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mario keszner
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von passanten und tangenten
VON MARIO KESZNER
Sprache, sagte Robert, ist immer Verkürzung und Einschränkung.
Unsere Sprache schafft erst die herrschenden Ungleichheiten.
Unsere Begriffe definieren etwas. Dadurch, dass ein Begriff etwas
aus dem Meer an Dingen herausgreift und benennt, grenzt er dieses
Ding scharf gegen alle anderen ab, gegen den Rest der Welt. Begrif-
fe, fuhr Robert fort, schließen aus, sie teilen, sie trennen, sie schaffen
erst die Grenzen und die Unterschiede in unserer Welt, die wir durch
Ideologie wieder glatt zu bügeln versuchen. Vergeblich, sagte er,
weil ja auch Ideologie Sprache ist.
Schau auf das Zirkuszelt, denke ich mir, als ich aus dem Haus gehe,
schau auf das Zirkuszelt!
In der Straßenbahn sitzen ist mau, sagte Robert einmal. Ich sitze
in der Straßenbahn und denke mir: was soll das eigentlich heißen:
mau? Wie ist etwas, wenn es mau ist? Robert schaffte es von Zeit zu
Zeit, dass ich nach unseren Treffen nicht mehr genau wusste, wie
ich manche bisher selbstverständlich gebrauchten Begriffe weiter
verwenden sollte. Er zerlegte Wörter solange in ihre atomaren
Einzelheiten, bis er ihre Bedeutungs- und Sinnlosigkeit aufgedeckt
hatte. Und ich sage euch: das funktioniert mit fast jedem Wort. Man
braucht dazu nur etwas Zeit. Und Robert. Fast alle Wörter schienen
für mich danach in einen gefährlichen Bedeutungsnebel zu ver-
sinken. Einzig Ja und Nein waren mir in den Stunden nach einem
Treffen mit Robert die einzigen noch zuverlässigen sprachlichen
Konstanten.
Ich sitze in einer der letzten alten Straßenbahngarnituren, die es in
der Stadt noch gibt. Es ist eine jener Garnituren, bei der sich unter
einigen Holzsitzen große Heizstrahler befinden, die eine Hitze
entwickeln, bei der einem sprichwörtlich Feuer unter dem Arsch
gemacht wird und die mir sämtlichen Staub des Straßenbahnbodens
in die Augen strahlen. Aber in ein paar Monaten sollen auch diese
alten Garnituren durch moderne Niederflurbahnen mit stoffbezoge-
nen Komfortsitzen, Klimaanlage und Bord-TV ersetzt werden, alles
viel leiser, alles viel energiesparender. Moderne! Fortschritt! Zukunft!
Das tägliche Gratisnachrichtenblatt an jeder Bus- und Straßenbahn-
haltestelle überbot sich vor wenigen Tagen selbst mit hysterischen
Superlativen. Was die Stadt alles für uns tut! Die Stadt!
An der Haltestelle Taubenmarkt hält die Grünpartei eine Mahnwache
ab. Flugzettel werden verteilt und finden sich nach
wenigen Metern achtlos weggeworfen in Mistkü-
beln oder am Boden der Fußgängerzone wieder.
Am Stand selbst: Antiatomkraftplakate. REM´s It´s
the end of the world as we know it dröhnt aus den
beiden mit Regenbogenfahnen behängten Boxen.
Symbole, Symbole. Der Mensch, sagte Robert
einmal, ist nun mal ein animal symbolicum.
Ein alter Mann mit schwarzem Hut steht neben
den im Takt der Musik schunkelnden Grünpoliti-
kern, schüttelt immer wieder seine Stirne runzelnd
den Kopf und murmelt etwas in ihre Richtung, eine
Schulklasse in Zweierreihe geht schreiend und
lachend an ihm vorbei. Nach einer wegwerfenden
Handbewegung dreht sich der Mann um und geht.
Ein LKW hupt. Im Hintergrund eine Polizeisirene.
Eine Radfahrerin bleibt mit dem Vorderrad ihres
Fahrrades in der Schiene der Straßenbahn stecken
und kommt fast zu Sturz. Irgendjemand stößt einen
spitzen Schrei aus, nicht die bleichgesichtige
Radfahrerin, die tritt sofort wieder in die Pedale
und übersieht beim Losfahren fast eine ältere Frau,
die die Schienen queren möchte. Wieder einmal
Fluchen. Wieder einmal Kopfschütteln. Wieder
einmal Weltenunverständnis.
