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KLIO BEITRÄGE ZUR ALTEN GESCHICHTE BEGRÜNDET VON G. F. LEHMANN-HAUPT HERAUSGEGEBEN VON FRANZ MILTNER UND LOTHAR WICKERT DREISSIGSTER BAND (NEUE FOLGE BAND XII) Mit 5 Tafeln und 2 Karten DIETERICH'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG 1937

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KLIOBEITRÄGE

ZUR ALTEN GESCHICHTEBEGRÜNDET VON G. F. LEHMANN-HAUPT

HERAUSGEGEBEN VON

FRANZ MILTNER UND LOTHAR WICKERT

DREISSIGSTER BAND

(NEUE FOLGE BAND XII)

Mit 5 Tafeln und 2 Karten

DIETERICH'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG

LEIPZIG 1937

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Druck von C. Schulze & Co., G. m. b. H.. Gräfenhainichen

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INHALTSeite

Altheim, Franz: Altitalische und altrömische Gottes-vorstellung 34—53

Detschew, Dimiter: Ein neues Militärdiplom aus DaciaPorolissensis. Mit 2 Tafeln 187—199

Forrer, E. 0.: Kilikien zur Zeit des Hatti-Reiches. Mit2 Karten 135—186

Geizer, Matthias: Die Datierung von Ciceros Rede deharuspicum responso 1—9

Heuberger, Richard: Das Ostgotische Rätien . . . . 77—109Hohl, Ernst: Zu den Testamenten des Augustus . . 323—342Kahrstedt, Ulrich: Untersuchungen zu athenischen Be-

hörden 10—33Lenschau, Thomas: Die Entstehung des spartanischen

Staates 269—289Matz, Friedrich: Altitalische und Vorderasiatische

Riefelschalen. Mit 3 Tafeln 110—117Miltner, Franz: Augustus' Kampf um die Donaugrenze 200—226Nesselhauf, Herbert: Von der feldherrlichen Gewalt des

römischen Kaisers 306—322Rostovtzeff, Michael: Alexandrien und Rhodos. . . . 70—76Schubart, Wilhelm: Das Gesetz und der Kaiser in

griechischen Urkunden 64—69Swoboda, Erich: Das Parthiner-Problem 290—305Syme, Ronald: Pamphylia from Augustus to Vespasian 227—231Wickert, Lothar: Zu Caesars Reichspolitik 232—253

Kleinere BeiträgeBrandenstein, Wilhelm: Friedrich Wilhelm König, Die Stele

von Xanthos 131—133Brandenstein, Wilhelm: Albrecht Götze, Hethiter, Churriter

und Assyrer 263—264Enßlin, Wilhelm: Kenneth Scott, The Imperial Cult under

the Flavians 131

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IV Inhalt

SeiteForrer, E. O.: Bemerkungen zur Karte des südöstlichen

Hatti-Reiches 267—268Hellwig, Fritz: Zur Gliederung der Res gestae divi Augusti 123—130Instinsky, Hans Ulrich: Die Weihung des Heiligtums der

Latiner im Hain zu Aricia 118—122Klaffenbach, Günther: Zu kretischen Inschriften 254—257Klotz, Alfred: Die Fahrt des Persers Sataspes an der West-

küste Afrikas 343—346Koch, Karl: Commentationes Vindobonenses 133—134Lesky, Albin: Rudolf Till, Die Sprache Catos 134Miltner, Franz: Walter Görlitz, Marc Aurel . . . . . . . . . 266Miltner, Helene: Hieronymus Geist, Pompeianische Wand-

inschriften 357Miltner, Helene: Hans Lamer, Wörterbuch der Antike . . . 358Petrikovits, Harald v.: Roberto Andreotti, II Regno dell'Im-

peratore Giuliano 259—262Pink, Karl: Z. Barcsay-Amant, A Komini Eremlelet . . . 262—263Pink, Karl: Römische und byzantinische Gewichte . . . . 346—352Saria, Balduin: Zur Geschichte des Kaisers Regalianus . . 352—354Schachermeyr, Fritz: Arthur Ungnad, Subartu 264—266Schachermeyr, Fritz: Ignace Gelb, Inscriptions from Alishar

and vicinity 354—355Schubart, Wilhelm: Allan Chester Johnson, Roman Egypt to

the reign of Diocletian 257—259Schubart, Wilhelm: Hans Lietzmann, Geschichte der Alten

Kirche 355—357

K a r t e n : Vorherrschaft des Horrireiches 139Der Südosten des Hattireiches nach 268

N a m e n - u n d S a c h v e r z e i c h n i s 359—363

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Das ostgotische RätienVon Richard Heuberger1)

1. AllgemeinesDie Wissenschaft wird sich immer gern mit dem Ausgang der

römischen Welt des Altertums beschäftigen, und uns Deutschenliegt die Frühgeschichte der Germanen am Herzen, namentlichinsofern sie sich auf dem Boden des heutigen Deutschen Reichesund des übrigen Deutschlands abspielte. Dies lenkt die Aufmerk-samkeit auf das dem römischen Staatsverband eingegliederteitalische Ostgotenreich und insbesondere auf die Verhältnisse, diein dessen nördlichsten Gegenden herrschten.

Dem von Theoderich dem Großen geschaffenen Germanenstaat,über dessen Einrichtungen wir vor allem durch die in CassiodorsVarien überlieferten Ausfertigungen der ostgotischen Reichs-kanzlei unterrichtet sind, waren auch ansehnliche Teile der mitt-leren und östlichen Alpen eingegliedert. Das spätrömische Noricumripense, das sich zwischen Alpenhauptkamm und Donau vom Innaus bis zum Wienerwald erstreckt hatte und von Odovakar 488aufgegeben worden war, gehörte freilich nicht mehr zum Macht-bereich jenes Amalers und seiner Nachfolger2). Dasselbe gilt ge-wiß, entgegen der Meinung H. Dietzes, der in seinem fleißigen,aber sehr anfechtbaren Buch über das spätrömisch-frühmittel-alterliche Rätien das ganze seinerzeit von den Helvetiern bewohnteGebiet seit 496 ostgotisch sein läßt3), auch von der einstigen Römer-

1) I m folgenden wird der Raumersparnis halber bloß auf R . H e u -b e r g e r , Rät ien im Al ter tum und Frühmit te la l ter 1 (Schlernschriften 20,1932) verwiesen, sofern sich darin die letzte Behandlung der betreffendenFragen findet. Das äl tere Schrifttum ist dor t jeweils verzeichnet. Wennmöglich, ist auf dieses Buch nur mi t Sigle R. 1 Bezug genommen.

2) H . Z e i ß , Germania, Korr . bl . d. röm.-germ. K o m m . 12 (1928), S. 3 3 ;L . S c h m i d t , Gesch. d. deutschen Stämme b . z. Ausg. d. Völkerw. DieOstgermanen2 (1934), S. 360; R. E g g e r in dem von J . N a d l e r undH . v. S r b i k herausgegebenen Sammelwerk Österreich, E rbe und Sendungim deutschen Raum 2 (1936), S. 19.

3) D i e t z e , Rät ien und seine germanische Umwelt in der Zeit von 450bis auf Kar l den Großen (Würzb. Diss. 1931), S. 96—101 (dazu S. 122—126

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provinz Maxima Sequanorum oder zum mindesten von dem Haupt-teil dieses spätrömischen Amtssprengels1), der die beiderseits desJura gelegenen Länder und somit auch die größere Hälfte derheutigen Schweiz in sich geschlossen hatte2). Dies erhellt aus derTatsache, daß an dem burgundischen Konzil von Epao im Jahre 517nicht nur der Bischof von Besançon, sondern auch jener vonWindisch (Vindonissa) teilnahm3). Sie beweist zwar nicht, daßsich zu dieser Zeit das Burgunderreich bis an die Limmat odernoch weiter gegen Osten hin erstreckte4), wohl aber, daß außerdem Sprengel von Besançon zum mindesten auch Windisch selbstaußerhalb des italischen Ostgotenstaates lag. Denn Theoderichwar zwar in religiösen Dingen sehr duldsam, aber, wie z.B. Variae I, 9bezeugt, durchaus nicht geneigt, Auslandsbeziehungen seiner katho-lischen Bischöfe zu gestatten, und er stand damals nicht im aller-besten Verhältnis zu den Burgundern5). Andererseits liegt aberkein Grund zur Annahme vor, daß etwa auch nur der Bischof vonWindisch 517 landflüchtig fern von seinem Amtssitz geweilt habe.Wenn also ein Teil der Maxima Sequanorum dem Ostgotenreicheingefügt war — dies wäre als erwiesene Tatsache zu betrachten,sofern unter dem anchorago von Variae XII, 4 der Rheinlachs zuverstehen sein sollte (s. u. S. 98) —, dann kann es sich dabeibloß um das östlichste Stück jener spätrömischen Provinz ge-handelt haben. Der Staat Theoderichs und seiner Nachfolgergriff dagegen mit den zur Präfektur Italien gehörigen, also dempraefectus praetorio in Ravenna unterstellten VerwaltungsgebietenNoricum mediterraneum, Raetia prima und Raetia secunda nord-wärts über die Apenninenhalbinsel hinaus6). Binnennorikum,dessen Verwaltungsmittelpunkt wohl schon seit langem Teurnia(St. Peter im Holz bei Spital an der Drau) war, bestand damals nur

A. 124—155). Zur Bewertung von D i e t z e s Werk u . a. K. M. M a y r , DerSchlern, Monatsschr. f. Heimat - und Volkskunde (Südtirols) 15 (1934),S. 141; R. H e u b e r g e r , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 14 (1934), S. 67—75;F . S t ä h e l i n , Klio 27 (1934), S. 344, A. 1.

1) Z e i ß , Germania 12, S. 32f.; S c h m i d t , Ostgermanen2 , S. 360;P . E . M a r t i n , Bull. de la société d 'his t . et d 'arch. de Genève 6 (1935),S. 27 (vgl. auch S. 21f.). F ü r die Zugehörigkeit der östlichen MaximaSequanorum zum italischen Ostgotenreich ohne Hinweis auf QuellenbelegeG. L ö h l e i n , Die Alpen- und Italienpolit ik der Merowinger im 6. J a h r h .(Erlanger Abh. z. mi t t l . u . neu. Gesch. 17, 1932), S. 15.

2) Über die Maxima Sequanorum u . a. K e u n e , Realenz. I I A 1923,Sp. 1644, 1658; S t ä h e l i n , Die Schweiz in römischer Zeit2 (1931), S. 259f.

3) Vgl. z. B . Z e i ß , Germania 12, S. 32f.4) H e u b e r g e r , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 16 (1936), S. 217f.5) Letzteren Umstand be tont Z e i ß , Germania 12, S. 32f.6) S c h m i d t , Ostgermanen2 , S. 367.

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Das ostgotische Rätien 79

mehr aus den Gebieten der zu Bischofsitzen gewordenen StädteAguntum (am Debantbach bei Lienz), Teurnia und Virunum (MariaSaal auf dem Zollfeld bei Klagenfurt)1). Auch das östlichste Stückdes spätrömischen Noricum mediterraneum, die mit dem Sprengeldes Bischofs von Celeia (Cilli) zusammenfallende und seit der Mittedes 5. Jahrh. zur byzantinischen Pannonia secunda gehörigecivitas Naricum, war von Theoderich erworben worden, als er diesogenannte Pannonia Sirmiensis gewonnen hatte2). Das zweiteRätien, in dem zweifellos bereits ein zu Säben sitzender Bischofwaltete3), stieß auf der Höhe der Töll (westlich von Meran) und imBereich der untersten Eisackschlucht, des sogenannten Kunters-wegs (zwischen Klausen und Bozen), an Venetien, bei der Mühl-bacher Klause, durch die die Rienz das Brixner Becken erreicht,an Binnennorikum, östlich des tirolischen Inntals an den einstzu Ufernorikum gehörigen Teil des Alpenraums und im Umkreisder Münstertaler Berge sowie in der Arlberggegend an die Raetiaprima4). Letztere Provinz besaß in Curia (Chur) eine Stadt imRechtssinn und einen Bischofssitz5) und grenzte nördlich des LagoMaggiore sowie im Bereich der alpinen Hauptwasserscheide andas benachbarte Ligurien. Gegen Westen zu erstreckte sich daserste Rätien bis an die einstige Landmark Großsequaniens, die sichvom Austritt des Rheins aus dem Bodensee her über die Gegendvon Turicum (Zürich) nach dem Gotthardstock hin gewendethatte6). Gebot Theoderich etwa auch über ein Stück der MaximaSequanorum, so könnte freilich vielleicht auch dieses noch der ost-gotischen Raetia prima angeschlossen gewesen sein.

Die beiden Rätien der Ostgotenzeit, denen die folgenden Dar-legungen gelten, hatten — und das trifft auch für Binnennorikumzu — anscheinend mit Italien keinen engeren Zusammenhang,obgleich sie mit diesem im Rahmen einer Präfektur verbundenwaren. Darauf läßt der Umstand schließen, daß auf den römischenSynoden von 499, 501 und 5027) weder ein rätischer noch ein

1) E g g e r , Österreich, S. 19.2) E g g e r , Wien. Stud. 47 (1929), S. 150; vgl. auch S c h m i d t , Ost-

germanen2, S. 348.3) Über die Anfänge des Bistums Säben zuletzt H e u b e r g e r , Rät ien 1,

S. 168—188, 299f., 323f., derselbe, Das Burggrafenamt im Altertum(Schlernschriften 28, 1935), S. 53—55, G. G e r o l a , Archivio per l'AltoAdige 27 (1932/33), S. 315—319.

