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Vortrag anlässlich der 11. Süddeutschen Hospiztage, Bad Boll, 14.7.2010 (überarbeitete Vollversion) (bitte nicht ohne Erlaubnis des Autors zitieren) Die kulturelle Gestaltung des Todes in nicht-westlichen Gesellschaften von Roland Hardenberg, Abt. Ethnologie, Asien-Orient-Institut, Universität Tübingen 1. Tod als „Gesellschaftsgenerator“ Der Ägyptologe Jan Assmann schrieb einmal, dass „[D]er Tod oder besser: das Wissen um unsere Sterblichkeit […] ein Kulturgenerator ersten Ranges“ ist (Assmann 2003: 10). Dies stellen auch Ethnologen immer wieder fest, denn in den meisten Gesellschaften, über die wir arbeiten, wird dem Tod eine außerordentliche Bedeutung zugeschrieben. Viele nicht- westliche Gesellschaften haben äußerst komplexe Rituale entwickelt, die sich oft über Monate, wenn nicht sogar Jahre, hinziehen. Grundlage dieser Rituale ist meist ein Wissen, das über Generationen von Mund zu Mund weitergegeben wurde und Antworten liefert auf die Grundfragen des Seins: Woher kommen wir, was ist der Sinn unseres Lebens, wohin gehen wir, was passiert nach dem Tod? In Todesritualen wird dieses Wissen aus den Mythen und Legenden umgesetzt und veranlasst die Lebenden dazu, für ihre Toten Opfer zu bringen, sie mit Speisen zu bewirten oder ihnen Häuser zu errichten. Immer wieder beobachten Ethnologen, dass die Menschen in den nicht-westlichen Gesellschaften einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer meist knappen Ressourcen für das Wohlergehen ihrer Toten einsetzen. Bei diesen Bemühungen können einzelne Familien auf die Unterstützung durch ihre Gemeinschaft rechnen. So haben sich in vielen dieser Gesellschaften Spezialisten herausgebildet, die wichtige Funktionen im Umgang mit den Toten übernehmen, etwa die Bestattung des Leichnams, die Durchführung der Opfer oder die Kommunikation mit den Seelen der Verstorbenen. Wenn derartige religiöse Spezialisten fehlen, sind es oft die eigenen Verwandten, Freunde oder Nachbarn, die diese Aufgaben übernehmen und den Trauernden helfen, ihre Verpflichtungen gegenüber den Toten zu erfüllen. Ethnologen stellen immer wieder fest, dass der Tod in diesen Gesellschaften gemeinschaftliche Reaktionen auslöst. Anders als in vielen westlichen Gesellschaften werden weder die Lebenden, noch die Toten alleine gelassen. Die notwendigen Rituale bedürfen der Teilnahme der ganzen Gemeinschaft; Position und Status innerhalb dieser Gemeinschaft bestimmen darüber, welche Rolle jeder Einzelne zu erfüllen hat. Man könnte darum Jan Assmans Feststellung aus ethnologischer Sicht leicht verändern und sagen, dass der Tod ein „Gesellschaftsgenerator ersten Ranges“ ist. 2. Individuum und Gemeinschaft Warum ist dies so? Ethnologen meinen auf diese Frage zwei Antworten gefunden zu haben. Zum ersten hat in vielen nicht-westlichen Gesellschaften die Gemeinschaft einen höheren

(bitte nicht ohne Erlaubnis des Autors zitieren) · 2012. 6. 4. · Vortrag anlässlich der 11. Süddeutschen Hospiztage, Bad Boll, 14.7.2010 (überarbeitete Vollversion) (bitte nicht

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Vortrag anlässlich der 11. Süddeutschen Hospiztage, Bad Boll, 14.7.2010 (überarbeitete Vollversion)

(bitte nicht ohne Erlaubnis des Autors zitieren)

Die kulturelle Gestaltung des Todes in nicht-westlichen Gesellschaften

von Roland Hardenberg, Abt. Ethnologie, Asien-Orient-Institut, Universität Tübingen

1. Tod als „Gesellschaftsgenerator“

Der Ägyptologe Jan Assmann schrieb einmal, dass „[D]er Tod oder besser: das Wissen um

unsere Sterblichkeit […] ein Kulturgenerator ersten Ranges“ ist (Assmann 2003: 10). Dies

stellen auch Ethnologen immer wieder fest, denn in den meisten Gesellschaften, über die wir

arbeiten, wird dem Tod eine außerordentliche Bedeutung zugeschrieben. Viele nicht-

westliche Gesellschaften haben äußerst komplexe Rituale entwickelt, die sich oft über

Monate, wenn nicht sogar Jahre, hinziehen. Grundlage dieser Rituale ist meist ein Wissen, das

über Generationen von Mund zu Mund weitergegeben wurde und Antworten liefert auf die

Grundfragen des Seins: Woher kommen wir, was ist der Sinn unseres Lebens, wohin gehen

wir, was passiert nach dem Tod? In Todesritualen wird dieses Wissen aus den Mythen und

Legenden umgesetzt und veranlasst die Lebenden dazu, für ihre Toten Opfer zu bringen, sie

mit Speisen zu bewirten oder ihnen Häuser zu errichten. Immer wieder beobachten

Ethnologen, dass die Menschen in den nicht-westlichen Gesellschaften einen nicht

unbeträchtlichen Teil ihrer meist knappen Ressourcen für das Wohlergehen ihrer Toten

einsetzen. Bei diesen Bemühungen können einzelne Familien auf die Unterstützung durch

ihre Gemeinschaft rechnen. So haben sich in vielen dieser Gesellschaften Spezialisten

herausgebildet, die wichtige Funktionen im Umgang mit den Toten übernehmen, etwa die

Bestattung des Leichnams, die Durchführung der Opfer oder die Kommunikation mit den

Seelen der Verstorbenen. Wenn derartige religiöse Spezialisten fehlen, sind es oft die eigenen

Verwandten, Freunde oder Nachbarn, die diese Aufgaben übernehmen und den Trauernden

helfen, ihre Verpflichtungen gegenüber den Toten zu erfüllen. Ethnologen stellen immer

wieder fest, dass der Tod in diesen Gesellschaften gemeinschaftliche Reaktionen auslöst.

Anders als in vielen westlichen Gesellschaften werden weder die Lebenden, noch die Toten

alleine gelassen. Die notwendigen Rituale bedürfen der Teilnahme der ganzen Gemeinschaft;

Position und Status innerhalb dieser Gemeinschaft bestimmen darüber, welche Rolle jeder

Einzelne zu erfüllen hat. Man könnte darum Jan Assmans Feststellung aus ethnologischer

Sicht leicht verändern und sagen, dass der Tod ein „Gesellschaftsgenerator ersten Ranges“ ist.

2. Individuum und Gemeinschaft

Warum ist dies so? Ethnologen meinen auf diese Frage zwei Antworten gefunden zu haben.

Zum ersten hat in vielen nicht-westlichen Gesellschaften die Gemeinschaft einen höheren

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Stellenwert als das Individuum (Dumont 1991: 225-229). Dies bedeutet, dass die Handlungen

einer Person den Status seiner Gruppe beeinflussen und umgekehrt das Ansehen der Gruppe

einen Einfluss auf das Prestige dieser Person hat. Dies heißt nicht, dass es keine Individualität

gibt. Auch in nicht-westlichen Gesellschaften entwickeln Menschen ihre ganz eigenen

Charaktere und Eigenschaften. In Bereichen, die keiner starken sozialen Bewertung

unterliegen, können Individuen durchaus ihre eigenen Wege gehen. Andererseits übt die

Gemeinschaft aber einen sehr großen Einfluss auf die sozialen Aspekte einer Person aus. Über

verschiedene Rituale von Geburt bis Tod bestimmt die Gesellschaft den Status einer Person

(van Gennep 1960 [1908]: 3). Dies drückt sich etwa in Namen aus, die festlegen, zu welcher

Gruppe man gehört oder über welches Ansehen man verfügt. Dies manifestiert sich z.B. auch

in den Berufen, die man als Mitglied einer Gemeinschaft ausübt und die mit einem

bestimmten gesellschaftlichen Status verbunden sind. Viele Beziehungen, die aus unserer

Sicht frei wählbar sind, werden in nicht-westlichen Gesellschaften durch die Zugehörigkeit zu

einer Gemeinschaft vorgegeben, etwa die Nachbarschaft, die Freundschaften oder die

Heiratspartner. Dies hat allerdings auch zur Folge, dass ein Verstoß gegen diese

zugeschriebenen Rollen als eine Verletzung der Werte der Gemeinschaft und im Extremfall

sogar zum Ausschluss aus der Gruppe führen kann.

Todesritualen in nicht-westlichen Gesellschaften lassen sich sehr viel besser verstehen, wenn

wir diese Idee der engen Verbindung von Individuum und Gesellschaft berücksichtigen.

Wenn wir davon ausgehen, dass beide aufs stärkste miteinander verbunden sind, dann wird

verständlich, warum der Tod jedes einzelnen Individuums die Gesellschaft bedroht. Die

Gefahren, die Unreinheiten und die Ängste, die mit dem Tod assoziiert sind, betreffen unter

dieser Voraussetzung nämlich nicht nur den Toten und seine engsten Angehörigen, sondern

das Bewusstsein der gesamten Gemeinschaft (Hertz 1960 [1907]: 28). Dadurch wird es zur

Aufgabe aller, sich um den Toten zu kümmern und dafür zu sorgen, dass die gestörte soziale

Welt wieder hergestellt wird. Aber wie wird dies erreicht?

