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6 VIVEKA 54 Âsanapraxis neu denken Kein König mehr und keine Königin?

Kein König mehr und keine Königin? Âsanapraxis neu denken · Yogapraxis eigentlich tut. In fast allen Gesundheits- und Well-ness-Ratgebern wird dem Dehnen eine große Bedeutung

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Âsanapraxisneu denken

KeinKönig mehrund keineKönigin?

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Mit der Forderung, Methoden undInhalte des Yoga auf dem Hinter-grund eines soliden und aktuellenWissens zu unterrichten, scheintman in der Yogaszene immer offeneTüren einzurennen. Wer möchte dasnicht!

Stellt sich dann aber die Frage, wasdamit konkret gemeint ist, sieht dieSache schon etwas anders aus. Auf welches Wissen beziehe ich mich inmeiner Unterrichtskompetenz? Binich in der Lage, die Inhalte meinesUnterrichts, was ich erkläre und wasich praktisch anleite, auf transparen-te Weise immer wieder einer Refle-xion zu unterziehen? Zum Beispieldarüber, was gesundes Üben ausmacht. Oder darüber, welche Wirkungen ich von einer Âsana -praxis erwarten kann. Und darüber,ob die dazu gehörigen Begründungen unserem heutigen Wissen über denMenschen entsprechen.

Wo finden wir einen öffentlichenYoga-Diskurs diesen Inhalts?

In unserem bescheidenen Rahmender Viveka-Publikationen führen wirseit Jahren Diskussionen zu solchen Fragen. Darauf ebenso wie auf Interviews in Zeitschriften oderFernsehsendungen, bei denen wir

mitwirken, erhalten wir regelmäßigsehr viele positive Rückmeldungenvon Kolleginnen und Kollegen. Offensichtlich schätzen viele Yoga -lehrer Innen eine Diskussion und kritische Reflexion ihrer Arbeit.Aber von einer breiteren Diskussionskultur im Yoga kann hierzulande noch keine Rede sein.

Einen Schritt weiter scheinen da unsere Yoga-KollegInnen in Nord-amerika zu sein. Wir berichten indiesem Artikel darüber, wie sichdort auf zeitgemäße Weise in inzwischen zahlreichen Blogs ein offener und kompetenter Austauschüber alle Fragen entwickelt, die unsdie Arbeit mit Yoga heute stellt.Als Ermunterung zu mehr Reflexionsfreude auch bei uns.

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Yogapraxis eigentlich tut.In fast allen Gesundheits- und Well-

ness-Ratgebern wird dem Dehnen einegroße Bedeutung zugesprochen. Fragtman jedoch jemanden, was Dehnen ei-gentlich ist, so findet man, dass kaumjemand eine Idee davon hat. Wir assozi-ieren die Empfindungen, die wir haben,wenn unser Körper in die eine oder an-dere Position gebracht wird, oder vonihm gefordert wird, sich auf neue Artund Weise zu bewegen mit einer Ab-straktion, die wir »Dehnen« nennen.Und heutzutage, wo viele Menschendarauf aus sind, sich zu dehnen, sind esoft Yogagruppen, die sie aufsuchen,weil sie mangels anderer Referenzen aufden Gedanken gekommen sind, dass

Die weit verbreitete Vorstellung,»Yoga ist Dehnen« (stretching) basiertauf einem fundamentalen Missverständ-nis, und dies sowohl in Bezug auf Yogaals auch auf die menschliche Anatomie.Die wissenschaftliche Forschung hatheute über weite Strecken tief verwur-zelte Vorstellungen über das Dehnenaufgebrochen. In der Konsequenz mussauch die Sprache hinterfragt werden,die Yogalehrende ebenso wie die Me-dien benutzen, um zu beschreiben, was

AUS DEN VIELEN englischsprachigenDiskussionsforen über Yogapraxis ha-ben wir für Sie heute zwei Beiträge aus-gewählt und mit freundlicher Genehmi-gung der Autoren übersetzt.

Der erste stammt vom Blog von J.Brown, Yogalehrer, Schreiber undGründer des Abhyasa Yoga Center inBrooklyn, NY. www.jbrownyoga.comEr hat in der Zeitschrift Yoga TherapyToday, dem International Journal ofYoga Therapy, und in der Yoga-Blogo-sphäre veröffentlicht. Sein Artikel han-delt vom gegenwärtigen Wissensstandzum Dehnen und vom Image des Yogaals einer Übungspraxis, die unbegrenzteGelenkigkeit und Dehnfähigkeit ver-spricht. Und davon, dass viele der Para-digmen, die über die letzten 50 Jahre inder Muskel- und Körperforschung gal-ten, gerade einer Revision unterzogenwerden.Wir werden uns in der nächsten Ausga-be von VIVEKA ausführlich mit demThema Dehnen beschäftigen.

