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60,4 KM Ende der Tour Kirche und Pfarrhaus in Ochsenwang, 2012 07 08 10 09 PER PEDAL ZUR POESIE Max Eyth, Isolde Kurz, Eduard Mörike, Wilhelm Zimmermann, Hermann Hesse, Gottfried Benn ... LITERATURLAND BADEN-WÜRTTEMBERG DIE LITERARISCHEN RADWEGE sollen – zumeist orientiert an bereits erschlossenen Routen – die Landkarte Baden-Württembergs auf neue Weise erfahrbar machen. Entworfen als Tagestouren, jedoch ebenso integrierbar in längere Wanderungen, führen sie entlang der unzähligen Literaturmuseen und -gedenkstätten des Landes, berühren Handlungsorte von literarischen Texten und weitere wichtige Schauplätze der südwestdeutschen Literaturgeschichte. k Kirchheim/Teck, Owen, Schopfloch, Ochsen- wang, Weilheim/Teck, Bad Boll, Kirchheim/Teck 09 Informationen zu den Routen unter www.literaturland-bw.de. Die Hefte der bibliophilen Reihe SPUREN (Euro 4,50/Heft) sind im Buchhandel, über die Arbeitsstelle für literarische Museen oder im Internet (www.alim-bw.de/spuren) zu erwerben. LITERATURLAND-BW.DE © 2012 Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg Deutsches Literaturarchiv Marbach Postfach 1162 71666 Marbach am Neckar Telefon 07144 / 848603 Telefax 07144 / 848615 [email protected] www.alim-bw.de VON KIRCHHEIM AUS , dem Geburtsort des Dichter-Ingenieurs Max Eyth, der Technik und Literatur fortschrittsgläubig verband, führt die Tour rund um den schon von Friedrich Hölderlin bedichteten Kegelberg der Teck, berührt zunächst Owen, wo der ›Bauernkriegs-Zimmermann‹ wirkte, dessen emanzipatorisches Geschichtsbild unter anderen Rosa Luxemburg beein- flusste, und führt dann auf die Hochebene der Schwäbischen Alb. Dort, im abgele- genen Ochsenwang, hat Eduard Mörike mit dem ›Maler Nolten‹ seine erste eigen- ständige Veröffentlichung zum Druck gebracht. Auf der Abfahrt nach Weilheim, wo Mörike ebenfalls Vikar war und eine Verlobung auflöste, eröffnen sich faszinie- rende Ausblicke auf dieses welthaltige Stück Provinz. Vor der Rückkunft in Kirchheim erreicht die Tour zuletzt Bad Boll, das »schwäbische Lourdes«. Hierher pilgerte die mondäne Welt zu den charis- matischen Heilpfarrern Blumhardt, Vater wie Sohn. Neben Hermann Hesse und Gottfried Benn suchten auch die Vorbilder literarischer Figuren Theodor Fontanes und Thomas Manns hier Rat und Heilung. 09 4 SCHOPFLOCH Auch die Dichter der schwäbischen Schule schätzten »die herr- liche Heimat« und ihre Burgen und Ruinen als ehrwürdige Denkmale einer glorifizierten Vergangenheit. So platzierte GUSTAV SCHWAB (1792 – 1850) in seinem Reiseführer ›Die Schwäbische Alb mit besonderer Berücksichtigung der Neckar- seite‹ (1823) auch etliche Gedichte, die diese Überbleibsel der Geschichte oder regionale Sagenstoffe zum Gegenstand haben. Vor allem aber führt Schwab seine Leser auch durch das Lenninger Tal, auf die Teck, nach Ochsenwang und Schopfloch. Schon Schwab und die Romantiker, bei denen das Wandern freilich in erster Linie der Entdeckung des eigenen ›Vaterlandes‹ diente, maßen der heimischen Natur einen großen Eigenwert zu. Nicht zufällig emp- fängt daher das NATURSCHUTZZENTRUM SCHOPFLOCHER ALB , das heute die um- liegenden Biosphären pflegt, den Besucher in