3. Tod und Vergesellschaftung

Damit kommen wir zur zweiten Antwort, warum der Tod ein „Gesellschaftsgenerator ersten

Ranges“ ist. Wenn Personen immer als Teil von Gemeinschaften gesehen werden, muss der

Tod eine besondere Bedrohung darstellen, denn mit dem Ableben ist ein Individuum plötzlich

aus allen sozialen Beziehungen herausgerissen. Der Tote stellt etwas dar, was es unter den

Lebenden nicht geben sollte: ein Individuum außerhalb einer Gemeinschaft. Es ist daher nicht

verwunderlich, dass in vielen Gesellschaften eine große Angst vor den Toten herrscht. Sie

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sind nicht mehr Teil der eigenen Gemeinschaft, man kann sich nicht mehr auf sie verlassen

und traut ihnen alles zu, etwa auch, dass sie aus lauter Wut, Zorn und Leid über ihr eigenes

Schicksal auch die Lebenden mit in den Tod reißen. Die Reaktion auf diese Bedrohung ist

dabei in vielen nicht-westlichen Gesellschaften durchaus sehr ähnlich: zum einen wird

versucht, die soziale Beziehung zu den Verstorbenen aufrecht zu erhalten, zum anderen

bemüht man sich, ihnen die Aufnahme in eine andere Gemeinschaft, die der Ahnen, zu

erleichtern. Beides setzt allerdings eines voraus, und zwar die Vorstellung, dass die Lebenden

weiterhin einen Kontakt mit den Verstorbenen aufnehmen können. Dieser Kontakt kann

verschiedene Formen annehmen. In den für diesen Beitrag ausgewählten Beispiele aus Süd-

und Zentralasien sind es vor allem zwei Praktiken, die diesem Zweck dienen: zum einen das

Speisen der Toten, zum zweiten die Dialoge mit den Toten.

Aus ethnologischen Studien zum Umgang mit dem Tod in nicht-westlichen Gesellschaften

geht hervor, dass diese Formen der Vergesellschaftung im Mittelpunkt der meisten

Todesrituale stehen. Daraus ergibt sich eine wichtige Erkenntnis: der Tod ist aus

gesellschaftlicher Sicht nicht in erster Hinsicht ein biologisches Ereignis, sondern ein soziales.

Es geht in den meisten von uns untersuchten Todesritualen darum, dass die Angehörigen

versuchen, den Toten aus der eigenen Gemeinschaft in eine andere überzuführen. Dies geht

nur, wenn dieser schwere Übergang von Ritualen begleitet wird, an denen sich die

Gemeinschaft beteiligt. So gesehen unterscheiden sich Todesrituale eigentlich nicht von

Ritualen, die sich auf die Lebenden beziehen. Wenn eine Geburt, Beschneidung oder

Hochzeit gefeiert wird, beteiligt sich in gleicher Weise die Gesellschaft daran, dass eines ihrer

Mitglieder den Übergang von einem Status zum anderen bewerkstelligt.

4. Tod als Initiation

Der Ethnologe Arnold van Gennep war einer der ersten, der festgestellt hat, dass diese

sogenannten Initiationsrituale sehr häufig einem bestimmten Schema folgen (van Gennep

1960 [1908]: 11). So beginnt die Initiation meist mit einer Phase der Separation, dass heißt die

Initianden werden zunächst aus ihrem normalen Leben herausgerissen. Sie müssen ihre alten

Bindungen lösen, etwa indem sie ihren bisherigen Namen ablegen, ihren Besitz verschenken

oder ihre Familie verlassen. Daran schließt sich eine Phase des Übergangs an. Die Initianden

gehören weder der Gemeinschaft an, die sie verlassen haben, noch jener, in die sie

aufgenommen werden wollen. In dieser Zeit gelten für die Initianden ganz besondere Regeln,

die ihren besonderen Status hervorheben. Sie leben oft isoliert von der Gemeinschaft und

verhalten sich meist auf ganz untypische Weise. Der Ethnologe Victor Turner spricht deshalb

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auch im Zusammenhang mit dieser Übergangs- oder Schwellenphase von Communitas und

Anti-Struktur (Turner 1969: 94ff). Mit Communitas meint er, dass die Initianden oft eine

eigene, vom Rest der Gesellschaft abgehobene Gemeinschaft bilden. Anti-Struktur bezeichnet

die Tatsache, dass während des Übergangs viele der sozialen Regeln und Muster nicht mehr

gelten bzw. in ihr Gegenteil verkehrt werden: Das Volk macht sich über den König lustig, die

Frauen stellen den Männern sexuell nach, die Jungen fordern von den Alten Respekt ein usw.

Zur Übergangsphase gehört auch oft der Erwerb von Wissen und Eigenschaften, die einen auf

die neue soziale Rolle vorbereiten sollen. Diese Zeit des Übergangs ist jedoch begrenzt und

wird abgelöst durch eine dritte Phase, die der Wiedereingliederung. In dieser sogenannten

Reintegrationsphase treten die Initianden mit einem veränderten Status in die neue

Gemeinschaft ein. Diese Aufnahme wird durch Rituale markiert, etwas durch das Anlegen

neuer Kleidung, die Annahme eines anderen Namens, der Einzug in ein neues Haus.

Was hat dies alles mit Todesritualen zu tun? Wie der Ethnologe Robert Hertz als erster

feststellte, wird der Tod in vielen nicht-westlichen Gesellschaften als ein sozialer Prozess

verstanden, bei dem das Kollektiv dazu beiträgt, dass der Tote schrittweise aus der

Gemeinschaft der Lebenden herausgelöst und in die Gemeinschaft der Ahnen überführt wird

(Moebius & Papilloud 2007: 29-38). Dieser Prozess besteht genau genommen aus zwei

einzelnen Prozessen, zum einen der Desintegration des Toten in verschiedene Aspekte, zum

anderen der Überführung dieser einzelnen Aspekte in neue Zusammenhänge. Beginnen wir

mit der Desintegration. In vielen Gesellschaften finden wir die Vorstellung, dass eine Person

aus Körper, Geist und sozialen Beziehungen besteht, drei Aspekte, die zu Lebzeiten auf das

Engste miteinander verbunden sind. Ausgehend von seinen Studien über die Dayak von

Borneo, dem heutigen Kalimantan, hat Robert Hertz festgestellt, dass in dieser wie in vielen

anderen Gesellschaften davon ausgegangen wird, dass der Tod diese drei Aspekte einer

Person nicht sofort und nicht automatisch voneinander trennt. Vorherrschend ist vielmehr die

Idee, dass es die Rolle der Gemeinschaft ist, diese drei Aspekte allmählich voneinander zu

lösen und in einen neuen Zustand zu überführen (Hertz 1960 [1907]: 78).

5. Die Phase der Separation

Dieser Prozess bedarf einer langen Zeit und erstreckt sich über mehrere Phasen. In der ersten

Phase trennt der Tod die drei Aspekte der Person, also Körper, Seele und soziale

Beziehungen. Die Seele verlässt den Körper und die tote Person kann nicht wie früher mit

seinen Mitmenschen sozial interagieren. Die Gesellschaft ist somit selbst angegriffen und

muss sich gegenüber dem Tod behaupten. Es ist darum durchaus nicht erstaunlich, dass in

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vielen nicht-westlichen Gesellschaften der Tod des Individuums auf Kräfte zurückgeführt

wird, die ihren Platz außerhalb der eigenen Gesellschaft haben: Götter, Dämonen oder

spirituelle Kräfte (Moebius & Papilloud 2007: 29). Die Attacke dieser Kräfte, die sich in

Krankheit oder plötzlichem Tod äußert, hat zwei Auswirkungen. Zum ersten löst sie die

frühere Einheit von Geist, Körper und Gemeinschaft auf, allerdings nicht vollständig. In

vielen nicht-westlichen Gesellschaften finden sich etwa Vorstellungen, denen zufolge die

Seele auch nach dem Tod an dem Körper des Verstorbenen sowie seinen persönlichen

Dingen, etwa seinem Haus, seiner Kleidung oder seinen liebsten Gegenständen „haftet“. Auch

die Lebenden können sich oft nicht sofort trennen, weder von dem Körper noch dem Geist, sie

fühlen sich weiterhin verbunden. Zum zweiten löst diese Attacke Angst innerhalb der

Gemeinschaft aus, und diese Angst richtet sich auf alle drei Aspekte des Toten: seinen

Körper, seine Seele und seine nächsten Verwandten (Hertz 1960 [1907]: 37-38). So

betrachten Angehörigen den Leichnam des Verstorbenen oft mit Schrecken, ekeln sich vor

ihm und wollen ihn nicht mehr berühren. Vielen Vorstellungen nach geht auch von der Seele

eine Gefahr aus für die Lebenden, denn sie ist unglücklich, fühlt sich verlassen und möchte

sich an den Lebenden für ihr Schicksal rächen. Selbst die nächsten Angehörigen werden

gefürchtet, da sie dem Verstorbenen am nächsten stehen und damit auch von ihnen eine

Bedrohung ausgeht. Hier zeigt sich erneut die anfangs beschriebene enge Verbindung

zwischen Individuum und Gemeinschaft.

Der Tod bedingt also eine Separation der verschiedenen Aspekte einer Person, wobei dies

auch, wie gerade beschreiben, die nächsten Angehörigen einschließt. Diese Separation geht

auf außergesellschaftliche Kräfte zurück, doch sieht die Gemeinschaft nicht tatenlos zu,

sondern beginnt durch Rituale diese Separation zu gestalten. Die Idee der Kontamination

durch den Tod mag verständlich machen, warum die nahen Verwandten nicht alleine gelassen

werden, denn es ist im übertragenen Sinne die Gesellschaft als Ganzes, die bedroht ist und

darum reagieren muss.

6. Die Phase des Übergangs

Es beginnt nun eine Phase, die wir auf Deutsch die Phase des Trauerns nennen. Im

Alltagsverständnis wird das Trauern als ein quasi „natürlicher“ Ausdruck von individuellen

Gefühlen verstanden, die sich zwangsläufig angesichts des Todes einstellen. Aus

ethnologischer Sicht sind Trauerrituale nicht Ausdruck individueller Gefühle, sondern

sozialer Obligationen (Moebius & Papilloud 2007: 37). Damit ist gemeint, dass Formen des

Trauerns von der Gesellschaft vorgegeben und darum kulturspezifisch sind. Das Weinen wird

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etwa in einigen Kulturen im Rahmen von Bestattungen verboten, in anderen ist es Pflicht zu

weinen, egal welche tatsächlichen Empfindungen man hat. Rituale sind so gesehen nicht das

Resultat von individuellen Gefühlen, aber sie regulieren diese Gefühle und können sie sogar

erzeugen. Was ist dann aus ethnologischer Sicht die Trauer? Wie Hertz in seinem Beitrag

über die Dayak darlegt, ist die Trauer der nächsten Angehörigen ein Ausdruck der Idee, dass

sie am stärksten an dem Schicksal des Verstorbenen teilhaben. So wie Körper und Seele des

Toten einen Übergang durchmachen, müssen auch die nächsten Angehörigen eine

Transformation erleben. Die Angehörigen sind somit sichtbarer Ausdruck dessen, was mit

Seele und Körper des Verstorbenen passiert. Bei den Dayak von Borneo wird etwa zunächst

der Körper in einen Sarg gelegt, der im Inneren oder in der Nähe des Hauses aufbewahrt wird