Der Verfasser des zweiten hier vorge-stellten Blog-Beitrags ist MatthewRemsky, ein kanadischer Yogalehrer,lange Jahre trainiert in Iyengar-Yoga.www.matthewremsky.comWir haben in der letzten Viveka-Ausga-be schon einmal aus seinem Blog zitiert. Er nimmt Bezug auf eine durch die Lei-terin eines großen Yogastudios ausge-löste Diskussion: Sie hatte ihren Studio-besucherInnen ausdrücklich untersagt,dort weiterhin den oft so genannten»König der Asanas« ebenso wie deren»Königin«, also den Kopfstand und denSchulterstand zu üben: »King andQueen no more?«

Diskussion

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J.Brown

Yoga istnichtDehnen*

* http://www.jbrownyoga.com/blog/2015/5/yoga-is-not-stretching

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Yoga nur eine elegante Art des Dehnens(stretchout) sei.

Eine Studie, die in der Juni-Ausgabedes Journal of Clinical Biomechanics ver-öffentlicht wurde, fand keinerlei Verän-derungen in den Muskeln und Sehnenvon Probanden, die man sechs Wochenlang einer kontinuierlichen dehnendenÜbungspraxis unterworfen hatte: Das,was wir typischer Weise als »Dehnen«verstehen, macht Muskeln nicht länger.

Als ich aufwuchs, mussten wir imTurnunterricht immer versuchen, unsereZehen zu erreichen. Manchen Kinderngelang das leicht, anderen nicht. Wirwurden aufgefordert zu »federn«. Icherinnere mich an ein Gefühl von zweiStahlkabeln auf der Rückseite meinerBeine, die immer straffer und längerbeim Ziehen wurden. Dies begleitetemich über meine ganze Jugend hinwegbis in die Zeit meines Kontaktes mitYoga hinein. Ich war entschlossen, mei-nen Körper in eine ultimative Erleuch-tungsmaschine zu verwandeln und be-reit, jeden Schmerz auszuhalten, der mirdabei in die Quere kam.

Mein Bewegungsumfang vergrößer-te sich. Aber dies hatte einen Preis. Eswar eine echte Leistung, auch noch denRest zu erreichen in jenem Sommer, indem ich das zu meinem Lebenszielmachte. Und ich genoss es, das ganzefolgende Jahr in jeder Yogagruppe, dieich besuchte, meine Leistung zu zeigen.Die degenerativen Veränderungen unddie Schmerzen, mit denen ich jetzt inmeinem Ileosacralgelenk zu tun habe,scheinen diese Anstrengung kaum wertgewesen zu sein. Nach und nach wurdeder Wunsch, es möge mir besser gehen,wichtiger als die Âsanas. Und ich be-gann zu entdecken, dass eine ganzeMenge der Beschwerden in meinemKörper nicht daher rührten, dass meine»Energie blockiert« oder »Toxine ausge-schwemmt« wurden, sondern das na-türliche Ergebnis einer schrankenlosenVerfolgung unbegrenzter Flexibilität wa-ren, für die ich immer wieder gelobtworden war und ermuntert, sie nochweiter zu treiben.

Es ist nicht dasselbe, Muskeln in dieLänge zu ziehen und einen Menschendaraufhin zu konditionieren, den Signa-len zu widerstehen, die feuern, wennwir unseren Körper über den Punkt hin-aus zwingen, der noch sicher ist.

Ehrlich gesagt, bin ich nicht so sehrauf Anatomie aus. An einem bestimm-ten Punkt verschlingt ein zu wissen-

schaftlicher Blick alle Magie. Aber dasAnsehen eines Videos, das zeigt, wieMenschen mit begrenztem Bewegungs-spielraum unter Narkose auf wundersa-me Weise ihren vollen Bewegungsum-fang erreichen, ist schon eine Offenba-rung! Es mag verrückt klingen, aber wiralle haben diesen vollen Bewegungsum-fang, wenn wir in Narkose versetzt wor-den sind. Was daraus klar hervorgeht,ist, dass das, was Bewegung begrenzt,nicht allein durch unsere Muskeln be-stimmt wird. Und noch wichtiger dann– wenn nicht durch die Muskeln – vonwo kommt uns denn die Beweglichkeitund die Stabilität zu, die ein gesundesfunktionierendes System kennzeichnet?

