinken, da die Angst nunallmählich von ihm wich. »Deshalb! Sie haben dochangefangen!«

Darüber mußte Marino erst einmal nachdenken. Sein fastkahler Schädel begann zu frieren.

»Du meinst, als ich dich von meinem Pool verscheuchthabe?« Marino versuchte, sich die Szene wieder vorAugen zu führen.

Der Junge nickte heftig.

»Und nicht nur dieses eine Mal!« rief Jimmy. »Sieschauen mich immer so böse an, wenn Sie in IhremPolizeiauto an mir vorbeifahren.«

»Tu ich nicht.«

»Doch.«

»Nur wenn du Abfall auf die Straße wirfst.«

»Das war doch nur einmal. Die ganze Packung war mitSchokolade verschmiert. Und wenn ich meine Kleiderverschmiere, schimpft Mama. Deshalb hab ich’s auf dieStraße geschmissen. Na und?«

»Was macht denn deine Mama gerade?« fragte Marino.In seinem Inneren regte sich etwas und erschwerte es ihm,Haß auf diesen verflixten kleinen Bengel zu empfinden.

»Sitzt bei ihrer Schwester fest.«

»Und wo ist das?« »Ich weiß nicht«, sagte Jimmy ruhig

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und starrte auf seine Füße. »Ich glaub’ beim Park.«

»Beim Byrd Park?«

»Der mit dem See und den kleinen Booten. Wo’sZuckerwatte gibt.«

»Kommt sie denn gar nicht nach Hause?« Jimmyschüttelte den Kopf. »Sie sagt, sie steckt fest.«

»Dann bist du also ganz allein hier draußen mit deinemklapperdürren Hintern und schmeißt mit Schneebällen umdich?«

»Ja, Sir.«

»Schon was gegessen?«

»Seit heute Mittag nicht mehr.«

»Magst du Chili?«

»Weiß nicht«, erwiderte Jimmy.

»Was ist denn mit deiner Tante?« fragte er Jimmy.

»Sie ist die Schwester von Papa.«

»Sollen wir dann vielleicht ihn anrufen?« fragte Marino.

»Nein… Ich weiß nicht… Also er…«

Jimmy starrte auf seine Schuhspitzen. Seine Haarewaren vom Schnee gefroren. Er fröstelte in seiner dünnenJeansjacke, die mindestens fünf Nummern zu groß war.

»Also, weißt du denn die Nummer von deiner Tante?«

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sagte Marino.

»Oje.«

»Das solltest du aber, verdammt noch mal.«

»Sie muß irgendwo sein, glaube ich.«

»Komm, laß uns erst mal ins Warme gehen«, sagteMarino.

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6Sie stapften durch den Garten und Marinos Haustreppe

hinauf. Marino versuchte, bei Jimmy anzurufen, aberniemand war da. Er hinterließ Mrs. Simpson eine Nachrichtauf dem Anrufbeantworter: Ihr Einverständnisvoraussetzend, würde Jimmy bei ihm übernachten, damit ernicht allein war.

»Ich habe Dr. Pepper da. Magst du?« fragte Marino, alser das Hackfleisch aus dem Kühlschrank holte.

Jimmys Augen leuchteten.

»Na klar!« sagte er.

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Marinos Chili auf dieSchnelle

Marinos schnelles Chili bedarf einer Reihe vonÜberlegungen, die sich von dem, was sich in anderenKüchen abspielt, abheben dürften. Zunächst einmal sollteder Küchenchef ein Budweiser aus der Dose oder einRolling Rock aus der Flasche trinken. Zweitens bringt dieSuche nach dem geeigneten Topf anstrengendeAusgrabungsarbeiten und heftiges Geklapper im Chaosder Schränke mit sich. Sollte sich der richtige Deckel nichtfinden, benutzt Marino statt dessen Alufolie. Drittens solltedas Rindfleisch normal bis mager sein und in derMikrowelle bei großer Hitze aufgetaut werden, damit eszügig geht. Der Fernsehapparat muß die ganze Zeiteingeschaltet sein, und wenn das Telefon klingelt, sollteman gereizt reagieren.

»Mr. Marino?« sagte Jimmy, der auf einem hohenBarhocker saß. »Darf ich ein bißchen Eis in mein Dr.Pepper tun?«

»Nee, darfst du nicht«, gab Marino zurück. Er öffnete denKühlschrank erneut und nahm einen eiskalten Bierkrugheraus. Er schüttete das Dr. Pepper hinein. Jimmys Mundklappte ehrfürchtig auf.

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»Sei ein Mann«, sagte Marino. »Cool!« antworteteJimmy.

Nach einer halben Stunde waren Hackfleisch und Speckschön braun. Marino schnitt Zwiebeln und grüneChilischoten, dann öffnete er Dosen mit weißen Bohnen,Erbsen und Richfood-Tomatensauce.

»Hast du schon mal richtig scharf gegessen?« fragteMarino, während er das Gemüse kleinschnitt.

»Weiß nicht.«

»Bald wirst du’s aber wissen«, versprach ihm Marino.»Ich will dir mal was sagen, mein Junge. Bevor der Abendvorüber ist, wirst du ganz schön was gelernt haben.«

»Glauben Sie, morgen ist Schule, Mr. Marino?«

»Paß mal auf. Entweder nennst du mich Captain Marinooder Pete. Klaro? Und hundert pro fällt die Schule morgenaus. Ich hoffe bloß, daß deine Mama heimfahren kann undich nicht noch einen Tag mit dir zubringen muß.«

Jimmy lächelte. Er wußte genau, daß Marino es nicht someinte.

»Ich denke mal, ich könnte sie mit meinem Wagen darauskriegen«, fuhr Marino fort.

»Ich würde aber lieber hierbleiben.« Jimmy nippte anseinem Sodawasser.

Kräuter gehören zu den weniger ungewöhnlichen Zutaten

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in Marinos Chili. Da ihm der stark gewürzte Texas-Stil amliebsten ist, gibt er zwei Kräuterpäckchen in dieTomatensauce. Im vorliegenden Fall drei Dosen mit jeeinem knappen Pfund. Dazu schüttete er nach GefühlWasser, aber nicht viel, weil er seine Chilisauce etwasdicker liebt, damit er sie auch als Spaghettisauce essenkann, wenn ihm nach Abwechslung zumute ist. Dann goß erdas Bohnenwasser ab und gab die Bohnen mit vierRindsbrühwürfeln dazu, die sich zunächst partout nicht ausihrer Verpackung lösen wollten.

»Das riecht aber wirklich gut«, jubelte Jimmy wie einFootballspieler nach dem Touchdown.

»Noch ein halbes Stündchen, und wir können essen«,verkündete Marino, während er sich die Hände wusch undan seiner Hose abtrocknete.