(Hertz 1960 [1907]: 29-30). Es folgt eine lange Zeit des Verwesens, welche die Angehörigen

aktiv miterleben, denn sie müssen sich um die Beseitigung der Verwesungsprodukte

kümmern. Erst am Ende dieses langen körperlichen Verfallsprozesses kommt es zu einer

zweiten Bestattung, bei der dann die Knochen des Toten in ein gemeinschaftliches Beinhaus

überführt werden (Hertz 1960 [1907]: 30-31). Ein sehr vergleichbarer Prozess betrifft auch

laut den Vorstellungen der Dayak die Seele des Verstorbenen. Nach dem Tod bleibt sie dem

Körper des Verstorbenen sowie seinen Angehörigen noch sehr verhaftet. Sie kommt zum Sarg

des Leichnams, zum Haus seiner Verwandten und irrt in der Nähe der Siedlung umher. Erst

allmählich und nur mit Hilfe vieler Rituale findet die Seele Eingang in das Ahnenreich (Hertz

1960 [1907]: 34-37). Parallel dazu erfolgt die Überführung der Knochen des Toten in das

Beinhaus der Vorfahren. Während dieser ganzen Zeit zwischen dem Eintritt des Todes und

dem Übergang in Ahnenreich und Beinhaus sind es bei den Dayak die nächsten Angehörigen,

die am stärksten das Schicksal des Verstorbenen teilen. Wie der Tote befinden sie sich in

einer Ausnahmesituation. Sie müssen zahlreiche Vorschriften und Tabus beachten, nehmen

kaum am sozialen Leben teil und sind letztlich aus der Gemeinschaft ausgegliedert (Hertz

1960 [1907]: 37-53). Mit den Ritualen für Körper und Seele des Verstorbenen werden aber

auch die nächsten Angehörigen allmählich wieder integriert und ein Sieg über den Tod

errungen (Hertz 1960 [1907]: 86). Was meint Hertz damit?

7. Die Wiedereingliederung: der Sieg über den Tod

Meiner Interpretation nach können wir dies folgendermaßen verstehen. Der Tod desintegriert

und löst Ängste aus. Die kollektiven Rituale reagieren darauf, indem sie dafür sorgen, dass

der Verstorbene einen Übergang in eine neue Gemeinschaft vollzieht, die Welt der Ahnen.

Wenn er in diese Welt aufgenommen ist, gehört er wieder zu einer Gesellschaft. Dadurch ist

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er nicht mehr bedrohlich für die eigene Gruppe und kann sogar, durch angemessene

Verehrung und Opfergaben gütig gestimmt, zum Wohle des Kollektivs beitragen. Der

Zeitraum dazwischen ist von Furcht und Angst bestimmt, denn der Tote ist in einem liminalen

Zustand, „betwixt and between“ (Turner 1969: 95), d.h. er gehört nirgendwo hin und ist

darum unberechenbar. Diese Angst lässt erst nach, wenn der Tote in seine neue Gemeinschaft

integriert wurde. Der Zeitraum zwischen Desintegration und Integration wird dabei durch die

Verwesung markiert, die jedoch nicht einfach ein biologischer Prozess ist, dem die Menschen

handlungsunfähig zuschauen. Im Gegenteil: die Dayak von Borneo genauso wie andere

Gesellschaften, die eine Zweitbestattung praktizieren, machen sich den Prozess rituell zu

eigen. Sie bearbeiten den toten Körper, trennen Fleisch von Knochen und überführen

schließlich die Knochen in ein gemeinschaftliches Grab. Sie übernehmen mit anderen Worten

die Kontrolle und tragen somit aktiv dazu bei, dass der Tote zum Ahnen und damit zu einer

Quelle der Regeneration wird. Das Schicksal des Toten bleibt nicht dem Zufall überlassen,

vielmehr vergewissert sich die Gesellschaft, dass die Seele eines ihrer Mitglieder einen

Übergang in eine neue Gemeinschaft vollzieht. Fassbar wird dieser Übergang der

unsichtbaren Seele durch das, was mit dem Leichnam und den Angehörigen passiert, denn

letztere werden in paralleler Weise zunächst separiert, durchleben eine Phase des Übergangs

und werden schließlich wieder integriert. Darin besteht der Sieg der Gesellschaft, von der

Hertz spricht.

Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen. Die rituelle Verarbeitung des Todes

besteht darin, Körper und Seele des Verstorbenen in eine neue Gemeinschaft zu überführen.

Der Leichnam wird mit den Körpern anderer Toter vereint, sei es z. B. auf einem Friedhof

oder in einem Beinhaus. Gleichzeitig soll auch die Seele, der direkt nach dem Tod meist ein

gefährlicher Charakter zugeschrieben wird, in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, die

der friedfertigen und wohlwollenden Ahnen. Diesen Übergang zu bewerkstelligen ist die

Aufgabe der Trauernden. Die Trauernden befinden sich während der Erfüllung dieser

Aufgabe in doppelter Weise in einer liminalen Situation. Zum einen gehören sie zu einer

größeren Gemeinschaft, der der Lebenden, doch sind sie auch teilweise von ihr

ausgeschlossen. Dies wird durch verschiedene Regeln zum Ausdruck gebracht, die den

Kontakt zwischen den Trauernden und den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft

einschränken. Gleichzeitig bleiben die Trauernden dadurch auch mit dem Verstorbenen

verbunden, der in einem noch stärkeren Maße als sie selbst aus der Gesellschaft der Lebenden

ausgeschlossen ist. Seine Seele braucht die Hilfe der Trauernden, um in die Gemeinschaft der

Ahnen aufgenommen zu werden. Wenn dies erreicht ist, gilt auch die Trauerzeit als beendet.

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Im Grunde finden also drei Übergänge statt, die einander symbolisieren: das Sichtbare, also

die Eingliederung des Leichnams und die Reintegration der Trauernden, steht für das

Unsichtbare, die Aufnahme der Seele in die Welt der Ahnen.

Ein zentraler Aspekt der Trauer besteht also in der Aufgabe der Trauernden, ihren

Verstorbenen in einen Ahnen zu verwandeln und dadurch seinen liminalen Zustand zu

beenden. Diesen Ahnen werden je nach Glaubensvorstellung unterschiedliche Qualitäten und

Fähigkeiten zugeschrieben, meistens gelten sie aber als wohlwollend und fähig, positiv auf

die Lebenden zu wirken. Häufig ist auch die Vorstellung gegeben, dass Ahnen wieder

zurückkehren können in die Welt der Menschen, zum Beispiel indem ihre Seele in einem

Kind wiedergeboren wird. Entscheidend ist bei all diesen Vorstellungen, dass die Übergänge

von Seelen zwischen der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten durch Rituale begleitet

werden, sei es Rituale des Todes oder der Geburt. Diese Transformationen passieren also

nicht auf irgendeine ganz „natürliche“ Art und Weise, sondern bedürfen der aktiven Hilfe

durch die Gemeinschaft.

Im Falle des Todes ist dies möglich, weil in vielen Gesellschaften die Vorstellung herrscht,

dass die Trauernden nach wie vor mit der Seele des Verstorbenen kommunizieren können.

Sehr häufig nimmt diese Kommunikation zwei Formen an: man spricht mit den Toten oder

man speist mit ihnen. Um zu illustrieren, wie diese Art der Kommunikation aussieht, werde

ich im folgenden einige ethnographische Fallbeispiele aus den beiden Ländern erörtern, in

denen ich selbst in den letzten 15 Jahren geforscht habe: Indien und Kyrgyzstan.

8. Die Dialoge mit den Toten bei den Sora (Orissa)

Mein erstes Beispiel sind die Sora, eine Gemeinschaft von etwa 200.000 Menschen, die im

ostindischen Bundesstaat Orissa leben. Die Sora gehören zu den indischen Stämmen, also

einer Art von Gemeinschaft, die sich in ihren Werten, Ideen und sozialen Ordnungen zum

Teil deutlich von der Mehrheit der Hindus unterscheidet. Die Sora wurden über einen

Zeitraum von vier Jahren von dem britischen Ethnologen Piers Vitebsky untersucht (Vitebsky

1993). Er hat in dieser ganzen Zeit bei ihnen gelebt, ihre Sprache gelernt, an ihren Ritualen

teilgenommen und wäre beinah sogar zu einem ihrer rituellen Spezialisten geworden. Letztere

heißen in der Sprache der Sora Kuran und werden von Vitebsky als „Schamanen“ bezeichnet

(Vitebsyky 1993: 18). Das Wort Schamane stammt eigentlich aus dem Tungusischen und

bezeichnet bei den indigenen Gemeinschaften Sibiriens eine Person, deren Seele auf eine

Reise zu den Geistern und Toten gehen kann. Hier besteht eine gewisse Parallele zu den

Kuran der Sora, die ebenfalls in der Lage sind, in das Reich der Toten zu reisen und von dort

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zurückzukehren. Anders als die sibirischen Schamanen berichten die Kuran der Sora aber

nicht von ihren Erlebnissen im Totenreich, vielmehr stellen sie eine Art Kanal oder

Verbindung zu diesem Reich her (Vitebsky 1993: 21). Durch sie ist es Toten und Lebenden

möglich, miteinander zu sprechen.

Wie kann man sich das vorstellen? Die meisten Schamanen bei den Sora, vor allem die

bedeutenden, sind Frauen. Oft haben sie schon als Kinder Träume, in denen sie in Begleitung

von Geistern in die Unterwelt reisen (Vitebsky 1993: 19). Mit der Pubertät heiraten sie dann

der Vorstellung nach einen männlichen Geist (Ilda) in der Unterwelt. Durch diese Heirat ist

die junge Schamanin mit einer älteren Schamanin verbunden, denn ihr Ehemann in der

Unterwelt gilt als der Sohn der älteren Schamanin mit einem anderen Geist. Im Anschluss an

ihre Heirat in der Unterwelt erhält die junge Frau nun ein Wandbild, dass die Ahnenwelt

darstellt, in der sich auch ihr Haus befindet, wo sie mit dem Geist lebt und eigene Kinder

haben wird, welche später wieder andere Schamaninnen heiraten werden (Vitebsky 1993: 20).

Die Heirat und das Wandbild sind die Voraussetzung dafür, dass die Schamanin in Trance

fallen und in die Ahnenwelt reisen kann.