Die technischen Schlüssel zur Beant-wortung dieser wichtigen Fragen müs-sen anderen überlassen werden, die sichin diesem Feld besser auskennen als ich.Aber anstatt in der Lage zu sein, dieseEnthüllungen empirisch zu erklären,fühle ich mich verpflichtet, wenigstenseinige Aussagen aus meinem üblichenErklärungspool in Frage zu stellen, dieich in meinem Yogaunterricht seit Jah-ren gebe. Und ich denke, andere Yoga-lehrende sollten das auch tun.

Ein kurzes Überfliegen der Inhalte,die Yogalehrende, Medien und die Fit-ness-Industrie im Allgemeinen verbrei-ten enthüllt eine grobe, schlecht infor-mierte Verwendung anatomischer Platti-tüden auf dem Hintergrund einer sehrmangelhaften Information. Die Versu-che, einfache Antworten auf komplexeFragen zu geben, mögen gut gemeintsein. In ihrem Trachten danach, diffe-renzierte Phänomene des menschlichenSystems durch unrichtige Aussagen –und was noch schlimmer ist, falsche In-halte – zu erklären, erweisen sie uns al-len aber einen Bärendienst.

Jene weit verbreiteten Listen vonYogahaltungen, die auf bestimmte Be-schwerden abzielen, sind eine komplet-te Mogelpackung. Âsanas als zielgerich-tete Dehnungen anzubieten, unterstellteine Uniformität menschlicher Körper,die nicht existiert und führt dazu, eintieferes Verständnis davon, wie wir unsbewegen und wie wir uns fühlen, zuvernebeln.

Letzten Monat schrieb ich einen Ar-tikel, den ich »Die Langsam-Yoga-Revo-lution« (»Slow Yoga Revolution«) ge-nannt habe. Die überwältigend zustim-mende Unterstützung, die ich für diePropagierung einer langsameren, einfa-cheren und aufmerksameren Praxis be-

kam, war beeindruckend. Es sieht soaus, als ob auch andere die Leistungsal-lüren hinter sich lassen und statt dessendas Subtilere in Angriff nehmen! Alldenjenigen, die mit dem hier Gesagteneinig sind, möchte ich etwas nahelegen:Zum Verändern des Dialogs rund um dieYogapraxis gehört es auch, darin klarerzu werden, was wir nach außen hinkommunizieren, und nicht mit den altenMythen fort zu fahren.

Ich bin also raus aus dem Dehnen.So weit ich sagen kann, ist es wirklichnicht ein so großes Ding! Und selbstwenn jemand einen anatomisches Argu-ment dagegen einbringen würde – dieGründe, weshalb sich Leute mit einerYogapraxis besser fühlen, umfassenmehr als unsere Fähigkeit, uns auf demFeld der Physiologie zu artikulieren.

Meiner Erfahrung nach fühlt es sicheher wie ein angenehmes Gelöst-Seinan als eine intensive Empfindung an,wenn meine Muskeln sich längen, meinKörper sich frei bewegt, Schmerzennachlassen. Nicht so, wie es sich an-fühlt, wenn diese harten Seile an derHinterseite meiner Beine kräftig gezo-gen werden, sondern eher wie die zarteBerührung einer liebevollen Hand, diemeine Nerven beruhigt. Es fühlt sich wieein Weich-Werden an. Es fühlt sich si-cher an. Es hat nichts mit Dehnen zutun.

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Der Rahmen des ProblemsLeena Miller Cressmann, meine Kollegin... aus Ontario, hat kürzlich eine Erklä-rung dazu auf ihrer Facebook-Seite ge-postet, warum in ihrem Studio keinKopfstand und kein Schulterstand ge-lehrt werden, und warum sie einen –manche würden sagen radikalen -Schritt weiter gegangen ist und alle inihrem Studio Übenden auffordert, dieseHaltungen dort auch außerhalb desUnterrichts nicht zu üben. Ihr Argumen-te sind diese:

1. Die oft übermäßig gepriesenenGesundheitsvorteile, die der »König unddie Königin« der Âsanas bewirken sol-len, sind nicht ausreichend durch diemedizinische Literatur belegt.