seiner Dauerausstellung mit dem Leitmotiv der ›Blauen Mauer‹. Diese Metapher stammt aus Eduard Mörikes ›Das Stuttgarter Hutzelmännlein‹ (1852), in der der Schustergeselle Seppe die Alb und den Teckberg zum Herrlichsten zählt, was »in allen deutschen Landen« zu finden ist. 5 OCHSENWANG Mörike kam im Januar 1832 als Pfarrverweser auf die Alb und hatte hier bis zum Oktober 1833 alle Pflichten eines Pfarrers zu erfüllen. Seine Mutter wohnte einige Monate bei ihm und führte ihm den Haushalt, ebenfalls besuchte ihn Bruder Karl, der ihm für die Musikbeilage des ›Maler Nolten‹ zwei Stücke komponierte. Mörike selbst war hier mit Schlussredaktion und Fahnenkorrektur dieses Künstlerromans beschäftigt, der seine erste eigenständige Veröffentlichung werden sollte. Engagiert bereitete er von Och- senwang aus seinen Auftritt als Autor vor, verschickte Buchexemplare an seinen Förderer Schwab und an den berühmten Ludwig Tieck in Dresden. Seinen Freund Friedrich Theodor Vischer, der später der »Galeere der Theologie« (Hölderlin) entkommen und ein bekannter Philosoph und Schriftsteller werden wird, drängte er auf eine Rezension. In Mörikes Roman, einem der düstersten der deutschen Literaturgeschichte, führen Liebe und künstlerischer Anspruch zu Wahnsinn und Tod; zu Katastrophen shakespearehaften Ausmaßes, in denen sich die Nacht- seite von Mörikes Leben zwischen bürgerlicher Existenz als an- gehender Pfarrer und Ehemann und seiner literarischen Kreativität zeigt. Ein Leser des ›Maler Nolten‹ gab sich in Ochsenwang nicht zu erkennen: Hermann Kurz, der als Theologiestudent einer Kinderlehre Mörikes bei- wohnte, den verehrten Dichter jedoch nicht anzusprechen wagte. Später wird Max Eyth noch die Geburt eines seiner Helden nach Ochsenwang verlegen. In seinem letzten Roman ›Der Schneider von Ulm‹ (1906) kommt Ludwig Berb- linger, der 1811 einen vergeblichen Flugversuch von der Ulmer Adlerbastei unternahm, hier – abweichend vom historischen Vorbild – als Schulmeistersohn zur Welt. Eyth zeichnet den Schneidermeister als eine jener Erfinderfiguren, die zwar eine glänzende Idee haben, diese aber nicht verwirklichen konnten. Wenn der Pfarrer dann an Berblingers Totenbett feststellt: »Große Ideen sterben nicht«, dann spiegelt dieses letztendlich positive Urteil gewiss auch das Engagement des Autors, der sich sein Leben lang, auch mit ›Hinter Pflug und Schraubstock‹, für die Verbreitung des Dampfpflugs eingesetzt hat. 6 WEILHEIM Von Ochsenwang aus kam Mörike für drei Monate bis Januar 1834 auf seine nächste Vikarsstelle ins hiesige DIAKONATSHAUS (MARKTPLATZ 4) , das heute eine Mundartbibliothek mit über 2000 Bänden schwäbischer Dialekt- dichtung beherbergt, darunter auch einige Werke Mörikes. In Weilheim hatte Mörike nicht nur den geschäftigen Alltag zu bewältigen. Es trat auch eine für sein »ganzes Leben wichtige Katastrophe ein, deren schmerzhafte Entwick- lung alles Übrige« bei ihm »verschlang«: die Trennung von Luise Rau nach vierjähriger Verlobungszeit. Literarische »Frucht« dieser gescheiterten Bezie- hung sind sieben Sonette, von denen einige in den ›Maler Nolten‹ eingingen, und »die schönsten Brautbriefe, welche die deutsche Literatur des vorver- gangenen Jahrhunderts kennt« (Tilman Krause). Nach weiteren kurzen Vikariatsstellen wiederum in Owen und in Kirchheim-Ötlingen wird Mörike im Juli 1834 endlich ordentlicher Pfarrer in Cleversulzbach, wo er nach einem Jahrzehnt pensioniert wurde und dann ausschließlich für die Dicht- kunst lebte. 