Zur Vorbereitung einer solchen Reise muss die Schamanin fasten, sie darf allerdings Alkohol

trinken und rauchen (Vitebsky 1993: 18). Sie setzt sich in das Haus vor das Bild der

Ahnenwelt, schließt ihre Augen und streckt ihre Beine gerade vor sich aus. Meist wird eine

Lampe angezündet, damit die Schamanin auf ihrer Reise in das dunkle Totenreich etwas Licht

hat. Dann schlägt sie mit einem Stock einen gleichmäßigen Rhythmus oder reibt auf eintönige

Weise mit einer Hand einem Reisworfel und ruft dabei verstorbene Schamaninnen (Rauda),

die ihr bei ihrer Reise helfen sollen. Die Vorstellung ist, dass ihre Seele nun einem Affen

gleicht, der auf dem Baum klettert, der die Erde mit der Unterwelt verbindet (Vitebsky 1993:

18). Sobald die Seele ihr Unterwelthaus und ihre dortige Familie erreicht hat, hören die

Gesänge der Schamanin auf, ihr Körper verkrampft sich und muss von den Leuten, die um sie

herumstehen, mit aller Gewalt gelockert werden. Wenn ihre Verkrampfung gelöst wurde,

bleibt sie eine Weile ruhig sitzen, dann öffnet sie plötzlich den Mund und spricht mit der

Stimme einer verstorbenen Schamanin, die ihr besonders nahe gestanden hat. Diese alte

Schamanin aus dem Totenreich geleitet die Verstorbenen zu den Lebenden, damit sie durch

den Körper der in Trance befindlichen Schamanin miteinander reden können (Vitebsky 1993:

19).

Wieso suchen die Sora über die Schamanen das Gespräch mit den Toten? Dazu muss man

ihre Theorie des Todes verstehen. Für die Sora gibt es keinen natürlichen Tod, denn jeder Tod

wird durch Geister herbeigeführt (Vitebsky 1980: 48). Es gibt zahlreiche Kategorien von

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Geistern und sie leben in der Vorstellung der Sora in ihrer unmittelbaren Umwelt, also in der

Nähe des Dorfes oder im Dschungel. Einzige Ausnahme sind die Geister, die in der Erde oder

bei der Sonne leben, wobei erstere als besonders friedfertig, letztere als besonders gefährlich

gelten. Wer sind dieser Geister, die die Lebenden bedrohen? Die Geister gehören den kürzlich

Verstorbenen. Wenn ein Mensch stirbt, geht ein Teil von ihm der Vorstellung der Sora nach

in das Ahnenreich. Der andere Teil verwandelt sich in einen Geist, Sonum (Vitebsky 1980:

48), ein Wort das Vitebsky auch mit „Erfahrung“ übersetzt (Vitebsky 1993: 66). Dieser Geist

oder „Erfahrung“ bleibt je nach Todesart an einem bestimmten Platz in der unmittelbaren

Umwelt der Lebenden. So gehören etwa Opfer eines Mordes, Selbstmörder, Lepröse oder

vom Baum Gefallene zu einer Kategorie von Sonum, die mit der Sonne assoziiert wird

(Vitebsky 1980: 53). Sonums gelten als bedrohlich, besonders in der ersten Zeit nach dem

Tod, da der Verstorbene in seiner Verzweiflung auch die Lebenden in den Tod reißen möchte.

Er gilt daher in gewisser Weise als ansteckend, d.h. es besteht die Gefahr, dass er andere auf

die gleiche Art sterben lässt. Um dies zu verhindern, muss der Geist gerufen werden, damit

man mit ihm sprechen und ihm Speise und Trank geben kann (Vitebsky 1980: 64).

Wenn also jemand krank wird, ist dies in der Vorstellung der Sora das erste Anzeichen, dass

ein unzufriedener Geist befriedigt werden muss. Das Heilritual besteht dann in einer Trance,

bei der die Geister durch die Schamanin gerufen, befragt und bewirtet werden können. Im

besten Fall hat diese Besänftigung Erfolg und der Patient gesundet, im schlechtesten Fall

stirbt die Person (Vitebsky 1948: 63). Wenn dies passiert, beginnen die Frauen im Haus zu

klagen und ein Orchester mit Trommeln und Oboen fängt an, den „Todes-Rhythmus“ zu

spielen (Vitebsky 1993: 49). Alle Männer legen sofort ihre Arbeit nieder, fällen einen Baum

und bereiten den Scheiterhaufen für die Verbrennung des Leichnams vor. Vor der

Verbrennung wird der Körper des Toten gewaschen und neu gekleidet. Am nächsten Tag

beginnt dann die erste Befragung. Die Schamanin geleitet die Seele des Verstorbenen vom

Verbrennungsplatz in das Haus, fällt dort in Trance und gestattet damit den anderen, mit dem

Toten zu reden. Das Ziel dieser ersten Sitzung ist es, den Toten nach den Umständen und den

Gründen nach dem Tod zu befragen (Vitebsky 1993: 49). Einige Wochen oder manchmal

auch Monate später kommt es dann zu einer zweiten und größeren Sitzung. Bei diesem Anlass

wird ein Wasserbüffel geopfert, damit der Tote etwas zu essen hat und in der Unterwelt

pflügen kann. Außerdem wird ein großer Stein an dem Ort aufgestellt, an dem die Steine

früherer Verstorbener der gleichen Verwandtschaftsgruppe stehen (Vitebsky 1993: 50).

In den folgenden drei Jahren werden die Lebenden nun bei verschiedenen gemeinschaftlichen

Anlässen die kürzlich Verstorbenen erneut zu sich rufen, mit ihnen reden und sie zu bewirten.

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Das wichtigste Ereignis ist dabei das Erntefest, bei dem das ganze Dorf seine Toten zu sich

ruft. Nach einiger Zeit, dies können Monate oder auch Jahre sein, wird nun der Name des

Verstorbenen an ein neu geborenes Kind weitergegeben (Vitebsky 1993: 50). Damit setzt

endgültig der Prozess des Vergessens ein. Die Geister, die zu den Trancesitzungen kommen,

erzählen irgendwann, dass der Tote erneut verstorben ist und ihm im Ahnenreich ein Stein

gesetzt worden ist. Danach weiß man nichts mehr von ihm, die Sora sagen, er habe sich in

einen „Schmetterling“ verwandelt (Vitebsky 1993: 50). Der Ethnologe Vitebsky argumentiert

allerdings, dass für die Sora die Seele damit nicht verloren ist, denn zum einen ist sein Name

auf eine lebende Person übergegangen, zum anderen gehen die Sora davon aus, dass ein Teil

der Ahnenseele in das Getreide zurückfließt und damit die Lebenden nährt (Vitebsky 1993:

53).

Worum geht es in den Dialogen? Wie schon erwähnt wollen die Lebenden zum einen wissen,

wie jemand gestorben ist. Dies ist wichtig, denn die Umstände des Todes entscheiden darüber,

zu welcher Kategorie von Geist jemand wird und wo dieser Geist lokalisiert sein wird. Zum

anderen geht es in den Dialogen darum, den Geist zu beschwichtigen, durch Worte und durch

Opfergaben (Vitebsky 1993: 6). In diesen Gesprächen werden den Lebenden von den Geistern

Vorwürfe gemacht, sie werden auf ihre schlechten Taten und Versäumnisse hingewiesen. Die

Lebenden entschuldigen sich bei den Toten, geben Opfer und bitten darum, dass die Geister

ihren Tod nicht an andere weitergeben mögen. Als Beispiel möchte ich eine kurze

Trancesequenz anführen, die Piers Vitebsky in seinem Buch „Dialogues with the Dead“

zitiert. Darin geht es um eine Mutter und ihre kürzlich verstorbene Tochter. Da die Mutter aus

lauter Trauer nicht reden kann, übernimmt die Tante des Mädchens diese Rolle (Vitebsky

1993: 3-4, meine Übersetzung):

Kleines Mädchen: [kommt aus der Unterwelt, schwach] Mutter, wo sind meine

Nasenringe?

Lebende Tante: [antwortet für die Mutter der Toten] Sie müssen mit auf dem

Scheiterhaufen verbrannt sein; wir haben gesucht, aber konnten sie

nicht finden. Ich weiß nicht, ob sie irgendwie zur Seite gesprungen sind,

oder was.

Kleines Mädchen: [bockig] Warum zeigst du mir nicht meine Nasenringe?

Tante: Sie waren so klein. Wenn ich sie gefunden hätte, würde ich sie dir

bestimmt zeigen [eine Pause; die Tante fährt fort] Oh, meine Liebe,

mein Schatz, gebe deine Krankheit nicht an andere weitere. Kannst du

sagen, dass deine Mutter und dein Vater nicht für dich geopfert haben?

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Sie haben dich nicht im Stich gelassen oder sich geweigert, dir zu

helfen, haben sie? Denke an all die Schweine, all die Hühner, Ziegen,

Büffel, mein liebes Kind. Hat dein Vater nicht gesagt: „Lasst uns ein

Feuer anmachen, lasst sie zu Hause bleiben und nicht hinaus zur Arbeit

gehen, schaut sie an, sie hat wirklich das Gesicht einer alten Frau,“ hat

er das nicht gesagt…Was? Deine zwei Goldketten sind nicht hier,

Saruno trägt sie nun…

Kleines Mädchen: [spricht ihre schweigende Mutter an und weint] Mutter, du warst

schrecklich zu mir, du hast mich „Narbengesicht“ genannt, du hast

mich „Lepra-Mädchen“ genannt, du hast gesagt, „Du bist nun ein

großes Mädchen, warum sollte ich dich ernähren, wenn du nur

herumsitzt und nichts tust?“…

Tante: Sie meinte das nicht so, sie konnte nicht anders, als das zu sagen,

schließlich warst du ein heranwachsendes Mädchen und es gab so viele

Dinge zu erledigen

Kleines Mädchen: [launisch] Ich will meine Halsketten…Ich bin gehumpelt, ich konnte

nicht gerade stehen…[unvernünftiger kindischer Ton] Warum kann ich

meine Nasenringe nicht haben?...Ich muss graben gehen, schaufeln, die

Erde begradigen [in der Unterwelt], alles ohne meine Nasenringe.

Meine Mutter kam aus dem Land der Khond, sie gab es mir in ihrer

Gebärmutter, es ist in ihrer Familie. Ich bin mit Narben überall

geboren worden, meine Finger begannen abzufallen. Diese Krankheit

wurde an mich weitergegeben, so wurde ich krank. Aber ich bin dort

unten geheilt worden: meine [Vaters] Ahnen haben mich erlöst, ich bin

nun geheilt.