2. Die meisten Nordamerikane-rInnen bringen Vor-Schädigungen derHalswirbelsäule mit, was das Risiko er-höht, Gewicht darauf zu geben.

3. Cressmanns persönliche Erfah-rungen mit Schmerzen in Zusammen-hang mit diesen Haltungen haben sie

UND NUN ZUR Diskussion um die Sinn-haftigkeit des Übens von Kopfstand undSchulterstand. die Remsky in seinemBlog* angestoßen hat.

Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wieein mutiger Schritt heraus aus einer an-geblichen »Tradition« KollegInnen zumDenken und zum Diskutieren anregenkann – und wie schwer es vielenYogaunterrichtenden fällt, auf alte Ge-wohnheiten zu verzichten, selbst wennsie erkennen, wie überholt diese sind.

Und was für eine lebendige Diskus-sionskultur spricht: Sein Beitrag wurdeübernommen vom Blog eines bekann-ten Yoga-Internetportals »YogaInterna-tional – Living Tradition, Modern Life.**

Diskussion

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überzeugt, dass selbst ein hohes Yoga-trainings-Niveau (verglichen mit der all-gemeinen Norm), sie und ihr Team nichtin die Lage versetzt hat, den Gesund-heitszustand der Wirbelsäule ihrer Klien-tInnen angemessen einzuschätzen, oderdie Wirkungen dieser Haltungen ab-schätzen zu können, wenn sie über län-gere Zeit praktiziert werden.

4. Wenn die Haltungen nichtmehr in den Yogagruppen unterrichtetwerden, kann sie und ihr Team nicht si-cher sein, dass TeilnehmerInnen, die sievor, während oder nach dem Unterrichtspontan selbst praktizieren, überhauptYoga-geübt sind.

5. Der Vorzeige-Effekt der Um-kehrpositionen kann andere Teilnehme-rInnen entweder ängstigen oder sie er-mutigen, diese Haltungen ohne profes-sionelle Begleitung zu versuchen. (Die-ser 5. Punkt wird in der gepostetenNachricht nicht voll ausgeführt, aberCressmann hat ihre Überlegungen dazumit mir in einer Email geteilt).

Cressmanns Botschaft wurde von ih-rem Yoga-Kreis gut aufgenommen.Über diesen hinaus jedoch traf sie einen»spinalen« Nerv« – um es einmal saloppauszudrücken, und die Auseinanderset-zung offenbarte scharfe Differenzen(unter den Yoga-KollegInnen d.Ü.) be-züglich Ansichten, Herangehensweisenund – am wichtigsten – validem Wissen.

Begründete Bedenken gegen diePraxis von Haltungen wie der Kopfstandsind nichts Neues. Kein Geringerer alsDr. Timothy McCall, der medizinischeHerausgeber des Yoga Journal, hat dar-auf hingewiesen, dass Kopfstand »zugefährlich ist für den allgemeinenYogaunterricht«. Wie Cressman, basiertMcCalls Sicht der Dinge auf persönlicherErfahrung. Er nennt den Kopfstand alseinen möglichen Faktor für sein eigenes»Thoracic outlet Syndrom«, einen Zu-stand, in dem in periodischen Abstän-den Schmerzen in Arme und Hände ein-schießen, dies auf dem Hintergrund ei-ner neurovaskulären Kompression desSchultergürtels, (d.h. Nerven und Gefä-ße werden zusammengedrückt. Unterdem Begriff Thoracic-outlet-Syndromversteht man Beschwerden, die an deroberen Brustkorböffnung- thoracic out-let- entstehen und Symptome in Schul-tern und Armen verursachen wieSchmerzen, Taubheitsgefühle, Missemp-findungen und motorische Schwäche.Die Betroffenen fühlen sich in ihrer Le-bensqualität zum Teil schwer beein-

© YogaInternational https://yogainternational.com/article/view/king-and-queen-no-more

M. Remsky

»King andQueen nomore?«*

* http://matthewremski.com/word-press/king-and-queen-no-more-head-stand-shoulderstand-and-the-yoga-of-experience-and-evidence/

** https://yogainternational.com/article/view/king-and-queen-no-more

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trächtigt und in ihrer Alltagsfunktion be-hindert.Anm. d.Ü.)