»Ich hab auch noch Brot. Das könnte ich mit Butter undKnoblauch überbacken.«

»Nein, vielen Dank.«

»Und wie steht es mit Salat? Vielleicht habe ich hierirgendwo noch einen Kopfsalat.«

Er durchforstete den Kühlschrank und riß offeneSchubfächer heraus.

»Nein danke«, antwortete Jimmy. »Ich esse keinenSalat.«

»Alles eine Frage der Salatsauce. Schon mal Thousand

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Islands probiert? Da mischt man Mayonnaise mit Ketchupzusammen, dann werden Gewürzgurken geschnitten. Allesgründlich durchrühren und dann zum Salat, Burger oderwas du sonst gerade hast, dazugeben. Wenn du auf einechtes Männeressen stehst, dann mach ich dir ein richtigdickes Sandwich mit Corned Beef, und zwar mit tüchtigThousand Islands mit Sauerkraut drauf. DazuSchweizerkäse, wenn du welchen hast. Ha, ich hab auchschon Mozzarella genommen. Alles zusammen wird dannin Butter angebraten.«

»Ich mag aber keine Mayonnaise«, teilte Jimmy ihmhöflich mit.

»Du wirst gar nicht schmecken, daß welche drin ist«,versprach ihm Marino.

»Vielleicht machen wir das morgen mittag.« »Sie hattendoch gesagt, Sie wollten mich dann nicht mehr hierhaben.«

»Will ich ja auch nicht«, versetzte Marino. DasSchneetreiben hatte sich fast gelegt, als die ElfUhrNachrichten kamen. Marino saß in seinem Lehnstuhlund hatte wenig übrig für das, was die Sprecherin übereinen Schußwechsel in einem der zahlreichen sozialenWohnungsbauten Richmonds verlauten ließ. Das war nichtsein Problem. Sein Zuständigkeitsbereich war diePolizeischule, wo seine Aufgabe darin bestand, dieNeulinge auszubilden. Mit abscheulichen Gewaltverbrechenbekam er es nur dann zu tun, wenn er in eine ATF- oder

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FBI-Sonderkommission berufen wurde.

»… war der bislang noch nicht identifizierte Mann mitdem Gesicht nach unten in einer Blutlache auf der Straßegefunden worden… «

»Drogen«, murmelte Marino vor sich hin.

»… und man nimmt an, daß er drogenabhängig…«

»Siehst du?« sagte Marino zu Jimmy. »Weißt du, wieman diese Art von Mord nennt?«

Der Junge hatte es sich auf der braunen Vinylcouchbequem gemacht und sich eine Decke bis ans Kinngezogen. Marino hatte ihm ein T-Shirt der RichmondPolizeischule gegeben, dessen Ärmel länger als seineArme waren und das ihm bis an die Füße reichte.

»Nein«, sagte Jimmy schläfrig.

»Man nennt es städtische Erneuerung.«

»Und was soll das bedeuten?« gähnte Jimmy. »Daskriegst du raus, wenn du älter bist. Manchmal nennen wir esauch einfach bloß Totschlag.«

Jimmy konnte mit all dem nichts anfangen.

»Oh«, sagte er nur.

Marino trank einen letzten Schluck Bier. Damit hatte ersein Pensum für die Nacht zu sich genommen. Sein Gasthatte zwei Portionen mit Mozzarella überbackenes Chiliverschlungen; der Käse hatte an seinem Löffel Fäden

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gezogen und ihm Gesicht, Ärmel und mehr oder wenigeralles andere auch verschmiert. Dann hatte Marino nocheinen Teller mit Salzgebäck auf den

Tisch gestellt und Jimmy gezeigt, wie er sie in seineSchüssel krümeln konnte. Zum Nachtisch hatte MarinoChunky-Monkey-Eis zwischen zwei große Zuckerplätzchengestrichen. Das Eissandwich war Jimmy auf die Jeansgetropft.

»Und was gibt’s zum Frühstück?« fragte Jimmy.

»Schnee mit Ahornsirup«, antwortete Marino undschaltete NBC ein.

»Bestimmt nicht.«

»Alles kein Problem, solange du die Finger vom gelbenSchnee läßt.«

Jimmy Simpson fing schallend an zu lachen.

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7Auch Lucy dachte über einen Nachtisch nach. Und je

länger sie und ihre Freundinnen vor dem Kamin saßen undsich >Kriegserlebnisse< aus ihrer Polizeiarbeit undGeschichten über die Grausamkeit früherer Liebhabererzählten, desto besser gefiel ihnen die Vorstellung, nochetwas zu sich zu nehmen, bevor sie ins Bett gingen.

»Milch und Plätzchen vor dem Schlafengehen«, kündigteLucy an und stand vom Boden auf, wo sie träge an diehübsche, blaubraungestreifte Couch ihrer Tante gelehntgesessen hatte.

»Laß die Milch ruhig weg.«

»Ja, finde ich auch.«

»Ich werde mir schon was einfallen lassen«, beruhigteLucy sie. »Aber unternehmt nichts Lustiges, solange ichweg bin. Ich gehe in die Küche. Und redet nur ja laut, damitich alles hören kann.«

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Lucys verbrecherischePlätzchen

Sie stellte eine tiefe, feuerfeste Auflaufform aus Glas aufden Tisch und machte sich auf die Suche nach braunemund weißem Zucker, nach Mehl, Vanilleextrakt, Eier, Salzund Backpulver. Als sie zehn war, hatte ihre Tante ihrbeigebracht, diese speziellen, gesetzlosen Plätzchen zubacken. Seitdem machte sie sie intuitiv. Sie maß nichts abund schaute nicht auf die Uhr. Sehr früh hatte sie gelernt,die Sache zu beschleunigen, indem sie möglichst wenigGeschirr benutzte. Zunächst war es wichtig, eine TasseBreakstonebutter in der Glasschüssel zu zerlassen. DieButter durfte warm, aber nicht heiß werden. Dann rührte siedunkelbraunen und weißen Zucker ein, bis das Ganze einedicke Masse ergab. Schließlich gab sie Eier dazu. AusErfahrung nahm sie zwei, um dann gerade so viel Mehldazuzugeben, daß der Teig eine feuchte, bröseligeKonsistenz hatte und weder zu naß noch zu trocken war.Backpulver durfte man nicht vergessen, und bevor sie nachGeschmack Salz und Vanille hinzufügte, streute sie einenTeelöffel davon darüber. Mittlerweile war der Teigabgekühlt, und Lucy knetete gehackte Hickorynüsse,Zartbitterschokolade und Butterscotchchips darunter. IhreTante war, was die Zahl der Zutaten anbetraf, anderer

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Meinung, doch Lucy fand, man könne gar nicht genugdaran tun.