Tante: Also gib es nicht weiter, gib es nicht an deine Mutter und deine kleinen

Schwestern.

Kleines Mädchen: Wenn ich sie schnappe, schnappe ich sie, wenn ich sie berühre, berühre

ich sie, wenn ich es weitergebe, gebe ich es weiter: so ist das. Aber mir

geht es nun gut.

Tante: Deinen Husten, dein Würgen, deine Narben, deine Wunden, gib sie

nicht weiter…

Kleines Mädchen: Meine Mutter kümmert sich nicht genug um mich. [kehrt zurück in die

Unterwelt]

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Dieser kurze Ausschnitt demonstriert sehr gut die wiederkehrende Elemente dieser Dialoge

mit den Toten: die Klagen der Verstorbenen, die Entschuldigungen der Lebenden und ihre

Sorge, der Tod könne sich auf andere übertragen. Es werden Erinnerungen wachgerufen, die

Lebenden haben erneut eine Gelegenheit, auf ihre Beziehung zu den Toten Einfluss zu

nehmen und zu verhindern, dass diese ihnen Leid zufügen. Vitebsky meint deshalb, dass diese

Dialoge eine Art Psychotherapie sind, allerdings mit erheblich größeren Möglichkeiten als die

konventionelle westliche Psychotherapie (Vitebsky 1993: 16). Die Toten werden als Geister

zum einen in der unmittelbaren Lebenswelt, dem Dorf oder dem Dschungel, lokalisiert. Sie

sind somit nicht alleine, sondern haben ihren Platz unter den anderen Geistern. Dies, so

Vitebsky, erinnere die Trauernden daran, dass es sich beim Tod ihres Angehörigen nicht um

ein einzigartiges Schicksal handele, sondern um ein Ereignis, dass schon viele Male zuvor

stattgefunden habe (Vitebsky 1993: 17). Zum anderen können die Toten über die Schamanen

erneut zu den Lebenden gelangen. Bei diesen Gelegenheiten, so Vitebsky, erleben die

Trauernden ebenfalls, dass ihr Leid nicht einzigartig ist. Bei den Befragungen sprechen alle

Anwesenden mit den Toten, es ist ein kollektives Ereignis und der einzelne Trauernde spürt,

dass er mit seinen Erfahrungen und Gefühlen nicht alleine ist. Die Dialoge geben den

Empfindungen des Einzelnen einen Raum und stellen diese Empfindungen in Beziehung zu

der Trauer aller Anderen (Vitebsky 1993: 17). In seiner Interpretation der Ereignisse haben

die Rituale also nicht nur eine Wirkung auf das Schicksal der Toten, sondern vor allem auch

auf die Lebenden, die damit die Erfahrung des Todes verarbeiten können. Er ergänzt also die

oben angesprochene soziologische Erklärung, der zufolge die Todesrituale ein Sieg der

Gemeinschaft über den Tod herbeiführen sollen, durch eine psychologische Deutung: die

Rituale helfen dem Individuum, die Erfahrung des Todes eines nahestehenden Menschen zu

verarbeiten. Doch auch in Vitebskys Deutung spielt die Einbeziehung in eine Gemeinschaft

eine große Rolle. So verweist er darauf, dass durch die Rituale alle Beteiligten und alle

Aspekte des Toten vergesellschaftet werden: die Trauernden kommen in den Trauerritualen

zusammen; der Geist des Toten vereint sich mit anderen Geistern, die den gleichen Tod

gestorben sind, die Erinnerung an die Toten werden symbolisch am Platz der Steinsetzung

zusammengebracht und die Lebenden treffen sich mit den Toten in den Dialogen. Ein Aspekt,

den Vitebsky dabei meiner Ansicht nach etwas wenig beachtet, obwohl er offenbar auch bei

den Sora eine große Rolle spielt, ist das gemeinsame Speisen im Todesritual.

9. Das Speisen mit den Toten bei den Gadaba (Orissa)

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Mein Kollege Peter Berger von der Universität Groningen hat in seiner Arbeit über die

Gadaba dieser Bedeutung des Speisens im Trauerritual besondere Beachtung geschenkt

(Berger 2001, 2007). Wie die Sora sind auch die Gadaba ein Bergstamm im indischen

Bundesstaat Orissa. Wie die Sora gehen auch die Gadaba davon aus, dass der Geist des

Verstorbenen aus zwei Aspekten besteht (Berger 2001: 38, 2007: 258-9). Der eine Aspekt ist

die Lebensenergie des Verstorbenen, die Jibon genannt wird. Diese Energie verlässt den

Körper beim Tod, bleibt aber noch eine Weile mit dem zweiten Aspekt des Toten verbunden.

Dieser zweite Aspekt ist die Seele, also die persönliche Qualität des Toten. Sie wird Duma

genannt und ist der Gegenstand aller Totenrituale. Solange Lebensenergie und persönlicher

Geist noch zusammen sind, gilt der Geist des Toten als gefährlich. Mit der Zeit verlässt aber

die Lebensenergie die persönliche Seele und wird in einem Kind wiedergeboren (Berger

2001: 38, 2007: 262). Damit wird der Duma friedlicher.

Das Totenritual der Gadaba besteht im Wesentlichen aus fünf Ereignissen, bei denen die

Bewirtung des Duma sowie das gemeinsame Essen und Trinken eine zentrale Rolle spielen.

Der erste Anlass ist die Kremation des Leichnams. Wie bei den Sora wird der Leichnam

direkt nach dem Tod zum Verbrennungsplatz gebracht und verbrannt (Berger 2001: 39, 2007:

266). Das ganze Dorf ist daran beteiligt, die wichtigste Rolle spielen aber der Mutterbruder

sowie eine Gruppe von Verwandten, die Tsorubhai heißt (Berger 2001: 39, 2007: 266). Tsoru

bedeutet Opferspeise, Bhai Brüder. Es handelt sich also um Männer, die als Brüder gelten und

für die eigene Gruppe eine Opferspeise zubereiten. Das besondere an dieser Beziehung ist,

dass sie ganze Gruppen aneinander bindet und auf Dauer besteht, also von Generation zu

Generation weitergegeben wird (Berger 2007: 171-2). Beim Tod einer Person werden die

Tsorubhai seiner Gruppe herbeigerufen und helfen den Dorfmitgliedern bei der Verbrennung

des Leichnams. Wenn dies geschehen ist, treffen sich die Tsorubhai vor dem Haus des

Verstorbenen und kochen etwas Reis, der anschließend im Haus dem Geist des Toten

angeboten wird (Berger 2001: 41, 2007: 270). Diese Nahrungsgaben an den Duma werden in

den folgenden Tagen von den nächsten Verwandten fortgeführt. So wie diese Verwandten den

Duma ernähren, bewirten die Nachbarn die Trauernden, da diese nicht selbst kochen dürfen.

Das nächste wichtige Todesritual erfolgt meist am dritten Tag nach dem Tod, heißt

„Fischwasser“ und beinhaltet erneut Speisungen (Berger 2001: 41, 2007: 270). Wieder sind

daran die Tsorubhai beteiligt, die diesmal in einem Tontopf Reis und Fisch zubereiten. Sie

kochen dabei an einem Ort des Hauses, der mit den Totengeistern assoziiert ist: der Platz

unterhalb der Dachtraufe. Dieses Fischgericht sowie andere Speisen werden später zum

Verbrennungsplatz gebracht. Dort ruft man den Geist des Toten an, sagt ihm, was man

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mitgebracht hat und bittet darum, dass er niemandem Leid zufügen möge (Berger 2001: 42,

2007: 271). Nach der Rückkehr in das Haus wird der Duma erneut mit Speise versorgt, bevor

alle am Ritual beteiligten Verwandten gemeinsam trinken und essen. Am Ende dieses Rituals

gilt die Unreinheit, die mit dem Tod alle Haushaltsmitglieder betroffen hat, als beseitigt. Von

nun an dürfen sie wieder Fisch und Fleisch essen, man darf erneut kochen, sich waschen oder

seine Kleidung wechseln (Berger 2001: 42).

Das dritte rituelle Ereignis im Zusammenhang mit dem Tod heißt Bur und wird oft von

mehreren betroffenen Haushalten zusammen durchgeführt, da es für die Verantwortlichen

recht teuer ist (Berger 2001: 43). Es müssen für dieses zwei bis drei Tage dauernde

Totengedenken Rinder geopfert und ein Festessen gegeben werden. Da viele Gäste zum Bur

erwartet werden, machen die Angehörigen einen langen Graben, in dem Feuerholz entzündet

und auf dem mit großen Tontöpfen Reis gekocht wird. Bevor die Rinder geopfert werden,

rufen die Trauernden den Geist des Toten herbei, erklären ihm, dass sich alle ihm zu Ehren

versammelt haben und bitten erneut darum, dass er ihnen kein Leid zufügen möge (Berger

2001: 43, 2007: 273). Nach der Opferung ziehen alle Beteiligten erneut mit Gaben zum

Verbrennungsplatz, bewirten den Duma mit Reis, Bier und Schnaps und reden auf ihn ein

(Berger 2001: 44, 2007: 274-5). Dabei werden auch die vielen anderen Geister nicht

vergessen, für die man ebenfalls Speis und Trank verteilt. Wie beim Ritual am dritten Tag

wiederholt sich die Speisung des Duma bei der Rückkehr im Haus des Verstorbenen, diesmal

nur elaborierter. Wenn alle im Haus den Reis gegessen haben, den der Mutterbruder

zubereitet hat, darf auch der Rest des Dorfes mit dem Festessen beginnen (Berger 2001: 44).

Der Tag des Bur endet mit einem großen Trinkgelage, denn die Gäste müssen einen Besuch in

jedem Haus abstatteten, in dem sie Verwandte haben (Berger 2001: 45).

Nach etwa einer Woche erfolgt in einem vierten Schritt die letzte Bewirtung des Geistes,

erneut zunächst auf dem Verbrennungsplatz und dann im Haus. Damit ist die Sequenz der

Todesrituale aber noch nicht beendet, denn es muss noch das abschließende und größte

Ereignis stattfinden, das von den Bewohnern eines Dorfes in der Regel nur einmal in jeder

Generation gefeiert wird, das Gotr (Berger 2007: 284-307; siehe auch Pfeffer 1991, 2001).

