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Krankheitsgruppe und Krankheitseinheit. Von Dr. Max Serog, Nervenarzt in Breslau. L Das diagnostische System~). (Sein Nutzen, seine Schwierigkeiten und die prinzipiellen Grenzen seiner Leistungsf~higkeit.) (Eingegangen am 12. Oktober 1922.) Wenn der Chirurg in einem Falle etwa eine ,,Radiusfraktur durch Fall auf die Hand" diagnostiziert, so ist dieser einzelne Krankheitmfall damit fiir das medizinische Erkennen v511ig determiniert. Denn Art und Sitz des Krankheitsprozesses mind eindeutig bestimmt, auch dam urs~chliche Moment ist scharf umgrenzt. Je weniger diese Bestimmtheit des einzelnen Falles vorhanden imt -- also sehon bei manehen inneren, mehr noch bei vielen Nerven-, vor allem bei den psychischen Erkran- kungen --, desto mehr besteht das Bestreben, die einzelne Erkrankung dadurch der Erkenntnis nKherzubringen, dab man ann~hernd gleiche Krankheitserscheinungen zu Krankheitmeinheiten, zu ,Krankheiten" zusammenfaBt. Aber hierbei ergeben sich mancherlei Sehwierigkeiten. Die Zusam- menfamsung in einer Kategorie muB nach wesentlichen Merkmalen erfolgen. Bei Krankheitsformen, deren Natur noeh wenig bekannt, deren Klassifikation also gerade besonders notwendig ist, kann es abet oft nicht leieht sein, festzumtellen, welche von den vorhandenen Krank- heitsmerkmalen als wesentliche zu betrachten sind. Hieraus ergibt sich, daB, je notwendiger die Schaffung wm Krankheitseinheiten oder -gruppen in irgendeinem Falle ist, desto schwieriger auch stets ihre praktische Durchfiihrung wird. Die Pmyehiatrie bietet dafiir ein Beispiel. 1) Wenn die bier zun/~chst folgenden ErSrterungen rein theoretischer Natur sind, so waren in Wirklichkeit doch nicht diese, sondern die Tatsachen auf dem Gebiete der ,,nervSsen" Erkranknngen, yon denen der zweite Teil dieser Aus- einandersetzungen handelt, der Ausgangspunkt der hier entwickelten Anschauungen. Wenn ich hier den Weg in umgekehrter Richtung gehe, wie ich ihn selbst zuriick- gelegt, so gesehieht dies gewissermaBen aus didaktischcn Criinden, der Klarheit und l~bersichtlichkeit der Darstellung zuliebc.

Krankheitsgruppe und Krankheitseinheit

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Krankheitsgruppe und Krankheitseinheit.

Von Dr. Max Serog,

Nervenarzt in Breslau.

L Das diagnostische System~). (Sein Nutzen, seine Schwierigkeiten und die prinzipiellen Grenzen seiner

Leistungsf~higkeit.)

(Eingegangen am 12. Oktober 1922.)

Wenn der Chirurg in einem Falle etwa eine ,,Radiusfraktur durch Fall auf die Hand" diagnostiziert, so ist dieser einzelne Krankheitmfall damit fiir das medizinische Erkennen v511ig determiniert. Denn Art und Sitz des Krankheitsprozesses mind eindeutig bestimmt, auch dam urs~chliche Moment ist scharf umgrenzt. Je weniger diese Bestimmtheit des einzelnen Falles vorhanden imt -- also sehon bei manehen inneren, mehr noch bei vielen Nerven-, vor allem bei den psychischen Erkran- kungen --, desto mehr besteht das Bestreben, die einzelne Erkrankung dadurch der Erkenntnis nKherzubringen, dab man ann~hernd gleiche Krankheitserscheinungen zu Krankheitmeinheiten, zu ,Krankhe i ten" zusammenfaBt.

Aber hierbei ergeben sich mancherlei Sehwierigkeiten. Die Zusam- menfamsung in einer Kategorie muB nach wesentlichen Merkmalen erfolgen. Bei Krankheitsformen, deren Natur noeh wenig bekannt, deren Klassifikation also gerade besonders notwendig ist, kann es abet oft nicht leieht sein, festzumtellen, welche von den vorhandenen Krank- heitsmerkmalen als wesentliche zu betrachten sind. Hieraus ergibt sich, daB, je notwendiger die Schaffung wm Krankheitseinheiten oder -gruppen in irgendeinem Falle ist, desto schwieriger auch stets ihre praktische Durchfiihrung wird. Die Pmyehiatrie bietet dafiir ein Beispiel.

1) Wenn die bier zun/~chst folgenden ErSrterungen rein theoretischer Natur sind, so waren in Wirklichkeit doch nicht diese, sondern die Tatsachen auf dem Gebiete der ,,nervSsen" Erkranknngen, yon denen der zweite Teil dieser Aus- einandersetzungen handelt, der Ausgangspunkt der hier entwickelten Anschauungen. Wenn ich hier den Weg in umgekehrter Richtung gehe, wie ich ihn selbst zuriick- gelegt, so gesehieht dies gewissermaBen aus didaktischcn Criinden, der Klarheit und l~bersichtlichkeit der Darstellung zuliebc.

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Eine weitere Sehwierigkeit liegt darin, dab als wesentlicher Gesiehts- punkt bei der Klassifizierung nieht nur gleichartige Erscheinungsformcn der Erkrankung im bestimmten Moment, sondern auch gleichsinnige Ver~nderungen derselben, d.h. also der ganze Krankheitsverlauf in Betracht gezogen werden muB. AuBerdem mul3 das ursi~chliche Moment mit beriieksichtigt werden. Hierbei handelt es sich aber im einzelnen Falle h~ufig um einen Komplex von Ursachen verschiedener Wertig- keit, zu dessen Erkenntnis gerade die neuere Zeit viel beigetragen hat (z. B. in der Betonung des konstitutionellen Moments auch bei exogenen Erkrankungen). Dazu kommt weiter, daB, wie bekannt, gleiche Krank- heitserscheinungen oft auf verschiedene Ursachen zurfickzuftihren sind, w~hrend umgekehrt auch die gleichen Ursachen verschiedene Krankheitsformen hervorrufen kSnnen. Von noch gr6Berer Bedeutung ist aber in diesem Zusammenhang die Tatsaehe, daB, was zun~chst Krankheitseinheit, ,,Krankheit" sui generis war, mit der fortschrei- tenden Erkenntnis nun h~ufig nur noch ein bestimmter Symptomen- komplex ist, der bei den verschiedensten Krankheiten vorkommen kann. Die Entwicklung geht anseheinend dahin, die ,,Krankheiten" zum groi3en Tell in solehe ,,Symptomenkomplexe" aufzul6sen; sie ging z. B. von ,,Fieber" oder den Monomanien (dem ,,GrSi3enwahn"), die sie als besondere Krankheit entthronte, bis zur Katatonie und Depression, von denen sie ebenfalls zeigte, dab sie als Krankheitserscheinungen bei den allerversehiedensten Erkrankungen auftreten k6nnen. DaB auch der Krankheitsbegriff der Hysterie den Weg dieser allmi~hlieh sich selbst auflSsenden Entwieklung geht, und daB jedenfalls heute mit Recht auch sehon yon (,iner symptomatischen Hysterie gesprochen werden muB, soil im II. Teil n~her ausgeffihrt werden.