7 BAD BOLL Etliche Jahre zuvor, zu gemeinsamen Studienzeiten im Tübinger Stift, hatte JOHANN CHRISTOPH BLUMHARDT (1805 – 1880) Mörike ob seiner theolo- giefremden Beschäftigung mit der Poesie tolerant und weitherzig gegen Kritik verteidigt: »Magst du also der Poesie noch so viele Zeit und Mühe schenken, wenn es der Sache Gottes wahrhaft gilt, so hast du erfüllt, was Gott von dir fordert.« Der charismatische Pfarrer Blumhardt kaufte 1852, wegen des über- großen Interesses an seiner religiös gestützten Therapieform, das SCHWEFEL- BAD BOLL A (KURHAUS) , um dort seinen zahllosen Besuchern Heilung und Seelenruhe zu verschaffen. Nach seinem Tod führte sein Sohn CHRISTOPH BLUM- HARDT (1842 – 1919) die Einrichtung mit gleichem Geschick fort. Im Mai 1892 wurde der 15-jährige Hermann Hesse von seinen hilflosen Eltern, die mit Blumhardt bekannt waren, ins »schwäbische Lourdes« geschickt, nach- dem Hermann aus dem evangelisch-theologischen Seminar in Maulbronn ausgerissen war. Es war die erste Station einer Odyssee, während der der junge Hesse an den Rändern der bürgerlichen Gesellschaft entlang taumelte. Auch sein Boller Aufenthalt endet nach »Wochen schönster und tollster Pubertätszeit«, die später in die Erzählung ›Heumond‹ (1905) eingehen, mit einem Eklat: Hesse verliebte sich in eine 22-jährige Frau, die ihn aber abwies. Nach einem Selbstmordversuch mit einem Revolver wird er in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal überwiesen. Schritt um Schritt wird er dann, stets gefährdet, zu einer lebbaren Existenz als Schriftsteller finden, die in sein Alterswerk ›Das Glasperlen- spiel‹ (1943) mündet. Dieser Roman lehnt sich an einen der klassischen chinesischen Texte an: ›I Ging. Das Buch der Wandlungen‹. Das Buch wurde 1923 von RICHARD WILHELM (1873 – 1930) ins Deutsche übertragen, der wie Vater und Sohn Blumhardt auf dem BLUMHARDT-FRIEDHOF C beerdigt ist. Wilhelm kam 1897 als Vikar nach Boll und wohnte im Kurhaus, wo er rasch Kontakt zu Christoph Blumhardt und dessen Tochter Salome knüpfte, die er drei Jahre später heiratete. Von Boll ging das Paar in die Ostasienmission nach China. Wilhelm, der Hesses Chinabild entscheidend prägen sollte, tauchte dort tief in die Geisteswelt Chinas ein und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Sinologen. Hesse schätzte – trotz oder gerade wegen der völlig anderen literarischen Orientierung – ebenfalls GOTTFRIED BENN (1886 – 1956) , den er als den »unerschrockensten deutschen Dichter unserer Zeit« bezeichnete. Der expressionistische Lyriker hielt sich als junger Mann ebenfalls in Boll auf. Wie Hesse hatte er sich vehement gegen den Willen seines Vaters aufgelehnt, der ihm ein Theologiestudium auf- zwingen wollte; Benn wollte stattdessen Medizin studieren. Deshalb wandte er sich im März 1904 ratsuchend an das »Benn’sche Familienorakel« Christoph Blumhardt. Vater Gustav Benn, der als junger Pfarrer Blumhardts Kindern erzogen