Das wichtigste Ziel dieses Ereignisses besteht darin, die Geister der Toten des Dorfes ein für

allemal loszuwerden (Berger 2001: 45). Dies geschieht mit Hilfe von Wasserbüffeln. Etwa

drei Monate vor dem Ereignis werden die Geister der Toten am Verbrennungsplatz angerufen.

Dann wird für jeden Geist mindestens ein Wasserbüffel gekauft. Man füttert die Büffel in

einem Ritual mit Reis, durch den der Vorstellung nach die Geister der Toten in die Büffel

eindringen (Berger 2001: 45). Die Büffel sind nun quasi die Verkörperung der Duma. Am

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Haupttag des Gotr bringen verschiedene Verwandte aus anderen Dörfern große Steine, die auf

einer Plattform außerhalb des Dorfes aufgestellt werden. Auch die Büffel werden zu diesen

Steinen gebracht und Tausende von Menschen aus der ganzen Region versammeln sich an

diesem Ort (Berger 2001: 46). Es folgt ein recht blutiges Spektakel, bei dem ein einzelner

Büffel über die Felder gejagt und dabei getötet wird. Anschließend werden alle Büffel

losgebunden und von verschiedenen Verwandten mit in ihre Dörfer genommen werden, wo

man sie in den nächsten Wochen opfert und verspeist (Berger 2001: 46). Die Seelen der Toten

sind damit endgültig beseitigt.

Dieses Beispiel zeigt, welche Rolle Nahrung im Trauerprozess spielen kann. Essen und

Trinken sind hier zum einen eine Möglichkeit, um weiterhin einen Kontakt zwischen dem

Verstorbenen und den Trauernden herzustellen. Das Speisen bietet eine Gelegenheit, um mit

dem Toten zu sprechen und ihn zu besänftigen. Anders als bei den Sora haben die Gadaba

allerdings keine Möglichkeit, mit den Toten Dialoge zu führen. Auffällig ist aber, dass auch

bei den Gadaba die Trauernden nicht alleine gelassen werden. Vom ersten Tag an stehen

ihnen bestimmte Verwandte zur Seite, wie die Dorfmitglieder, der Mutterbruder und die

Tsorubhai. Betrachtet man den ganzen Prozess der Trauer von der Verbrennung bis zum Gotr,

wird deutlich, dass sowohl der Totengeist als auch die Trauernden in immer größere

Gemeinschaften einbezogen werden. Zunächst ist es nur ein betroffener Haushalt und die

jeweils engsten Verwandten, die an der Verbrennung des Leichnams und der Bewirtung des

einzelnen Totengeistes teilnehmen. Beim Opfern von Rindern anlässlich des Bur können sich

bereits mehrere Haushalte zusammenschließen und es werden viele auswärtige Gäste

erwartet. Beim größten Fest, dem Gotr, agiert das ganze Dorf zusammen und es kommen

Tausende Besucher aus der ganzen Region. Alle Totengeister eines Dorfes werden

gemeinsam gerufen, erhalten zusammen einen Steinplatz und werden schließlich mit den

Büffeln aus dem Dorf entfernt. Trauernde und Totengeister werden in diesem Prozess also

zunehmend vergesellschaftet, und dies vor allem durch das gemeinsame Essen und Trinken.

Die Zubereitung und der gemeinsame Verzehr von Nahrung schafft Beziehungen, zum

Beispiel zwischen den Brüdern, die sich Tsorubhai nennen, zwischen dem Geist des Toten

und seinen Verwandten, zwischen den Dorfbewohnern und ihren Gästen. Die Nahrung,

insbesondere der Reis, ist dabei auch nicht nur Speise, sondern auch das Medium, mit dem

der Totengeist auf den Büffel übertragen werden kann. Die Büffel geben den toten Seelen

ihren Körper, werden aber anschließend selbst getötet und verspeist. Die Gadaba eines Dorfes

geben den Gadaba anderer Dörfer ihre Toten, damit diese sie in Form der Büffel erneut töten

und verspeisen. Dies erinnert an die eben geschilderten Vorstellungen der Sora, denen zufolge

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die Toten erneut im Ahnenreich sterben und langsam verschwinden, aber ein Teil von ihnen

durch das Getreide, insbesondere den Reis, wieder zurück zu den Menschen kommt. In beiden

Fällen sollen Rituale also zum einen dafür sorgen, dass die Toten langsam verschwinden, zum

anderen wird versucht, die Essenz der Toten über die Nahrung für die Gemeinschaft zu

bewahren.

10. Das Entsorgen und Recyceln der Toten bei den Hindus

Einen vergleichbaren Prozess beschreibt der englische Ethnologe Jonathan Parry auch für die

Todesrituale der Hindus, die er in der nordindischen Stadt Benares dokumentiert hat (Parry

1985). Diese heilige Stadt wird jährlich von Tausenden Menschen aufgesucht, die dort sterben

möchten, um direkte Erlösung zu erfahren. Wer in Benares stirbt, wird an den Ufern des

Ganges verbrannt und seine Überreste werden dem Fluss übergeben, der den Vorstellungen

nach alle Sünden wegwäscht, die Seele reinigt und die Menschen vor der ewigen Wiederkehr

in dieses Leben bewahrt (Eck 1993: 32-42). In der Stadt hat sich ein ganzes Gewerbe um den

Tod entwickelt. Im Mittelpunkt dieses Gewerbes stehen die Totenpriester, die im Anschluss

an die Verbrennung die Rituale durchführen, welche dafür sorgen sollen, dass der Geist des

Toten zum Ahnen wird und in das Totenreich Eingang findet. Diese Totenpriester gehören

einerseits zur höchsten Kaste in Indien, zu den Brahmanen. Andererseits nehmen sie

innerhalb dieser Kaste einen sehr niedrigen Status ein, da sie mit dem Tod und darum mit

ritueller Unreinheit assoziiert werden (Parry 1985: 615).

Die von Parry beschriebenen Hindus gehen wie die Sora und die Gadaba davon aus, dass der

Geist des Toten direkt nach der Verbrennung gefährlich ist. Er ist durch die Verbrennung

erhitzt und durstig, hat aber keinen Körper mehr, um seine Bedürfnisse zu stillen (Parry 1985:

616). In diesem Zustand wird der Geist Preta genannt und von den Lebenden besonders

gefürchtet. Es ist nun die Aufgabe der nächsten Verwandten, insbesondere des Sohnes oder

eines anderen patrilinearen Verwandten, diesen Preta in einen Ahnen oder Pitru zu

verwandeln. Dazu werden Rituale durchgeführt, die im Wesentlichen aus drei Sequenzen

bestehen, bei denen jeweils sechzehn Reisbällchen gegeben werden (Parry 1985: 615).

Die erste Sequenz beginnt am Tag der Verbrennung und dauert zehn Tage. Dies ist die Zeit

der Unreinheit, während der der vom Tod betroffene Haushalt zahlreiche Einschränkungen

beachten muss. Bereits am Tag der Verbrennung werden die ersten sechs Reisbällchen an

verschiedenen Orten auf dem Weg vom Haus des Toten bis zum Verbrennungsplatz

ausgelegt. Diese Reisbällchen, so eine verbreitete Vorstellung, sollen böse Geister vertreiben,

die sich in der Nähe des Leichnams herumtreiben (Parry 1985: 616). Am Tag nach der

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Verbrennung treffen sich die engsten Verwandten des Toten zusammen mit dem

Haupttrauernden, der im Idealfall der älteste Sohn des Verstorbenen ist. Bei dieser Speisung

sitzen alle nach Süden gewandt, der Richtung des Todes, und essen zusammen Reis und

Linsen. Auch für den Geist des Toten, den Preta, wird Essen ausgebreitet und der

Haupttrauernde mischt seine eigene Speise mit dem Essen für den Toten. Laut Parry kann dies

als ein Verspeisen des Toten durch den Trauernden verstanden werden, ein Symbolismus, der

in den folgenden Ritualen immer wieder auftaucht (Parry 1985: 617). In den kommenden

zehn Tagen sollte dem Toten jeweils ein Reisbällchen angeboten werden, tatsächlich werden

aber meist alle zehn Reisbällchen am 10. Tag übergeben. Dieses Ritual findet immer

außerhalb des Hauses statt, meist an einem heiligen Teich oder an einem Flussufer. Der

Haupttrauernde legt die zehn Reisbällchen aus und wirft diese anschließend in das Wasser

oder verfüttert sie an eine Kuh. Parry argumentiert, dass diese Reisbällchen einen doppelten

Zweck haben: sie ernähren den Toten und geben ihm gleichzeitig einen neuen Körper. Am

zehnten Tag ist nun die größte Unreinheit beseitigt und viele Beschränkungen für die

Trauernden werden aufgehoben (Parry 1985: 617).

Die zweite Ritualsequenz erfolgt am 11. Tag nach der Verbrennung. An diesem Tag wird ein

Kalb freigelassen. Dies hat mit der Reise des Geistes in das Totenreich zu tun. Die Idee ist,

dass der 11. Tag dem 11. Monat der insgesamt einjährigen Reise in das Totenreich entspricht

(Parry 1985: 619). In diesem Monat gelangt der Geist des Toten an den schrecklichen Fluss

Vaitarni, welcher voller Blut und Exkremente sein soll. Der Tote muss diesen Fluss

überqueren und dabei soll ihm das Kalb helfen. Diese Szene wird im Ritual nachgespielt,

indem der Totenpriester das Kalb und der Haupttrauernde den Totenpriester festhält. Letztere

symbolisieren den Geist des Verstorbenen, der mit Hilfe des Kalbes durch den Vaitarni

gelangt (Parry 1985: 619). Auch an diesem 11. Tag werden wieder 16 Reisbällchen gegeben,

15 an verschiedene Gottheiten und zumindest einer an den Verstorbenen. Dabei riecht der

Haupttrauernde die Reisbällchen, ein Akt, der laut Parry symbolisch für das Essen steht.

Erneut verzehrt also der Trauernde die Speise des Totengeistes und gleichzeitig auch den

Körper, der dem Totengeist gegeben wird (Parry 1985: 620-1).

Die letzte Ritualsequenz erfolgt am 12. Tag, an dem zum dritten Mal 16 Reisbällchen

gegeben werden. Der Idee nach sollten diese 16 Reisbällchen über das ganze Jahr verteilt dem

Geist des Toten geopfert werden, um ihn während seiner Reise zum Totenreich zu ernähren.