4) Über diese Grenzen zuletzt H e u b e r g e r , Rät ien 1, S. 86—89,92—98, 317—319, derselbe, Burggrafenamt, S. 30—38.

5) R. 1, S. 107—111, 132. 6) R. 1, S. 81—85.7) Akten derselben in Monumenta Germaniae, Auct. ant iqu. 12, S. 399

—455.

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norischer Bischof erschien. Die rätischen Marken unterschiedensich auch in mehr als einer Hinsicht sehr wesentlich von den Land-schaften der Apenninenhalbinsel. In diesen standen bekanntlichStädte und Großgrundherrschaften im Vordergrund, und rö-mische Gesittung bestimmte, wenn auch von ihrer alten Höheherabgesunken, äußerlich noch durchwegs das Bild, das Christen-tum hatte sich mehr oder weniger überall durchgesetzt und dieKirche spielte eine führende Rolle. In den rätischen Provinzenlagen die Dinge anders. Städtisches Leben hatte sich zur Römerzeitselbst in den außeralpinen Gegenden nur sehr schwach entwickeltund im gebirgigen Süden des rätischen Raumes gab es, abgesehenvon Brigantium, das in spätrömischer Zeit auf den Boden der Bre-genzer Altstadt verlegt, ummauert und des ihm angegliedertenTerritoriums größtenteils beraubt worden war, bloß eine einzige,sehr unbedeutende Stadt, nämlich das seit dem 4. Jahrh. zueinem kleinen befestigten Bergnest gewordene Curia1), das —vorausgesetzt, daß das Theodoricopolis des Kosmographen vonRavenna nicht bloß zu den Erfindungen dieses Schriftstellers ge-hört2) — möglicherweise von dem großen Amaler einen neuenNamen empfangen hatte3). In den rätischen Alpen, auf die es hier,wie unten ausgeführt, allein ankommt, konnte ferner der Groß-grundbesitz kaum dieselbe Bedeutung erlangen, wie in Italien4),und in diesen Bergen hauste zur Zeit Theoderichs — größtenteilsin Gauverbände gegliedert — eine weder zur Gänze noch tief-greifend romanisierte Bevölkerung, die gewiß bloß teilweise dasChristentum angenommen hatte und im ostgotischen Ravenna alsunbotmäßig und kriegerisch galt5). Die beiden Rätien nahmen dennauch in dem auf der Apenninenhalbinsel errichteten Reich der Ama-ler eine eigenartige Sonderstellung ein, die die Vermutung nahe-legen könnte, sie seien gleich einigen andern zur italischen Prä-

1) R. 1, S. 100—116, 320—322. Gegen die von A. S o l i n i , Archivio dellaSvizzera I ta l iana 11 (1933), S. 4—6 vertretene Meinung, das spätrömischeSäben sei eine S tad t gewesen, H e u b e r g e r , Burggrafenamt, S. 54.

2) Über Quellen, Arbeitsweise, Unverläßlichkeit u n d Lebenszeit desKosmographen von Ravenna zuletzt B . K r u s c h , Neues Archiv der Ges.f. ält. deutsche Geschichtsk. 47 (1928), S. 48—65.

3) Fü r die Gleichung Theodoricopolis—Curia J . S c h n e t z , Zeitschr. f.schweiz. Gesch. 5 (1925), S. 346—350; S c h m i d t , Germania 11 (1927),S. 38, ders. , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 9 (1929), S. 166, ders. , Ostger-manen2 , S. 382; Z e i ß , Germania 12, S. 34, A. 54; H e u b e r g e r , Rät ien 1,S. 245—247. Dagegen zuletzt S t ä h e l i n , Klio 27, S. 344. Zurückhal tendMartin, Bull. 6, S. 20f.

4) Betreffs der diesbezüglichen Verhältnisse im Etschtal nächst derrätisch-italischen Grenze Heuberger , Burggrafenamt, S. 43f.

5) R. 1, S. 73f. 116f. 164. 179f.

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fektur gehörigen Provinzen dieses Staates der Amtsgewalt despraefectus praetorio ganz oder teilweise entzogen gewesen1). An-scheinend durch keine Wehranlagen der Außenwelt gegenübergeschützt, lagen sie außerhalb jener Kette von Befestigungen, diedie Apenninenhalbinsel gegen Norden hin deckten. Wie im Innerndes Ostgotenstaates, so hatte man auch in dessen außeritalischenGrenzprovinzen, so in Savien und Pannonien, gotischen Wehr-männern und deren Familien Wohnsitze angewiesen, und in jenemReich galt im allgemeinen streng der Grundsatz, daß den Gotensowie den andern als Barbaren bezeichneten Leuten der Heeres-dienst vorbehalten, den Römern dagegen die Waffenführung unter-sagt sei. In den rätischen Marken hatte man aber, wie es scheint,keine Goten oder sonstigen Angehörigen reichsfremder Völker-schaften angesiedelt, und hier befehligte als dux Raetiarum einRätoromane mit dem Rang eines vir spectabilis, der wohl in Curiasaß und bloß einheimische Landwehrleute zur Verfügung hatte2).War der Ursus vir spectabilis, der zu Beginn des 6. Jahrh. derFriedhofskirche von Teurnia einen noch erhaltenen Mosaikfußbodenstiftete3), etwa ein dux von Binnennorikum, das freilich auch vonSüden her militärisch betreut worden sein könnte4), dann müßteübrigens damals ein gleicher Zustand auch in diesem Land geherrschthaben. Dazu würde das nachmalige Auftreten von Norikern imHeer Alboins (Paulus Diaconus, Historia Langobardorum II, 26)5)gut passen. In wessen Händen die bürgerliche Verwaltung derbeiden rätischen Marken lag, ist nicht überliefert. Sie kann ent-weder, wie in den Landschaften des eigentlichen Italien6), je einempraeses oder, wie in manchen Grenzprovinzen außerhalb der Apen-ninenhalbinsel, dem Landesbefehlshaber anvertraut gewesen sein7).Es darf aber wohl als sicher gelten, daß ersteres der Fall war8).Denn auch in anderen Teilen des italischen Ostgotenreiches sindpraesides quellenmäßig nicht nachzuweisen, das einmal auf die

1) Über solche Provinzen S c h m i d t , Ostgermanen2 , S. 367.2) H e u b e r g e r , Rätien 1, S. 132—135, 163—166, 322f.; S o l m i ,

Arch. stor. della Svizz. I t . 11, S. lf., 6; S c h m i d t , Zeitschr. f. schweiz.Gesch. 14 (1934), S. 453—455.

3) E g g e r , Frühchr . Kirchenbauten im südl . Norikum (Sonderschr. d.österr. arch. Ins t . 9, 1916), S. 22, 51f.

4) Daran denkt E g g e r , Österreich, S. 19.5) Dazu zuletzt S c h m i d t , Ostgermanen2, S. 582, 584.6) Über die ostgotischen Provinzialbeamten im allgemeinen S c h m i d t ,

Ostgermanen2, S. 368.7) Letzteres möchte S c h m i d t , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 14, S. 455

annehmen.8) Für dies und das folgende R. 1, S. 131f., 254—256. S. auch u. S. 109.

K1 i o , Beiträge zur alten Gesch. XXX (N. F. XII) 1 6

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Amtsstellung des rätischen dux angewendete Wort praesiderewurde auch gebraucht, um die gotischer Befehlshaber zu bezeichnen,die lediglich militärische Aufgaben zu erfüllen hatten, im frän-kischen Churrätien erscheint wieder ein praeses, und daß diebeiden Rätien unter Theoderich und dessen Nachfolgern nicht durchÜbertragung der bürgerlichen Verwaltung an den dux Raetiarumzu einer Einheit zusammengeschlossen waren, läßt außer dem Titeldieses Generals der Umstand vermuten, daß die BezeichnungRaetia secunda noch am Ende des 6. Jahrh. lebendig war. Waltetenzur Ostgotenzeit in den rätischen Alpen zwei praesides, so wird dereine von ihnen gewiß seinen Amtssitz in Curia gehabt haben,während der andere wohl in Veldidena (Wilten-Innsbruck),Vipitenum (Sterzing) oder Säben (bei Klausen) gesessen habenkönnte.

Die Behauptung, es sei quellenmäßig bezeugt, daß dem rätischendux comites und viri illustres unterstanden hätten, und daß CuriaSitz eines fiscus regis gewesen sei1), beruht auf einem Irrtum.Denn die Ausfertigungen der ostgotischen Reichskanzlei, auf dieman sich zum Beweis hierfür berufen hat (Variae I, 11, VII, 4,XII, 4)2), enthalten keinerlei einschlägige Angaben. Da jenerdux nur vir spectabilis war, kann er zudem gar nicht der Vorge-setzte von eigentlichen comites und anderen Männern gewesen sein,die den höheren Rang von viri illustres besaßen. Anzunehmen istdagegen, daß in Curia, vielleicht auch in Brigantium dieselben Orts-beamten vorhanden waren, wie in anderen kleinen Städten desitalischen Ostgotenreiches3). Es wird hier also neben den aus demGemeinderat (curia) gewählten Bürgermeistern (duumviri oderquinquennales) und als eigentliche Träger der Stadtverwaltungdie vom König ernannten zwei Beamten (defensor und curator bzw.comes civitatis) gegeben haben.

Durch das Gesagte ist in großen Zügen angedeutet, wie mansich das ostgotische Rätien vorzustellen hat. Dieses Bild bedarfjedoch noch mancher Vertiefung und Ergänzung. Vor allem muß —und dies soll im folgenden geschehen — zu drei strittigen FragenStellung genommen werden. Es handelt sich hier um die Sachlage,die Theoderich im rätischen Raum vorfand, um Zeit und Art desAusgreifens des Amalers auf dieses Gebiet und um den Verlauf derNordgrenze Ostgotisch-Rätiens.

1) S o l m i , Arch. stor. della Svizz. I t . 11, S. lf.2) S o l m i , Arch.s tor . della Svizz. I t . 11, S. 1, A. 1. Hier ist offensichtlich

s ta t t I I , 7 zu lesen: VII, 4.3) Über diese S tad tbeamten S c h m i d t , Ostgermanen2 , S. 368f.

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Das ostgotische Rätien 83

2. Rätien vor TheoderichNach Dietze verloren die Bewohner des inner- und außeralpinen

Teils der beiden rätischen Provinzen, deren Nordgrenze damalsnoch am Bodensee, an der Iller und der Donau gelegen habe, um450 den staatsrechtlichen Zusammenhang mit der Apenninenhalb-insel, waren unabhängig von den letzten weströmischen Kaisernund von Odovakar, vermochten es aber unter Führung der grund-besitzenden Oberschicht aus eigener Kraft, ihre Heimat bis zumEnde des 5. Jahrh. von einer Besitznahme durch die Germanenfreizuhalten1). Diese Darstellung, der P. E. Martin2) zu-stimmt, beruht aber großenteils auf unrichtigen Voraus-setzungen. Namentlich wird die Tatsache verkannt, daß die mitt-leren Alpen und die ihnen nördlich vorgelagerte Hochebene zwargeographisch wie geschichtlich zusammengehören3), daß abertrotzdem das spätrömische Rätien bei einer Betrachtung seinerletzten Schicksale selbstverständlich nicht als eine feste Einheitbehandelt werden darf, daß man vielmehr dabei mit der Möglich-keit, ja Wahrscheinlichkeit einer verschiedenen Entwicklung derDinge in dem günstigen Siedlungsraum bietenden, feindlichen An-griffen offenen Flachland und in dem der Reichsgrenze fernen, ansich wenig verlockenden und durch die Natur geschützten Gebirgezu rechnen hat. Ebenso wird übersehen, daß das außeralpine Rätien,auf das es hier ankommt, von Anfang an in seiner Kulturentwick-lung weit hinter andern römischen Grenzprovinzen, so den beidenGermanien, zurückgeblieben, seit dem 3. Jahrh. in dieser Hinsichtvon weitgehenden Rückschlägen betroffen worden und seitdemanscheinend teilweise verödet war4), daß man also in jener Land-schaft für das 5. Jahrh. weder mit dem Vorhandensein einermächtigen Oberschicht von Grundbesitzern, noch mit dem einerrömischen Bevölkerung rechnen darf, die imstande gewesen wäre,sich mit Erfolg einbrechenden Germanenscharen entgegenzustellen.Dazu entbehrt Dietzes Auffassung jeder tragfähigen Quellen-grundlage. So ist es ganz verfehlt, wenn er gleich manchen älterenForschern sämtliche Angaben der Vita Severini des Eugippiusund zwar sogar solche, die sich ausdrücklich nur auf bestimmte

1) R ä t i e n u n d seine germanische U m w e l t , S. 37—56; dazu S. 57—78,A. 1—168.

2) Bul l . 6, S. 16f.3) Darüber u. a. F. Metz, Die Alpen im deutschen Raum (1934) und

im besonderen Heuberger, Vom alpinen Osträtien zur GrafschaftTirol (Schlernschriften 29, 1935).

4) Über die Zustände im spätrömischen Flachlandrätien Zeiß, Bay-rische Vorgeschichtsblätter 11 (1933), S. 41—54.