Sie stellte den Backofen auf 180° C und bestrich dasBackpapier dünn mit cholesterinfreiem Pflanzenöl, dasLucy ein Lächeln abnötigte. Ihre Tante war anspruchsvoll,was die Gesundheit betraf.

»Das liegt schlichtweg daran, daß du schon so vieleLeichen gesehen hast«, hatte Lucy sie oft getadelt, wennScarpetta ihr keine Softdrinks oder Kaugummis kaufenwollte und nur im Notfall mit ihr einen Schnellimbißbesuchte.

Bei den vielen Besuchen, die Lucy als Kind ihrer Tanteabgestattet hatte, war stets frischer Fruchtsaft imKühlschrank gewesen, und es hatte immer Obst gegeben:Apfel, Bananen, Mandarinen oder helle Trauben. Im Kinowar Popcorn kein Problem, aber Süßigkeiten, besondersharte Bonbons wie Zitronendrops oder Fire Balls, woranman womöglich ersticken konnte, gab es nicht. Lutscherkamen nicht in Frage, schon gar nicht die, die man auf derBank oder beim Arzt geschenkt bekam und die auf einemharten Stiel steckten.

»Stell dir vor, du hast so ein Ding im Mund und fällst hinoder stößt gegen irgendwas«, sagte Scarpetta immer.

»Warum kann ich’s denn dann nicht vom Stielabbeißen?« »Schlecht für die Zähne. Überhaupt ist andiesem ganzen Süßkram nichts dran, das gut für dich wäre,Lucy. Der schmeckt ja nicht mal besonders gut, wenn du

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ehrlich bist.«

Vielleicht war es weniger der Lutscher selbst als vielmehrdie Tatsache, daß Lucy ihn als Belohnung dafür bekommenhatte, daß sie einen Zungenspatel tief in der Kehleausgehalten hatte oder ewig in einer Schlange hatte wartenmüssen, bis ihre Tante ihren Gehaltsscheck eingelösthatte. Die Liste der wegen ihres Sicherheitsbedürfnissesverbotenen Lebensmittel wurde mit der Zeit immer länger,da ihre Tante Zeugin von immer mehr neuenTodesursachen wurde. Trotzdem war Lucys Leben mitScarpetta nicht so strikt, wie es den Anschein habenmochte. Scarpetta hatte für Lucy immer Zeit gehabt. TanteKay hatte sie aufgeklärt und ihre Erziehung mit Büchern,Computern und hin und wieder sogar Kirchenbesuchenbereichert. Sie hatte Lucy das Gute und das Böse zuunterscheiden gelehrt und Egoismus nicht akzeptiert, dennder war nach ihren Worten »die Wurzel aller Herzlosigkeitund des Schlechten auf der Welt«.

Lucy formte den Plätzchenteig zu kleinen Kugeln. Sienaschte erst einmal davon und erinnerte sich daran, wie esals Kind gewesen war. Wie dick sie gewesen war undwieviel sie immer davon genascht hatte — so lange, bis ihrschlecht geworden war. Sie machte sie etwas flacher undsetzte sie im Abstand von ein paar Zentimetern auf dasBackpapier.

»Kann mir mal jemand den Bailey’s aus der Barbringen? Und Gläser. Whiskygläser«, rief sie in den Flur,

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der zum Wohnzimmer führte.

»Bist du ganz sicher, daß deine Tante nichts dagegenhat, wenn wir Hausbesetzer ihr Haus zugrunde richten?«

»Das tut ihr doch gar nicht«, sagte Lucy.

»Noch nicht.«

»Wann kommt sie denn wieder?« »Morgen, falls derFlughafen geöffnet ist.« »Und wenn wir dann immer nochhier hocken?« Eine ATF-Beamtin, die alles über Bombenwußte, mußte lachen.

»Vielleicht kleben wir dann ja wirklich alle immer nochhier auf der Stelle, vor allem, wenn wir jetzt noch wasessen.«

»Das wird sie nicht stören«, meinte Lucy.

Eine andere ATF-Beamtin betrachtete die in ihrenHolstern steckenden Pistolen und die Ersatzmagazine, dieauf den Tischen herumlagen.

»Im Moment wäre das nicht gerade der ideale Zeitpunktfür einen Einbrecher, hier aufzutauchen«, kommentierte sienüchtern.

»Ojeoje, wir Weiber hier alle, einsam und verlassen«,sagte Lucy in einem albernen Ton, als würde sie jedenMoment ohnmächtig auf die Couch sinken.

Meist brauchen die Plätzchen gute zehn Minuten, aberLucy holte sie immer etwas früher heraus, damit sie in der

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Mitte noch weich waren. Lucy mochte sie nicht zu fest. Miteinem Spachtel hob sie sie auf eine Platte. Eins probiertesie noch heiß.

»Super«, stöhnte sie. »Ihr werdet sterben!« schrie sie zuihren Freundinnen hinüber. »Sie sind schrecklich lecker!«

Sie tunkten die Plätzchen in Bailey’s Irish Cream,drängten sich vor das Kaminfeuer, und die Schatten derFlammen tanzten auf ihren Gesichtern.

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8Am nächsten Morgen gab es keinen Schnee zum

Frühstück, wie Marino gedroht hatte. Allerdings jagteMarino Jimmy einen kleinen Schrecken ein, indem er ihmeine Schüssel mit Schnee ins Haus brachte. Er tröpfelteMrs. Butterworth Ahornsirup darüber und steckte einenSuppenlöffel in die Mitte.

Jimmy lag noch warm und verschlafen auf der Couch,öffnete die Augen und sah Marino über sich gebeugt, wieer ihm die abscheuliche Mischung unter die Nase hielt.

»Schnee mit Sahne«, beschied Mario ihm.

Jimmy setzte sich auf, seine Haare standen in Büschelnin verschiedene Richtungen. Er blinzelte und versuchte,wach zu werden.

»Igitt«, sagte er.

»Wie war’s denn mit einem Omelette?« fragte Marino.»Oder hast du so was auch noch nie gegessen?« »Ichweiß nicht.«

Marino schaltete den Fernseher ein. Er öffnete dieJalousien, um den trüben Morgen in sein enges,unordentliches Wohnzimmer einzulassen.

»Ich glaube, heute wird es wieder schneien«, sagte

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Jimmy hoffnungsvoll.

»Dazu hängen die Wolken nicht tief genug«, erklärte ihmMarino, der Wetterfrosch. »Wenn sie so niedrig sind wieNebel und du den Himmel nirgends mehr sehen kannst,dann weißt du Bescheid. Ich kann es vorhersagen, wieRegen auch. Allerdings könnte es bis zum Abendtatsächlich noch schneien.«

»Kann ich denn wieder hierbleiben, wenn’s dochschneit?«

»Irgendwann will dich deine Mutter sicher wiederhaben«,sagte Marino.