Horrorzirkus! titelte gestern ein großes Regional-
blatt.
Und no frei? Die Straßenbahn lässt den Tauben-
markt hinter sich und ich blicke in ein aufge-
dunsenes, seltsam altersloses Männergesicht,
weniger von Freundlichkeit gezeichnet, als von
der verbissenen Nachdrücklichkeit der durch die
schmalen, blutleeren und spröden Lippen hervor
gepressten Frage. Ich ziehe meine Beine soweit
an mich wie möglich und drücke mich gegen die
Lehne des Sitzes, damit der schnaufende, dicke
Mann, Maßlosigkeit!, mir gegenüber Platz nehmen
kann. Kein Lächeln, kein Danke, kein gar nichts.
Nullstelle. Sein glasiger Blick scheint eher zu
AUSGABE 10 HEFT ZWEI 2011 JAHRGANG 04 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 45
sagen: Na also, geht doch eh, du Gfrast. Während er mich abwartend
fixiert und ich seinem Blick standhalte, gehen mir Formulierungen
durch den Kopf, die ich ihm gerne in sein doppelkinniges Gesicht
schmeißen würde. Ich stelle mir vor, wie meine Sätze wie Geschosse
in sein Fettkinn eindringen und darin kleine Stiche hinterlassen. Ich
schmunzle. Der dicke Mann weicht mit seinem Kopf etwas zurück,
als er sieht, wie dieser aufheiternde Gedanke meine Gesichtsmus-
kulatur in Bewegung setzt. Er scheint sich zu fragen, ob ich ihn
auslache. Seine Stirn legt sich in fettige Falten und mit einem lauten
Tssss, dem ein dünner, gelber Speichelfaden folgt, dreht er sich weg
von mir. Ich wende mich ebenfalls von ihm ab und mustere die klei-
nen Werbetafeln, die über den Fenstern und auf Höhe der Haltegriffe
der Straßenbahn angebracht sind. Eine lächelnde Blondine stürzt
von den lichten Höhen ihres Olymps ihren üppigen Ausschnitt in
den Fahrgastraum und verspricht mir ein unvergessliches Erlebnis
in einem Naturpark für die ganze Familie. Oh du mein Engel, ich
folge dir in dein Naturreich, oh mein Abendstern, du Holde, du Alles,
ich glaube dir, du Traum, du Alb! Gerade, als ich mit hochgerecktem
Kopf und ausgefahrener Hand ihre Oberweite über mir ergreifen
möchte, taucht Robert wieder auf und fragt mich, was denn das
wieder für ein ausgemachter Blödsinn sei: die ganze Familie. Gibt es
etwa auch halbe und viertel Familien?
Ganz vorbei ist es mit meinem kurzen Tagtraum, als der Dicke mir
gegenüber plötzlich zu husten beginnt. Ekelschauer jagen über
meinen Rücken. Ich überlege kurz, ob ich die Ekelzone verlassen
soll, weiß aber nicht wohin. Die Masse seines verwelkenden Körpers
bewegt sich, wie von einem inneren Vulkan getrieben, in heftigen
Erschütterungen auf und ab. Seine riesige rechte Hand scheint
die aus seinem Mund spuckende Verwesungslava aufzufangen. Er
wischt sich die Hand auf seinem Oberschenkel ab und hinterlässt
dort einen feuchten Fleck auf dem sich binnen kurzer Zeit jede
Menge roter und gelber Blasen bilden, zischend schließen sich die
kleinen Blasen zu immer größeren, bedrohlich funkelnden Einheiten
zusammen. Und dann erst der Geruch, dieser Gestank… Weg mit
dem Blick, reiß deine Augen los! Diese Bilder, diese Bilder, lass sie
nicht zu! Ich zwinge meinen Gedankenstrom in eine andere, weniger
apokalyptische Richtung. Nach zwei Haltestellen fällt mir auf, dass
heute die Haltestellenansagen fehlen. Ich richte meinen Blick auf
den runden kleinen Lautsprecher über mir. Ich fixiere den Lautspre-
cher, als würde ich daraus eine Heilsbotschaft erwarten. Wir nähern
uns der nächsten Haltestelle. Ich spitze meine Ohren. Wir fahren in
die Haltestelle ein. Wir bleiben stehen. Nichts. Kein Laut von oben.