Alles bisher Erwi~hnte zeigt die Schwierigkeiten, die der Ausbildung und Anwendung eines diagnostischen Systems im einzelnen Falle ent- gegenstehen. Abet viel schwerwiegender und in ihrer Bedeutung weit- reichender ist die Frage, wieweit grunds~ttzlich ein System yon Krank- heitsgTuppen fiberhaupt den klinischen Tatsachen gerecht werden kann. Die Frage aber: Was kann iiberhaupt ein diagnostisches System ffir (lie Erkennung yon Krankheitszusti~nden leisten, ist deshalb so wichtig, weil erst mit der richtigen Erkenntnis dieser Leistungsf~higkeit auch die Erkenntnis der Grenzen dieser Leistungsf/~higkeit gegeben ist. Gerade heute erscheint es mir besonders notwendig, dab man sich einmal klar zu werden versucht fiber die Grundmauern, auf denen unser diagnostisch-medizinisches Geb~ude ruht, fiber seine Grund- mauern und damit fiber deren Tragfi~higkeit Die letzte Entwicklung der medizinischen Wissenschaft hat zu Kenntnissen und Einsichten geffihrt, die sich mit der alten Grundlage nicht mehr vereinigen lassen, weil diese Kenntnisse und Einsichten nicht nur an dem Prinzip unser(,s

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Systems der Krankheiten, sondern bis zu einem gewissen Grade an solcher Systematisierung iiberhaupt zu rfitteln drohen. Aueh dort, wo man im Einzelfalle den hieraus sieh ergebenden Sehwierigkeiten praktiseh Reehnung zu tragen suchte, ist man sieh doeh niemals fiber den eigentliehen und tieferen Grund dieser Sehwierigkeiten theoretiseh klar geworden. Diese Unklarheit hat aber bei wesentliehen Problemen eine falsehe Fragestellung und damit eine Ersehwerung ihrer L6sung bedingt.

Bei der Er6rterung der Frage: was leistet ein diagnostisehes System fiir die Erkenntnis yon Krankheitszusti~nden oder -- genauer ausge- driiekt -- : welche Bedeutung hat die Umgrenzung gewisser krankhafter Zustgnde als Krankheitseinheit, d .h . , ,Krankheit", oder Krankheits- gruppe Ifir die Einsieht in das Wesen dieser Zustgnde, mfissen wir uns folgendes klarmaehen:

Was die Natur uns an , ,Krankheiten" bietet, ist zuni~ehst niehts als eine Ffille krankhafter Einzelzustiinde yon verwirrender Mannig- faltigkeit. Diese Fiille der Einzelerseheinungen wgre Ifir uns uniiber- sehbar und daher unverstiindlieh, wenn wir sie nieht in das Schema eines gewissen Systems bri~ehten und uns damit aus der verwirrenden Vielfi~ltigkeit eine klare Einheitliehkeit sehfifen. Aber jede dieser Einzel- erseheinungen ist doeh ffir sieh eine Individualitgt, so kompliziert und differenziert, dab eigentlieh nur die besondere Analyse jeder dieser Einzelerseheinungen sie unserem Verstiindnis v611ig ersehliel3en k6nnte. Ordnen wir sie nun, wie wir das eben tun mfissen, einem System von Krankheiten ein, so wird das immer wie bei jeder Einordnung nur da- dutch m6glieh sein, dab dabei das Individuelle, das der Einzelerseheinung B~,sondere, darin zu~fiektritt. Wir kommen also zu einer bis zu einem gewissen Grade sehematisehen Zusammenfassung, die eben dadureh, dab sie das Wesentliehe gewisser Einzelerseheinungen zusammenfagt, Besonderheiten dieser Einzel~,rseheinungen nieht mehr gereeht werden kann. Steht dieses Schema unter dem Namen irgendeiner bestimmten Krankheit oder Krankheitsgruppe aber erst einmal fest, dann sind wit nur allzuleieht geneigt, das yon uns ffir bestimmte klinisehe Tatsaehen geformte Gerfist fiir diese Tatsaehen selbst zu nehmen. Vor allem besteht die Gefahr, dab irgendwelehe neue Tatsaehen, sobald ihre Zugeh6rigkeit zu einer bestimmten einheitliehen Gruppe von bekannten Tatsaehen wahrseheinlieh oder erwiesen ist, nun nieht mehr blog an und ffir sieh, sondern unter dem Gesiehtspunkte der betreffenden Tatsaehengruppe betraehtet werden, um sehliel~lieh in das Prokrustesbett dieser bestimm- ten Krankheitsdiagnose gezwgngt zu werden.

Dazu kommt noeh ein weiteres: Die Natur bietet uns in allen den vorkommenden Krankheitszusfitn-

den nieht nur eine Ffille von Einzelerseheinungen, .~ondern aueh unzith-

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lige Vsrbindungen zwisehen allen diesen Einzelerscheinungen. In Wirk- lichkeit sind es nicht Einzelerseheinungen, die, losgelSst, fiir sich allein aufragen, sondern Kstten, wo alles mit allem, wenn nicht direkt, so doch mittelbar in irgendeinem Zusammenhang steht. Um solche Zusammenh~nge dort, wo sis besonders enge sind, klarer herauszuheben, wird ja nun gerade mit Hills des diagnostischen Systems ein kiinstlieher Schnitt durch diese mannigfachsn Erscheinungsketten gelegt. Aber dieser Schnitt bleibt eben doch immer ein kiinstlicher. Und wenn er auf der einen Seite das Vorhandensein yon Zusammenh~ngen starker betont, so muB er, eben um das tun zu kSnnen, auf der anderen Seite bestehende Zusammenhange wieder vernachl~ssigen und kiinstlich trennen, was in der Natur doch irgendwo und irgendwie miteinander verbunden ist. Es liegt also im Wssen jedes diagnostischsn Systems, dab es die natiir- lichen Zusammenh~nge der Erscheinungen, zu deren Einordnung es dient, einseitig unterstreieht bzw. vernaehlgssigt. Es muff daher ]edes diagnostische System, ]ede Einteilung krankha/ter Zustiinde in Krankheiten oder Krankheitsgruppen eine ki~nstliche Verschiebung der nati~rlichen Zusammenhangsdichte der /Einzelerscheinungen zur notwendigen _~olge haben. ~1

Fassen wir zum SchluB dieser Betrachtung ihr Ergebnis nochmals zusammen, so kSnnen wir etwa sagen:

Die systematische Einordnung der klinischen Einzeltatsachen in das Schema einer ,,Krankheit" ist zun~chst notwendig fiir das Ver- st~ndnis dieser Einzeltatsachen. Die Leistungsf~higkeit dieses diagno- stischen Systems der Zusammenfassung in Krankheiten oder Krankheits- gruppen fiir die E:kenntnis der einzelnen Krankheitszust~nde wird aber dadurch beeintr~chtigt, einmal, dab es bei der Zusammenfassung des Wesentlichen aller Einzelerscheinungen den Besonderheiten dieser Einzelerseheinungen nicht immer geniigend gerecht werden kann, zum anderen, dab es bei der Heraushebung und Vereinigung vsrwandter Einzelerscheinungen unter besonderer Betonung der zwischen ihnen bsstehendsn Verbindungen solche Verbindungsn, die auBerdem noch nach andersn Seiten hin bestehen, vernaehl~ssigt oder zerreiBt.