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Marinos New-Jersey-Omelette im Stil des Südens

Marino trug einen grauen FBI-Trainingsanzug, der seinenKörperumfang nicht ganz verheimlichen konnte. Seineweißen Röhrensocken waren von den Goretex-Stiefelnorangefarben verfärbt. Er ging in die Küche, und schonbald gluckerte die Kaffeemaschine. In einer Tupperware-Saftschale schlug er mit einer Hand die Eier auf. Er wischtedie gußeiserne Pfanne mit Haushaltspapier aus. Er wuschdie Pfanne nie mit Spülmittel, und sie war so vollgesogen,daß er kein Fett benötigte.

Den Speck hatten sie am Vorabend für das Chiliaufgebraucht, so daß Marino sich für das Frühstücksfleischetwas einfallen lassen mußte. Er entschied sich für diekoschere Bockwurst von Hebrew Brothers, zerschnitt zweidavon und briet sie in der Pfanne an. Dann legte er sie aufeine Platte, deckte sie mit Aluminiumfolie zu und stellte sieanschließend in den Backofen, um sie warm zu halten. Ergab ein paar Tropfen Magermilch zu den Eiern, fügte Salzund Pfeffer hinzu und schüttelte das Ganze kräftig durch,bis es schaumig war. Dann goß er es in die Pfanne, undsofort begannen die Eier überall am Rand zu brutzeln undin der Mitte Blasen zu werfen.

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Das Geheimnis bestand darin, das Ganze langsam zubraten und zu warten, bis das Ei durch und durch gar war.Dann drehte Marino die Platte auf 60 Grad herunter. Erschnitt Frischkäse in dicke Vierecke und setzte sie in dieMitte des Omelettes, das er dann mit geübtem Griffzusammenfaltete. Kurz darauf schaltete er den Herd ganzaus. Nach wenigen Minuten war der Frischkäse heiß, under konnte das Omelette servieren. Er teilte es, allerdingsalles andere als gerecht, nickte, und löffelte dann nochErdbeermarmelade darauf. Schließlich legte er je eineBockwurst auf die beiden Teller und brachte das Frühstückins Wohnzimmer.

»Wir könnten eigentlich die Klapptabletts benutzen«,sagte er und deutete mit dem Kinn auf ein Metallgestell mitTabletts, das in einer Ecke beim Fenster stand.

Jimmy klappte zwei von ihnen auf und legte eins vor denLehnstuhl und das andere dorthin, wo er auf der Couchsaß.

»Wenn du willst, kannst du dir noch Senf zu der Wurstnehmen«, sagte Marino und schnitt sein Omelette an.

»Danke, brauche ich nicht.«

»Sag Bescheid, wenn du noch mehr Marmelademöchtest.« »Ich mag aber Trauben am liebsten«, gestandJimmy. »Pech für dich«, gab Marino zurück.

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9Scarpetta kam mit dem US-Airways-Flug 301 an,

nachdem sie wie immer einige Male das Flugzeugwechseln mußte und zu weit entfernten Gates im Flughafenvon Charlotte gehastet war. Dort strandete manunausweichlich, ganz gleich wohin einen die Reise auchführte, und sei es zum Leben nach dem Tod. IhrenMercedes hatte sie auf dem Langzeitparkplatz beimRichmond International Airport stehen lassen, undversuchte nun vergeblich die Fahrertüre zu öffnen, da siezugefroren war. Kleine Eiszapfen hingen am Türgriff.

Sie trug auch keine Stiefel, weil sie ihr für die Reise nachMiami nicht notwendig erschienen waren. Sie versank mitihren Halbschuhen im Schnee, während sie herumrutschteund sich abmühte. Schließlich ging die Tür mit einem Ruckauf. Doch jetzt mußte sie die Scheiben noch freikratzen.Sie ließ den Motor an und drehte als erstes die Heizunghoch. Mit dem Eiskratzer befreite sie erst dieWindschutzscheibe, dann Seitenfenster und Heckscheibeund schließlich die Spiegel vom Schnee. Mit größterSorgfalt reinigte sie jeden Quadratzentimeter von Schneeund Eis, denn sie war die letzte, die bei eingeschränkterSicht gefahren wäre. Wie viele Fälle hatte sie erlebt, beidenen jemand wegen eines toten Winkels ums Lebengekommen war! Sie stieg ein und schnallte sich an. Sie

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fuhr stets defensiv, weil sie wußte, daß vieleVerkehrsteilnehmer ihre Besorgnis nicht teilten und keinenGedanken an die anderen verschwendeten. Viele Fahrerlinsten durch die Bögen, die ihre schwerfälligenScheibenwischer notdürftig freigelegt hatten. Vom Dachihres Wagens wirbelten ganze Schneeberge auf dieWindschutzscheiben der folgenden Autos.

Scarpetta nahm die I-64 West, fuhr an der Ausfahrt FifthStreet herunter und schlängelte sich zur Schnellstraße indie Innenstadt, wobei sie an ihrem alten Arbeitsplatz Ecke

Fourteenth und Franklinstreet vorbeikam. Es warkeineswegs so, daß sie ihre Arbeit in diesem häßlichen,vierstöckigen Gebäude aus Betonfertigteilen mit seinenkleinen Fenstern und lauernden Ansteckungsgefahrenvermißt hätte, doch wurden viele Erinnerungen wiederwach. Sie dachte an Episoden, die sie durchlebt hatte, anLucy als kleines Mädchen, an Beziehungen, die Narbenhinterlassen hatten. Scarpetta dachte auch an den Tod, andie, um die sie sich kümmern mußte und die einmal in dieSchlagzeilen gekommen waren. An jeden einzelnen Namenkonnte sie sich zwar nicht erinnern, aber sie sah dieGesichter ihrer Patienten immer noch vor sich und erinnertesich an kleinste Einzelheiten, die sie von ihnen in Erfahrunggebracht hatte.

Die Schornsteine auf dem Dach des alten Gebäudeswaren mittlerweile verwaist und kalt, das Krematorium warschon seit Jahren stillgelegt. Die Straßen in Windsor

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Farms waren von Reifenspuren zerfurcht und versanken imSchneematsch, der am Abend überfrieren würde.Vorsichtig fuhr sie die Dover Road hinunter in das neueViertel, in dem sie wohnte. Roy, der Wächter imWachhäuschen, winkte sie durch, wie immer erfreut, sie zusehen, denn sie schätzte seine Arbeit und gab es ihmimmer wieder zu verstehen. Sie wußte, welche Gefahrenjenseits der schmiedeeisernen Umzäunung und derBacksteinmauern lauerten. Sicher viel öfter, als sie es sichvorstellte, hatte Roy ihr zwielichtige Zeitgenossen vom Halsgehalten. Als sie Lucys alten grünen Kombi und die Autosihrer Freunde in der Auffahrt stehen sah, stieg Freude in ihrauf. Miami war furchtbar gewesen, und Schnee rief beiScarpetta manchmal Gefühle der Einsamkeit hervor. DerGedanke an die muntere Gesellschaft jedoch hob ihreStimmung.