Keine Erlösung. Nichts Traurigeres als ein Ding, das seine Funktion
versagt und damit seine ganze Daseinsberechtigung verliert. Eine
junge Mutter, deren Kind sich mit beiden Händen fest an der Hüfte
seiner Mutter festkrallt, als wäre es dort festgewachsen, folgt meiner
beharrlichen Blickrichtung und blickt ebenfalls neugierig auf den
Lautsprecher. Als sie daran nichts Ungewöhnliches erkennt, schaut
sie mich so unauffällig wie möglich an. Ich blicke sie offen an
und lächle. Sie erwidert meinen kleinen Flirtversuch nicht einmal
ansatzweise, dreht sich sofort in eine andere Richtung und streicht
ihrem Kind demonstrativ mehrmals über den Kopf. Hässliches Kind,
hübsche Mutter, wie mag da wohl der Mann aussehen?
Auf der der Horrorzirkus!-Meldung gegenüberliegenden Seite des
Regionalblattes, in einem rot eingerahmten Kasten, der tägliche
Mondkalender. Heute besonders günstig: Wohnräume lüften, Blumen
gießen, Nägel schneiden. Heute besonders ungüns-
tig: Mit Kindern in einen Zirkus gehen.
Die Straßenbahn bremst und kommt ruckartig zu
stehen. Ich rutsche auf meinem Sitz nach vorne
und muss mich mit meinen Füßen fest am Boden
abstützen. Dabei berühre ich die massiven Füße
des dicken Mannes. Mir ist, als trete ich gegen
einen Stein. Der Mann brummt, blickt mich
missmutig an und schmatzt. Mein Blick bleibt
kurz auf seiner fettigen Stirn hängen, die genau so
glänzt wie die abgegriffenen und abgeschmierten
Haltegriffe über uns.
Denk mal an die Geometrie, erläuterte Robert
einmal seine Lebenstheorie. Das Leben, sagte er,
muss man sich als einen Kreis vorstellen. Manch-
mal gehen wir daran vorbei wie eine Passante, die
an einem Kreis vorbeiführt, völlig anteillos. Und
manchmal berührt unser Weg das Leben wie eine
Tangente, wir hinterlassen eine Spur im Bewusst-
sein anderer Menschen, wir geben dem Leben für
kurze Momente einen anderen Verlauf. Aber alles
in allem bleibt das Leben ein Kreis und bügelt alle
kleinen, von uns verursachten Dellen sofort wieder
aus. Die Welt, sagte er, ist uns gegenüber gleich-
gültig und lässt sich von uns sicher nicht korrum-
pieren. Wir können sie nur bezwingen, indem wir
sie zerstören.
Die Straßenbahn schleppt sich über die vielbefah-
rene Donaubrücke. Schau auf das Zirkuszelt! Ich
drehe meinen Kopf nach links, in den weitläufigen
Donaupark, hebe meinen Körper an, mache mich
länger, und da, rot und weiß gestreift, steht es
da, das Zelt, im Sonnenschein blendet mich der
metallene Spitz des Zeltdaches. Die Schlagzeile:
Die Apokalypse zu Gast in der Stadt. Das Kind, so
lieb und unschuldig! es sitzt da, blickt gebannt
nach vorne, Popcorn am Schoß, die Darbietungen
treffen auf die Netzhaut. Tiervorstellung. Mit
Raben. Noch nie sei das passiert, noch nie. Noch
nie haben sich die zwei Raben nicht an den vorge-
geben Ablauf gehalten. Sie ziehen eine Runde im
Rondeau des Zeltes, dann eine zweite, dann eine
dritte, alles planmäßig und eingeübt, das Kind
blickt ihnen staunend nach, schau, wie süß!, den
Mund leicht geöffnet, die Popcorn für den Augen-
blick der Darbietung vergessen, kein Gedanke
an die drohende Gefahr, woher auch? Nach der
dritten Runde ändern die Raben ihren Plan, bre-
chen, wie in der Nacht zuvor, im Käfig angekettet,
abgesprochen, ihre Show ab, blicken das Kind an,
Aug in Aug, auf zur Attacke!, dann stürzt sich einer
der beiden auf das Kind, reißt blutige Hautfetzen
aus dem schreienden Kindergesicht, wieder und
wieder, schon hat es seine Unschuld verloren!, die
MARIO KESZNER, *1976 IN WIEN, LEBT UND ARBEITET IN LINZ/
ÖSTERREICH. STUDIUM DER HANDELSWISSENSCHAFTEN, KUNST-
WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE IN LINZ UND STRASSBURG/
FRANKREICH. ZAHLREICHE VERÖFFENTLICHUNGEN IN ANTHOLO-
GIEN (facetten 2010) UND LITERATURZEITSCHRIFTEN, U.A. lich-
tungen, asphaltspuren UND krautgarten. 2011 ERSCHIEN
DER ESSAY good business is the best art. kunst zwischen
markt und ranglisten IN was spricht das bild? gegenwarts-
kunst und wissenschaft im dialog, TRANSCRIPT-VERLAG.