Bei eigenen Recherchen in meinemWAWADIA-Projekt (M. Remsky hat nachErscheinen von W. Broads Buch (s.u.) ei-ne Plattform gegründet »What We AreAcually Doing In Âsanas«, auf der jedeRYogaübende seine persönlichen Erfah-rungen mit Yogaüben darstellen kann.Der Schwerpunkt des Interesses liegt da-bei, heraus zu finden, wie Übende ihreErfahrungen mit schädlichen Wirkungenihres Übens reflektieren) habe ich mitmehreren medizinischen Profis gespro-chen, die McCalls Einschätzung teilenund Zweifel in zwei Richtungen hin aus-drücken: Sie stellen in Frage, ob über-haupt ein gesundheitlicher Vorteil darinzu finden sei, die Halswirbelsäule mehrals das Gewicht des Kopfes tragen zulassen. Und sie fragen sich, wie auchCressman, danach, wie viele Leute über-haupt über die erforderliche Fähigkeit,das nötige Training und die Achtsamkeitverfügen, Umkehrpositionen sicher aus-zuführen.

Auf der anderen Seite einer wach-senden kulturellen Kluft stehen diejeni-gen Übenden mit langer Yogaerfah-rung, die behaupten, dass die besagtenHaltungen nicht nur wesentlich für diepersönliche Entwicklung seien, sondernauch absolut sicher, wenn die richtigenAnleitungen gegeben würden und dienötige Achtsamkeit vorhanden sei.Nimmt man dies alles zusammen, sozeigt sich hier das ganze Spektrum einerheiklen, unlösbaren Debatte: Ist die Po-sition in sich gesund (oder gefährlich),oder ist es gesund (oder gefährlich) nurje nachdem wie sie geübt wird? ...

Im Fall der Umkehrposition-Debattekönnte aus meiner Sicht noch eine dritteMöglichkeit darin bestehen, die Haltungals kulturelles Produkt zu untersuchen.D.h. sie also weder definiert über dieAussagen von Gurus oder Orthopädie-Größen zu betrachten, sondern über dieArt und Weise, wie sie von den meistenÜbenden praktiziert wird. Wenn manvon diesem Blickwinkel darauf schaut,könnte man vermeiden, die idealistischePosition (»diese Haltungen sind eigent-lich sicher«) zum Gegenspieler der prag-matischen (»es ist schwer, sie sicher zuüben«) zu machen.

Nehmen wir mal an, es gäbe sichereMethoden, diese Umkehrhaltungen zuüben, aber nur wenige Übende, die zudiesen Methoden Zugang hätten oderüber die Fähigkeiten dazu verfügten.

Wenn die Umkehrposition eher ein kul-turelles Ergebnis als eine ideale Formwären, die Übende anstreben sollten –was hilft es dann zu sagen, dass wer esversucht und sich verletzt, »es nur falschgemacht« hat? Und was wäre mit denÜbenden, die sicher waren, gute undpassende Anweisungen erhalten zu ha-ben – aus »Light on Yoga« von Iyengar,z.B., wo Iyengar dazu rät, im »Kopf-stand (solle) das volle Gewicht des Kör-pers allein vom Kopf getragen werden«und die Jahre später an chronischen Na-ckenschmerzen leiden?...

In der Folge lässt M. Remsky in sei-nem Blog eine Reihe von KollegInnen zuWort kommen, die er im Rahmen seineroben genannten Recherchen befragthatte. Die Aussagen sind sehr kontro-vers und reichen von großer Zustim-mung bis zur völliger Ablehnung (mitunterschiedlichen Begründungen) undeinigen enthusiastischen Berichten darü-ber wie gut der Kopfstand und derSchulterstand jemandem getan und siein ihrem/seinem Leben voran gebrachthaben. Eine Argumentation ist ebenfallssehr interessant. Sie stammt von Jill Mil-ler, die die »Yoga Tuneup« – Richtungins Leben gerufen hat, eine von vielenUS-amerikanischen Yoga-Kreationen.Sie weist darauf hin, dass, selbst wennwir von der Existenz sicherer Anweisun-gen ausgehen, die sich mit Achtsamkeitund intelligentem Üben verbinden, dasÜbenjener Haltungen die Risiken nichtwert sein könnten. Und fährt fort:

»Nur weil man die Haltung machenkann, heißt das nicht automatisch, dassman sie auch machen sollte ... Ich bineine der glücklich-unglücklichen Üben-den, die so beweglich in Schultern undNacken sind und genügend Kraft imOberkörper haben, dass ich »sicher« indiese Positionen gehen kann. Ich tue esaber nicht. Man hat nur 7 Halswirbelund die entsprechenden Bandscheibenin diesem Leben. Man hat nur ein hinte-res Wirbelsäulen-Längsband und jemehr man es dauernd überdehnt durchden Druck und die Position, die Schul-terstand oder Pflug verlangen, umsomehr Schaden richtet man in den wei-chen Geweben der Körperrückseite an.... sie können die festen Strukturennicht mehr richtig zusam menhalten ...und die Muskeln werden im Resultatüberbeansprucht.... Wir sollten ehrlichsein: Selbst wenn ein Mensch die Be-weglichkeit für diese Haltungen hat,

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wissen wir nicht, welches die »Minimal-oder die Maximal-Dosis« für die Ge-sundheit der Muskeln und Knochen indiesen Körperhaltungen sind.«

Remsky bringt nach der Darstellungdieser breiten Diskussion noch einmaleigene Gedanken ins Spiel: Da geht esum den Show-Effekt, den diese Haltun-gen erlauben – sicher wird jemand, dereinen Drehung auf dem Hocker geübthat, zu Hause angekommen nicht sagen»Whow, ich habe heute auf dem Ho-cker gesessen und mich gedreht«. Wa-rum? Weil er nur ein fragendes Lächelnvon anderen ernten würde: Hätte eroder sie den Kopfstand geübt, kämedas sicher völlig anders an.

Und er schließt seinen Blog mit ei-nem interessanten Hinweis, dass näm-lich

Cressmans Facebook-Botschaft eineMeditation über die Fragen unsererKindheit in Gang setzen kann, diewahrscheinlich uns alle auf die Yogarei-se gebracht haben:

Was ist das? Wie mache ich es? Wa-rum? Wer wird es mir zeigen? Wie kannich je sicher sein?Diese Art von Fragen und Diskussionendarüber ist es, die uns weiterbringenkann, wenn wir es denn wollen.

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zu sein. Ein Beispiel für diesen Eindruckist die Reaktion auf William Broads Buchüber Schäden durch Yoga »The Scienceof Yoga – The risks and the rewards«.In vielen Teilen des Buches trifft heuti-ges Wissen auf konkrete Erfahrungenvon Yogaübenden mit bestimmten oftgeübten Âsanas. Die einfache Botschaftlautet, dass im Umgang mit diesenÜbungen einige ernsthafte Risiken nichtgenügend beachtet werden. In der me-dialen Öffentlichkeit Deutschlands fandsie eine bemerkenswerte Resonanz; hin-gegen wurden Broads Aussagen in derdeutschen Yogalandschaft eher still-schweigend zur Kenntnis genommenund schnell dem Vergessen anheim ge-geben. Bei Yogalehrenden, die sichüber die Qualität ihres Unterrichts Ge-danken machen, sollte man aber eigent-lich etwas anderes erwarten. Zumindestein Innehalten, ein neuerliches Bemü-hen um kritische Reflexion der eigenenArbeit und das Bedürfnis, einige Fragenzu klären: Was hat es mit den beschrie-benen Risiken auf sich? Sollten ich mei-nen Unterricht überdenken? Trifft es zu,dass manche Übungen wie Kopfstand,Schulterstand, Pflug oder Fisch ein ge-sundes Üben einfach nicht zulassen?Wie steht es mit der Verantwortung fürdas, was ich anweise in meinem Unter-richt? Einer breiten Diskussion wert wä-ren sicher auch solche Fragen: Wie ver-meiden wir ein öffentliches Bild vonYoga, das gesundheitsschädliche Gelen-kigkeit als zentrales Ziel von Yogapraxisvermittelt? Wie lässt sich vermeiden,dass Yoga noch immer unter dem Kli-schee »Guru und »Om« - tönende Ge-meinde« präsentiert wird, ein Klischee,das zwar mit der Realität hier oder daübereinstimmen mag, lange jedochschon nicht mehr die Yoga-Praxis derMillionen Yogaübenden in Deutschlandprägt? Die Liste der offenen Fragen, dieunter Yogaunterrichtenden zur Klärunganstehen, ließe sich noch um viele ver-längern.