Sie schloß die Haustür auf, ging in den Flur und stellte ihrGepäck auf dem Dielenboden ab. »Wir sind hier!« riefLucy.

»Willkommen zu Hause!«

»Vielen Dank, daß wir noch bleiben durften!«

Scarpetta folgte dem Klang der gutgelaunten Stimmenaus dem Wohnzimmer, wo die Frauen immer noch trägeam Kamin saßen. Ihre Pistolen und anderen Waffen lagennach wie vor offen herum. Decken, Kissen, Bierflaschenund Whiskygläser waren auf dem Teppich verstreut.

»Letzte Nacht haben wir alle hier geschlafen«, erklärte

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Lucy ihrer Tante.

»Das hört sich ja lustig an«, antwortete Scarpetta.

»Es war toll.«

»Daran waren nur die Plätzchen schuld.« »Probier mal,wo wir sie reingetunkt haben. Der Baileys war schuld.«

»Dr. Scarpetta, wir bringen hier alles wieder in Ordnungund sind auch schon so gut wie weg. Vielen Danknochmals.«

»Wegen mir brauchen Sie jetzt nicht urplötzlich zuverschwinden«, sagte Scarpetta. »Es wird Glatteis geben,und es sieht so aus, als würde es bald wieder schneien.Von ihnen muß doch bestimmt keiner gleich wieder ansSteuer.«

Dabei dachte sie gar nicht an das Wetter.

»Heute waren wir ganz brav«, versicherte Lucy. »NurKaffee und Mineralwasser. Aber du hast ganz recht.« Sieschaute ihre Freundinnen an. »Ich finde auch, daß ihr nichtauf der Stelle zurückmüßt.«

Scarpetta warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war kurz vordrei. Zeit genug, um ihren berühmten Eintopf zu kochen.

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Scarpettas berühmterEintopf

Conditio sine qua non ist ein Topf, der groß genug für einRestaurant wäre und an die 20 Liter faßt. Meistens, soauch heute, benutzte Scarpetta zwei Töpfe gleichzeitig,weil ein Topf für die Menge von Zutaten nicht ausreichte.Das Fleisch war das Wichtigste; sie nahmTruthahnhackfleisch, ein in Würfel geschnittenes Filetstück,von dem alles Fett entfernt war, Kalbfleisch undHähnchenbrust aus der Gefriertruhe. Sie legte das Fleischzum Auftauen in die Mikrowelle. Anders als Marinobeschleunigte sie diesen Prozeß nicht. Es gab noch genuganderes zu tun.

Trotz Lucys Protesten traten Pachelbel, Beethoven undMozart an die Stelle von Annie Lenox und Meat Loaf.Scarpetta öffnete zwei Flaschen roten Tafelwein undbegann Kühlschrank, Schränke und Speisekammer zuplündern; sie nahm alles heraus, was ihre Phantasie fürbrauchbar hielt. Wenn Sie dieses Rezept nachkochenwollen, ist es wichtig, daß Sie das Wesentliche vonScarpetta übernehmen. Alles Weitere ist IhreAngelegenheit. Nehmen Sie einfach, was Sie gerade zurHand haben, und machen Sie das Beste daraus. Aber wasfür jeden Mordprozeß gilt, gilt auch hier: Der Eintopf wird

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nur so gut, wie es das eingereichte Beweismaterial zuläßt.Wenn Sie mit Ihrer Zeit knausern oder mit den Zutaten,werden Sie genau das bekommen, was Sie kochen.

Es steht außer Frage, daß dieses sensationell herzhafteund liebevolle Gericht viel Mühe macht. Scarpetta bandsich eine Schürze um und begann, Vidalia-zwiebeln, roten,gelben und grünen Paprika, frischen Oregano, Basilikumund Petersilie zu hacken. Dann schnitt sie kleine Karotten,Kürbis, Spargel, frische Pilze und hülste die Erbsen aus.Mit ihren geschälten Tomaten, selbst eingemacht, war siegeizig. Waren sie alle aufgebraucht, gab es bis zumSommer keine neuen. Sie öffnete die Dosen und mixtealles in einer riesigen Glasschale zusammen. Sorgfältigschälte sie zwei Knoblauchzehen und zerdrückte sie in derKnoblauchpresse. Zusammen mit Salz und frischgemahlenem Pfeffer rührte sie es mit dem Gemüsezusammen.

Sie goß einen Eßlöffel Olivenöl in jeden Topf und stelltedie Platten auf mittlere Hitze. Das Fleisch war inzwischenso weit aufgetaut, daß sie es verarbeiten konnte. Sie gabungefähr die gleiche Menge Truthahn in jeden Topf undschnitt Filet und Huhn in kleine Stücke. Während esbräunte, machte sie Gemüsesaftkonserven undTomatendosen auf. Man beachte, daß die drei wichtigstenElemente in ihrem Eintopf Tomaten, Knoblauch undRotwein sind. Sie sollten nach Geschmack großzügigeingesetzt werden, aber ohne zu übertreiben. Sonst trägtder Eintopf nicht Scarpettas Handschrift.

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Gegen vier schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein undverteilte den Rest der Flasche auf die beiden Töpfe. Umfünf kochte der Eintopf vor sich hin, und sein Duft zog durchdas ganze Haus. Scarpetta schenkte sich noch ein GlasWein aus der zweiten Flasche ein. Der Rest kam in dieTöpfe, die sie danach mit einem Deckel zudeckte;anschließend reduzierte sie die Hitze. Sollte der Eintopfauch nur ein klein wenig anbrennen, wäre er ruiniert. Auchhier ist Geduld die Hauptsache. Gut Ding will Weile haben,so ist es nun einmal.

»Er muß jetzt noch ein Weilchen köcheln«, erklärteScarpetta ihren Gästen, als sie ins Wohnzimmer kam undsich die Hände an ihrer Schürze abtrocknete.

»Es lohnt sich, das kann ich euch jetzt schon verraten«,versprach Lucy ihren Freundinnen.

»Später mache ich dann noch Brot«, fuhr Scarpetta fort.»Wir können so gegen acht essen. Wer morgen noch zumMittagessen da ist, wird sehen, daß der Eintopfaufgewärmt sogar noch besser schmeckt.«

Idealerweise sollte er mindestens fünf Stunden vor sichhinköcheln.

»Können wir Ihnen nicht irgendwie zur Hand gehen?«fragte eine der ATF-Beamtinnen.