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Orte Ufernorikums beziehen, im allgemeinen auch als Zeugnissefür die Zustände verwertet, die im rätischen Flachland herrschten,wenn er weiter diese Angaben sehr einseitig ausdeutet und aufdiese Weise zum Schluß kommt, ganz Rätien sei von seinen Be-wohnern bis hinein in die Zeit Odovakars erfolgreich gegen die Ein-brüche der Germanen geschützt worden1). Auch sonst steht esfast durchwegs übel mit den Folgerungen, die Dietze aus denAussagen der Quellen ableitet. Dies läßt sich gerade an den ent-scheidendsten Stellen seiner Beweisführung dartun. Er meint,aus dem Umstand, daß nach Jordanes2) die nordtirolischen Breonenals Verbündete des Aetius, aber nicht mehr als römische Soldaten451 auf den katalaunischen Feldern gefochten hätten, gehe hervor,daß Rätien damals der Herrschaft Westroms bereits nicht mehrunterstand, aber von den Provinzialen gegen die Germanen ver-teidigt wurde und daß zu dieser Zeit weder das Gebiet im Südendes Oberrheins noch das rätische Flachland von den Alamannenernstlich bedroht war3). In Wahrheit handelt es sich hier indesum die an der Mosel sitzenden Olibrionen4). Ferner behauptetDietze5), die rheinischen Vornehmen, die nach Sidonius Apolli-naris (Carmina VII, 524—527) neben Großen aus andern Teilen desrömischen Reiches 455 bei der Wahl des Kaisers Avitus zu Arlesanwesend waren, könnten, da das außeralpine Rheintal bereits inden Händen von Germanen gewesen sei, nur aus der Raetia primagekommen sein. Die Aussage des Dichters bezeuge also, daß Rä-tien damals, obgleich schon sich selbst überlassen, doch noch inBeziehungen zu Westrom stand und daß in jener Landschaft diepossessores eine führende Stellung einnahmen. Allein ein zum Lobdes Kaisers Avitus geschriebenes Gedicht konnte das Erscheinenrheinischer Vornehmer in Arles auch erwähnen, wenn es sich nurum ein paar, vielleicht sogar bloß zufällig in dieser Stadt weilendeLeute handelte, und zweifellos befanden sich auch einzelne, imHerrschaftsbereich germanischer Stämme wohnhafte Römer in derLage, nach Südgallien zu reisen. Daher geht es übrigens — neben-bei bemerkt — auch nicht an, die in Rede stehende Äußerung desSidonius Apollinaris mit Martin6) als ein Zeugnis dafür aufzu-

1) Die tze , Rätien S. 47—51; dazu S. 70—74, A. 85—129.2) Getica XXXVI, 191; danach Paulus Diaconus, Hist. Rom. XIV, 4.3) Die tze , Rätien und seine germanische Umwelt, S. 37f., dazu

S. 57f., A. 1—9.4) K. Zeuß, Die Deutschen und die Nachbarstämme (1837), S. 579f.;

Heuberger , Rätien 1, S. 155.5) Rätien S. 44, 67 A. 57—60, S. 77 A. 154.8) Bull. 6 S. 6f.

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fassen, daß Roms Macht um 455 noch überall bis an den Rheingereicht habe. Waren aber etwa auch wirklich einige südlich desBodensees beheimatete Grundbesitzer und zwar nicht nur zufälligin Arles anwesend, so ergäben sich daraus doch selbstverständlichgar keine Schlußfolgerungen auf die Stellung, die die possessoresdamals im rätischen Flachland einnahmen, und auf die sonstigenVerhältnisse, die hier zu dieser Zeit herrschten. Ja noch mehr.Man könnte sogar den Spieß umdrehen und aus dem Umstand,daß Sidonius Apollinaris eine Beteiligung aus dem oberen Donau-tal oder dessen südlicher Nachbarschaft gekommener Leute an derErhebung des Avitus nicht erwähnt, darauf schließen, daß dasrätische Alpenvorland um 455 keinen Zusammenhang mit West-rom mehr gehabt habe. Endlich soll, wie Dietze1) im An-schluß an ältere Forscher meint, die durch Venantius Fortu-natus (Vita sancti Martini IV, 642f.) bezeugte Tatsache, daßsich in Augsburg die Verehrung der heiligen Afra bis um 565behauptete, im Hinblick auf die Todfeindschaft der Alamannengegen alles Römische einen Beweis dafür liefern, daß diese Deut-schen im außeralpinen Rätien während des 5. Jahrh. nicht dauerndum sich gegriffen haben und daß das rätische Flachland damalsüberhaupt von einer germanischen Eroberung verschont gebliebenist. Die Fortdauer der Afraverehrung in Augsburg läßt aber inWahrheit lediglich darauf schließen, daß in dieser Stadt bis ins6. Jahrh. hinein christliche Romanen lebten, und diese Tatsacheberechtigt zu gar keinen weiteren Folgerungen hinsichtlich derDinge im Bereich der schwäbisch-bayrischen Hochebene währendder Völkerwanderungszeit. Haben doch romanische Minderheitenin den Städten, ja sogar auch außerhalb derselben bekanntlichoft genug die germanische Landnahme überdauert, und daß derleiauch im alamannischen Siedlungsgebiet vorkam, bezeugt der Um-stand, daß sich Leute lateinischer Zunge noch für das 7. Jahrh.am Bodensee, zu Arbon und Bregenz, nachweisen lassen2).

Dies mag genügen, um Dietzes hier in Rede stehende Dar-legungen als verfehlt zu kennzeichnen. Tatsächlich entwickeltensich während des 5. Jahrh. die Verhältnisse im rätischen Raum ganzanders, als es dieser Forscher annimmt. Die römischen Verteidi-gungsstellungen an der Nordgrenze Rätiens, die nach dem Ala-mannenvorstoß von 259/260 und dem Frieden von 276 auf dieLinie Bodensee—Argen—Iller—Donau zurückgenommen worden

1) Rätien S. 51f., 74, A. 130 und 133.2) S tähe l in , Schweiz in römischer Zeit2, S. 315; Heube rge r , Rätien 1,

S. 140.

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waren1), wurden nach 389 aufgegeben, und in der Folgezeit setztensich die Alamannen auch östlich der Iller fest. Um die Mitte des5. Jahrh. beherrschten diese und andere Germanen fast das ganzerätische Flachland, und schon vor 482 wurden die letzten rätischenDonauorte, die noch nicht den Nordländern anheimgefallen waren,Quintana (Künzing) und Batava (Passau), von ihren Einwohnernverlassen2). Die germanische Vorwärtsbewegung griff damalsauch in den Alpenraum hinüber. Martin3) meint allerdings,Roms Macht habe auch während des 5. Jahrh. stets bis anden Bodensee und den Oberrhein gereicht und die alamannischeLandnahme in der Schweiz falle in der Hauptsache erst in das6.—7. Jahrh. Allein, wenn letztere Auffassung auch durch den Be-fund an den Schweizer Reihengräbern eine gewisse Stütze erhält4),so hat man doch Ursache, Martins ersterwähnte Ansicht nichtfür zutreffend zu halten und anzunehmen, daß die Alamannenschon vor den Tagen Theoderichs nicht nur als Herren, sondernauch als Siedler in der Schweiz auftraten. Ein derartiger Sach-verhalt wird freilich — entgegen der von verschiedenen Forschern5)vertretenen Meinung — weder durch die Aufzählung der Ala-mannenorte beim Kosmographen von Ravenna noch durch Äuße-rungen Gregors von Tours (Liber vitae patrum 1, 2) über dievölkischen Verhältnisse in der Gegend von Aventicum (Avenches)unwiderleglich als eine Tatsache bezeugt6), und die Spatenforschersind sich anscheinend nicht darüber einig, ob der Beginn der ala-mannischen Kultur in der Schweiz schon ins Ende des 4. Jahrh.oder erst in eine spätere Zeit zu setzen ist7). Auch der Ein-fluß der hochdeutschen Lautverschiebung, der sich an denNamen Solothurn (Salodurum), Zihl (Tela), Thun (Dunum), Zürich(Turicum), Eschenz (Tasgaetium), Winterthur (Vitudurum) undThur (Dura) beobachten läßt8), beweist noch nicht, daß die Ala-

1) F. W a g n e r , Die Römer in Bayern4 (Bayrische Heimatbücher 1,1928), S. 28—32; F. H e r t l e i n , Die Römer in Württemberg 1 (1928),S. 160—172; H e u b e r g e r , Rätien 1, S. 80; E g g e r , Österreich, S. 12.

2) R. 1, S. 121—124, 249f. Die Räumung der Iller—Donaulinie setztohne zureichende Begründung erst in den Anfang des 5. Jahrh. S c h m i d t ,Ostgermanen2, S. 108, A. 7.

3) B u l l . 6, S. 1—30.4) Z e i ß , H i s t . Zeitschr. 153 (1936), S. 630.5) So noch von H e u b e r g e r , Rä t ien 1, S. 129f., 252.6) M a r t i n , Bull . 6, S. 8—14. Betreffs der Unzuverlässigkeit des Kosmo-

graphen von R a v e n n a s. auch o. S. 80 A. 2.7) F ü r e r s t e ren A n s a t z D . Viollier (vgl. 18. J a h r e s b e r . d. schweiz. Ges.

f. Urgesch. 1927, S. 113), für einen späteren offenbar E. Tatarinoff(vgl. 26. Jahresber. 1934, S. 76).

8) Stähelin, Schweiz2, S. 311f.

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mannen im 5. Jahrh. schon geschlossen in der Mittel- und Nord-schweiz saßen1). Denn das Ende jenes sprachlichen Vorgangesist erst nach dieser Zeit anzusetzen (R. 1, S. 277). Allein der Um-stand, daß sich der Einfluß der hochdeutschen Lautverschiebungan Ortsnamen der alamannischen Schweiz öfters, in dem nach 565von den Deutschen besetzten Tirol dagegen anscheinend bloß inzwei Fällen nachweisen läßt (R. 1, S. 275f.), spricht doch dafür,daß die germanische Landnahme in dem bereits seit 251 von denAlamannen oft heimgesuchten Ostteil der Maxima Sequanorum2)schon verhältnismäßig früh stattfand. Andererseits lassen Münz-funde und Aussagen der schriftlichen Überlieferung vermuten,daß die Römer bald nach 389 wie die Befestigungen an der Argen,der Iller und der Donau so auch jene am Oberrhein räumten undsie trotz der Bemühungen des Aetius sowie des Wiedererscheinenseinzelner regulärer Truppen im Grenzbereich nie wieder dauerndin die Hand bekamen; ebenso, daß die Alamannen damals allmäh-lich und zunächst anscheinend ohne aufsehenerregende Anwendungvon Gewalt südwärts über den Rhein vordrangen, um dann seit455 ihr Herrschaftsgebiet dauernd über diesen Fluß vorzuschieben.Diese Annahmen sind keinesfalls durch einen Hinweis auf die An-wesenheit rheinischer Vornehmer bei der Wahl des Kaisers Avituszu Arles (455) und auf die des Bischofs von Vindonissa beimKonzil von Epao (517) als irrig zu erweisen3). So überflutete alsowohl schon vor den Tagen Theoderichs eine erste germanische Welledie im wesentlichen zum Schweizer Mittelland gehörige Osthälfteder Maxima Sequanorum. Anders als hier und anders als auf derschwäbisch-bayrischen Hochebene verliefen dagegen die Dinge inden alpinen Teilen der beiden rätischen Provinzen. Diese Hoch-gebirgslandschaften wurden nicht in das Siedlungsgebiet germani-scher Stämme einbezogen und unterstanden zweifellos gleichBinnennorikum nicht nur der Herrschaft der letzten weströmischenKaiser,sondern auch noch jener Odovakars4). Die Annahme, deralamannische Siedlungsbereich habe sich schon vor 480 auch auf

1) Wie Löhlein, Alpen- und Italienpolitik, S. 18 meint.2) Über die Alamanneneinfälle in die Schweiz von der Mitte des 3. bis

zum Ende des 4. Jahrh. und die damaligen Abwehrmaßnahmen der RömerStähe l in , Schweiz2, S. 251—303.

3 )Heuberger , Rätien 1,S. 21f., 249—253, ders., Zeitschr. f. schweiz.Gesch. 16, S. 217f.; vgl. auch Stähe l in , Schweiz2, S. 311; Die tze ,Rätien, S. 40, 60—62, A. 22—24; Löhlein, Alpen- und Italienpolitik,S. 14—18. Für allmähliches Eindringen der Alamannen (allerdings erstnach 517) jetzt auch M. Beck, Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins 89(1936), S. 258—261.

4) R. 1, S. 124.

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das Land im Süden des Bodensees und zwar bis zur Linie Hirschen-sprung (bei Rüthi)—Montlingen—Götzis erstreckt1), stützt sichlediglich auf Angaben des Kosmographen von Ravenna, entbehrtmithin der zureichenden Begründung2). Die Vermutung hinwieder,Nordtirol habe seit der Mitte des 5. Jahrh. den staatlichen Zusam-menhang mit der Apenninenhalbinsel verloren3), beruht an-scheinend nur auf der Annahme, Theoderichs Reich habe nord-wärts nicht über die Brennergegend hinausgegriffen, und dieseVoraussetzung trifft nicht zu (s. u. S. 98). Auch läßt es sichzeigen, daß das tirolische Inntal zwar im 5.—6. Jahrhundertkeine lebhafteren Beziehungen zu Italien mehr hatte und ge-legentlich durch Einfälle der Germanen heimgesucht wurde(R. 1, S. 128f.), daß es ihm aber trotzdem ohne Frage erstnach 565 beschieden war, eine germanische Landnahme zu er-leben (R. 1, S. 275—277). Andererseits darf man freilich denLeuten, die im ausgehenden 5. sowie im beginnenden 6. Jahrh.in den rätischen Alpen lebten, gewiß weder den Willen nochdie Kraft zum Eingreifen in die Verhältnisse Flachlandrätienszutrauen, und es liegt denn auch kein Grund vor, das Gegenteilanzunehmen. Denn es dürfte sich kaum jemand durch die Dar-legungen A. Helboks überzeugen lassen, der in sehr verwegenerBeweisführung schon längst als sagenhaft erkannte, in der Über-lieferung des frühen Mittelalters noch nicht begegnende Erzäh-lungen über Kämpfe der Baiern in den Jahren 508—5204) neu zudeuten, sie auf solche Art als geschichtlich brauchbaren Nachklangalter Erinnerungen an wirkliche Geschehnisse zu erweisen unddaraufhin die Meinung zu vertreten versucht, die Alpenromanenhätten es nach dem Hunnensturm — also nach dem Tode Attilas(453) —, wenn auch ohne dauernden Erfolg, unternommen, dieMacht des Römertums im nördlichen Vorland ihrer Heimat mitgewaffneter Hand wieder herzustellen, und ein im Jahre 537 ausge-führter Vorstoß der Alamannen über den Brenner sei als Gegen-schlag gegen diese Bergbewohner aufzufassen5).