Tatsächlich gibt man aber alle am 12. Tag, der symbolisch für den 12. Monat, also das Ende

der Reise steht (Parry 1985: 621). Der Geist bekommt einen neuen Körper, welcher der Idee

nach Elemente der Körper seiner Vorfahren enthält. Darum wird ein Reisbällchen genommen,

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das den Toten repräsentiert, und drei weitere, die für seinen Vater, Vaters Vater und Vaters

Vaters Vater stehen. Das Reisbällchen des Verstorbenen wird nun in drei Teile geschnitten

und jedes dieser Teile mit je einem der drei anderen Reisbällchen für die Vorfahren vermischt

(Parry 1985: 622). Der neue Körper des Toten wird also symbolisch mit den Körpern seiner

Vorfahren vereint. Manchmal werden schließlich alle in ein großes Reisbällchen vereint, eine

Repräsentation der Idee, dass der Tote sich mit den Ahnen vereint hat, in ihr Reich

aufgenommen wurde (Parry 1985: 623). Am Ende riecht der Haupttrauernde an dem oder den

Reisbällchen und verspeist sie damit erneut symbolisch. Noch stärker als zuvor wird damit die

Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass der Haupttrauernde nicht nur an der Nahrung des

Toten teilhat, sondern dessen Körper „verspeist“. Er inkorporiert also durch diese Speisung

ein Teil der Essenz des Toten, man möchte sagen, seine Lebenskraft. So soll laut den

Informanten von Parry die Frau des Trauernden, wenn sie von ihm das Reisbällchen zu essen

bekommt, einen Sohn empfangen (Parry 1985: 623).

Dieses Beispiel zeigt einige deutliche Gemeinsamkeiten mit den zuvor besprochenen

Ritualen. Erneut findet sich die Idee, dass der Geist nach dem Tod gefährlich ist und in einen

friedfertigen Ahnen verwandelt werden muss. Diese Aufgabe fällt den nächsten Verwandten,

also den Trauernden, zu. Wie der Totengeist befinden auch sie sich in einer Übergangsphase,

markiert durch die Beschränkungen, die ihnen aufgrund ihrer Unreinheit auferlegt ist. Wie in

den anderen Beispielen gilt auch hier, dass die Trauernden Rituale durchführen müssen, damit

der Geist des Toten von den Lebenden loslässt, um in die Gemeinschaft der Ahnen

aufgenommen zu werden. Parallel zu diesem Prozess verlieren auch die Trauernden ihre

Unreinheit und werden wieder in die Gemeinschaft integriert. Wie in den vorangegangen

Beispielen spielt die Nahrung eine zentrale Rolle. Wie beim Gotr der Gadaba, bei dem Reis

und Büffel gleichzeitig Nahrung und Körper des Toten repräsentieren, geht es auch hier

darum, den Geist zu ernähren und ihn zu verkörpern. So wie die Gadaba die in den Büffeln

enthaltenen Seelen essen, so verspeisen auch die Hindus symbolisch den Geist des Toten,

wenn sie an den Reisbällchen riechen. Auch wenn die Rituale der Gadaba und Hindus im

Detail sehr unterschiedlich sind, scheinen sie doch alle eine Botschaft zu haben: Trauerarbeit

besteht darin, die Toten zu „entsorgen“, ihnen also einen Platz fern von den Lebenden zu

geben, und sie gleichzeitig zu „recyclen“ (Parry 1985: 627), also ihre positiven Kräfte wieder

in die Gemeinschaft zu integrieren. Es geht um das Vergessen der Person und das Bewahren

ihrer Kraft.

11. Essen zum Gedenken der Toten in Kyrgyzstan

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Dies unterscheidet diese Beispiele aus Indien vielleicht von meinem vierten und letzten

Beispiel, den Todesritualen in Kyrgyzstan. In diesen Ritualen kommt zum Ausdruck, dass die

Menschen die Toten nicht vergessen, sondern im Gegenteil, immer wieder ihrer gedenken

wollen. Auf diesen interessanten Unterschied hat mich eine Tübinger Magisterstudentin

(Vivienne Marquardt) hingewiesen, die die Rolle des Essens in den Todesritualen der Azeris

in Azerbaidschan untersucht. Ihrer Beobachtung nach führen die Azeris im Anschluss an den

Tod immer wieder Speisungen durch, die den Zweck haben, dem Toten zu gedenken. Das

Gleiche gilt auch in Kyrygyzstan, wo ich ein Jahr Feldforschung zu Bestattungsritualen

durchgeführt habe (Hardenberg im Erscheinen, 2010, 2009a, 2009b). Wenn im nördlichen

Kyrgyzstan ein Mensch stirbt, wird sein Leichnam nicht sofort am gleichen Tag bestattet.

Stattdessen beginnt eine dreitägige Trauerzeit, in der alle Verwandten, Freunde, Nachbarn

und Bekannte ausführlich Abschied nehmen. Direkt nach dem Tod setzt das laute und weithin

hörbare Klagen der Frauen ein. Die männlichen Verwandten bemühen sich sofort, eine Jurte

zu finden, denn obwohl inzwischen die meisten Kirgisen in festen Häusern in Dörfern und

Städten wohnen, muss der Abschied von den Toten in einer Jurte erfolgen. Die Jurte wird

meist vor dem Haus aufgebaut, so dass jeder sie sehen kann. Dann wird der Leichnam

hineingelegt, auf die rechte Seite vom Eingang, wenn es sich um eine Frau handelt, auf die

linke im Falle eines Mannes. In den nächsten drei Tagen herrscht hektische Aktivität. Alle,

die in Beziehung zum Toten und seinen Angehörigen stehen, werden über den Tod informiert,

früher mit Boten, heute viel schneller über das Telefon. Auch wer weit weg wohnt oder

eigentlich keine Zeit hat, wird sich verpflichtet fühlen, sofort zu kommen. Die Menge der

Trauergäste ist ein Zeichen für den Status des Verstorbenen und je mehr Menschen von ihm

Abschied nehmen, so die Vorstellung, desto leichter wird seine Seele Frieden finden.

Die Mitglieder des Haushalts des Verstorbenen sowie die engsten patrilinearen Verwandten

haben in den nächsten drei Tagen, also bis zu Beerdigung des Leichnams, die Aufgabe, zu

trauern. Die weiblichen Verwandten setzten sich dazu in die Jurte um den Leichnam,

bisweilen auch in eine Nachbarjurte oder in das Haus, weil sie den Leichnam fürchten. Sie

stimmen Klagelieder an, in denen sie die guten Eigenschaften der verstorbenen Person sowie

ihr eigenes Leid zum Ausdruck bringen. Während die nahen weiblichen Angehörigen im

Inneren der Jurte sitzend trauern, stehen die engsten männlichen Verwandten draußen an der

Jurtenwand und weinen. Die ganzen drei Tage wird dieses Klagen und Weinen innerhalb- und

außerhalb der Jurte fortgesetzt, nur in der Nacht dürfen die Angehörigen sich ausruhen. Da sie

selbst nicht kochen, bringen ihnen die Nachbarn Nahrung, die meist flüssig ist, weil sie dann,

so die Vorstellung, besser weinen können.

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Während dieser drei Tage kommen ununterbrochen Trauergäste zur Jurte. Wenn es sich um

Männer handelt, werden sie sich der Jurte in gebeugter Haltung nähern und sobald sie in

Sichtweite sind, eine Klage mit den Worten „es kajran boorum oj“ anstimmen, was so viel

wie „Es ist traurig, dass ich eine nahestehende Person verloren habe“ bedeutet. Sobald sie zu

den Männer an der Jurte kommen, geben sie ihnen die Hand oder, wenn sie ihnen sehr nahe

stehen, legen die Köpfe aneinander oder umarmen sich. Man tauscht kurz einige

Beileidsbekundungen aus, dann werden die männlichen Trauergäste ins Haus gebeten und

dort mit Tee und Gebäck versorgt. Diese Bewirtung wird von den Frauen durchgeführt, die in

die Verwandtschaftsgruppe des Verstorbenen eingeheiratet haben. Diese Kelin decken in

verschiedenen Räumen des Hauses die Tische, stellen Gebäck her, machen Tee und bewirten

die Trauergäste den ganzen Tag über. Wenn weibliche Trauergäste kommen, begeben sich

diese zu den klagenden Frauen ins Innere der Jurte. Sie setzten sich zu ihnen, weinen

zusammen und trösten sie. Dann verteilen sie verschiedene Stoffe wie Kleider und Hemden

an die Frauen innerhalb und die Männer außerhalb der Jurte. Diese Gaben werden von einer

Kelin eingesammelt und an einem Ort in der Jurte oder in einem Raum im Haus bis zur

Abreise der Trauergäste aufbewahrt, bei der diese dann im Gegenzug Kleidergaben

zurückerhalten. Nachdem sie mit den Frauen geklagt und sich von dem Leichnam

verabschiedet haben, gehen auch die weiblichen Trauergäste ins Haus, wo sie getrennt von

den Männern mit Tee und Gebäck bewirtet werden.

Am zweiten Tag nach dem Tod werden Tiere im Namen des Verstorbenen geschächtet. Dazu

versammeln sich alle nahen männlichen Verwandte, Freunde und Nachbarn am Haus des

Toten. Je nach Ansehen und ökonomischen Status des Verstorbenen und seiner Angehörigen

werden verschiedene Tiere und in unterschiedlicher Anzahl geopfert. So wurden etwa für

einen bedeutenden Mann des Dorfes, in dem ich die Hauptzeit meiner Forschung verbracht

habe, bei seinem Tod vier Pferde, zwei Kühe und zwei Schafe geschächtet. Diese Opfer

werden von der Familie des Verstorbenen finanziert und von seinen engsten patrilinearen

Verwandten durchgeführt. Man versammelt sich im Garten oder Hof, ruft Allah an und betet

gemeinsam für die Seele des Verstorbenen, bevor man den Tieren die Kehle durchschneidet

und sie zur Reinigung ausbluten lässt. Die Männer zerteilen anschließend das Tier nach einem

genauen Plan und beginnen, die Fleisch- und Knochenstücke in großen Töpfen zu kochen,

während ihre Frauen die Innereien der Tiere auswaschen und später den Kochtöpfen zufügen.