hatte, besuchte Boll kurz darauf und ließ seinen Sohn schließlich ge- währen. Auch Vorbilder literarischer Figuren haben das Heilbad besucht: Theodor Fontane ließ sich zu seiner ›Effi Briest‹ (1896) durch das Schicksal der Baronin ELISABETH VON ARDENNE (1853 – 1952) inspirieren, die – anders als die literarische Effi – keinen frühen Tod starb, sondern nach der Behandlung durch Blumhardt und nach ihrer Scheidung einige Jahre im nahen Eckwälden als Schwester Elisabeth in einem Haus für Nerven- und Gemütskranke arbei- tete. Auch FRIEDRICH WILHELM LEBERECHT MANN (1847 – 1926) aus Lübeck, ein Onkel Thomas Manns und von ihm in seinem Roman ›Buddenbrooks. Verfall einer Familie‹ (1901) als Christian Buddenbrook porträtiert, trug sich bei einem zweiwöchigen Aufenthalt 1876 ins Gästebuch von Bad Boll ein. Von einer Heilung seiner Beschwerden ist allerdings nichts bekannt. Impressum: Text: Bernd Möbs; Redaktion: Thomas Schmidt; Strecke: Projektgruppe Ochsenwang mit freundlicher Unterstützung der beteiligten Gemeinden; Gestaltung: Stefan Schmid Design nach einem Entwurf von Keppler | Schmid; Abbildungen: DLA Marbach/Chris Korner, Literarisches Museum Max-Eyth-Haus (Kirchheim/Teck)/Frank Kleinbach, Insel-Verlag (Berlin), Museum der Stadt Kirchheim/ Teck, Herrnhuter Brüdergemeine (Bad Boll); Karten: comkart, Leonberg, auf Grundlage von Geobasisdaten © Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg (www.lgl-bw.de) Vertonung von Eduard Mörikes Gedicht Seufzerdurch seinen Bruder Karl Blumhardt, der Ältere Gottfried Benn als Arzt, ca. 1928 Titelblatt der ersten Buchausgabe von Effi Briest, 1896 Marbacher Magazin 27 Mörike in Ochsenwang. Hg. von Thomas Scheuf- felen. Marbach 2000 SPUREN 71 Karsten Blöcker: Christian Buddenbrook zur Kur in Bad Boll, Bad Cannstatt und Esslingen. Marbach 2005 Albrecht Esche: Reich Gottes in Bad Boll. Die Stätten der Blumhardts und ihre Geschichten. Bad Boll 2005 Irene Ferchl, Wilfried Setzler: Mit Mörike von Ort zu Ort. Lebens- stationen des Dichters in Baden-Württemberg. Tübingen 2004 A m K u r p a r k d L 1214 K 1446 B a d s tra ß e Ger h a r d - H e y d e - W e g Plien s bacher Weg A m K urpark M i c h a e l - H ö r a u f - W e g Ak a d em ie w e g Bau h in u s - Kurpark D r .- W e g Ba d wasen Herrnhuter Weg Blumhardt- Friedhof 44,1 KM 44,8 KM 22,8 KM 28,0 KM 36,2 KM 22,8 – 26,2 KM 28,1 – 33,7 KM 8 – 10% 36,2 – 40,4 KM NATURSCHUTZZENTRUM SCHOPFLOCHER ALB Vogelloch 1 73252 Lenningen-Schopfloch Telefon: 07026 / 95012-0 www.naturschutz.landbw.de/ servlet/is/68211/ Geöffnet: Di – Sa 10 – 17 Uhr, So und feiertags 11 – 17 Uhr MöRIKEHAUS OCHSENWANG Eduard-Mörike-Straße 15 73266 Bissingen unter Teck Telefon: 07023 / 2304 www.moerikehaus- ochsenwang.de Geöffnet: nach Vereinbarung B BLUMHARDTS LITERATURSALON in der Villa Vopelius Evangelische Akademie Akademieweg 11 73087 Bad Boll Telefon: 07164 / 79-0 www.ev-akademie-boll.de Geöffnet: Mo – Sa 9 – 18 Uhr, So 9 – 13 Uhr Kirche und Pfarrhaus in Ochsenwang, Federzeich- nung von Eduard Mörike, um 1832 14,9 – 20,3 KM 9 – 12% alternativ am Wochenende: Rad- und Wanderbus vom Ober- lenninger Bahnhof bis zur Schlatterhöhe ca. 8 km kürzer 20,3 – 22,8 KM 13,3 – 14,9 KM KIRCHHEIM/TECK, Max-Eyth-Haus