1) R. 1, S. 122.2) Gegen ein Ausgreifen der Alamannen auf das nördlichste Stück der

Raetia prima zuletzt D i e t z e , Rät ien , S. 40, 60—62, A. 22—24.3) E g g e r , J a h r b . 1929 des Vorarlb. Landesxnus. in Bregenz, S. 42,

ders. Österreich, S. 16, 19.4) Über diese Erzählungen und ihren geschichtlichen Unwer t S. R i e z l e r ,

Geschichte Bayerns l 2 (1927), S. 101f.; vgl. auch H e u b e r g e r , Rä t ien 1,S. 290—293.

6) Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs(1935f.), S. 311 f. Zu dem angeblichen Alamannenzug über den Brenner8. u. S. 92f.

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Wie sich während der zweiten Hälfte des 5. Jahrh. das Kommenund Gehen germanischer Völkerschaften auf der Hochebenezwischen Iller und Inn, Donau und Alpen abspielte, entzieht sichim einzelnen unserer Kenntnis. Namentlich ist es eine umstritteneFrage, ob sich schon damals oder erst später der Stamm der Baiern,der zum erstenmal in der 551 verfaßten Gotengeschichte des Jor-danes (Getica LV 280) genannt wird1), in diesem Landstrich sowiein dessen östlicher Nachbarschaft zu bilden begann und wie diesgeschah2). Bisher nahm man gemeinhin an, die früher in Boio-hemum (Böhmen) seßhaften Markomannen seien zu Ende des 5.oder in den ersten Jahrzehnten des 6. Jahrh., entweder unmittelbaraus dem Sudetenraum oder — etwa in Begleitung anderer Sueben —aus Ungarn herkommend, im westlichen Ufernorikum und imöstlichen Flachlandrätien erschienen und hätten hier, nunmehrnach ihrer einstigen Heimat Baiuvarii genannt3), nicht bloß demNamen nach, sondern auch blutmäßig den Hauptanteil an der Ent-stehung des unter Aufnahme von Alamannen, Thüringen, Erulenusw. erwachsenen bairischen Volkes gehabt. Neuerdings verfichtdagegen Helbok eine ganz andere Ansicht über den Ursprung diesesdeutschen Stammes4). Er meint, die Alamannen, die nach demZeugnis der Vita Severini in der zweiten Hälfte des 5. Jahrh.unter Führung König Gibulds ostwärts bis Batava und Lauriacum(Lorch) vorstießen, seien im Landstrich zwischen Ingolstadt undPassau dauernd sitzen geblieben und hätten zahlenmäßig den Kerndes bairischen Stammes gebildet, zu dem sich verschiedene Ger-manen unter Führung einer markomannischen Herrenschicht imausgehenden 5. und im beginnenden 6. Jahrh. zusammengeschlossenhätten. Es ist hier nicht der Ort, zu diesen Gedanken, gegen die

1) Nicht in der sogenannten fränkischen Völkertafel; vgl. R i e z l e r ,Geschichte Bayerns l2 , S. l0f. Über diese Quelle und ihre Entstehungszei tzuletzt K r u s c h , Neues Archiv 47, S. 65—74.

2) Über die Anfänge der Baiern u. a. R i e z l e r , Geschichte Bayerns l2 ,S. 95—108. Hier sowie bei G e b h a r d t , Handbuch der deutschen Ge-schichte l 7 (1930), S. 105 und bei D a h l m a n n - W a i t z , Quellenkunde derdeutschen Geschichte9 (1931), S. 299f. un te r Nr. 5037—5039 das ein-schlägige Schrifttum.

3) Gegen die Annahme, unter dem beim Kosmographen von Ravennagenannten Land Baias sei Böhmen zu verstehen und der Name der Baiernsei von dem jenes Landes abzuleiten, K r u s c h , Neues Archiv 47, S. 48—65.Dazu jetzt H e l b o k , Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands undFrankreichs, S. 313—315.

4) Die Heimat , Unterhaltungsbeilage der Münchner Neuesten Nach-richten 2 (1929), Nr. 32, S. 125f., Grundlagen der Volksgeschichte Deutsch-lands und Frankreichs, S. 304—315.

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bereits beachtenswerte Bedenken vorgebracht wurden1), grund-sätzlich und im einzelnen Stellung zu nehmen oder auch nur über-haupt genauer auf die Fragen einzugehen, die die Frühgeschichteder beiden oberdeutschen Stämme stellt. Doch müssen einigeWorte zur Klarlegung der Voraussetzungen gesagt werden, mitdenen Theoderich im rätischen Flachland zu rechnen hatte.

Im Winter 469/70 gingen die in Pannonien ansässigen Ostgotenunter ihrem König Thiudimer, die zugefrorene Donau — wohl inder Gegend von Budapest — überschreitend, gegen die jenseitsdes Flusses sitzenden Sueben vor und besiegten sie2). Jordanes,der dies im Anschluß an die 526—533 verfaßte GotengeschichteCassiodors erzählt (Getica LV, 280f.), bemerkt, die Sueben seienim Rücken angegriffen worden, und fügt erklärend hinzu: nam regioilla Suavorum ab Oriente Baibaros habet, ab occidente Francos, a me-ridie Burgundzones, a septentrione Thuringos. Er behauptet außer-dem, mit den Sueben seien die Alamannen verbündet gewesen, dieallerwärts die nach der Donau zu Flüsse entsendenden Alpen be-herrscht hätten (Alpes erectos omnino regentes, unde nonnulla fluentaDanubium influunt nimio cum sonu vergentia), und betont im An-schluß daran, durch ein so gegen Angriffe geschütztes Gelände(taliterque munito loco) habe Thiudimer sein Heer vorrücken lassenund die beiden feindlichen Völkerschaften überwunden. Der go-tische Geschichtsschreiber läßt mithin den Amaler seine Krieger aufdas linke Donauufer und zugleich durch die Ostalpen führen, dieAlamannen, die sich in Wahrheit südwärts fast nur im alpinenFlußgebiet des Rheins ausbreiteten, den nach der Donau zu ent-wässerten Teil der Alpen beherrschen und den Siedlungsbereich derungarischen Sueben an die Gebiete jener Germanenvölker grenzen,die später — nach der Entstehung des bairischen Stammes und vorder Vernichtung des bis an die Donau ausgreifenden Thüringer-reiches (531/534) — Nachbarn der Alamannen waren3). Auch istes höchst unwahrscheinlich, daß den von den Ostgoten angegriffenenungarischen Sueben von den südwestdeutschen Alamannen Hilfegeleistet worden sein soll. Hier liegt also ein Gemisch von Unwahr-scheinlichkeiten, Unklarheiten, Verwechslungen und Irrtümern vor,und die Lösung der damit gegebenen Schwierigkeiten wird gewißin der Annahme zu finden sein, daß Cassiodor neben der gotischenÜberlieferung noch eine spätere geographische Quelle benützte,ihr Angaben über die Wohnsitze der Alamannen entnahm und diese

1) S. S t e r n e r - R a i n e r , Tiroler Heimat , Zeitschr. f. Gesch. u. Volksk.Tirols 7/8 (1936), S. 22—25.

2) Darüber S c h m i d t , Ostgermanen2 , S. 276.3) Betreffs der Thüringer vgl. R i e z l e r , Geschichte Bayerns l2 , S. 94.

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Deutschen mit den ungarischen Sueben zusammenwarf1). Mög-licherweise könnte dies übrigens auch Jordanes selbst getanhaben2). Die Baiern sind also überhaupt sowie als östliche Nachbarnder Alamannen erst für die Zeit von 526—533 oder um 551 quellen-mäßig bezeugt, und in Anbetracht des Gesagten geht es unterkeinen Umständen an, die Angaben des Jordanes als Beleg dafüranzusehen, daß um 470 die Wohnsitze der Alamannen bis an denInn gereicht und ostwärts von diesen Germanen bereits die „Baia-leute“ Fuß gefaßt hätten3). Daß letzteres der Fall gewesen sei,ist zudem schon deshalb höchst unwahrscheinlich, weil die VitaSeverini um diese Zeit in Ufernorikum weder Markomannen nochBaiuwaren kennt und weil die unter Berufung auf Ergebnisse derSpatenforschung ausgesprochene Meinung, unter den Thüringerndes Eugippius seien Markomannen mitzuverstehen4), angesichtsder meist und so auch hier gegebenen Unmöglichkeit, Funde mitSicherheit einem bestimmten Germanenstamm zuzuweisen5),vorläufig wenigstens noch nicht als begründet anerkannt werdenkann. Andererseits wird man sich zugunsten der Ansicht, dieganze schwäbisch-bayrische Hochebene sei im späteren 5. Jahrh.in den Händen der Alamannen gewesen, weder auf die Bemerkungdes Kosmographen von Ravenna, daß das Gebiet dieser Germanenzwischen Italien und dem Thüringerland liege, noch auf eine Stellebei Paulus Diaconus (Historia Langobardorum II, 15) berufendürfen6), an der es heißt: Inter hanc (Liguriam) et Suaviam, hoc estAlamannorum patriam, quae versus septentrionem est posita, duaeprovinciae, id est Retia prima et Retia secunda, inter Alpes con-sistunt. Denn jene Angabe des Ravennaten erklärt sich sehr ein-fach, wenn man bedenkt, daß dieser unzuverlässige Schriftstellervon den Baiern nichts wußte, Alamannien — den Verhältnissenseiner Zeit entsprechend — an Italien stoßen ließ und die Süd-grenze des Thüringerlandes — vielleicht im Anschluß an den vonihm öfter benützten Jordanes — an die Donau verlegte7). PaulusDiaconus aber setzte die beiden rätischen Provinzen des Altertumsihrem Umfang nach irrtümlich dem fränkischen Churrätien gleich8).Ferner bezeugt zwar Eugippius, daß die anfangs von einem

1) S c h m i d t , Ostgermanen2, S. 276.2) So zuletzt R i e z l e r , Geschichte Bayerns l2, S. 11, A. 3.3) Dies t u t H e l b o k , Grundlagen, S. 304f.4) H e l b o k , Grundlagen, S. 310.5) Z e i ß , Germania 14 (1930), S. 11—20.6) Dies t u t H e l b o k , Grundlagen, S. 305f.7) K r u s c h , Neues Archiv 47, S. 56f.8) H e u b e r g e r , Veröffentl. des Ferdinandeums in Innsbruck 10 (1930),

S. 25f., ders. Rät ien 1, S. 84.

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König namens Gibuld geführten Alamannen seit der Mitte des5. Jahrh. im Süden der Donau bis an den Inn und weiter vordran-gen1), und es lassen schwäbische Einschläge in der Mundart Nieder-bayerns2) vermuten, daß hier Nachkommen jener Germanendauernd sitzen blieben und nachmals in den Baiern aufgingen.Allein jene mundartliche Erscheinung fällt bloß in dieser Gegendauf und die Meinung, die alamannischen Grabfunde von Straubingund Irsching (Bezirksamt Pfaffenhofen) sowie die Verteilung derOrtsnamen auf -ing(en) bewiesen, daß sich im Landstrich zwischenIngolstadt und Passau für längere Zeit ein für die Entstehungs-geschichte des bairischen Stammes wichtiges Alamannenreich ge-halten habe3), trifft nicht zu. Denn jene Gräber, die übrigens lehren,daß die bei Eugippius genannten Alamannen wirklich solche undkeine andern Sueben waren4), stammen eben aus der Zeit, von derdieser Schriftsteller spricht5), und aus der Verbreitung der Namenauf -ing(en) lassen sich keine Schlüsse der hier in Betracht kom-menden Art mit einiger Sicherheit ableiten6). Endlich ist es nichtrichtig, daß Alamannen im eigentlichen Bayern noch für das Jahr537 durch Cassiodor bezeugt seien, der von einem Zug dieser Ger-manen über den Brenner berichte7). Denn bei Cassiodor (VariaeXII, 7) ist nur von einer Verwüstung Venetiens durch Suebendie Rede. Dieser Germaneneinfall, der entweder 537 oder schon536 stattfand8), kann also möglicherweise auch unter Benützungder Bündner Pässe, eines Überganges der östlichen Alpen odereiner vom Karst herkommenden Straße ausgeführt worden sein,und wenn man erwägt, daß Cassiodors Varien die Alamannenanderwärts immer unter ihrem eigentlichen Namen anführen(II, 41, III, 50, XII, 28), die Bezeichnung Suebi aber sonst nie ge-brauchen, so wird man daran zu denken haben, daß hier unterdiesem Namen nicht die Alamannen, sondern andere Leute zu

1) R. 1, S. 123f. und das daselbst angeführte Schrifttum.2 ) R i e z l e r , Gesch. Bayerns l2, S. 93; Z e i ß , Germania 14, S. 21.3) H e l b o k , Heimat 2, Nr. 32, S. 125f., ders. Grundlagen, S. 307—309.4) Mit letzterer Möglichkeit rechnet R i e z l e r , Gesch. Bayerns l2 ,

S. 90f.5) Z e i ß , Germania 14, S. 21.6) S t e r n e r - R a i n e r , Tiroler Heimat 7/8, S. 24. Vgl. auch A. D o p s c h ,

Korr.-bl. d. Ges.-Ver. 1927, Sp. 184—188.7) Dies meint H e l b o k , Grundlagen, S. 307.8) Zu diesem Plünderungszug, der bald den Alamannen, bald den Baiern

zugeschrieben und gelegentlich mit dem durch Variae X I I , 28 bezeugtenAlamanneneinfall in Ligurien zusammengebracht wurde, zuletzt Z e i ß ,Germania 12, S. 32; D i e t z e , Rät ien, S. 128f., 206—208, A .9—17; L ö h -l e i n , Alpen- und Italienpolitik, S. 29—31.