So kann das diagnostische System, urspriinglich sin Mittel zur Er- kenntnis des einzelnen krankhaften Zustandes, spgter gelegentlich geradezu ein Hindernis fiir diese Erkenntnis bilden. Es besteht die Gefahr, dab neue Tatsachen dem System angepaBt werden, anstatt umgekehrt das System neuen Tatsachen. Es wird also der Kenntnis neuer Tatsachen und neuer ELkenntnis in dem Zusammenhang der Tatsachen fortsehreitend Rechnung getragsn werden miissen in der Struktur des diagnostischen Systems. Damit aber muB dieses immsr mehr yon seiner gewissermaBen normativsn Bedeutung verlieren.

Z. L d. g. Neur. u. Psych. LXXXL 11

162 M. Serog:

II. Diagnostisehes System und Nervenkrankheiten.

(Zusammenhi~nge und ~ b e r g ~ n g e . - Die Stellung der funktionellen, ins- besondere der vasomotorisch-nervSsen StSrungen als Mittelglied zwischen

psychogen und organisch. - - Die symptomatische Hysterie.)

Die vorliegenden Betrachtungen haben, wie bereits erw~thnt, eine besondere Bedeutung fiir das Gebiet der Nerven- und psychischen Erkrankungen. Von den psychischen Erkrankungen, bci denen die Einordnung des einzelnen Krankheitszustandes in ein System yon Krank- heiten und Krankheitsgruppen ja eine ebenso wichtige wie schwierige Frage darstellt, soll hier abgesehen werden und die folgende Er6rterung auf das Gebiet der eigentlichen Nervenkrankheiten beschrhnkt bleibenl).

Fiir manche der organischen Nervenkrankheiten gilt dabei das yon den chirurgischen Erkrankungen Gesagte. Ein nach Art und Loka- lisation genau zu diagnostizierender Him- oder Rfickenmarkstumor etwa ist selbstverst~ndlich ebenfalls bereits als einzelner Fall diagnostisch v611ig bestimmt. Bei einzelnen organischen Nervenerkrankungen ist es so, dab die fortschreitende Erkenntnis besonders in die J~tiologie und Lokalisation des Krankheitsprozesses den zun~chst gew6hnlich nut aus Symptomengruppierung und Verlauf gebildeten Krankheits- begriff eigentlich iiberfliissig gemacht hat, dab dieser aber t rotzdem - - nicht immer zum Nutzen der diagnostischen Klarheit -- teils gewohn- heitsgem~B, teils aus praktischen Gziinden noch beibehalten wird. Das gilt z. B. yon der Tabes. Wenn wir unter Fallenlassen dieses Krank- heitsbegriffes hier im einzelnen Falle z. B. ,,Metaluetische Hinterstrang- degeneration mit Reizerscheinungen der hinteren Wurzeln" diagnosti- zieren wiirden, wiirden wir nicht nur den einzelnen Fall besser charak- terisieren, sondern vor allem auch sch~rfer die Grenzen gegen jene F~lle ziehen k6nnen, die den ~bergang zur Lues spinalis bilden.

Damit beriihren wir bereits die wichtige Frage des ~bergangs zwi- schen den einzelnen Krankheiten und Krankheitsgruppen. Was sich schon aus theoretischen Darlegungen uns ergab, dab n~mlich das grund-

1) Es mul3 in diesem Zusammenhange hervorgehoben werden, dal3 die friiheren klassifikatorischen Bemiihungen der Psychiatrie in letzter Zeit an Umfang und Bedeutung immer mehr zuriickgetreten sind, und dal3 viele ihrer neueren Bestrebun- gen bei noch so verschiedenem Ausgangspunkt doch darin zusammentreffen, dal3 sie das Verst~ndnis des einzelnen Krankheitsfalles wieder mehr in den Mittelpunkt rtieken. Derartigen Bestrebungen ist eine Zusammenfassung in Krankheits- begriffen, in denen so Heterogenes vereinigt ist wie z. B. in dem der Psychopathie, nattirlich nicht fSrdernd, sondern eher hemmend gewesen. Andererseits hat abet friiher, als er zum erstenmal aufgestellt wurde, auch ein solcher Krankheitsbegriff wie der der Psychopathie einen wesentlichen Fortschritt bedeutet insofern, als eine auf Grund des Kriteriums einer krankhaft seelischen Veranlagung charak- terisierte Gruppe yon der Masse des ,,Allgemein-NervSsen" damit abgegrenzv wurde.

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s~ttzlich und systematisch in Krankheitsbegriffen Getrennte tats~chlich in den Einzelzust~nden vielfache Verbindungen und Zusammenh~nge aufweist, soll jetzt an einer Reihe yon Beispielen deutlich gemaeht und im einzelnen gezeigt werden.

Was yon der Tabes gilt, ist zun~chst in noch weir ausgesprochenerem ~IaBe bei der Paralyse der Fall. Es gibt hier fliissige Uberg~nge von ihr zur Lues cerebri. Es sei vor allem an jene F~lle erinnert, die dem Wesent- lichen ihres Symptomenbildes nach wie auch wegen ihres vSllig refrak- t~ren Verhaltens gegen jede antiluetische Therapie in das Krankheits- gebiet der Paralyse zu rechnen sein wiirden, wohin sie aber, vor aUem wegen des yon dieser vSllig abweichenden Verlaufs doch wieder nicht gehSren. Auch die Beantwortung der Frage der ,,Heilbarkeit" der Para- lyse h~ngt im wesentlichen vonder Weite der Umgrenzung ab, die man diesem Krankheitsbild-zu geben geneigt ist. Je sch~rfer man es umfaBt, desto weniger wird man von einer Heilbarkeit der Paralyse reden kSnnen. Bei den ~bergangsformen zwischen der Lues cerebri und der Paralyse scheinen iibrigens pathologisch-anatomische, meist endarteriitische Gef~B- prozesse vorzuliegen.