Mutter wirft sich beschützend auf das Kind, der
zweite Rabe verfängt sich in den Haaren der Frau,
reißt an der Kopfhaut, er weiß bestens Bescheid
um die verletzlichsten Stellen des menschlichen
Körpers, die Menschen um sie herum springen
auf, aufbrausende Schreie, manche versuchen
zur Hilfe zu eilen, manche bedecken ihren Kopf
mit den Händen, Panik in den Augen, Leere im
Kopf, Überlebenswille in jeder Faser des Körpers.
Eine Frau stürzt, wird von den Nachkommenden
überrannt, die Ausgänge sind lange verschlossen,
zu lange. Man fragt: War es Absicht?
Robert hätte gesagt: Die in hinreichend dynami-
schen Systemen wirkende Chaostheorie machte
ihren, unter der scheinbaren Ordnung der Dinge
meist verborgenen, Mechanismus wieder einmal
schmerzhaft sichtbar.
Das Zelt verschwindet langsam hinter mir, die
Schreie verstummen, die Bilder verschwimmen.
Die Straßenbahn fährt nun immer langsamer, ist
noch weit von der nächsten Haltestelle entfernt,
fast unerreichbar weit, jede Bewegung innerhalb
und außerhalb scheint nur noch in Zeitlupe abzu-
laufen, Menschen, Tiere, Maschinen, alles scheint
zu erstarren. Ich nehme eine unerwartete, rasche
Bewegung an dem dicken Mann mir gegenüber
wahr, da stimmt etwas nicht!, ich drehe meinen
Kopf, sehe einen Raben auf seiner Schulter sitzen,
du spinnst ja!, etwas hängt aus seinem Schnabel,
ich zucke zusammen, presse mich an die Lehne
des Sitzes, spüre in der lähmenden Langsamkeit
der Bewegung, wie er in der Verankerung zunächst
nur leicht und widerstrebend, dann immer mehr
nachgibt und dabei leise knackst. Die Menschen
hängen ungerührt und am Leben unbeteiligt in
ihren Haltegriffen. Sie haben ihre Augen geschlos-
sen, die Schultern gebeugt. Nur der Rabe bewegt
sich, wirft seinen Kopf nach hinten, als wolle er
möglichst viel Schwung und Kraft mitnehmen,
dann dreht er sich in Richtung des Gesichts des
Mannes und tut, was er tun muss.
Mein Weg durch die nun in Bewegungslosigkeit
gefangene Stadt führt mich zu Roberts Grab. Sein
Tod war keinem regionalen Blatt eine Nachricht
wert. Sein Tod war für die Welt zu unauffällig, zu
unspektakulär. Aber nicht für uns. Herzinfarkt mit
Fünfunddreißig. Für mich, für uns alle ein Schock.
Ich betrete leicht zitternd den Friedhof und höre
Roberts Stimme.
Manchmal, sagte Robert, manchmal verhalten
wir uns zum Leben wie eine Sekante zum Kreis.
Mit der Wucht eines Faustschlages werden wir an
einer Stelle in die Mitte des Kreises, in die Mitte
der Welt geworfen, taumeln und sind froh, wenn
wir torkelnd und benommen von der Kraft der
AUSGABE 10 HEFT ZWEI 2011 JAHRGANG 04 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 47
Ereignisse, am anderen Ende den Kreis wieder
verlassen können und wieder zu einer bloßen Pas-
sante werden und in Ruhe unsere Wunden lecken
können. Bis wir uns, erholt und gestärkt, wieder
dem Kreis nähern. Wieder und wieder. Wir können
nicht anders.
Ich stehe vor Roberts frischem Grab, weine und
fühle mich leer. Nach ein paar Minuten zieht die
Inschrift auf dem Grabstein des benachbarten
Grabes meinen Blick an. Dort steht in Marmor
gemeißelt: Die Arbeit war sein Leben. Mein Blick
bleibt auf diesen Worten hängen, ich zerlege den
Satz in seine Einzelteile. Roberts Stimme ver-
stummt.