Km 4 SCHOPFLOCH NATuRSCH uTzzENTR um 9 – 12% … · Buddenbrook zur Kur in Bad Boll, Bad Cannstatt und Esslingen. Marbach 2005 Albrecht Esche: Reich Gottes in Bad Boll. Die Stätten

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Page 1: Km 4 SCHOPFLOCH NATuRSCH uTzzENTR um 9 – 12% … · Buddenbrook zur Kur in Bad Boll, Bad Cannstatt und Esslingen. Marbach 2005 Albrecht Esche: Reich Gottes in Bad Boll. Die Stätten

60,4 Km

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4 SCHOPFLOCH Auch die Dichter der schwäbischen Schule schätzten »die herr-

liche Heimat« und ihre Burgen und Ruinen als ehrwürdige Denkmale einer

glorifizierten Vergangenheit. So platzierte guSTAv SCHwAB (1792 – 1850) in seinem

Reiseführer ›Die Schwäbische Alb mit besonderer Berücksichtigung der Neckar-

seite‹ (1823) auch etliche Gedichte, die diese Überbleibsel der Geschichte

oder regionale Sagenstoffe zum Gegenstand haben. Vor allem aber führt Schwab

seine Leser auch durch das Lenninger Tal, auf die Teck, nach Ochsenwang

und Schopfloch. Schon Schwab und die Romantiker, bei denen das Wandern

freilich in erster Linie der Entdeckung des eigenen ›Vaterlandes‹ diente,

maßen der heimischen Natur einen großen Eigenwert zu. Nicht zufällig emp-

fängt daher das NATuRSCHuTzzENTRum SCHOPFLOCHER ALB , das heute die um-

liegenden Biosphären pflegt, den Besucher in seiner Dauerausstellung mit dem

Leitmotiv der ›Blauen Mauer‹. Diese Metapher stammt aus Eduard Mörikes

›Das Stuttgarter Hutzelmännlein‹ (1852), in der der Schustergeselle Seppe die

Alb und den Teckberg zum Herrlichsten zählt, was »in allen deutschen

Landen« zu finden ist.

5 OCHSENwANg Mörike kam im Januar 1832 als Pfarrverweser auf die Alb

und hatte hier bis zum Oktober 1833 alle Pflichten eines Pfarrers zu erfüllen.

Seine Mutter wohnte einige Monate bei ihm und führte ihm den Haushalt,

ebenfalls besuchte ihn Bruder Karl, der ihm für die Musikbeilage des ›Maler

Nolten‹ zwei Stücke komponierte. Mörike selbst war hier mit Schlussredaktion

und Fahnenkorrektur dieses Künstlerromans beschäftigt, der seine erste

eigenständige Veröffentlichung werden sollte. Engagiert bereitete er von Och-

senwang aus seinen Auftritt als Autor vor, verschickte Buchexemplare an

seinen Förderer Schwab und an den berühmten Ludwig Tieck in Dresden.

Seinen Freund Friedrich Theodor Vischer, der später der »Galeere der

Theologie« (Hölderlin) entkommen und ein bekannter Philosoph und

Schriftsteller werden wird, drängte er auf eine Rezension. In Mörikes

Roman, einem der düstersten der deutschen Literaturgeschichte,

führen Liebe und künstlerischer Anspruch zu Wahnsinn und Tod; zu

Katastrophen shakespearehaften Ausmaßes, in denen sich die Nacht-

seite von Mörikes Leben zwischen bürgerlicher Existenz als an-

gehender Pfarrer und Ehemann und seiner literarischen Kreativität

zeigt. Ein Leser des ›Maler Nolten‹ gab sich in Ochsenwang nicht zu erkennen:

Hermann Kurz, der als Theologiestudent einer Kinderlehre Mörikes bei-

wohnte, den verehrten Dichter jedoch nicht anzusprechen wagte. Später wird

Max Eyth noch die Geburt eines seiner Helden nach Ochsenwang verlegen.

In seinem letzten Roman ›Der Schneider von Ulm‹ (1906) kommt Ludwig Berb-

linger, der 1811 einen vergeblichen Flugversuch von der Ulmer Adlerbastei

unternahm, hier – abweichend vom historischen Vorbild – als Schulmeistersohn

zur Welt. Eyth zeichnet den Schneidermeister als eine jener Erfinderfiguren,

die zwar eine glänzende Idee haben, diese aber nicht verwirklichen konnten.

Wenn der Pfarrer dann an Berblingers Totenbett feststellt: »Große Ideen

sterben nicht«, dann spiegelt dieses letztendlich positive Urteil gewiss auch

das Engagement des Autors, der sich sein Leben lang, auch mit ›Hinter

Pflug und Schraubstock‹, für die Verbreitung des Dampfpflugs eingesetzt hat.

6 wEILHEIm Von Ochsenwang aus kam Mörike für drei Monate bis Januar 1834

auf seine nächste Vikarsstelle ins hiesige DIAKONATSHAuS (mARKTPLATz 4), das

heute eine Mundartbibliothek mit über 2000 Bänden schwäbischer Dialekt-

dichtung beherbergt, darunter auch einige Werke Mörikes. In Weilheim hatte

Mörike nicht nur den geschäftigen Alltag zu bewältigen. Es trat auch eine

für sein »ganzes Leben wichtige Katastrophe ein, deren schmerzhafte Entwick-

lung alles Übrige« bei ihm »verschlang«: die Trennung von Luise Rau nach

vierjähriger Verlobungszeit. Literarische »Frucht« dieser gescheiterten Bezie-

hung sind sieben Sonette, von denen einige in den ›Maler Nolten‹ eingingen,

und »die schönsten Brautbriefe, welche die deutsche Literatur des vorver-

gangenen Jahrhunderts kennt« (Tilman Krause). Nach weiteren kurzen

Vikariatsstellen wiederum in Owen und in Kirchheim-Ötlingen wird Mörike

im Juli 1834 endlich ordentlicher Pfarrer in Cleversulzbach, wo er nach

einem Jahrzehnt pensioniert wurde und dann ausschließlich für die Dicht-

kunst lebte.