Bei Paralyse und Lues cerebri handelt es sich nun freilich um Krank- heiten, deren enger Zusammenhang auch in theoretischer Beziehung klar liegt, und denen aueh das diagnostische System zwar nicht die glei- ehen, aber doch wenigstens dicht benachbarte Stellen zuweist. Viel be- deutungsvoller ffir die hier zu erweisende bzw. an einzelnen F~llen zu illustrierende Tatsaehe des engen und vielfachen Zusammenhanges der im diagnostischen System als verschiedene Krankheiten getrennten Krankheitszust~nde ist es aber, wenn diese Krankheitszust~nde dort an ganz verschiedenen Stellen stehen, theoretisch also anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Auch dann aber l~Bt sich auf Grund von tats~chlichen Beobachtungen ein engerer Zusammenhang vielfach zwischen ihnen feststellen.

Wir gehen, um das zu erweisen, zun~chst von den Neuralgien aus. Von ihnen ist es einerseits bekannt, dab hier flieBende ~berg~nge zur Neuritis bestehen. Es sei dabei hauptsachlich an die Ischias erinnert, die durchaus enge Beziehungen zur Neuritis zeigt, ja die man in vielen F~llen auf Grund eines Befundes wie Abschwachung des Achillesreflexes, leichte Sensibilit~tsstSrungen (vor allem im Suralisgebiet) mit grSBerem Rechte zur Neuritis als zur Neuralgic rechnen muB. Fiir viele Trige- minusneuralgien gilt Entsprechendes. Auf der andern Seite bestehen aber nicht weniger enge Beziehungen der Neuralgien zu rein ,,nervSsen" StSrungen. Wie bei ihnen, so spielt auch bei den Neuralgien -- und zwar nicht etwa nur bei den nervSsen Pseudoneuralgien, sondern auch bei echten Neuralgien -- das konstitutionelle Moment im Sinne einer all- gemein-nervSsen, ,,neuropathischen" Anlage eine sehr erhebliche Rolle.

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164 M. Serog :

Aber auch die nervSsen Pseudoneuralgien bieten mannigfache Beriih- rungspunkte mit den echten. So ist z.B. -- um nur eines hervorzu- heben -- auch bei vielen F~llen yon nervSser Pseudoneuralgie die Druck- schmerzhaftigkeit oft durchaus auf die Stellen der Nervenaustritts- punkte beschr~nkt. Jedenfalls kann hier in einzelnen F~llen dis diagno- stische Rubrizierung oft recht schwierig, ja fast unmSglich werden, und zwar nicht aus dem Grunde der unzursiehenden Erkenntnis des ein- zelnen Falles, sondern deshalb, well gerade, je eingehender man ihn ana- lysiert, er sich desto schwerer dem bestimmten Schema der Krankheit einffigen l~$t. Im allgemeinen leicht yon den echten Neuralgien zu schei- den sind die F~lle yon psychogener Pseudo-Neuralgie. Besonders schwer zu trennen und den echten Neuralgien besonders nahestehend sind da- gegen jene in der Praxis recht hi~ufigen F~lle yon ,,Nervenschmerzen", die zwar aueh ins Gebiet des Funktionell-NervSsen zu rechnen sind, bei denen es sich aber sicher nicht um psychogene Erseheinungen, sondern wohl um Schmerzen vasomotorisch-nervSser Genese handelt.

Unte~ dem Gesichtspunkt der Zwischengruppe interessant sind man- che besonders in der Puberti~t und im Klimakterium auftretends F~lle ,neuralgiformer" StSrungen. Sie imponieren als ,,nervSse" StSrungen dadurch, dab sis mit allgemein-nerv5sen StSrungen vergesellschaftet sind und deutlich unter psyehischem Einflul3 stehen; auch treten die Schmerzen nicht wie bei den echten Neuralgien anfallsweise, sondern mehr kontinuierlieh auf. Auf der anderen Seite ist aber stets eine ausgesprochene umschriebene Druckschmerzhaftigkeit der Nervenst~m- me und Nervenaustrittspunkte festzustellen, hi~ufig i~ul3ern sich die Schmerzen auch besonders in bestimmten Nervengebieten.

Wir sehen also aus alledem: Die Krankheitsgruppe der Neuralgien zeigt enge Beziehungen

naeh der einen Seite zur Neuritis, nach der anderen zu funktioneU- nervSsen StSrungen. Diese beiden, theoretisch an ganz andere Stellen zu gruppierenden Krankheitsbilder erscheinen also hier durch eine Kettc yon tatsi~chlich zu beobachtenden einzelnen Krankheitszusti~ndsn miteinander verbunden, damit aber auch -- was besonders bemerkens- wert erscheint -- die beiden groBen Gruppen der funktionellen und or- ganischen Erkrankungen. Sehon hier miissen wir also eine Tatsache feststellen, die uns jetzt noch 5fter und noch anschaulieher begegnen wird : Durch den tats~chlichen Zusammenhang der einzelnen Krankheits- zust~nde wird sogar eine anscheinend so scharfe Trennung, wie sie zwi- schen ,,organisch" und ,,nervSs" besteht, aufgelSst.

Ein weiteres Beispiel daffir ist der Zusammenhang zwischen dem Morbus Basedow und den vasomotorisch-nervSsen StSrungen. Zwi- schen manchen Formes frustes des Morbus Basedow und vasomotorisch- nervSsen StSrungen erhebliehen Grades sind die l~berg~nge oft so fliissige,

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dal3 es Fi~lle gibt, wo man mit dem gleiclaen Recht noch yon vasomoto- risch-nervSsen StSrungen oder schon von einer Forme fruste des Morbus Basedow spreehen kann.

Ein ffir die hier in Rede stehenden Fragen besonders wichtiges Kapitel bilden die ,,Anfi~lle", also alle die verschiedenen Formen yon Kramlofanfi~llen mit und ohne Bewul~tseinsverlust und fiberhaupt alle (tie anfallsweise auftretenden motol'ischen und sensiblen Erscheinungen. Ein gro$er Teil dieser AnfiClle geh6rt bekanntlieh ins Krankheitsgebiet der Epilepsie. Das Bild des typischen epileptischen Anfalls ist ja allge- mein bekannt. Ist hier die diagnostische Begrenzung eine theoretisch sehalfe und praktisch leicht zu treffende, so gehSrt die Diagnose der un- ausgesprochenen und unklaren Fi~lle oft mit zu den sehwersten in der ganzen Neuropathologie. Auf ihre Diagnose, die sich im allgemeinen mehr auf die Gesamtgruppierung der Symptome als auf das einzelne Symptom wird stfitzen mfissen, kann natfirlich hier nicht genau einge- gangen werden. Bemerkt sei nur, dab als sichere Zeichen der Epilepsie nur das Babinskische Zeichen, der Nachweis yon Eiwei13 im Urin nach dem Anfall, reaktionslose, nicht fiber mittelweite Pupillen 1) und ein bestimmter psychischer Habitus, vor allem Zeichen der typi- schen epileptischen Demenz gelten kSnnen, als sehr wesentlich ferner noch das fiir Epilepsie meist typische Verhalten naeh dem Anfall (hier vor allem die erst allmiihliche Wiederkehr des klaren BewuBtseins). Kann so ein groBer Teil der Anfi~lle dem Krankheitsbcgriff der genuinen Epi- lepsie eingeordnet, ein weiterer als ,,symptomatische Epilepsie" d.h. als blol~er Symptomenkomplex, der bei allen mSglichen Gehirnerkran- kungen vorkommen kann, abgetrennt werden, so bleiben noch Gruploen von Anfi~llen iibrig, die man den epileptischen gegeniiber gewShnlich als ,,nervSse", ,,funktionelle" oder auch ,,hysterische" zusammenfaflt. Das, was sie charakterisiert und verbindet, ist also zun~chst etwas Nega- tives: Ihre NichtzugehSrigkeit zur Epilepsie. Eine groBe Gruppe lir sich freilich auch hier alsbald heraussch~len: Die hysterischen Anfi~lle im engeren Sinne oder besser : Die psychogenen Anf~lle. Aueh ihre Merk- male sind, besonders in den typischen Fi~llen, bekannt. Aber, wie er- wi~hnt, mit diesen ,,hysterisehen" Anfi~llen ist das Gebiet der ,,nervSsen" Anfi~lle nicht erschSpft.