Das Kochen dauert oft bis zum frühen Morgen des dritten Tages. An diesem Tag wird der

Leichnam bestattet. Dazu kommt ein islamischer Priester, ein Moldo, und gibt Anweisungen

für die Waschungen des Leichnams. Diese Waschungen werden von Frauen für eine

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weibliche Tote, von den Männern für einen männlichen Toten durchgeführt. Nicht jeder fühlt

sich in der Lage, diese Waschungen durchzuführen, viele haben Angst vor dem Leichnam. In

dem Dorf, in dem ich geforscht habe, gab es ein System, demzufolge jede große ansässige

Verwandtschaftsgruppe eine Person zur Waschung bereit stellen muss. Nach dem Waschen

wird der Leichnam in ein frisches Leichentuch gewickelt und mit Samt bedeckt. Inzwischen

müssen sich alle Trauergäste versammelt haben, die Frauen im Hof des Hauses, die Männer

auf der Straße. Die engsten Verwandten dürfen noch einmal in die Jurte gehen und Abschied

nehmen, dann wird der Leichnam mit einer Bahre auf die Straße getragen und auf einen

Teppich gelegt. Die Männer des Dorfes beten zusammen mit dem Moldo für den Toten, dann

heben sie die Bahre an und tragen sie zum Friedhof, unter dem lauten Klagen der Frauen, die

zurückbleiben, da die Beerdigung eine Angelegenheit der Männer ist.

Der Leichnam wird in einer Prozession, an der alle männlichen Bewohner des Ortes

teilnehmen sollten, über die Hauptstraßen getragen und dann schließlich zum Friedhof

gebracht, wo in den letzten Tagen einige ausgewählte Dorfbewohner das Grab ausgehoben

haben. Während die Männer die Leiche beisetzten, beginnen die Frauen im Haus zu speisen.

Es sitzen immer sieben Frauen zusammen und teilen sich Fleisch und Nudeln. Wie später

auch bei den Männern bekommt jede Frau ihrem Status gemäß ein bestimmtes Fleisch- bzw.

Knochenstück. Sie wird etwas davon essen, einen Teil für sich beiseitelegen und den Rest des

Fleisches in die gemeinsame Schüssel geben. Dieses geteilte Fleisch wird klein geschnitten,

mit Nudeln vermengt, mit Brühe übergossen und dann von allen sieben Frauen zusammen aus

einer Schüssel gegessen. Dies heißt auf Kirgisisch Beshparmak, wörtlich übersetzt „fünf

Finger“, denn alle verzehren diese Speise mit ihrer rechten Hand. Das restliche Fleisch, die

Knochen sowie das Gebäck werden auf Tüten verteilt und später von den Frauen mit nach

Hause genommen. Diese Speisereste werden an die Mitglieder der eigenen Familie, vor allem

die Jüngeren, die bei einer Bestattung meist nicht teilnehmen, verteilt. Wenn die Männer von

der Beerdigung zurückkommen, verteilen sie sich auf die verschiedenen Räume des Hauses

sowie der Häuser der Nachbarn. Entsprechend ihrer verwandtschaftlichen Beziehung zum

Verstorbenen bekommen auch sie verschiedene Fleischstücke, die sie aber auf die gleiche

Weise teilen und essen wie zuvor die Frauen. Der Tag endet mit gemeinsamem Koranlesen

für den Toten, dann gehen alle nach Hause und verteilen das mitgebrachte Essen.

Was ist die Bedeutung dieser Speisungen? Mir wurden drei Ideen genannt. Zum einen heißt

es, dass die Verstorbenen an den Speisungen teilnehmen. Sie sind in der Lage, das Essen zu

riechen und damit im übertragenen Sinne die Speisen zu verzehren. Zum anderen wird gesagt,

dass die Seele des Verstorbenen Frieden findet, wenn viele Menschen ihrer Gedenken. Desto

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mehr Personen kommen, um an den Speisen teilzuhaben und für den Verstorbenen zu beten,

desto besser ist dies für die Seele. Zum dritten sammeln die Teilnehmenden durch ihre Trauer

Verdienste an. Die Waschungen, das Grab schaufeln, das Tragen des Leichnams, die

Zubereitung des Essens, die Gebete, auch das Essen selbst – all dies sind verdienstvolle

Handlungen. Diese Verdienste, so die Vorstellung, können über das Essen übertragen werden.

Wenn also die jungen Familienmitglieder zu Hause die Speisen vom Totenmahl verzehren,

dann haben sie an dem Verdienst teil, der mit dem Bestattungsritual einhergeht. Die Seele

wird also durch Speisen ernährt und findet durch die Gebete ihren Frieden, im Gegenzug

segnet der Verstorbene die Speisen.

Diese besondere Rolle des Essens in der kirgisischen Trauerarbeit ist nicht auf die drei Tage

der Bestattung beschränkt. Am 3. und 7. Tag nach dem Tod wird innerhalb eines engeren

Kreises von Verwandten erneut zusammen gegessen und des Verstorbenen gedacht. Am 40.

Tag, der das Ende der Unreinheit nach dem Tod markiert, kommt wieder ein größerer Kreis

von Verwandten zusammen, um zusammen ein Schaf zu schächten und gemeinsam zu

speisen. An jedem der kommenden Donnerstage, manchmal bis zu einem Jahr nach dem Tod,

werden im Haus der Trauernden Speisen ausgebreitet, des Verstorbenen gedacht und

zusammen gegessen. Nach einem Jahr schließlich findet noch einmal ein großes Trauerfest

(asch) statt, bei dem ein Grabstein errichtet und weitere Tieropfer zum Gedenken gebracht

werden. Damit gerät der Tote aber nicht in Vergessenheit. Jedes Jahr, am Todestag,

versammeln sich die engsten Verwandten am Grabstein, um für den Toten zu beten.

Anschließend gehen sie zurück ins Haus, schächten ein Schaf, bereiten Speisen zu und essen

zusammen. Dies wird mürzö tamak genannt, wörtlich die „Friedhofsspeise“, und dient

ausdrücklich dem Gedenken an die Seele des Toten. Auch wenn meine Informanten es so

nicht direkt ausgedrückt haben, verstehe ich das Gebet am Grab als eine Art Einladung, zur

Speisung ins Haus zu kommen. Die Seele wird also über das Essen einmal im Jahr wieder

durch Kommensalität, also durch das Essen, in die Gemeinschaft der Speisenden, einbezogen.

Dadurch wird eine Beziehung aufrecht erhalten, manchmal über Jahrzehnte. Der Grund

scheint mir zu sein, dass die Seelen der Verstorbenen zu Ahnen (arbaktar) werden, die einen

guten – und, wenn vernachlässigt, auch einen schlechten - Einfluss auf die Lebenden haben

können.

12. Schlussfolgerungen

Dieses letzte Beispiel macht uns erneut deutlich, dass Trauer in vielen Gesellschaften eine

soziale, kollektive Angelegenheit ist. So wie sich die engsten Angehörigen um die Seele und

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den Leichnam des Verstorbenen kümmern, so sorgt sich die größere Gemeinschaft um den

Kreis der nahen Verwandten. Der Tod zerreißt das Band zwischen Geist und Körper,

zwischen Individuum und Angehörigen und zwischen Angehörigen und Gemeinschaft. Alle

befinden sich in einer Ausnahmesituation und müssen wieder integriert werden. Dabei kann

der alte Zustand nicht wieder hergestellt werden: die Seele bleibt auf immer von ihrem alten

Körper getrennt, der Körper verwest und die Angehörigen können ihren Verlust nicht

rückgängig machen. Es muss also etwas Neues geschaffen, neue Bande geknüpft werden, und

dies geschieht in Ritualen, die entsprechend ihrer schwierigen Aufgabe oft mühsam,

langwierig und kollektiv sind. Es bedarf vieler gemeinsamer Arbeiten und des Einsatzes

großer ökonomischer Mittel, um alle Aspekte des Toten in neue Gemeinschaft zu überführen.

Die Seele muss ihren Platz unter den Ahnen bekommen, der Leichnam muss am Ort der

Toten aufgenommen werden und die verschiedenen Aspekte der sozialen Person des

Verstorbenen müssen erneut unter den Lebenden verteilt werden. Aus emotionaler Hinsicht

gilt es, Schrecken und Leid zu verarbeiten, die der Tod angerichtet hat. In allen vier hier

beschriebenen Kulturen wird dies als Prozess verstanden, in dessen Rahmen ein gefährlicher

Geist zu einem benevolenten Ahnen wird. Dieser unsichtbare Prozess wird am Beispiel des

Körpers des Verstorbenen sichtbar gemacht: an die Stelle des vergänglichen Leichnams treten

die dauerhaften Knochen oder die unvergänglichen Steine, die zur Erinnerung aufbewahrt

bzw. aufgestellt werden. Wie Thomas Macho treffend feststellt, helfen Rituale durch eine Art

„Skelettierungspraxis“ bei der individuellen Bewältigung des Verlustes:

„Was in der Trauerzeit verwest und schließlich zu wenigen, starren, unveränderlichen

Symbolen gerinnt, ist das Bild des Toten selbst – seine Erinnerung an das Leben, sein

Aussehen, seine Taten. Während zunächst noch allerlei Assoziationen, ambivalente

Empfindungen, verworrene Schuldgefühle, Tagträume und plötzlich auftretende

Halluzinationen das Bewusstsein plagen mögen, kommt es langsam zu einer Verknöcherung,

zu einer kathartischen ‚Kristallisierung‘ der Erinnerung, die auch in den Steinen, die für den

Toten errichtet werden, ihren angemessenen Ausdruck findet“ (Macho 2002: 416, zit. in

Moebius & Papilloud 2007: 34).

Die hier behandelten Beispiele zeigen nur ein kleines Spektrum an möglichen Variationen in

der kulturellen Verarbeitung des Todes in nicht-westlichen Gesellschaften. Es haben sich aber

einige Gemeinsamkeiten gezeigt, von denen die wichtigste vielleicht folgende ist: anders als

in unserer eigenen Gesellschaft werden Verstorbene und Angehörige nicht alleine gelassen.

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Die Gemeinschaft hilft ihnen bei ihrem schweren Übergang durch Rituale, also durch

gemeinsames und reguliertes soziales Handeln. Dabei spielt sehr häufig die Möglichkeit eine

Rolle, mit den Toten weiterhin kommunizieren und interagieren zu können. Sie sind nicht ein

für alle Mal verschwunden, man kann noch mit ihnen reden oder sie zu einem gemeinsamen

Mahl einladen. Das Abschiednehmen wird so zu einem langsamen und gemeinschaftlichen

Prozess.

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