7 BAD BOLL Etliche Jahre zuvor, zu gemeinsamen Studienzeiten im Tübinger

Stift, hatte JOHANN CHRISTOPH BLumHARDT (1805 – 1880) Mörike ob seiner theolo-

giefremden Beschäftigung mit der Poesie tolerant und weitherzig gegen Kritik

verteidigt: »Magst du also der Poesie noch so viele Zeit und Mühe schenken,

wenn es der Sache Gottes wahrhaft gilt, so hast du erfüllt, was Gott von dir

fordert.« Der charismatische Pfarrer Blumhardt kaufte 1852, wegen des über-

großen Interesses an seiner religiös gestützten Therapieform, das SCHwEFEL-

BAD BOLL A (KuRHAuS), um dort seinen zahllosen Besuchern Heilung und

Seelenruhe zu verschaffen. Nach seinem Tod führte sein Sohn CHRISTOPH BLum-

HARDT (1842 – 1919) die Einrichtung mit gleichem Geschick fort. Im Mai 1892

wurde der 15-jährige Hermann Hesse von seinen hilflosen Eltern, die mit

Blumhardt bekannt waren, ins »schwäbische Lourdes« geschickt, nach-

dem Hermann aus dem evangelisch-theologischen Seminar in Maulbronn

ausgerissen war. Es war die erste Station einer Odyssee, während der

der junge Hesse an den Rändern der bürgerlichen Gesellschaft entlang

taumelte. Auch sein Boller Aufenthalt endet nach »Wochen schönster und

tollster Pubertätszeit«, die später in die Erzählung ›Heumond‹ (1905)

eingehen, mit einem Eklat: Hesse verliebte sich in eine 22-jährige Frau,

die ihn aber abwies. Nach einem Selbstmordversuch mit einem Revolver

wird er in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal überwiesen.

Schritt um Schritt wird er dann, stets gefährdet, zu einer lebbaren

Existenz als Schriftsteller finden, die in sein Alterswerk ›Das Glasperlen-

spiel‹ (1943) mündet. Dieser Roman lehnt sich an einen der klassischen

chinesischen Texte an: ›I Ging. Das Buch der Wandlungen‹. Das Buch

wurde 1923 von RICHARD wILHELm (1873 – 1930) ins Deutsche übertragen, der wie

Vater und Sohn Blumhardt auf dem BLumHARDT-FRIEDHOF C beerdigt ist.

Wilhelm kam 1897 als Vikar nach Boll und wohnte im Kurhaus, wo er rasch

Kontakt zu Christoph Blumhardt und dessen Tochter Salome knüpfte, die er

drei Jahre später heiratete. Von Boll ging das Paar in die Ostasienmission

nach China. Wilhelm, der Hesses Chinabild entscheidend prägen sollte,

tauchte dort tief in die Geisteswelt Chinas ein und entwickelte sich zu einem

der bedeutendsten deutschsprachigen Sinologen. Hesse schätzte – trotz

oder gerade wegen der völlig anderen literarischen Orientierung – ebenfalls

gOTTFRIED BENN (1886 – 1956), den er als den »unerschrockensten deutschen

Dichter unserer Zeit« bezeichnete. Der expressionistische Lyriker hielt sich

als junger Mann ebenfalls in Boll auf. Wie Hesse hatte er sich vehement gegen

den Willen seines Vaters aufgelehnt, der ihm ein Theologiestudium auf-

zwingen wollte; Benn wollte stattdessen Medizin studieren. Deshalb wandte

er sich im März 1904 ratsuchend an das »Benn’sche Familienorakel« Christoph

Blumhardt. Vater Gustav Benn, der als junger Pfarrer Blumhardts Kindern

erzogen hatte, besuchte Boll kurz darauf und ließ seinen Sohn schließlich ge-

währen. Auch Vorbilder literarischer Figuren haben das Heilbad besucht:

Theodor Fontane ließ sich zu seiner ›Effi Briest‹ (1896) durch das Schicksal der

Baronin ELISABETH vON ARDENNE (1853 – 1952) inspirieren, die – anders als die

literarische Effi – keinen frühen Tod starb, sondern nach der Behandlung

durch Blumhardt und nach ihrer Scheidung einige Jahre im nahen Eckwälden

als Schwester Elisabeth in einem Haus für Nerven- und Gemütskranke arbei-

tete. Auch FRIEDRICH wILHELm LEBERECHT mANN (1847 – 1926) aus Lübeck, ein

Onkel Thomas Manns und von ihm in seinem Roman ›Buddenbrooks. Verfall

einer Familie‹ (1901) als Christian Buddenbrook porträtiert, trug sich bei

einem zweiwöchigen Aufenthalt 1876 ins Gästebuch von Bad Boll ein. Von

einer Heilung seiner Beschwerden ist allerdings nichts bekannt.

Impressum: Text: Bernd Möbs; Redaktion: Thomas Schmidt; Strecke: Projektgruppe Ochsenwang mit freundlicher Unterstützung der beteiligten Gemeinden; Gestaltung: Stefan Schmid Design nach einem Entwurf von Keppler | Schmid; Abbildungen: DLA Marbach/Chris Korner, Literarisches Museum Max-Eyth-Haus (Kirchheim/Teck)/Frank Kleinbach, Insel-Verlag (Berlin), Museum der Stadt Kirchheim/Teck, Herrnhuter Brüdergemeine (Bad Boll); Karten: comkart, Leonberg, auf Grundlage von Geobasisdaten © Landesamt für Geoinformation und Landentwicklung Baden-Württemberg (www.lgl-bw.de)

Vertonung von Eduard Mörikes Gedicht ›Seufzer‹ durch seinen Bruder Karl

Blumhardt, der Ältere

Gottfried Benn als Arzt, ca. 1928

Titelblatt der ersten Buchausgabe von ›Effi Briest‹, 1896

Marbacher Magazin 27 Mörike in Ochsenwang. Hg. von Thomas Scheuf-felen. Marbach 2000

SPUREN 71 Karsten Blöcker: Christian Buddenbrook zur Kur in Bad Boll, Bad Cannstatt und Esslingen. Marbach 2005

Albrecht Esche: Reich Gottes in Bad Boll. Die Stätten der Blumhardts und ihre Geschichten. Bad Boll 2005

Irene Ferchl, Wilfried Setzler: Mit Mörike von Ort zu Ort. Lebens-stationen des Dichters in Baden-Württemberg. Tübingen 2004

Kartendaten ©2012 GeoBasis-DE/BKG (©2009), Google -

RW 09 Bad BollÖffentlich · 4 AnsichtenErstellt am 16. Mai · Von schmidt · Gestern aktualisiert

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A Kurhaus

B Blumhardt-Salon

C Blumhardt-Friedhof

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RW 09 Bad Boll - Google Maps http://maps.google.de/maps/ms?msid=20223561048362677903...

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SCHOPFLOCHER ALB Vogelloch 1 73252 Lenningen-Schopfloch Telefon: 07026 / 95012-0 www.naturschutz.landbw.de/servlet/is/68211/ Geöffnet: Di – Sa 10 – 17 Uhr, So und feiertags 11 – 17 Uhr

möRIKEHAuS OCHSENwANg Eduard-Mörike-Straße 15 73266 Bissingen unter Teck Telefon: 07023 / 2304 www.moerikehaus-ochsenwang.de Geöffnet: nach Vereinbarung

B BLumHARDTS

LITERATuRSALON in der Villa Vopelius Evangelische Akademie Akademieweg 11 73087 Bad Boll Telefon: 07164 / 79-0 www.ev-akademie-boll.de Geöffnet: Mo – Sa 9 – 18 Uhr, So 9 – 13 Uhr

Kirche und Pfarrhaus in Ochsenwang, Federzeich-nung von Eduard Mörike, um 1832

14,9 – 20,3 Km

9 – 12%

alternativ am wochenende:

Rad- und wanderbus vom Ober-

lenninger Bahnhof bis zur

Schlatterhöhe ca. 8 km kürzer

20,3 – 22,8 Km

13,3 – 14,9 Km

KIRCHHEIm/TECK, max-Eyth-Haus