Es gibt l~ier Anf~lle, die gewissermal~en zwisehen den epileptischen und hysterischen stehen. Als eigentlich hysterische kSnnen sie sicher nicht aufgefaflt werden. Dagegen sprechen ihr hi~ufig plStzliches Auf- treten ohne jede iiuBere Veranlassung, eine beim Anfall eintretende tiefe Bewul3tlosigkeit, infolge deren die Kranken sich mitunter sogar

1) Pupillenstarre kann auch in seltenen Fallen yon ,,nervSsen" Anfiillen vorkommen. (Ich verfiige selbst fiber eine derartige Beobachtung.) Doch sind (lie Pupillen in diesen Fallen wohl immer maximal crweitert.

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ernstliche Verletzungen zuziehen, schliefflich auch das Fehlen sonstigef" ,,hysterischer" Symptome in Befund und Anamnese, insbesonderc auch der ganze nicht-hysterische psychische Habitus. Aber auch in das Gebiet der Epilc, psic k6nnen sie nicht gcrechnet werden. Denn es fehlen alle dafiir zu verwertenden Symptome. Dagegen linden sich in vielen der hierher geh6rigen Fhlle vasomotorisch-nerv6se Sym- ptonm (z. B. Schweif~ausbriiche, starke Pulsbeschleunigung, auch di~, seltene Pupillenstarre bci maximal erwcitcrten Pupillen geh6rt hierher) und gew6hnlich auch aufterhalb der Anfhlle die Neigung zu vasomoto- risch-nerv6sen St6rungen oder wenigstens die Zeichen einer erheblichen vasomotorisch-nerv6sen ~bererregbarkeit.

Auf Grund solcher und ~hnlicher Beobachtungen wird man also sagcn mfissen :

Der Versuch, alle hier vorkommenden ,,Anf~lle" zwischen der Epi- lepsie und der Hysterie gewissermaBen aufzuteilen, mull, wo er unter- nommen wird, an den Tatsachen scheitern. Diese beiden Krankheits- gruppen umgreifen, wenn man die symptomatischen Anfitlle abzieht, allerdings den grOl~ten Teil der hier in Betracht kommenden FKlle, aber bei weitem nicht alle yon ihnen. Die iibrigbleibenden haben sowohl mit der Hysterie wie mit der Epilepsie Beziehungen, stehen also gewisser- maBen zwischen ihnen, ohne sich doch in eine dieser beiden Krankheiten zwanglos und vollst~ndig einordnen zu lassen. Diese Falle sind es auch wohl gewesen, welche zeitweise zur Aufstellung des Krankheitsbegriffes der ttystero-Epilepsie gcfiihrt haben. Mit Recht ist aber ein solcher Krank- heitsbegriff abgclehnt wordcn. Denn wenn auch die Tatsache von hier bestehenden Zusammenh~ngen darin richtig erfal]t wird, so werden doch, indem eine Analyse der hier vorhandcnen Zwischcnformen nicht ver- sucht und die diagnostische Grenze des Krankheitsbildes der Epilepsi~, bzw. Hysterie dadurch verschwommen wird, diese Zusammenhange durch einen derartigen Krankheitsbegriff eher verdunkelt als aufgehellt. Man wird diese F/~llc und ihre Eigenart am besten mit dem Begriff des ,,Funktionellen" umgrenzen. Im wesentlichen handelt es sich bei ihnen um St6rungen vasomotorisch-nerv6ser Natur.

Wie schon mehreremals, so kommen wir auch hier wieder zum Begriff des ,,Funktionellen", im wesentlichen im Sinne des Vasomoto- risch-Nerv6sen als eines Mittel- und Bindeg]iedes zwischen der Gruppt, der ,,organischen" und jener Gruppe der ,,nerv6sen" Krankheiten, an deren anderem Endpunkte die eigentlich hysterischen, die ,,psycho- genen" St6rungen stehen.

Noch manches andere aber beweist d. ie Richtigkeit dieser Auffassung : Denn auch manche Form der vasomotorisch-nerv6sen St6rung sonst steht im Symptomenbild und Verlauf deutlich zwischen ,,organisch" und ,,hy- sterisch". Es sei da vor allem an die Migr~ne erinncrt. Niemand wird

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sie wohl zur Hysterie rechnen, trotzdem eine nervSse Belastung dabei immer, eine psychisehe AuslSsung der einzelnen Attacke hi~ufig eine l~olle spielt. Ebensowenig wird man sic aber als ,,organisches" Leiden an- sehen, t rotzdem es sich um erhebliche, wenn aueh voiiibergehende, durch Gef~i~krampf bedingte St6rungen handelt, die einen ganz bestimmten, nieht wie sonst hi~ufig bei ,,nervSsen" StSrungen jedesmal und yon Fall zu Fall wechselnden Verlauf nehmen, und fiir die auch eine bestimmte Lokalisation hi~ufig anzunehmen ist. (Wenigstens ist nur so der oft sich bier findende ausgesprochene cerebellare Symptomenkomplex zu verstehen.)

Andererseits ist bei manchen StSrungen, die sich weder ins Gebiet der ,,organischen" noch der ,,nervSsen" ganz einreihen lassen, die vaso- motorisch-nervSse Genese wenigstens sehr wahrscheinlich. Das gilt z .B . yon den Crampi.

Dal~ die Auffassung einer solehen Mittelstellung der vasomotorisch- nerv6sen StSrungen, wie sic hier umrissen ist, auch im Einklang steht mit den engen weehselseitigen Bcziehungen zwischen Vasomotoren- ti~tigkeit, KSrperfunktion, Psyche und der Ti~tigkeit der endokrinen D~iisen, mit denen gerade die letzte Zeit sich eingehender befal~t hat, sei hier nur kurz erwi~hnt.