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verstehen sind, und zwar entweder die Baiern, die in der SammlungCassiodors nirgends erscheinen, oder (germanische) Bewohner derostgotischen Provinz Savia1) oder — dies ist wohl am wahrschein-lichsten — die in Pannonien angesiedelten Sueben, die Prokop(Bell. Goth. I, 15, 26) erwähnt.

Hält man sich dies alles vor Augen, so ergibt sich bezüglich derZustände, die zu Ende des 5. Jahrh. auf der schwäbisch-bay-rischen Hochebene herrschten: Der Macht- und Siedlungsbereichder Alamannen griff damals im Norden dieses Gebietes vermutlichostwärts weit über den Lech hinaus. Wieweit der Einfluß dieserDeutschen von hier aus um jene Zeit gegen die Alpen hin reichte,wissen wir nicht. Ebensowenig vermag man zu sagen, ob damalsandere Germanen den Süden des rätischen Flachlandes heimsuchten.Die Entstehung des bairischen Stammes, dessen Gebiet um 565unmittelbar nördlich der Alpen wohl bis an die Iller und nachmalsallerwärts bis an den Lech reichte2), dürfte sich erst in der erstenHälfte des 6. Jahrh. und zwar am ehesten zu Anfang der dreißigerJahre desselben3) oder kurz vorher vollzogen haben. Dieser An-nahme ist auch der archäologische Befund günstig4). Desgleichender Umstand, daß die Baiern in Cassiodors Sammlung entwederüberhaupt nicht oder — wenn sie im Sinn der oben erwogenenMöglichkeit mit den Suebi in Variae XII, 7 gemeint sein sollten —erst für die Jahre 536/537 genannt werden. Man hat demnach miteinem Vorhandensein dieser Germanen vor und um 500 wohlnoch nicht zu rechnen.

3. Rätiens Einfügung ins OstgotenreichDie beiden rätischen Provinzen, deren Bewohner man für das

ausgehende Altertum und das beginnende Mittelalter im Anschlußan den damaligen Sprachgebrauch5) als Räter bezeichnen darf,waren als Grenzmarken für das Ostgotenreich militärisch be-sonders wichtig, und trotzdem wurden sie diesem nur lose ange-gliedert (s. o. S. 80f.). Daher nimmt man gewiß mit Recht gemein-

1) Mit diesen beiden Möglichkeiten rechnet R i e z l e r , Gesch. Bayerns l 2 ,S. 103.

2) S c h m i d t , Zeitschr. f. Schweiz. Gesch. 9 (1929), S. 167; H e u b e r g e r ,Rät ien 1, S. 41 , A. 115, S. 128. Ein Übergreifen der Baiern auf das linkeLechufer u m 565 bezweifelt Z e i ß , Bayr . Vorgeschichtsfreund 7/8 (1928/29),S. 7 und Zeitschr. f. bayr . Landesgesch. 8 (1935), S. 469.

3) So u. a. R i e z l e r , Geschichte Bayerns l2 , S. 103.4) Z e i ß , Germania 14, S. 16.5) Über den Namen Raeti zuletzt H e u b e r g e r , Tiroler Heimat , neue

Folge 5 (1932), S. 35—37.

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hin an, die Räter hätten sich dem als kaiserlicher magister militumnach Italien gekommenen Theoderich vertragsmäßig unterworfenund sie seien deshalb unter ihrem zum dux Raetiarum ernanntenoder in dieser Würde bestätigten Führer in einer gewissen Sonder-stellung belassen worden1). Es erhebt sich nun die Frage nach dennäheren Umständen, unter denen der große Amaler seine Herr-schaft über den rätischen Raum ausdehnte.

Dietze, dem Martin2) zustimmt, meint3): Theoderich sei erstnach der Beseitigung Odovakars und seiner Anhänger, also frü-hestens 494, in der Lage gewesen, die Nordgrenze Italiens durch einAusgreifen auf rätischem Boden zu sichern. Er habe dann dasrätische Alpengebiet sowie den zwischen Alpen und Donau, Illerund Lech gelegenen Flachlandstreifen gewonnen und so durchÜbernahme der römischen Befestigungen an der Iller und an einemkleinen Stück des Donaulaufes sowie durch Ansiedlung gotischerKrieger in den gefährdeten Grenzstrichen die Möglichkeit erlangt,Angriffen der westlich der Iller wohnenden Alamannen und solchender östlich vom Lech ansässigen Baiern zu begegnen. Doch seidie Lage des so geschaffenen ostgotischen Rätien zunächst nochsehr bedroht gewesen. Dies habe sich erst nach Chlodewechs Siegüber die Alamannen (496) geändert. Theoderich habe nämlichdieses Ereignis benützt, um sich die östliche, damals bereits vonden Alamannen besiedelte Maxima Sequanorum anzueignen undzahlreiche alamannische Flüchtlinge als zuverlässige Grenzwächterunmittelbar südlich sowie östlich vom Bodensee und im Raumzwischen Iller und Lech anzusiedeln.

Gegen diese Annahmen läßt sich zunächst folgendes sagen:1. Sich dem Amaler freiwillig und vertragsmäßig zu unterwerfen,waren dem oben Gesagten zufolge zweifellos nur die Bewohner desrätischen Alpenraumes und außer ihnen höchstens etwa noch dieRomanen in der Lage, die nahe diesem Gebiet im Landstrichzwischen Iller und Inn lebten. Diese jedenfalls stets durch ihregermanischen Nachbarn im Norden bedrohten Leute hatten an-dererseits Grund, sich dem Ostgotenreich einzufügen. — 2. Diemeisten Bewohner der Poebene sowie der Apenninenhalbinselerklärten sich schon nach den Niederlagen Odovakars am Isonzound bei Verona (August—September 489) für Theoderich, dieser

1) Zeiß, Germania 12, S. 29; Die tze , Rätien, S. 109, A. 52; Heu-berger , Rätien 1, S. 135, A. 131; Schmidt , Zeitschr. f. schweiz. Gesch.14, S. 454f.

2) Bull. 6, S. 17 A. 1, S. 21.3) Rätien, S. 79—101; dazu S. 102—126, A. 1—155 und Karte 1 am

Schluß des Bandes.

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beherrschte seit seinem Sieg an der Adda (11. August 490) fast ganzItalien, wurde 490 und 491 großenteils mit den inneren Wider-ständen in diesem Land fertig, erlangte damals auch die Aner-kennung durch den Senat, und seine letzten Gegner verschwandenwahrscheinlich schon zu Ende 492 aus der Gegend zwischen Tri-dentum und Verona1). Der Amaler kann sich also schon vor 494um die Alpenlandschaften gekümmert haben, und die Räter werdensich ihm am ehesten — wo nicht bereits in den letzten Monatendes Jahres 489 — im Herbst 490 oder zu Ende des Jahres 492 an-geschlossen haben. — 3. Gegen feindliche Germanen, die westlichder Iller und östlich des Lech saßen, waren das alpine Rätien undItalien weit besser durch entsprechende Vorkehrungen am Nord-rand der Alpen als dadurch zu schützen, daß man den offenenFlachlandstreifen zwischen jenen Flüssen besetzte und verteidi-gungsfähig machte, was den Ausbau der längst verfallenen Römer-festen an Iller und Donau, die Errichtung zahlreicher neuer Wehr-anlagen am Lech und die Bereitstellung bedeutender Streitkräfteerfordert hätte. — 4. Wie oben dargelegt, reichte um 500 das ala-mannische Siedlungsgebiet vermutlich gegen Osten zu nicht nurüber die Iller, sondern auch über den Lech weit hinaus, und es gabdamals wohl noch keinen bairischen Stamm. Andererseits fehlenBeweise für eine Zugehörigkeit des Gebietes zwischen jenen Flüssenzum Ostgotenreich (s. u. S. 98f.). Auch kam es unseres Wissensauf rätischem Boden zu keiner Ansiedlung von Goten (s. o. S. 81)und nördlich der Alpen wohl zu keiner Landanweisung an ge-flüchtete Alamannen durch Theoderich (s. u. S. 101f.). — 5. DieserKönig beherrschte höchstens das östlichste Stück der MaximaSequanorum (s. o. S. 77f.), und war dies der Fall, dann besaß er esmöglicherweise schon vor Chlodewechs Alamannensieg. Könntesich die hier ansässige Alamannengruppe, die zahlenmäßig gewißsehr schwach war2), doch etwa bereits früher dem Ostgotenherrscherunterstellt haben, um einen Rückhalt gegen die nachbarlichen Bur-gunder zu finden. Theoderich redet jedenfalls nachmals in seinemBrief an den Merowinger (Variae II, 41) nur von Alamannen, diesich auf gotischen Reichsboden geflüchtet hatten, nicht aber vonsolchen, deren Gebiet er sich im Gegensatz zu den Franken ange-eignet hätte (s. u. S. 100); was freilich nicht viel besagen will, daja in Schriftstücken des staatsmännischen Verkehrs unliebsameDinge gern verschwiegen werden.

1) A. Nagl , Realenz. V A (1934), Sp. 1755—1757, Schmid t , Ost-germanen2, S. 295—297, 337.

2) S. o. S. 86 darüber, daß die alamannische Landnahme in der Schweizin der Hauptsache erst ins 6.—7. Jahrh. gefallen sein dürfte.

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Dietzes Ansicht, die beiden Rätien seien von Theoderich ver-hältnismäßig spät gewonnen und erst nachträglich vollwertig gegenaußen hin gesichert worden, beruht aber — dies ist die Haupt-sache — lediglich auf unhaltbaren Annahmen über Entstehungs-zeit und Bedeutung der in Frage kommenden Zeugnisse der schrift-lichen Überlieferung. Daß die ostgotische Reichsgrenze vor 494bei Tridentum lag, soll ein damals entstandener königlicher Erlaß(Variae III, 48) beweisen, der die nächst der Verruca (Dos Trentobei Trient) ansässigen Goten und Römer auffordert, sich für denFall einer Gefahr auf diesem castrum paene in mundo singulare,tenens claustra provinciae . . . feris gentibus obiectum Wohnungen zubauen, was bezweckt habe, auf alle Fälle für das Kastell eine ge-nügende Besatzungsmannschaft zu gewinnen, und zeige, wiebedroht dessen Lage damals gewesen sei1). Dieser Brief kann aber,da ja im damaligen Italien alle Römer vom Wehrdienst ausge-schlossen waren, die ihm zugeschriebene Absicht nicht verfolgthaben. Er ist ferner erst auf Grund der gespannten Lage der Jahre507—508 geschrieben worden, und unter den ferae gentes sind nichtdie Räter, sondern nordalpine Germanen zu verstehen2). An-dererseits soll eine amtliche, 533—537 entstandene Ausfertigung(Variae XI, 14), die auf Grund einer Beschwerde der possessoresComum (Como) gegen übertriebene Anforderungen im Dienst derReichspost in Schutz nimmt und dadurch eine Abwanderung vonEinwohnern verhüten will, bezweckt haben, einer Schwächungder Stadtbesatzung vorzubeugen, die wohl größtenteils aus diesenLeuten bestanden habe, und Comum in der Stellung einer Grenz-festung zeigen, die die Stadt vermutlich erst nach der BesetzungChurrätiens durch die Franken sowie in Theoderichs Anfangszeit— vor dem Ausgreifen des Königs auf Rätien — eingenommenhabe3). Allein dieses Schriftstück diente, da sein Inhalt bloßRömern zugute kam, selbstverständlich keineswegs dem Bestreben,Comum verteidigungsfähig zu erhalten. Es bezeichnet ferner dieseStadt zwar als munimen claustrale provinciae, schildert aber imübrigen deren Umgebung in einer Weise, die nur an ganz friedlicheund gesicherte Verhältnisse, nicht aber an einen gefährdetenGrenzlandstrich denken läßt. Es fehlt also jeder Anlaß, anzuneh-men, das Schreiben sei erst nach dem durch Belisars Vorrücken inSüditalien bezeichneten vollen Ausbruch des ostgotisch-byzan-tinischen Krieges (536) und nach dem Verlust der Raetia prima

1) D i e t z e , Rätien S. 80, 102f. A. 8—13.2) H e u b e r g e r , Burggrafenamt, S. 33f., derselbe, Schlern 17 (1936),

S. 199f.3) D i e t z e , Rätien S. 80f., 103, A. 14—17, S. 205f., A. 4.

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an die Franken (frühestens 537)1) entstanden, und wenn man darausRückschlüsse auf die Lage Comums in den ersten Jahren Theode-richs ziehen will, so rechtfertigen diese keineswegs die Auffassung,daß die Stadt damals am Außenrand des ostgotischen Machtge-bietes gelegen habe. Gegen das hier über die Verruca und überComum Gesagte läßt sich durchaus nicht der Umstand ins Treffenführen, daß die amtlichen Schriftstücke jenes Kastell als tenensclaustra provinciae und diese Stadt als muminen claustrale provin-ciae bezeichnen. Denn alle uns bekannten ostgotischen Grenzfestenbefanden sich auf der Innenseite des Alpenbogens2). So fußt alsodie Behauptung, die Herrschaft des Amalers habe vor 494 nord-wärts nur bis Tridentum und Comum gereicht, auf unhaltbarenVoraussetzungen. Dasselbe gilt aber auch von Dietzes Meinung,das ostgotische Rätien sei vor 496 noch gefährdeter gewesen, alsnachmals, was sich aus dem wohl in jenem Jahre verfaßten, anden dux Raetiarum gerichteten Schreiben Theoderichs (Variae 1, 11),das die Kriegslust, Waffentüchtigkeit und Gewalttätigkeit derBreonen (im tirolischen Inntal und im Silltal) erwähnt, undaus der nicht später entstandenen, die schwierige Lage Rätiensschildernden formula ducatus Raetiarum (Variae VII. 4) ergebe3).Denn diese beiden Stücke werden gewiß mit Recht gemeinhin indie Jahre 507—511 gesetzt, und sie können unmöglich viel früherverfaßt worden sein4). Sie sind also ungefähr gleichzeitig mit demdie Verruca betreffenden Brief Theoderichs entstanden.