Woher die Zurückhaltung, ja dieFurcht davor, Yoga auf kritische Art undWeise zu diskutieren? Die Angst vordem schlechten Image mag vielleicht einGrund sein. Ausschlaggebend scheintuns jedoch etwas ganz anderes. Es istvor allem die Angst davor, dass alther-gebrachte Erklärungen ihre Bedeutungverlieren könnten, liebgewonnene Be-gründungen einer Praxis nicht mehrnachvollziehbar wären. Angst vor derUnsicherheit, die der offene Blick auf

WANN IMMER WIR Âsanas praktizie-ren, arbeiten wir mit unserem Körper.Wir lümmeln uns nicht in einem Sesselund wir liegen nicht nur flach auf demBoden. Nein, wir fordern etwas von un-serem Körper, unseren Gelenken, Bän-dern, Muskeln, eben von allem, was zuunserem Bewegungssystem gehört –mal mehr, mal weniger und manchmalsogar sehr viel. Was liegt da näher, alsdiese Âsanapraxis auch auf dem Hinter-grund unseres heutigen Wissens überden menschlichen Körper zu reflektie-ren? Ein Wissen, das transparent undnachvollziehbar begründet ist, immerwieder geprüft und entsprechend ver-tieft wird. Ein Wissen, das uns hilft zuverstehen, wie unser Bewegungssystemauf die Anforderungen reagiert, die wirmit unserer Âsanapraxis daran stellen.Ein Wissen, das uns erlaubt, die Wirkun-gen einer Praxis auf unseren Körper bes-ser zu verstehen. Das uns zum Beispielauch hilft, die Botschaft eines Schmer-

zes richtig zu deuten und das uns lehrt,wo körperliche Grenzen liegen, die wirrespektieren müssen. Ja, nichts liegt nä-her, als dieses Wissen zu nutzen, wennes darum geht, sich über die körperlicheSeite einer Âsanapraxis größere Klarheitzu verschaffen und das Für und Widereiner bestimmten Haltung oder Praxiszu diskutieren.

Nun zeigt aber die Erfahrung, dassein solches Herangehen an Âsanas aufgroße Widerstände trifft.

Das gilt auch für die YogalehrendenNordamerikas, von deren Diskussions-kultur wir hier heute berichten. Auchdort hat das anwachsende Hinterfragenmancher Dogmen zur Yogapraxis hefti-ge Reaktionen auslöst. Aber noch grö-ßer scheint die Angst vor einer solchenReflexion der Âsanapraxis in vielen Tei-len der deutschsprachigen Yogaszene

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Nur Mut!

Was liegt näher, als Âsanapraxis auch aufdem Hintergrund unseres heutigen Wissens

über den menschlichen Körper zu reflektieren? Ein Wissen, das transparentund nachvollziehbar begründet ist, immerwieder geprüft und entsprechend vertieft

wird.

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ein altes Koordinatensystem auslöst. Dieaktuellen Diskussionen um tatsächlicheWirkungen und mögliche Risiken vonÂsanas sind die Folge einer einfachenTatsache: Yoga ist angekommen in un-serer Kultur. Einer Kultur, die einen neu-gierigen kritischen Geist hochschätzt, inder die Frage nach dem Warum keineRespektlosigkeit ist, sondern Ansporn,etwas transparent und nachvollziehbarzu erklären. In der das Vertrauen in eineMethode auch nach intellektueller Red-lichkeit verlangt. Das alles provoziert derBlick von außen auf eine Methode, dieüber Jahrhunderte hinweg sich selbstnur aus der Innenschau heraus präsen-tierte. Âsanas – um einmal bei dem Kör-per-Thema zu bleiben – wurden als vonsich aus gut, wohltuend und heilsambetrachtet. Ihre Bedeutung bekamen sieoft allein durch die Autorität des Guruoder durch Erklärungen, die einemmittelalterlichen mechanistischen Ver-ständnis der menschlichen Lebenspro-zesse entstammten. Solche Konzeptereichen heute vielen Menschen nichtmehr aus, die positiven Erfahrungen miteiner Âsanapraxis zu erklären. Und siereichen schon gar nicht aus, Entschei-dungen darüber als kompetent undnachvollziehbar zu akzeptieren, warumich welches Âsana üben soll, welcheWirkungen ich von welcher Praxis zu er-warten habe.

Wie soll man umgehen mit einem500 Jahre alten Erklärungssystem unddessen oft sehr mechanistischen Vor-stellung vom menschlichen Körper? Wowir doch wissen, dass es keine Hilfe istbei der Suche nach Antworten auf dieFrage nach einem gesunden Üben?