Nur kurz sei darauf hingewiesen, dab sich aueh die scharfe begriff- liche Trennung zwischen ,,organisch" und ,,funktionell" fiberhaupt nicht mehr durchffihren li~i~t, und dab ihre Aufrechterhaltung eigentlich nur ein l~berbleibsel yon Anschauungen darstellt, die auf anderen Ge- bieten als dem der Pathologic li~ngst iiberwunden sind. Viel wichtiger erscheint, da[~ man, abgesehen yon allen theoretischen Erw~gungen, einfach durch den Zwang der unvoreingenommen beobachteten Tatsachen dazu gelangt, diese Dinge unter einem etwas anderen Ge- sichtspunkt zu betrachten, als man bisher gewohnt war.

Wie wenig gerecht wir mit der Einteilung in ,,organisch" und ,,ner- v6s" mitunter den tats~chlichen Verh~ltnissen werden, daffir liefere noch folgende Betraehtung den Beweis:

Ich greife 2 F~lle heraus:

In dem einen handelt es sich um eine typisch-hysterische Gangst6rung. Sie hat deutlich psychogenen Charakter, entspricht keiner der bekannten organischen, kSnnte willkiirlich jederzeit nachgeahmt werden. Die St6rung steht deutlich unter psychischem Einflul3, wird bei Ablenkung der Aufmerksamkeit geringer, verschwindet oft ganz, wenn der Kranke sich nicht beobachtet glaubt. ~bertreibung ist deutlich. Der Wunsch, eine Rente zu erlangen (als Kriegsdienst- besehi~digung), spielt zweifellos eine Rolle. Der ganze psychische Habitus ent- spricht dem, den wir als ,,ausgesprochen hysterisch" kennen.

Der zweite Fall:

Ein Mann hat einen Schul] in den Arm erhalten. DaB eine Verletzung eines Nerven dabei stattgefunden hat, ist schon nach der Lage des SchuBkanals aus-

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gesehlossen. Trotzdem ist unmittelbar nach dem Schul] eine v611ige Lghmung des. Armes eingetreten und besteht seitdem unver~ndert. Der Befund ist: V011ige, absolut konstante und auch psyehisch nicht zu beeinflussende schlaffe Li~hmung des Armes, erhebliche Atrophie des Armes, die sich aber auf alle Muskeln gleichmgBig erstreckt, ausgesprochen vasomotorische St6rungen: Der Arm fiihlt sich deutlich kalter an als der gesunde; die Finger sind blaurot verfi~rbt. Prtifung der Reflexe und der elektrischen Erregbarkeit ergibt aber v011ig normale Verhaltnisse. Von einem psyehisch-hysterisehen Habitus ist keine Rede.

Zweifellos geh6ren die geschilderten Krankheitszust~nde alle beide in jene grol]e Gruppe, die man als ,,nerv6se" oder als ,,hysterisehe" zusammenfal]t. Will man damit nun sagen, dai] in beiden Fi~llen eine wirklich organische Sch~digung nicht vorliegt, so trifft das ja zu, und un- ter diesem Gesiehtspunkte - - allerdings nut unter diesem Gesichts- punkte -- ist es auch m6glich, sie der gleichen Krankheitskategorie einzuordnen. Jemandem, der g~nzlich unvoreingenommen und unbe- kannt mit jedem diagnostischen System an diese beiden hier kurz skiz- zierten Krankheitszust~nde als reine Einzeltatsachen herantri~te, wiirde es aber bes t immt niemals einfallen, beide in die gleiche Krank- heitskategorie einzuordnen. Denn der erste der beiden Fi~lle steht den Zustgnden yon bewul]ter Krankheitsvort~uschung so nahe, dal] nur naeh dieser Seite die Schwierigkeiten seiner diagnostischen Abgrenzung liegen. Beim zweiten ist davon gar keine Rede, hier hat jeder zun~chst den Eindruck eines organisch bedingten Symptomenkomplexes, und die Differentialdiagnose hat daher hicr auch nur nach dieser Richtung hin Klarheit zu schaffen.

Ordnet man also solche F~lle wie die erw~hnten zusammen der gleichen Krankheitsgruppe ein, so muI~ man sich wenigstens daiiiber klar sein, dab beide, wenn auch miteinander durch Tatsachenreihen wie zu einer Ket te verbunden, doch als Einzeltatsache gewissermal3en Endglieder dieser Ket te darstellen, deren Zusammenh~nge also in gleichem MaBe fiber diese Krankheitskategorie hinaus als in sic hineinweisenl).

Es ergibt sich aus den angefiihrten Tatsachen aber auch die Not- wendigkeit einer etwas sch~rfer umgrenzenden diagnostischen ~omen- klatur in dem Sinne, wie sie hier tats~chlich schon gehandhabt wurde, ni~mlieh den Begriff des t tysterischen auf das eigentlich Psychogene im Sinne von ideogen und thymogen zu beschranken und den Ausdruck

- 1) Solehe ~berlegungen zeigen, dab aueh die Ansicht Oppenheims fiber die Kriegsneurosen wenigstens in einem weiten and allgemeinen Sinne Richtiges. enthitlt. In der ihr von Oppenheim gegebenen Formulierung trifft sie freilieh sicher nieht zu und ist deshalb auch mit Recht aUseitig abgelehnt worden. Aber der scharfsiehtige Kliniker ist doeh auch bier, wo er zu einer irrtfimlichen For- mulierung seiner Ergebnisse gelangte, von einer richtigen Beobachtung der Tat- saehen ausgegangen, jedenfalls aber vonder riehtigen Erkenntnis geleitet worden, dab nicht alles, was bier zu beobachten ist, einfaeh mit dem Begriffe des ,,Hyste- risehen" oder ,,Psychogenen" abzutun ist, und zwar auch dann nieht, wenn der Naehweis einer psychogenen Beeinflul~barkeit erbracht wird.

Krankheitsgruppe und Krankheitseinheit. 169

des ,,Funktionell-NervSsen" nicht in dem meist gebrauchten weiteren Sinne des Gegensatzes zum Organischen iiberhaupt, sondern unter Ausschlul~ des eigentlich Psychogenen in dem Sinne der nervSsen d. h. nicht dutch organische Prozesse hervorgerufenen FunktionsstSrung anzuwenden.

Diese Abtrennung der ,,funktionellen" F~lle yon den ,,psychogenen" erscheint auch praktisch wichtig. Denn sondert man nicht in dieser Weise, sondern fal]t man alles Nichtorganische einfach als ,,hysteriseh" zusammen, so ist man z. B. in F~llen von vasomotorisch-nervSsen StS- Tungen vielfach geneigt, psychogenen Momenten im Sinne von ,,Be- gehrungsvorstellungen" selbst dort eine wesentliche urs~tchliehe Rolle zuzuschreiben, wo die Genese der Symptome eine ganz andere ist.