Wer dies alles bedenkt, wird Dietzes Annahmen über dieEinfügung der beiden Rätien in den Staat Theoderichs ablehnenmüssen. Diese Landschaften sind also wohl spätestens 492 unterdie Herrschaft des Ostgotenkönigs gekommen, und solange dieserlebte, hat sich ihre Lage anscheinend nicht wesentlich geänderte

4. Die Nordgrenze Ostgotisch-RätiensDie Frage nach dem Verlauf der nördlichen Landmark Ost-

gotisch-Rätiens wurde und wird in sehr verschiedener Weise be-antwortet. Sie muß daher näher untersucht werden.

L. M. Hartmann5) glaubt, der Befehlsbereich des ostgotischendux Raetiarum habe sich auf einen schmalen Grenzstreifen am

1) Zur Erwerbung Churrätiens durch die Franken zuletzt H e u b e r g e r ,Rätien 1, S. 136; L ö h l e i n , Alpen- und Italienpolitik, S. 4—6, l0f.

2) H e u b e r g e r , Rätien 1, S. 132—134; S c h m i d t , Ostgermanen2, S.382.3) D i e t z e , Rätien, S. 81f.; dazu S. 103—105, A. 18—28. Zur Da-

tierung von Variae I, 11 und VII, 4 ebenda, S. 104, A. 21, S. 108, A. 43.4) Vgl. H e u b e r g e r , Burggrafenamt, S. 33f.5) Geschichte Italiens im Mittelalter l2 (1923), S. 96.

Klio, Beiträge zur alten Gesch. XXX (N. F. XII) 1 7

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Brenner beschränkt, und Egger1) vertritt die Meinung, zu diesemAmtssprengel habe nur die östliche Schweiz sowie der bei Italienverbliebene Teil Tirols, hauptsächlich die Brennergegend, gehört.Dazu ist zu sagen: In einem amtlichen, 533—537 abgefaßten Schrift-stück (Variae XII, 4) wird unter den Tafelgerichten des Ostgoten-königs u. a. auch der im Rhein lebende anchorago genannt. Es istfraglich, ob man in diesem Fisch den Lachs, der nicht über denRheinfall hinaufgeht, oder die im Alpenrhein sowie in der Ill vor-kommende Rheinanke zu sehen hat. Die Nennung des anchoragogestattet also ebensogut die Meinung, das Reich Theoderichs undseiner Nachfolger habe sich nur bis an den Bodensee oder in dessenNähe erstreckt, wie die Annahme, es habe sich bis an den unter-halb von Schaffhausen gelegenen Teil des Rheins ausgedehnt2).Auf jeden Fall beweist aber die Erwähnung jenes Fisches, daß dieOstschweiz noch zum Gotenstaat gehörte. Ferner wohnten dieBreonen, die nach Variae I, 11 dem dux Raetiarum unterstanden,gleich ihren ur- und römerzeitlichen Vorfahren, nicht, wie manfrüher gelegentlich meinte, in der Brennergegend — diese bedecktenoch im früheren Mittelalter Urwald3) —, sondern nördlich dieserWildnis im Sill- und Inntal, ohne daß sich sicher sagen ließe,ob sie den ganzen tirolischen Teil von letzterer Talschaft oder nurdas Mittelstück desselben innehatten4). Das Reich der Amalererstreckte sich mithin nachweislich nordwärts bis zu den bayrisch-tirolischen Kalkalpen. Das Gesagte zeigt, daß die räumliche Aus-dehnung des ostgotischen Rätien nicht nur von Hartmann,sondern auch von Egger unterschätzt wird.

Die Vermutung, das Reich Theoderichs habe über die Donauhinaus bis an den einstigen rätischen Limes ausgegriffen, ist ganzunhaltbar5) und kann daher unberücksichtigt bleiben. Abgelehntmuß auch Dietzes Ansicht werden, daß Theoderich bei seinem Aus-greifen im rätischen Raum aus militärischen Gründen nicht amNordsaum der Alpen Halt gemacht, sondern auch das Gebietzwischen diesem Gebirge und der Donau, der Iller und dem Innseinem Reich eingefügt habe. Denn sie beruht auf manchenunhaltbaren Voraussetzungen (s. o. S. 94f.), und sie läßt sich auchquellenmäßig nicht beweisen. Dietze (S. 82—84, 105—107,A. 29—40) begründet seine Auffassung nur, indem er ausführt:

1) Österreich S. 19.2) Martin, Bul l . 6 S. 17—19 (hier das weitere Schrifttum über den

anchorago).3) R. 1, S. 36.4) R . 1, S. 40—47, 149f., 212—214.5) Z e i ß , Zeitschr. f. bayr . Landesgesch. 2, S. 353, bes. A. 34.

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Das ostgotische Rätien 99

Die clusurae Augustanae (Variae II , 5) seien in der EhrenbergerKlause (bei Reutte) oder in der Scharnitz (bei Mittenwald) zusuchen. Die Tatsache, daß hier ein ostgotisches Sperrwerk bestand,könne zwar ebensogut gegen wie für die Annahme einer Aus-dehnung des ostgotischen Staatsgebietes über die Alpen hinausins Treffen geführt werden. Für diese Annahme spreche aber derUmstand, daß nach Variae XII, 4 auch Donaukarpfen für diekönigliche Tafel nach Ravenna gesandt worden wären. Diesekönnten freilich vielleicht auch aus Pannonien gekommen sein.Aber jene Annahme erscheine im Hinblick darauf als gerechtfertigt,daß nachweislich noch um 565 in Augsburg St. Afra verehrt wurde(s. o. S. 85). Denn nur unter dem Schutz der Ostgoten hätte dieChristengemeinde dieser Stadt so lange fortbestehen können.Die tze gibt also selbst — und zwar mit vollem Recht — zu, daßdie clusurae Augustanae, die übrigens in Wahrheit sicher bei Aostalagen1), und die Donaukarpfen für seine Ansicht nicht beweis-kräftig sind. Somit bleibt als Stütze für diese Auffassung nur dieAugsburger Afraverehrung. Aber auch mit dieser ist hier nichtsanzufangen. Denn wenn sich in Augsburg bis gegen 500 eineChristengemeinde inmitten der Germanen zu halten vermochte,ohne von außen her geschützt zu werden, so konnte sie sich auchspäter noch ohne eine Deckung von Italien aus weiter behaupten.Nebenbei sei bemerkt, daß unter dem als Untertan Theoderichsgenannten Augustanae civitatis episcopus (Variae I, 9) nicht derBischof von Augsburg, sondern jener von Aosta zu verstehen ist(R. 1, S. 126f.) und daß die Bronzetür des Augsburger Doms,in der O. R o g e r ein Werk ravennatischer Künstler aus derZeit des großen Amalers erkennen wollte2), in Wahrheit erst um1000, wo nicht noch etwas später, geschaffen wurde3).

Andere Auffassungen über die Nordgrenze Ostgotisch-Rätiensknüpfen an Nachrichten über das Verhältnis Theoderichs zu denAlamannen an. Wir besitzen ein Schreiben des Ostgotenkönigs anChlodewech (Variae II, 41). Es wird ins Jahr 5074), in die Jahre502—5075) oder in die Zeit nach des Frankenkönigs Alamannensieg

1) Über die clusurae Augustanae zuletzt Heuberger , Schlern 17,S. 197—200.

2) Zeitschr. d. hist. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 41 (1915), S. 145;vgl. D i e t z e , Rätien 1, S. 107, A. 40.

3) R. D o m m , Das Bronzetor des Augsburger Domes (1925), S. 34f.;vgl. auch H . B e e n k e n , Roman. Skulptur in Deutschland (1924),S. 14.

4) So T h . M o m m s e n in Mon. Germ., Auct. antiqu. 12, S. 73.6) So M a r t i n , Bull. 6, S. 21.

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(496)1) gesetzt, kann aber erst 507 oder kurz vorher abgefaßtworden sein2). Daß es jenes fränkischen Erfolges gedenkt, erklärtsich aus dem Inhalt des Briefes, beweist also nicht, daß derselbebald nach Chlodewechs Sieg abgeschickt wurde, zumal dies mitkeinem Wort angedeutet wird. In diesem, Schriftstück ersuchtder Amaler den Merowinger, sich, da Treubruch nur an den Haupt-schuldigen zu strafen sei, mit der Unterwerfung der Alamannenzu begnügen und die erschöpften Reste dieses Volkes nicht zu be-drängen, qui nostris finibus celantur exterriti. Bei Erfüllung dieserBitte werde Chlodewech nichts zu besorgen haben ex illa parte,quam ad nos cognoscitis pertinere. Ferner befiehlt der Gotenkönigum 507 in einem Erlaß (Variae III, 50) den provinciales Norici, siesollten die wegemüden Rinder durchziehender Alamannen gegeneigene umtauschen. Weiters sagt Ennodius 504—507 in seinerLobrede auf Theoderich (Panegyricus XV), die Alamanniaegeneralitas habe, ihres Königs beraubt, ihre unwirtliche Heimatverlassen und intra Italiae terminos sine detrimento Romanaepossessionis in einem verödeten Gebiet günstige Wohnsitze er-halten und sei so zum custos Latiaris imperii geworden. Endlichbehauptet um 570 Agathias (Historia I, 6, vgl. auch I, 4), daß dieOstgoten bei Beginn ihres Abwehrkampfes gegen die Byzantineraußer ihren südgallischen Besitzungen noch viele Länder und auchdas Alamannenvolk aufgegeben hätten, um die Franken für sichzu gewinnen. Aus diesen Zeugnissen schließen verschiedene Ge-lehrte — im einzelnen voneinander abweichende Ansichten ver-tretend —, Theoderich habe Teile des alamannischen Volks-gebietes und zwar entweder die Osthälfte der Maxima Sequanorumoder das westlich der Iller und südlich der Donau gelegene, vonden Römern im 3. Jahrh. verlorene Stück Rätiens, also Ober-schwaben (mit Ausnahme seines östlichsten Streifens) entwedervon Anfang an oder seit 496—507 beherrscht und alamannischeFlüchtlinge auf rätischem Boden angesiedelt3). Dieser Meinungist auch Schmidt . Er nimmt an, Oberschwaben sei zu Anfangdes 6. Jahrh. oder schon nach 496 dem Reich des Amalers an-gegliedert worden, der bereits vorher das Flachland zwischenIller und Inn besessen und im Osten dieses Gebietes — wie im An-schluß an ältere Forscher vermutet wird — 508 den Markomannen-

1) So S c h m i d t , Ostgermanen2, S. 342, A. 1.2) Dies ergibt sich aus der Erwägung bei H e u b e r g e r , Burggrafenamt,

S. 33f.3) So zuletzt außer D i e t z e (s. o. S. 94) N a g l , Realenz. V A, Sp. 1759f.;

M a r t i n , Bull. 6, S. 21—26; vgl. auch D o p s c h , wirtschaftl. u . soz.Grundlagen d. europ. Kulturentw.2 1 (1923) S. 173.

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Das ostgotische Rätien 101

Baiern neue Wohnsitze gewährt habe1). Zeiß dagegen, der gleichHeuberger 2 ) das ostgotische Rätien stets nur bis an denNordsaum der Alpen reichen läßt3), bestreitet dies alles. End-lich sieht Helbok , anknüpfend an Gedanken anderer Forscher,in jenen Quellenaussagen einen Beweis dafür, daß der Ostgoten-könig, dessen unmittelbarer Machtbereich gegen Norden zu nichtüber die Alpen hinausgegangen sei, nach Chlodewechs Sieg überdie Alamannen die im heutigen Württemberg und Baden sowieauf der schwäbisch-bayrischen Hochebene wohnhaften Angehörigendieses Volkes seinem Schutz unterstellt und seitdem eine Schirm-herrschaft über sie ausgeübt habe4).