»Nein.« Scarpetta lächelte. »Er gelingt nur, wenn ich ihnselbst mache. Wenn jemand anders Hand anlegt, gehtimmer was schief. Immer. Und vor allen Dingen nehmen

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Sie nie teuren Wein«, fügte sie hinzu, als sie wieder in dieKüche ging. »Das verträgt er nicht.«

»Er?« staunte die FBI-Agentin.

»Jeder Eintopf hat seine eigene Persönlichkeit«, erklärteLucy. »Wie ein Mensch. Es ist schon komisch, aber jedesGericht spiegelt irgendwie wider, woher Tante Kay geradekommt.«

»Meinst du, ihr Essen ist eine Projektion ihrer selbst?«

»Ist das so eine Art Reflexion?«

»Etwas Taoistisches?«

»Ja, so ungefähr«, meinte Lucy.

»Ich finde, das macht Sinn. Wirklich. Genauso wieKleidung oder die Wohnungseinrichtung uns viel über denjeweiligen Menschen erzählen.«

»Genau«, sagte Lucy. »Und je pfeffriger er ausfällt, destomehr solltet ihr euch vorsehen.«

»Wie sieht’s denn mit Knoblauch aus?« »Vertreibt böseGeister. Je mehr Knoblauch sie verwendet, um so mehrandere Zutaten hat sie noch hineingetan, von denen sieeuch nichts erzählt«, antwortete Lucy.

»Und was, wenn sie mehr Fleisch gehackt hat alsgewöhnlich?«

»Oder sich Mundschutz und Handschuhe überstreift, umGemüse zu schneiden?«

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»Oder einen Muskelmagen seziert?«

Die Frauen wurden allmählich albern.

»Wir sollten Marino einladen«, schlug Lucy vor.

»Hattest du nicht gesagt, die Straßen seien glatt?« »Erfährt einen Lieferwagen mit Schneeketten«, antworteteLucy.

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10Marino hatte Mrs. Simpson abgeholt und wollte sie und

Jimmy gerade vor ihrem Haus aussteigen lassen, als seinMobiltelefon klingelte. Es war Lucy.

»Was machste ‘n grad so, Bursche?« fragte Lucy laut.

»Wer spricht denn da?« fragte Marino, als wisse er esnicht.

»Dein Spitzel, Mann.«

»Und welcher?«

»Kann ich dir doch nicht über Mobiltelefon sagen, duDrecksack. Komm um zweiundzwanzig Uhr fünfundzwanzigins West End, übliche Stelle.«

»Bleib mal ‘n Moment dran«, sagte Marino und hielt dieMuschel mit seiner großen Hand zu. Jimmy und seineMutter saßen im Lieferwagen, der Junge vorne, seineMutter hinten.

»Gute Nacht dann also«, sagte Marino. »Und laß es dirnoch einmal gesagt sein, du kleiner Wicht.« Er knuffteJimmy in die Rippen. »Noch ein Schneeball auf mein Haus,und alles ist aus. Jugendgericht. Todestrakt. Kapito?«

Jimmy hatte zwar keine Angst mehr, wirkte aber plötzlichganz traurig. Seine Mutter war sehr still. Eigentlich war sie

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selbst noch ein Kind. Sie trug einen alten Kordmantel mitPelzimitat und sah müde und bleich aus.

Plötzlich kam Marino eine Idee.

»Moment mal«, sagte er zu ihnen. »Hey, hört mal«, sagteer dann in die Muschel. »Gib mir doch mal den Doc.«Scarpetta kam an die Leitung.

»Wo stecken Sie, und warum sind Sie nicht hier?« fragtesie. »Ich koche gerade einen Eintopf.«

»Verdammt, das ist ja ein Volltreffer«, sagte Marino. Esschien ihm ernst zu sein. »Ich dachte mir schon, daß Sieam

Kochen sind. Machen Sie doch immer, wenn Sie beiIhrer Mutter und Ihrer durchgeknallten Schwester waren.«

»Hüten Sie Ihre Zunge«, beschied Scarpetta ihm.

»Haben Sie genug für zwei weitere hungrige Mäuler?«

»Haben Sie sie gecheckt?« fragte sie zurück. »Bei demJungen bin ich mir nicht so ganz sicher«, sagte Marino undwarf dem Jungen einen Blick zu, der hart undfurchteinflößend wirken sollte. »Aber ich werde ihn schonim Auge behalten.«

Damit war die Sache für sie in Ordnung. Scarpettakannte Marino gut genug, um zu spüren, daß seine Gästeetwas Besonderes waren und etwas Warmes gut brauchenkonnten. Er hatte schon früher merkwürdige Gestaltenmitgebracht, nie aber jemanden, gegen den sie etwas

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einzuwenden gehabt hätte.

Die Ketten krallten sich ins Eis und schlugen rhythmischauf, als er aus der Einfahrt des Simpsonschen Hauseswieder herausfuhr und der Straße zum Turnpike Midlothianfolgte. Kurz darauf gelangte er auf die I-95 Nord, wo er dieAusfahrt West Carry Street nahm. Die Straßen waren fastleer - bei diesem Wetter wohl auch besser so. Marino fuhrlangsam und blieb unter vierzig Meilen die Stunde.

»Warum tun Sie das alles für uns?« fragte Mrs. Simpsonleise.

»Haben Sie sich angeschnallt?« Es war mehr ein Befehlals eine Frage, als er sie im Rückspiegel ins Auge faßte.»Ich bin es immer noch«, sagte sie.

»Er hat mir heute morgen ein Omelette gebacken«,prahlte Jimmy bei seiner Mutter. »Mit Käse drin undMarmelade oben drauf. Und er ißt gerne Schokoplätzchen.Ich hab ‘ne Schachtel davon auf dem Kühlschrank stehensehen. Er ist echt cool.«

»Schokoplätzchen sind nichts für dich.« Mrs. Simpsonklang müde.

»Wenn man eine Banane daraufschneidet, schon«,widersprach Marino ihr, als er vorsichtig in eine schmale,von Bäumen gesäumte Straße einbog.

Er hielt am Wächterhäuschen an und kurbelte seinFenster herunter, um Roy zu begrüßen, der an diesemschneereichen Winterabend immer noch Dienst hatte.

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»Hältst uns den Ärger vom Hals, was?« fragte Marinound zündete sich eine Zigarette an.

»Diese Cadillacs rutschen überall nur so herum.« Royschüttelte den Kopf.

»Einer von ihnen wird in den Zaun schlittern, das weiß ichjetzt schon.«

»Ich denke mir, wenn man in einem derart mit Geldgepflasterten Viertel wohnt wie diesem, dann ist einem dasWetter egal, oder?«

Roy lachte. Er war froh, daß keiner der Hauseigentümer,deren Nebenkosten sein Gehalt finanzierten, hören konnte,wie er sich auf ihre Kosten amüsierte.