Zum Einen wird es als Ballast einfachmitgeschleppt (»Wir müssen ja nicht andie Erklärungen glauben, die dort gege-ben werden«). Zum anderen wird einAssimilierungsversuch unternommen(»was die alten Yogis sich dachten, istdoch das Gleiche, was uns heute dieWissenschaft beschreibt – sie haben esnur anders ausgedrückt«). Und in einerdritten Variante wird die tradierteÜbungsweise verherrlicht in dem Sinn,dass eine andere, gleichsam »zweite«Physiologie, die »feinstoffliche« als Be-gründung herangezogen wird.

Solche Strategien haben keine Zu-kunft.

T.K.V. Desikachar hat schon vor vie-len Jahren darauf hingewiesen, dass ei-ne Arbeit dringend nötig wäre, die er»Yoga revisited« nannte: den Yoga mit

all seinen Aussagen und Übungen einerRevision unterziehen, die sich des heuti-gen Wissensstandards bedient.

Um nichts anderes geht es heute;Angst vor dem, was dabei heraus-kommt, brauchen wir mit Sicherheitnicht haben. Im Gegenteil, wir könnenuns entspannt von längst überholtenWirkerklärungen, Anweisungen undÜbungen im Unterricht trennen, die lei-der häufig genau das hervorbringen,was Broad beschreibt: eine absolut inak-zeptable Beschädigung von Menschendurch Yoga. Dies umso mehr als sie unsblind und taub machen für die konkre-ten Yogapraxis-Erfahrungen der von unsunterrichteten Menschen. Deren Wahr-nehmung und kritische Reflexion hinge-gen ist essenziell für einen verantwor-tungsvollen Yogaunterricht.

Leider kommt die Initiative zu einertransparenten Diskussion in Deutsch-land nicht von den Yoga-Verbänden.Und in den meisten Yoga-Zeitschriftenund Websites gilt das Prinzip der Belie-bigkeit verschiedener persönlicher Mei-nungen und Übungsweisen – verkleidetals Lob der Vielfalt – als vorrangig voreiner kritischen Reflexion der eigenenArbeit. Wenn ein altes System wie dasdes Yoga sich in eine andere Zeit, eineandere Kultur, einen anderen Wissen-stand vom Menschen integriert, entste-hen Konflikte. Sie bedürfen einer ernst-

haften Auseinandersetzung. Statt des-sen wird alt und neu gleichberechtigtnebeneinander gestellt; jedeR mussRecht behalten dürfen. Belegbare Aus-sagen wie die folgende schicken sichdann einfach nicht: »Die Haltung, derWirbelsäule, die in diesem Âsana vorge-

schlagen wird, ist nach dem heutigenStand des Wissens in hohem Maße ge-sundheitsschädlich«. Eine gängige Ent-gegnung: »Es ist doch aber bewährtePraxis schon seit Hunderten von Jah-ren«. Oder: »Wenn Du das Âsana nuraufmerksam genug – mit Yogaspirit –übst, kann es Dir nicht schaden.« Endeder Diskussion.

Im Berliner Yoga Zentrum (BYZ) su-chen immer mehr Menschen – darunterauch zunehmend Yogalehrende unse-ren Rat, die über Jahre hinweg durchfalsches Üben zu Schaden gekommensind; ein Grund, warum wir immer wie-der in VIVEKA auf gesundes Üben undRisiken einzelner Übungen oder falschesÜben hinweisen. In der US-Yogaszenehat William Broad dieses Thema als er-ster öffentlich ernst genommen (wasnicht heißt, dass sein Buch nicht auchmanche Schwächen aufweist). Er hatdamit viele Yogalehrende aufgewecktund für mögliche Risiken von Âsanapra-xis sensibilisiert. Nicht wenige unter ih-nen sind nicht wieder zur Tagesordnungin ihren Studios übergegangen, sondernhaben ihre eigene Arbeit auf notwendi-ge Konsequenzen hin befragt und be-gonnen, sich darüber auszutauschen.Und wenn man einmal ins Fragenkommt, stellen sich viele alt vertrauteWahrheiten in einem anderen Lichtdar...

Imogen Dalmann, Martin Soder

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Die aktuellen Diskussionen um tatsächliche Wirkun-gen und mögliche Risiken von Âsanas sind die Folgeeiner einfachen Tatsache: Yoga ist angekommen inunserer Kultur. Einer Kultur, die einen neugierigenkritischen Geist hochschätzt, in der die Frage nachdem Warum keine Respektlosigkeit ist, sondern An-sporn, etwas transparent und nachvollziehbar zu er-klären. In der das Vertrauen in eine Methode auchnach intellektueller Redlichkeit verlangt.