Hier soll die ganze schwierige und kaum völlig restlos lösbareFrage des Verhältnisses zwischen Alamannen und Ostgoten nichtnochmals neu untersucht, sondern nur angedeutet werden, was sichm. E. auf Grund der ihr bisher gewidmeten Erörterungen ergibt.Die Alamannen, die nach Variae III, 50 durch Binnennorikumwanderten, waren zweifellos — wo nicht durchziehende Krieger —Leute, die in Pannonien neue Wohnsitze erhalten sollten. DaßAngehörige des alamannischen Stammes zur Zeit Theoderichs undseines Enkels Athalarich im norisch-pannonischen Grenzgebietlebten, lassen die Grabfunde von Krainburg vermuten5). Unterder Alamanniae generalitas des Ennodius ist bestimmt nicht dieGesamtheit des Alamannenvolkes, sondern eine Gruppe alaman-nischer Flüchtlinge zu verstehen, die irgendwo im Gotenreichangesiedelt wurde und zwar wohl in Venetien oder Pannonien,vielleicht aber auch auf dem Boden Rätiens, etwa auch der MaximaSequanorum. Die Nachricht des Agathias ist, wörtlich genommen,ohne Zweifel unrichtig. Sie kann indes wohl der Wahrheit ent-sprechen, wenn man sie nur auf eine kleine, nahe der ostgotischenReichsgrenze ansässige Alamannengruppe bezieht. Ferner ist eineeinigermaßen ansehnliche Erweiterung des ostgotischen Macht-gebietes nach Chlodewechs Alamannensieg höchst unwahrschein-lich. Doch könnte Theoderich damals gewiß möglicherweise seineHand auf einen unbedeutenden, vom unmittelbaren Herrschafts-bereich der Franken noch weit entfernten Landstrich gelegt haben,

1) Ostgermanen2, S. 154, 340, 342f., 361, 382, Zeitschr. f. schweiz.Gesch. 14, S. 456 (hier die Besitznahme Oberschwabens schon nach 496angesetzt).

2) R. 1, S. 125—131.3) Germania 12, S. 25—34, Zeitschr. f. bayr. Landesgesch. 2, S. 343

—354.4) Grundlagen, S. 291—294.5) Zeiß, Germania 14, S. 21—23.

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102 Richard Heuberger

wie es die östliche Maxima Sequanorum zu dieser Zeit war1). End-lich hat m. E. trotz mancher dagegen vorgebrachter EinwendungenTheoderichs Brief an Chlodewech (Variae II, 41) ohne Frage alsZeugnis dafür zu gelten, daß zum italischen Ostgotenreich auchein nördliches Grenzgebiet gehörte, in dem sich vor den Frankengeflüchtete Alamannen in Sicherheit gebracht hatten. Denn dieseskönigliche Schreiben, das, weil verbindlich gefaßt, nicht offen mitKrieg drohen konnte, sagt von den in ihm genannten Alamannen,sie wohnten innerhalb der nostri fines (bzw. der pars, quam ad noscognoscitis pertinere), also auf gotischem Reichsboden2), und sieseien von einem Angriff des bereits zum Herrn aller anderen An-gehörigen des alamannischen Stammes gewordenen Chlodewech be-droht. Dies verbietet ebenso, bloß an Schutzbefohlene Theoderichs,wie an Leute zu denken, die in Venetien oder Pannonien Wohn-sitze erhalten hatten, und es beweist zugleich, daß sich der Franken-könig nicht bloß die nördliche Gruppe der Alamannen unterworfenhatte. Mit Rücksicht auf dies alles wird man sich weder Helbok,der an eine nach 496 begründete Schirmherrschaft des Ostgoten-königs über sämtliche Südalamannen glaubt, noch jenen Forschernanschließen dürfen, die Theoderich seit dieser Zeit seinen unmittel-baren Machtbereich gegen Norden zu in sehr ansehnlicher Weiseerweitern lassen, und man hat in dem Grenzgebiet, in dem sich diegeflüchteten Alamannen geborgen hatten, gewiß den südlich desBodensees gelegenen Teil der Raetia prima und dazu etwa auchnoch die östliche Maxima Sequanorum zu erblicken. In ersteremLandstrich sind die Alamannen vor der Zeit Theoderichs noch nichtnachzuweisen (s. o. S. 87f.), und sie ließen sich hier nachmals an-scheinend in friedlicher Art nieder. Dies spricht dafür, daß jeneFlüchtlinge durch den Amaler in dieser Gegend Wohnsitze er-hielten3). Sofern andererseits die östliche Maxima Sequanorumzum italischen Ostgotenreich gehörte, kam zweifellos auch sie füreine Ansiedlung der alamannischen Flüchtlinge in Betracht. Wasgegen diese Möglichkeit sowie zugunsten der Annahme einer der-artigen Landanweisung im Raum zwischen Iller und Lech an-geführt wurde4) — es beruht großenteils auf Schlüssen aus denWorten des Ennodius —, ist m. E. ganz hinfällig.

1) Zur s tarken Waldbedeckung und dünnen Besiedlung der damal igenMittel- und Ostschweiz zuletzt B e c k , Zeitschr. f. d. Gesch. d. Ober-rheins 89, S. 254, 256—258.

2) Fines nostri = Reichsgrenze (Variae V I I , 4). Partes nostrae = Reichs-gebiet (Variae I I , 12, I I I , 32, X I , 1).

3) So zuletzt D i e t z e , Rät ien , S. 90—92, 114—118, A. 89—102. I h mstimmen zu S tähe l in , Klio 27, S. 344 und Mar t in , Bull. 6, S. 29.

4) Von Dietze , Rätien, S. 89f., 93, 119, A. 108—110.

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Aus dem Gesagten erhellt, daß sich Theoderich nach 496 gewißnicht des Flachlands im Westen der Iller bemächtigt hat. Neuer-dings meint nun freilich Schmidt , dies müsse doch der Fallgewesen sein. Denn die einzige Römerstraße, die Curia, den ver-mutlichen Sitz des dux Raetiarum, sowie das Tal des Alpenrheinsmit dem alpinen Osträtien verband, sei — im Anschluß an denHeerweg Curia—Brigantium — die sogenannte via Decia gewesen,die von Brigantium über Immenstadt, Sonthofen, Reutte undLermoos nach Veldidena (Wilten—Innsbruck) führte. Da dieseStraße in den Tagen Theoderichs das Siedlungsgebiet der Ala-mannen berührt oder sich ihm wenigstens genähert habe, müssedamals wohl ein engeres Einverständnis zwischen den Ostgotenund jenen Germanen bestanden haben, und es sei daraufhin an-zunehmen, daß jener König tatsächlich nach 496 Oberschwabenseinem Reich angegliedert habe1). Dieser Gedankengang verfehltindes sein Ziel. Denn, wenn in den Tagen des großen Amalers beiund südlich von Bregenz Alamannen wohnten, so waren diese, wieeben ausgeführt, hier von diesem Herrscher angesiedelte ostgotischeUntertanen. Auch hatte sich die decische Straße fast von Anfangan im unmittelbaren Grenzbereich befunden. Verlief doch schonin der Zeit, die zwischen dem Ausbau und der Räumung der Argen—Illerlinie durch die Römer lag, also im späteren 3. sowie im 4. Jahrh.,die durch Wehranlagen geschützte Landmark Rätiens vom Boden-see aus entlang der Argen und der oberen Iller nach der Gegendvon Cambodunum (Kempten)2). Ferner gab es zwar südlich dervia Decia keinen römischen Heerweg, der von der Raetia primain die Raetia secunda hinüberleitete. Aber jene Straße, von dersich im Gelände keine Spuren haben entdecken lassen, darfzweifellos nur als ein notdürftig verbesserter Saumpfad betrachtetwerden3), und weit wichtiger als sie war in der Völkerwande-rungszeit für die Verbindung Churs mit dem alpinen Osträtiendas Nordstück der römischen Julierstraße im Verein mit einemWeg, der durch das Engadin abwärts führte. Diese Verkehrs-ader wurde um 575 und im Sommer 590 bei fränkischen Vorstößenins alpine Etschtal benützt4). Auch mit Hilfe der via Decia läßtsich also kein Rettungsversuch zugunsten der Meinung unter-

1) S c h m i d t , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 14, S. 455f.2) Über dieses Stück der spätrömischen Reichsgrenze P . R e i n e c k e ,

Allgäuer Geschichtsfreund, Neue Folge 31 (1930), S. 67f., 69, A. 6.3) Über die sog. via Decia R. 1, S. 247—249.4) H e u b e r g e r , Tiroler Heimat, Neue Folge 4 (1931), S. 150—153,

167—171. Über Raststellen im Engadin zur Karolingerzeit derselbe,Rätien 1, S. 118, A. 142.

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nehmen, daß Theoderich nach 496 auf das westlich der Iller ge-legene Stück des rätischen Raumes ausgegriffen habe. Diese Mei-nung muß aber andererseits nicht nur aus dem oben angeführtenGrunde abgelehnt werden. Denn einmal spricht der Plünderungs-zug, den die Alamannen spätestens 536, also gewiß noch vor derBesetzung Churrätiens durch die Franken, nach Ligurien unter-nahmen (Variae XII, 28), dafür, daß die Hochebene im Westen derIller damals und vorher nicht zum ostgotischen, sondern zum frän-kischen Staat gehörte1). Vor allem kann man aber mit Rücksichtdarauf, das der große Amaler mit Chlodewech in gutem Ein-vernehmen zu bleiben suchte und daß sein höchstes Ziel lediglichdie Wiederherstellung der Grenzen des weströmischen Reiches,namentlich jener der Präfektur Italien, war2), unmöglich glauben,daß dieser König seine Hand auf ein gewiß von den Franken be-anspruchtes, nachweislich schon seit fast einem Vierteljahrtausendvon den Römern an die Alamannen verlorenes Gebiet gelegt habenkönnte; selbst wenn er — was doch die unumgängliche Vor-bedingung für ein derartiges Beginnen war — damals bereits dasFlachland zwischen Iller und Inn beherrscht haben sollte.

In den Nachrichten über die Beziehungen der Alamannen zumOstgotenreich findet sich also weder ein Beweis noch auch nur einAnzeichen dafür, daß sich dieser Staat gegen Norden zu über dieAlpen hinaus erstreckt habe. Nach dieser Feststellung kann zurPrüfung der neuerdings namentlich von Schmidt vertretenen An-sicht übergegangen werden, derzufolge die Donau von Anfang anauf der Strecke zwischen der Iller- und der Innmündung die nörd-liche Grenze Ostgotisch-Rätiens gebildet haben soll. Daß sich diesso verhalten habe, wurde im Grunde lediglich vermutet, weil manglaubte, der in den Tagen Theoderichs erscheinende dux Rae-tiarum müsse unbedingt auch in der Raetia secunda befehligt haben,und diese Provinz sei lediglich nördlich der Alpen zu suchen3).Beides trifft aber nicht zu4). Andererseits ist jene Ansicht überdie Nordgrenze Ostgotisch-Rätiens quellenmäßig nicht zu be-legen5). Denn kein Zeugnis der schriftlichen Überlieferung er-weist die Zugehörigkeit eines Ortes oder Landstrichs der Hoch-ebene zwischen Iller und Inn zum Reich der Amaler (s. o.

1) Z e i ß , Germania 12, S. 32.2) S c h m i d t , Ostgermanen2, S. 340.3) Vgl. z . B . S c h m i d t , Mitt. d. österr. Inst . f. Geschichtsf. 41 (1926),

S. 320.4) R. 1, S. 127, 300—303.5) Dies gibt S c h m i d t , Zeitsehr. f. schweiz. Gesch. 14, S.456 selbst zu,

wenn auch nicht mit ausdrücklichen Worten.

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S. 98f.). Auch scheinen zwar Einwirkungen der gotischen Völker-gruppe (im weiteren Sinn) auf den im Werden begriffenen bai-rischen Stamm stattgefunden zu haben1). Aber ein VerhältnisTheoderichs zu den Baiern, wie es Schmid t und andere Forscher2)vermuten, ist weder mittel- noch unmittelbar belegt, und an eineMöglichkeit derartiger Beziehungen3) wäre erst zu denken, wennman sicher wüßte, daß es zu Lebzeiten des großen Amalers schoneinen bairischen Stamm gab und daß die Macht dieses Königsbis an die Donau reichte. Ersteres ist jedoch recht fraglich (s. o.S. 93), und letzteres wäre eben erst zu beweisen. Die Meinung,zum Ostgotenreich habe auch das Flachland zwischen Iller undInn gehört, entbehrt aber nicht nur jeder greifbaren Begründung.Sie hat vielmehr auch die innere Wahrscheinlichkeit durchaus gegensich. Fürs erste verträgt sie sich nicht mit der auch von Schmidtvertretenen, allerdings nicht beweisbaren Annahme, der duxRaetiarum habe seinen Sitz in Curia (Chur) gehabt. Denn hättedieser Befehlshaber, gleich seinem spätrömischen Vorgänger, dieDonaulinie zu verteidigen gehabt, so hätte er unzweifelhaft, wiedieser (vgl. R. 1, S. 231—233), Augusta Vindelicum zum Aufent-haltsort gewählt4). Vor allem ist aber gewiß nicht damit zu rechnen,daß Theoderich, der nicht daran dachte, das erst 488 von Odovakaraufgegebene Ufernorikum in seine Gewalt zu bringen, die Absichthatte, sich Flachlandrätiens zu bemächtigen, das schon seit meh-reren Menschenaltern den Zusammenhang mit Italien verlorenhatte; zumal er damit seinem Staat ein in einzigartiger Weise überdie Alpen nordwärts hinausragendes Stück hinzugefügt hätte, dasgegen Westen, Norden und Osten bloß in Anlehnung an Flußläufezu sichern gewesen wäre. Auch kann man sich nicht recht vor-stellen, auf welche Weise das ebene Land zwischen Iller und Innim staatlichen Sinn ostgotisch geworden sein sollte, wofern keineförmliche Eroberung erfolgte, was aber mit Recht noch nie alsmöglich betrachtet worden ist. Die Germanen, die dieses Gebiet be-herrschten, hatten ja — die fernen Franken waren damals nochnicht zu fürchten — sicher keinen Grund, sich Theoderich freiwilligunterzuordnen und in ein Abhängigkeitsverhältnis zu dessen duxRaetiarum zu treten. Die hier wohnenden Romanen hinwieder,

1) R i e z l e r , Gesch. Baye rns l 2 , S. 18f.2) So R i e z l e r , Gesch. Bayerns l2 , S. 141f.3) Gegen die Ha l tba rke i t diesbezüglicher Mutmaßungen Z e i ß , Ger-

mania 12, S. 30, ders. , Zeitschr. f. bayr . Landesgesch. 2, S. 353f.4) Ohne zureichende Begründung wird sein Amtssi tz von B . E b e r l

hierher und von M. Heuwieser nach Regensburg verlegt; vgl. Zeiß ,Zeitschr. f. bayr. Landesgesch. 2, S. 353f., ders. ebenda 8, S. 470.