»Schon was gegessen?« fragte Marino ihn.

»Nee, kann ich erst, wenn ich hier um Mitternachtrauskomme.«

»Hungrig?«

»Ich komm’ hier doch nicht weg«, erinnerte ihn Roy.»Nicht nötig«, erklärte Marino.

Die Fenster von Scarpettas prächtigem Haus warenerleuchtet, und als Marino seinen Kleintransporter zu denanderen geparkten Wagen stellte, hätte man glaubenkönnen, daß hier eine Party oder Versammlung stattfand.Mrs. Simpson fiel beim Aussteigen beinahe hin. In einemsolchen Viertel war sie noch nie gewesen, geschweigedenn als Gast in einem solch vornehmen Haus. Das

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denn als Gast in einem solch vornehmen Haus. Dasschüchterte sie plötzlich ein, aber die Dame, die dieHaustür öffnete, vertrieb alle Unsicherheiten oder Zweifel.Sie trug eine weihnachtliche Schürze über ihrerFreizeithose und dem Turtleneckpullover. Sie war hübsch,blond, blauäugig und mittleren Alters. Ihr Lächeln war warmund freundlich.

»Kommen Sie doch rein«, sagte Scarpetta, als seien sieschon seit Urzeiten miteinander bekannt. »Ich bin Kay.«

»Ich heiße Jimmy, und das ist meine Mama.«

»Du bist also der, der immer mit Schneebällen um sichwirft«, sagte Scarpetta trocken.

»Ja, Ma’am«, erwiderte Jimmy höflich, »aber ich habenicht auf ihn gezielt.«

»Das nächste Mal solltest du das vielleicht malversuchen.«

»Ja, Ma’am.«

»Und was passiert dann mit dir, he?« Marino knuffte ihn.»Dasselbe wie gestern abend, Captain. Gar nichts.«Jimmy strotzte vor Selbstbewußtsein.

Er und seine Mutter bemühten sich, keine großen Augenzu machen, unsicher, wo sie ihren Blick ruhen lassensollten. Hier standen alte Mikroskope undApothekerwaagen, dort lagen alte Bücher, und da hingenGemälde. Es gab so vieles zu bestaunen.

»So ein großes Haus hab ich ja noch nie gesehen«,

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erklärte Jimmy Scarpetta.

»Wenn du willst, zeig ich es dir«, antwortete sie.

»Wie war’s, wenn ich Roy eine Schüssel mit Eintopfbrächte?« fragte Marino.

»Es ist genug für alle da«, sagte Scarpetta. »Würden Siemir mal helfen?« fragte Marino Mrs. Simpson soselbstverständlich, als seien sie gut miteinander bekannt.

»Was?« fragte sie überrascht.

»Über dem Herd sind Tupperdosen«, sagte Scarpetta zuihnen. »Ihr beide kümmert euch um Roy, und ich nehmeJimmy mit in die Küche. Da kann er mir zur Hand gehen.«

»Auf geht’s.« Marino nickte Mrs. Simpson zu. »DieRegel, die in diesem Laden gilt, ist die, daß man sichseinen Lebensunterhalt verdienen muß.«

»Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt immer selbst«,sagte sie mit einem Anflug von Trotz.

»Ja?« Er zog sie am Ärmel in die Küche. »Spielen Siegerne Bowling?«

»Bevor Hank sich aus dem Staub gemacht hat… Ich…Ich habe in einer Mannschaft gespielt. Den Lucky Strikes.Ich bin ziemlich gut.«

»Haben Sie mal was von Silvertips gehört?«

»Nein.«

»Spitze in Sachen Munition. Hollowpoints Plus-P.«

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Sie hatte keinen blassen Schimmer, wovon er sprach,und nahm den Deckel von dem großen Topf. Der Eintopfköchelte vor sich hin und sah köstlich aus.

»Wenn Sie mal jemanden aufhalten möchten, ist esgenau das, was Sie brauchen«, fuhr er gut gelaunt fort.Bowling und Schießen waren zwei seiner Lieblingsthemen.

»Anders gesagt, wirklich destruktiv. Genau wie beimBowling.«

»Aha«, sagte sie nur.

Sie nahm eine Kelle, und als sie begann, den Eintopf inden Behälter zu füllen, fühlte sie sich schon sicherer. Marinoschüttelte eine Zigarette aus seiner Packung.

»Ich komme nie mit diesen verdammten Deckeln klar«,sagte er, als er ihr zuschaute. »Wenn Sie mich fragen, diepassen gar nicht richtig.«

»Sie müssen sie eindrücken«, sagte Mrs. Simpsonplötzlich vertrauensvoll.

»So.« Sie zeigte es ihm. »Männer sind zu ungeduldig.Darin liegt das Problem. Aber natürlich lohnt es sich füreuch, in der Küche zu nichts nutze zu sein.«

Erst jetzt bemerkte Marino, daß Jimmys Mutter glatteHaut und helle, haselnußfarbene Augen hatte. Ihre Haarewaren von dunklem Kastanienbraun und fielen ihr etwaszottelig auf die

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Schultern. Genau wie er es liebte.

»Haben Sie eigentlich auch einen Vornamen?« fragte er.»Abby.«

»Ich heiße Pete. Begleiten Sie mich zu dem Wächterdraußen?« »Gern.«

»Ist der Mantel warm genug?« »So warm wie immer.«»Sie können meine Handschuhe nehmen.« Er zog ein PaarLederhandschuhe mit Kaninchenfellbesatz aus der Tasche.

Abby Simpson hätte beide Hände in einen von ihnenstecken können. Plötzlich fing sie an zu lachen. »Bestimmtwaren sie mal Pfadfinder«, sagte sie munter.

»Nichts da«, antwortete er. »Als Jugendlicher war ichStraftäter.«

»Silvertips!« Sie mußte lachen, bis ihr Tränen in denAugen standen.

Sie traten in den Schnee hinaus. Der Dampf des heißenEintopfs und der Rauch von Marinos Zigarette lösten sich inder dunklen, schneidend kalten Luft auf.

»Ihr Junge ist ganz schön cool«, gestand Marino ihr.»Meinen Sie, es war richtig, daß ich ihn dagelassenhabe?« fragte sie, als sie an den großen, schweigendenHäusern mit ihren erleuchteten Fenstern vorbeigingen. »Ichmöchte nicht, daß er jemandem zur Last fällt.«

»Schon zu spät«, erwiderte Marino.

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In einer Küche wie der Scarpettas war Jimmy noch nie inseinem Leben gewesen. Er hatte Fotos von ähnlichenKüchen in den Zeitschriften gesehen, die seine Mutter las.Als Scarpetta eine Schublade öffnete und eine RolleReynolds-Backpapier herausholte, bekam er es plötzlichmit der Angst zu tun. Er wußte nicht, was er sagen sollte.Sie war sehr klug und irgendwie wichtig, das merkte er.