Die hier getroffene Abtrennung des ,Funktionellen" kann natiirlich -- das geht auch schon aus allem Bisherigen hervor -- niemals eine vSllig seharfe sein, und zwar so wenig gegeniiber dem Psychogenen auf der einen wie gegeniiber dem Organischen auf der anderen Seite. Nieht immer wird mit Sicherheit zu sagen sein, ob das die FunktionsstSrung be- dingende Moment als ,,organischer Prozel~" zu betrachten ist. Fiir ex- treme Fglle, sagen wir etwa Tumoren, ergibt das allerdings keine Sehwie- rigkeiten. Aber die Chorea z. B., bei der es sich doch um eine nur durch Infektion bedingte ne~vSse FunktionsstS~ung handelt, k6nnte man mit demselben Rechte noch zu den funktionellen im obigen Sinne wie schou zu den organischen Nervenkrankheiten rechnen. Bedeutungsvoll zur Be- leuchtung der hier bestehenden kompliziertenVerh~ltnisse und ~berg~nge ist ferner die Tatsache der Diaschisis, d .h . der funktionellen Fern- und Nebenwirkungen von organischen St6rungen. Hier handelt es sieh um an und fiir sich ,,funktionelle" St6rungen (denn ihnen unmittel- bar liegt ja ein organischer Prozel~ nicht zugrunde !), die aber in weiterem Sinne doch dem ,,Organischen" einzuordnen sind.

Neben den funktionellen Nebenwirkungen organischer Erkrankungen im Sinne der Diasehisis muff wohl auch ftir einzelne Falle eine funktio- nelle Nachwirkung solcher Erkrankungen angenommen werden. Dafiir sprechen zun~chst manche F~lle von schwerer Kopfverletzung, die nach voraufgegangener Commotio cerebri zwar keine auf das Vorhandensein einer Hirnl~sion deutenden Erscheinungen, aber einen ,,nervSsen" Symptomenkomplex yon ganz umsehriebener und bei dieser Gruppe sich stets gleich bleibender Art bieten, iibrigens auch psychisch gew6hn- lich kaum zu beeinflussen sind. Zu der gleichen Auffassung der funk- tionellen Nachwirkung eines vorausgegangenen organischen Krank- heitsprozesses zwingt wohl auch der folgende erst kiirzlich yon mir beobachtete Fall :

Eine 55 Jahre alte frfiher stets gesunde Frau klagt fiber eine Lahmung des linken Armes. Die L~hmung soll vor mehreren Monaten pl6tzlich aufgetreten sein, nachdem

170 M. Serog :

Kopfschmerzen, Mattigkeit, anschcinend auch Fieber vorangegangen. Es besteht eine komplette schlaffe Li~hmung des ganzen linken Armes, nur im Daumen und Zeige- finger der linken Hand sind ganz geringe Bewegungen mSglich. Reflexe und elektrische Erregbarkeit des linken Armes sind normal, Atrophien bestehen nieht. Am linken Bein besteht eine leichte Peroneusschwi~che. Gar kein hysterischer Eindruck, auch kSrperlich kcine Zeichen einer starken nervbsen ~bererregbarkeit. Die Li~hmung, unter der Patientin sehr leidet, besteht seit Monaten vSllig un- ver~ndert. Sie ist psychiseh nicht beeinflul]bar, auch nicht in tieferer Hypnose, in der z. B. die Suggestion einer schlaffen Lahmung des anderen Armes prompt gelingt.

Sicher ist das, was hier vorlieg~, keinc ,,organische" L~hmung. Aber dicse Li~hmung ist ebensowenig mit dem Begriff des , ,Hysterischen" zu umfassen, wenn auch Beziehungen dicser (wie iibrigens jcder funk- tionellen) Li~hmung zur Hysteric bestehen. Bezeichnend dafiir, einen wie wenig ,,hysterischen" Eindruck das ganze Krankhcitsbild macht, ist, dab yon mehreren Seiten niemals die Diagnose der Hysteric, son- dern stets fi~lschlich die eines organischen Leidens gestellt wurde.

Wahrscheinlich hat es sieh ursprfinglieh um eine Encephalitis ge- handelt -- die Anamnese und die leichte Pcroneuschw~che sprechen daffir --, yon der nun als funktionelle -- nicht psychogene -- Folge- erscheinung die Arml~hmung tibriggeblieben ist.

Von diesen Fi~llcn der funktioncllen Nachwirkung organischer Krankheitsprozesse ffihren flieftende Ubergi~nge zu jenen, in denen nicht eine funktionclle, sondcrn eine deutlich psychogene StSrung die urspriing- lich organische Krankhcit fortsetzt, indem die vorhandene Form dcr organisehen Erkrankung yon dcr neben und auf ihr sich entwickelnden psychogenen StSrung iibernommen wird und nun die psychogene StS- rung in der Form der urspriinglich organisehen auch dann noch bestehen bleibt, wenn diese selbst sehon verschwunden ist (z. B. psychogene L~hmung der Hand nach Radiusliihmung infolge Schul~veiletzung).

Wir sehen also: Die Beziehungen und Zusammenh~nge zwischen den organisehen Ncrvenkrankheiten auf dcr einen und der groBen Gruppe dessen, was gewShnlich als , ,Hysteric" zusammengefaSt wird, auf der anderen Seite, sind rccht komplizierte. Sie erfahren eine weitere erheb- liche Komplikation durch die Tatsache der symptomatischen Hysterie. Schon vor Jahren habe ich, ausgehend yon den Beziehungen yon Hysterie und multipler Sklerose, auf diese MSglichkeit hingewiesen, die mir allerdings durch viele, gerade in den letzten Jahren gemachten Beob- achtungen, besonders bei Erkrankungen der subcorticalen Zentren zur GewiBheit erh~trtet zu sein schcint.

Um zun~chst vonder multiplen Sklerose auszugehen, so ist es bekannt, welche grol~e Rolle ,,hysterische" Erscheinungen bei ihr himfig spielenl).

1) Die Tatsache der ~uBeren ~hnlichkeit vieler Krankheitserscheinungen der multiplen Sklerose mit hysterischen und der dadurch bedingten Schwierigkeit der Differentialdiagnose nach dieser Seite hat natiirlieh damit niehts zu tun.

Krankheitsgruppe und Kraukheitseinheit. 171

Es ist schon in der bekannten Monographie von E d u a r d Mi~ l l e r - - und seitdem noch oft -- auf solche Erscheinungen bei mulipler Sklerose hingewiesen und fiir diese gewShnlich die Bezeichnung ,,hysteriform" gewi~hlt worden. Dieser Ausdruck k5nnte zuni~ehst zu der Annahme ver- leiten, dab es sich um h y s t e r i e ~ i h n l i c h e Erscheinungen handelt. Davon ist aber keine Rede, ein symptomatologischer Unterschied gegenfiber der eigentlichen Hysterie besteht nicht, und der obige Ausdruck ist offenbar gewi~hlt, um damit auszudiiicken, dab die Symptome, die hier als ,,hysterische" imponieren, nicht AuBerungen einer dazu getrennten eigentlichen ,,Hysterie", sondern Erscheinungsformen der vorliegenden Erkrankung sind. Hier zuni~chst also sehen wir hysterische Erscheinun- gen als Symptome einer organisehen Erkrankung auftreten.