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die gemäß der herrschenden, auch von Schmidt geteilten An-sicht über die Vereinigung Rätiens mit dem ostgotischen Staat(s. o. S. 93f.) ihren Anschluß an Theoderich erklärt haben müßten,vermochten bestimmt nicht, gegen den Willen ihrer germanischenHerren und ohne einen Krieg zwischen diesen und den Ostgotenheraufzubeschwören, einen solchen Entschluß zu fassen und ihnin die Tat umzusetzen.

Dies alles spricht dafür, daß das ostgotische Rätien gemäß derzuletzt namentlich von Zeiß vertretenen Auffassung nicht bis inden Bereich der schwäbisch-bayrischen Hochebene ausgriff. Zu-gunsten dieser Annahme läßt sich auch noch anderes ins Treffenführen. Daß uns die Quellen mehrfach die Zugehörigkeit des ge-birgigen, mit keinem Wort aber die des flachländischen Rätien zumReich der Amaler bezeugen, wird wohl kein bloßer Zufall sein.Weiters läßt die Art und Weise, in der in Variae I, 11, VII, 4 vonder Bedeutung Rätiens sowie von Stellung und Aufgaben des duxRaetiarum gesprochen wird, vermuten, daß der Amtsbereich diesesGenerals keinen großen Umfang hatte, daß er also nordwärts nichtüber das Gebirge hinausreichte, und dasselbe ist auch aus derTatsache zu folgern, daß dieser Befehlshaber nur dux mit demRang eines vir spectabilis war, während in den anderen ostgotischenProvinzen zu den viri illustres zählende comites mit der Truppen-führung betraut waren1). Letztere Feststellung und die aus ihrgezogenen Folgerungen wurden freilich mit dem Hinweis daraufbestritten, daß zur Römerzeit in den Grenzprovinzen bloß ducesund viri spectabiles befehligt hätten2). Indes im Staat Theoderichswar dies nicht mehr der Fall3), und somit besteht dieser Einwandnicht zu Recht. Weiters sagt der 507—511 ausgefertigte könig-liche Erlaß (Variae I, 11) von den Breonen, sie seien waffengeübt(militaribus officiis assueti) und dächten immer an Krieg (ad bellaMartia semper intendunt). Dies setzt aber voraus, daß die ost-gotische Reichsgrenze damals in der Nähe des von diesen Leutenbewohnten tirolischen Inntals, mithin im Bereich der bayrisch-tirolischen Kalkalpen, verlief. Denn in den Tagen des großenAmalers kamen Einfälle fremder Völker ins Innere seines Reichesnicht vor, und Männer, die in den Alpen zuhause waren, wird mandamals sicher nicht ständig fern von ihrer Heimat als Landes-verteidiger verwendet haben. Hätte ferner das ostgotische Staats-gebiet die Hochebene zwischen Iller und Inn noch mit ein-

1) Z e i ß , Zeitschr. f. bayr. Landesgesch. 2, S. 351f.2) S c h m i d t , Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 14, S. 455; dazu S. 452.3) Vgl. S c h m i d t s eigene Belege in Zeitschr. f. schweiz. Gesch. 14,

S. 451f.

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geschlossen, so wäre mit dem Vorhandensein damaliger Wehr-anlagen an der Donau zu rechnen und man müßte zum mindesten— trotz der Sonderstellung der beiden Rätien — erwarten, daßsich die Sperrwerke der ostgotischen Reichsverteidigung im Mittel-stück der Alpen nicht, wie anderwärts, an der Südseite, sondernam Nordrand dieses Gebirges befunden hätten. Das war indes nichtder Fall. Die Meinung, unmittelbar südlich des rätischen Raumes,besonders in der regio Tridentina, sei für das ausgehende Altertumund das beginnende Mittelalter ein umfassendes Netz von Kastellen,Talsperren und Kriegersiedlungen nachzuweisen1), läßt sich zwarnicht halten2). Allein es galten noch lange nach Theoderichs erstenHerrscherjahren das Kastell Verruca (Dos Trento) und die StadtComum (Como) als Grenzfesten (Variae III, 48, XI, 14), und als einesolche betrachtete man damals offenbar auch Tridentum, da dieMauern dieser wehrhaften Siedlung, die noch 535/536 einen staat-lichen Getreidespeicher besaß (Variae X, 27), 523—526 wiederher-gestellt, vielleicht auch verstärkt oder erweitert wurden (VariaeV, 9, dazu R. 1, S. 257). Endlich ist die Tatsache, daß man nachVariae III , 48 in den Jahren 507—508 mit einer etwaigen Gefähr-dung der Trienter Gegend durch nordalpine Germanen rechnete(s. o. S. 96), eher verständlich, wenn die Hochebene zwischen Illerund Inn nicht mehr zum Gotenreich gehörte, als wenn das Gegenteilder Fall war.

Dies alles drängt dazu, die Nordgrenze Ostgotisch-Rätiens amNordsaum der Alpen anzunehmen. Wie Variae VII, 4 vermutenläßt, war diese nicht durch Wehranlagen von Belang geschützt,sondern im wesentlichen nur durch geregelten Wachdienst gesichert(R. 1, S. 132f.), was an die Verhältnisse erinnert, die im urzeit-lichen Tirol geherrscht zu haben scheinen3). Doch wird man inden Tagen Theoderichs und seiner Nachfolger gewiß auch noch diespätrömischen Sperrwerke für die Grenzverteidigung ausgewertethaben, so die in Notitia dignitatum, Occidens XXXV genanntenFesten Foetibus (wohl bei Füssen) und Teriola (Teriolis; Martins-büchel bei Zirl), die früher bloß der Sicherung des Etappengebietes

1) H a r t m a n n , Gesch. Italiens l2, S. 342, 393, A. 2; F . S c h n e i d e r ,Die Entstehung v. Burg u. Landgemeinde in Italien (Abhh. z. mittl. u.neuer. Gesch. 68, 1924), S. 20—30, 141—150, Elsaß-lothr. Jahrb. 8(1929), bes. S. 43, 59—66; Schmid t , Ostgermanen2, S. 382, 587.

2) Heube rge r , Tiroler Heimat, n. F. 4, S. 162—167, Rätien 1, S. 133,A. 114, Veröffentl. d. Ferdinandeums 12, S. 27—50, Schlern 15, S. 152bis 154; ergänzend dazu ders. Schlern 15, S. 480f., ebenda 17, S. 198—200,Burggrafenamt, S. 72—78, 94.

3) Über diese Verhältnisse O. Menghin , Wien, prähist. Zeitschr. 23(1936), S. 81—91.

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gedient hatten1). Näheres über den Verlauf der in Rede stehendenLandmark läßt sich kaum ermitteln. Daß sie an manchen Stellenein Stück ins Innere des Gebirges zurückgetreten sei, ist jedochaus sachlichen Gründen höchst unwahrscheinlich und brauchtauch nicht angenommen zu werden. Der Nordosten Tirols wurdezwar von den Deutschen anscheinend früher besetzt als der Haupt-teil dieses Landes, aber wohl sicher erst nach dem Zusammenbruchdes italischen Ostgotenreiches (R. 1, S. 277—279; dazu Nachtragebenda, S. 325f.). Da ferner das alamannische Stammesgebietnicht schon vor den Tagen Theoderichs rheinaufwärts bis zurLinie Hirschensprung—Montlingen—Götzis gereicht haben dürfte(s. o. S. 87f.), besteht kein Anlaß, die Grenze Ostgotisch-Rätienshier (so R. 1, S. 131) oder in der Nähe der Luziensteig2), anstattin der Bodenseegegend anzusetzen. Dafür, daß letzteres wirklichder Fall war, spricht andererseits das oben (S. 102) über die An-siedlung von Alamannen Gesagte. Mithin werden vermutlichTasgaetium (Eschenz-Burg bei Stein am Rhein), Confluentes (Kon-stanz ?), Arbor felix (Arbon)3) und Brigantium vermutlich auchunter Theoderich und dessen Nachfolgern noch rätische Grenz-plätze gewesen sein. Noch lange teilweise von Romanen bewohnt(s. o. S. 85), waren sie freilich für die Landesverteidigung jetztnicht mehr so wichtig wie früher, seit diese hier vor allem denalamannischen Einwanderern anvertraut war, deren Art es mehrentsprach, bei Erfüllung der ihnen zugefallenen Aufgabe vor allemWildnisse, so den mächtigen, erst im Mittelalter gerodeten Arbon-forst, und Geländehindernisse, wie das Sumpfgebiet im Süden desBodensees (R. 1, S. 22), auszunützen.

Was auf diesen Blättern dargelegt wurde, erlaubt auch gewisseSchlüsse auf die letzten Schicksale Ostgotisch-Rätiens und seinerNachbargegenden. Eine etwaige Abtretung nördlicher Grenz-gebiete des Ostgotenreiches an die Franken (s. o. S. l00f.) kann sich,da Flachlandrätien und Ufernorikum nie zu diesem Staat gehörthatten, nicht, wie gelegentlich angenommen wurde (vgl. R. 1,S. 136, A. 138), auf die Gesamtheit des rätisch-norischen Raumsbezogen haben. Beherrschten die Austrasier diesen nach 537 wirk-lich zur Gänze (dagegen R. 1, S. 257—260), dann könnten sie diesalso höchstens teilweise auf Grund eines Abkommens mit den

1) Über diese Festen zuletzt H e u b e r g e r , Schlern 15 (1934), S. 157bis 160.

2) So R. L a u t e r b o r n in seinem Aufsatz über die clusurae Augustanae(Germania 10, 1926, S. 63—67).

3) Über diese militärischen Stützpunkte der Römerzeit S t ä h e l i n ,Schweiz2, S. 266, 276—278, 301, 553f., 572.

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Ostgoten getan haben. Entscheidend für die weitere Gestaltungder Dinge in den mittleren Alpen war aber auf alle Fälle außerdem nachmaligen Vorstoß der Baiern bis an und über den Brenner(nach 565) erst die frühestens 537 durchgeführte Besitznahme derRaetia prima durch die Franken, und diese konnte nicht nur, weildie Ostgoten damals durch Belisar voll beschäftigt waren, sondernauch deshalb so glatt gelingen, weil Theoderich und seine Nach-folger ihre rätischen Marken mehr oder weniger sich selbst über-lassen und in ihnen keine erheblichen Vorkehrungen zur Abwehrfeindlicher Einfälle getroffen hatten.

Innsbruck.

Anhang: Zur Formula ducatus Raetiarum (Variae VII, 4)Die bei Ernennung von comites und praesides in den Provinzen

des Ostgotenreiches angewendeten Formulare (Variae VII, 1, 2)sind ganz allgemein gehalten und entbehren jeder Bezugnahmeauf die besonderen Umstände eines Einzelfalles. Anders die For-mula ducatus Raetiarum (Variae VII, 4), die sichtlich — ebenso,wie Variae III, 48 (s. o. S. 96) — zur Zeit gespannter Verhältnissean der Alpengrenze geschrieben ist. Sie gibt demnach wohl denWortlaut eines bestimmten Bestallungsbriefes unverändert wieder.Diese Formel bzw. die ihr zugrunde liegende Urkunde und derkönigliche Erlaß an den rätischen dux Servatus (Variae I, 11)entstanden vermutlich 507—511 (s. o. S. 97). Welches dieserStücke das ältere ist, läßt sich nicht ermitteln. Die Vorlageder Formel wurde also entweder gelegentlich der Bestallung desServatus oder anläßlich jener seines Nachfolgers ausgefertigt.Dieses Schriftstück hebt die durch die damalige Lage, sowiedurch die militärische Bedeutung Rätiens bedingte Schwierigkeitund Wichtigkeit der dem dortigen Befehlshaber gestellten Auf-gabe hervor und begründet damit, sowie mit dem Hinweis aufdie dem König bekannt gewordene Tüchtigkeit des Servatusbzw. seines Nachfolgers die Ernennung desselben zum rätischendux. Dies sieht nicht bloß wie eine Rücksichtnahme auf dieSonderstellung Rätiens, sondern auch wie eine zarte Umschreibungder Tatsache aus, daß sich der Gotenkönig verpflichtet oderveranlaßt fühlte, den mächtigsten oder einflußreichsten Manndieser Landschaft zu deren dux zu ernennen (s. o. S. 94). DieFormel redet endlich nur von militärischen Aufgaben des duxRaetiarum, was angesichts der genauen Berücksichtigung derbesonderen örtlichen Gegebenheiten einen zwingenden Beweisdafür liefert, daß dieser General nicht auch mit der bürgerlichenVerwaltung seines Amtssprengeis betraut war (s. o. S. 81 f.).

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