»Hier, das muß jetzt sein«, begann sie und band ihmeine Schürze um. »Jetzt spiele nicht den harten Burschenund werde nicht nervös, okay? Einige der besten Köchesind Männer, und die tragen alle Schürzen, und da ist auchnichts Verkehrtes dran.«

Jimmy starrte die steife schwarze Schürze an, in die ereingewickelt war. Sie reichte ihm bis zu den Knien und warmit einem bunten Wappen verziert.

»Das ist meine Spezialschürze«, fuhr sie fort. »Die darfnicht jeder tragen.«

»Wieso ist sie was Besonderes?« Er war heilfroh, daßMarino ihn nicht in diesem Aufzug sehen konnte.

»Da ist mein Familienwappen drauf.« Sie öffnete dieBackofentür, und eine Welle von Hitze und der Geruch desfrischgebackenen Brotes sorgten dafür, daß Jimmy sichwarm und wohlig fühlte.

»Was ist denn ein Wappen?« fragte er.

»Hmm.« Sie versuchte, sich eine gute Analogieauszudenken, während sie mit Topflappen das Blech aus

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dem Ofen holte und auf den Herd stellte. »So wasÄhnliches wie die Zeichen, die du von Nike, Speedo, denAtlanta Braves oder den Redskins kennst. Etwas, das füreine Person steht, ein Team, eine Marke oder so.«

»Was soll ich mit der Alufolie machen?« fragte Jimmy.»Darin wickeln wir das Brot ein, um es warm zu halten, bisMarino und deine Mutter wieder da sind.«

»Die lassen sich echt Zeit«, fand Jimmy. Mit einemMessergriff schlug Scarpetta leicht gegen die Ränder desBrotbleches. »So kann ich das lockern. Jetzt wird esgestürzt, so, und fertig ist die Geschichte.«

Das Brot war goldbraun und perfekt geformt. Jimmy rißein langes Stück Alufolie ab. Seine Fingernägel wareneingerissen, schmutzig und bis auf das Fleisch abgekaut.Als er merkte, daß sie hinschaute, schob er seine Händerasch in die Hosentaschen. Er spürte, daß er rot wurde.

»Ich nehme mal an, du warst schon mal beim Arzt undauch beim Zahnarzt«, sagte Scarpetta und legte das Brotauf die Folie.

»O ja. Die geben Spritzen.«

»Hast du mitbekommen, wie Ärzte und Zahnärzte sichschrubben?« »Weiß nicht.«

»Sie waschen sich ganz oft die Hände«, erklärte sie ihm.Sehr sorgfältig. Und das tue ich auch. Ich muß mir dieHände jeden Tag mindestens ein dutzendmal bei derArbeit waschen.«

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»Oje«, sagte er.

»Um die Bazillen und dergleichen abzutöten.« »Mamasagt immer, Bazillen sind klitzekleine Würmer, die mannicht sehen kann. Sie krabbeln in einem herum, wenn mannicht badet oder sich nicht die Zähne putzt.«

»Das stimmt so in etwa.« Scarpetta stellte einenSchemel dicht vor die Spüle.

»Stell dich mal da drauf«, forderte sie Jimmy auf. Erfühlte sich unsicher, als er hochstieg, aber es machte ihmSpaß, so groß zu sein wie sie.

»Da schau mal«, sagte sie. »So habe ich das damalsauch immer mit Lucy gemacht. Ganz egal, was sie geradeanstellte, immer hat sie sich dreckig gemacht.«

Scarpetta begann, Jimmy die Hände zu waschen. Es warein schönes Gefühl, aber das würde er ihr nie gestehen.Als sie fertig war, trocknete sie ihm die Hände mit einemsauberen Geschirrtuch ab. Er stieg wieder hinunter und sahsie an. Was stand ihm als nächstes bevor?

»Hast du Hunger?« fragte sie ihn.

»Ja Ma’am, ein bißchen schon.« Sein Magen fühlte sichan wie ein großer Hohlraum, und alles, was es inScarpettas Küche zu sehen und zu riechen gab, warunerträglich schön. »Ich kann aber warten«, fügte er hinzu.

Scarpetta goß ihm ein Glas Milch ein, ließ ihn amKüchentisch Platz nehmen und legte ihm eine Serviette auf

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den Schoß. Er sah ihr zu, wie sie den Eintopf umrührte undden harten gelben Käse rieb. Dann wickelte sie das Brotaus, schnitt den Knust ab — sein Lieblingsstück - undbestrich es dick mit Butter. Sie holte einen Mixbecher vomSchrank und gab Zimt und Zucker auf das heiße Butterbrotund noch einen Schlag Kakaopulver obendrauf.

»Ich nenne das immer Cappuccinobrot.« Sie blinzelteihm zu und lächelte.

Dann legte sie den Leckerbissen kurz in den Grill undservierte ihn knusprig und heiß.

»Das verstößt natürlich gegen alle meine Regeln, wie dudir denken kannst. Wahrscheinlich hast du dann zumAbendessen keinen Hunger mehr.«

»Doch, doch, bestimmt, Ma’am.«

»Es bleibt aber unser Geheimnis.« Sie setzte sich zu ihman den Küchentisch.

»Ich werde es niemandem verraten«, versprach er.

Jimmy hatte eigentlich vor, höflich zu sein und langsam zuessen, nur kleine Bissen zu kauen, wie es seine Mutter ihmbeigebracht hatte. Aber im Nu war das Brot verschwundenund wärmte ihm den Magen. Seine Hände wischte er sichan den Jeans ab.

»Mehr kriegst du aber nicht«, eröffnete ihm Scarpetta.»Das ist okay.« Er war verlegen und wollte nicht, daß siedachte, er hätte womöglich gerne noch mehr gewollt -

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obwohl das natürlich der Fall war.

»Weil du doch noch Eintopf essen sollst. Und Salat.«

»Ja, das werde ich bestimmt, Ma’am«, versicherte ihrJimmy. »Ich kann eine Menge verdrücken. Bergeweise.«

»Hast du schon mal ein Mikroskop gesehen?« fragteScarpetta, als sie aufstanden.

»Was ist ein Mikroskop?« fragte er zurück. »Etwas, daskleine Dinge ganz groß machen kann«, sagte Scarpettaund nahm in an die Hand.

Und gemeinsam verließen sie die Küche.

Der größte Spaß an diesen Rezepten ist das Fehlengenauer Maßangaben. Improvisieren Sie, und geben Siejedem Gebräu Ihre persönliche Note.

Schreiben Sie’s auf! Ihre