Ferner mui~ in diesem Zusammenhang auf die Erkrankungen des Stirnhirns hingewiesen werden, bei denen eine besondere Neigung zur Produktion yon ,,hysterisehen" Symptomen besteht. Abgesehen von vielfaehen hier zu beobachtenden psychisehen Allgemeinerscheinungen verdient auch die frontale Ataxie yon diesem Gesichtspunkt aus eine besondere Beachtung.

Die frontale Ataxie ist bekanntlich, was die Art der BewegungsstS- rung als solche anlangt, yon der cerebellaren Ataxie kaum zu trennen. Dagegen ist es stets auffallend, wie die frontale Ataxie h~ufig an Inten- sitar betri~chtlich wechselt, und wie sehr dieser Wechsel vor allem unter psychischem EinfluB steht. Versucht man diese FMle frontaler Ataxie den cerebellaren gegenfiber zu charakterisieren, so kann man dies kaum besser und anschaulicher als mit dem Hinweis darauf, dab die ffontale Ataxie im Gegensatz zur cerebellaren etwas ausgesprochen ,,Psycho- genes" hat.

Welter gehSrt hierher die Beobachtung, dab die Dementia praecox h~ufig unter einem hysterischen Bilde beginnt, das dann in dem Mal~e zuziicktritt, in dem die schizophrenen Krankheitssymptome sich aus- bilden. Da es sich dabei oft genug um Kranke handelt, bei denen weder eine hysterische Disposition festzustellen ist, noch auch hysterische Krankheitserscheinungen je vorgekommen sind, so legen auch diese Beobachtungen die Auffassung solcher ,,hysterischer" Zust~nde als bloB symptomatischer, durch die Grundkrankheit bedingter nahe.

Am beweisendsten fiir die Tatsache der symptomatischen Hysterie aber sind die bei der Erkrankung der subcorticalen Zentren doch nun schon in grol~er Zahl gemachten Erfahrungen. Man kann wohl sagen, dal~, selbst wenn die eben angefiihrten Tatsachen nicht vorl~gen, die hier gemaehten Beobachtungen schon allein mit zwingender Not- wendigkeit zum Begriff der ,,symptomatischen Hysterie" fiihren mfil~- ten. Wit sehen hier immer wieder allc mSglichen Erscheinungen und Erscheinungskomplexe auftreten, wie wir sie yon der Hysterie her

172 M. Serog:

kennen, von hysterischen Anfitllen an bis zur Steigerung der Suggesti- biliti~t, und finden auf der anderen Seite nichts, was diese hysterischen Erscheinungen yon der ,,echten" Hysterie unterscheidet. Dal3 es sich hier etwa um ein zuf~lliges Zusammentreffen und um eine der organischen Erkrankung aufgepfropfte Hysterie handeln kSnne, ist nach Hi~ufigkeit und Art des Auftretens dieser StSrungen auszuschlieBen und wird wohl auch yon keiner Seite angenommen. Denn auch hier finder man diese Hysteriesymptome h~ufig als ,,hysteriform" bezeichnet, eben yon der richtigen Erkenntnis ausgehend, dal3 sie kein zufi~lliges, sondern ein wesentliches Moment der Erkrankung darstellen. Wenn aber Sym- ptome und Symptomenkomplexe, die sich auch bei naherer Analyse in nichts yon der Hysterie unterscheiden, bei einer organischen Nerven- krankheit vorkommen, und wenn man ferner fiir das Auftreten dieser Symptome nicht eine hinzutretende tIysterie verantwortlich machen kann, sondern sie als J~ul3erungen der organischen Elkrankungen ansehen muB, so heil3t das eben nichts anders, als dal3 das, was wir als Krankheit ,,Hysterie" umgrenzen und kennen, auch rein als Symptomen- komplex bei organischen Erkrankungen vorkommen kann. Auf die Frage, welche theoretische Bedeutung dieser Tatsache fiir unsere Einsicht in das Wesen der Hysterie zukommt, kann natiirlich an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Auch die ErSrterung dartiber, ob nun etwa der Be- griff der Hysterie als Krankheitseinheit iiberhaupt aufzulSsen w~re, oder ob neben der ,,symptomatischen" auch weiter die genuine Hysterie an- zuerkennen bleibt -- eine Betrachtung fibrigens, die in gleicher Weise auch auf die Epilepsie ausgedehnt werden kSnnte --, wiirde bier zu weit ftihren. Hier interessiert zun~tchst die Feststellung, dab die Krankheit ttysterie auch rein symptomatisch bei ganz andersartigen n~mlich orga- nischen Erkrankungen vorkommen kann, und dab also ebenso, wie es eine symptomatische Epilepsie gibt, auch an der Existenz einer sym- ptomatischen Hysterie kein Zweifel sein kann.

Zum Schlul3 dieser Auseinandersetzungen sei versucht, die erSrter- ten Beziehungen der mehffach erwahnten Krankheitsgrulapen in einem Schema (S. 173) ansehaulicher zu maehen.

In den vorliegenden ErSrterungen konnten nur die fiir die hier entwickelten Anschauungen wesentlichsten Tatsachen ausgefiihrt, vieles nur angedeutet, einzelnes gar nicht beriihrt werden. Aber die an- gefiihrten Tatsachen diifften genfigen, um das zu erweisen, worauf es hier ankam. Was durch sie deutlich gemacht werden sollte, ist, noch einmal kurz zusammengefa~t, folgendes:

Entsprechend den Ergebnissen unserer allgcmeinen Betrachtung linden wir bei den Nervenkrankheiten vielfach Zusammenh~tnge, Ver- bindungen und ~bergi~nge zwisehen im diagnostisehen System vSllig getrennten ,,Krankheiten". Dies gilt sogar wm den beiden Krankheits-

Krankheitsgruppe und Krankheitseinheit. 173

Psychogen (hysterisch) Funktionell \

/ \\ \\ Ideogen Thymogen /,

Simulation.Aggravation ~ // \

//vasomotorisch ~ e ~ ~

\

\ ~ Organiach Symptomat. Hysterie.

gruppen des ,,Organischen" und ,,NervSsen". Eine besondere Rolle als Zwischenglied spielen hierbei vor allem die vasomo~orisch-nervSsen, aul~erdem fiberhaupt d i e - im engeren Sinne - - ,,funktionellen" StSrungen. Zu den verschiedenen komplizierten MSglichkeiten der Beziehungen des ,,Organisehen" zum ,,NervSsen" -- versehiedene Gruppen yon Zwischengliedern und verschiedene Artender Mischung yon ausgesprochenen Formen - - tritt als weitere MSgliehkeit noch das rein symptomatisehe Auftreten yon nervSsen StSrungen bei organischen Krankheiten.