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Wer kann heute schon mit Bestimmtheit voraussagen, wie sich die Ökonomie der One-World entwickeln wird? Bietet der Neomarxismus Analyseansätze, mit denen sich der scheinbar eigendyna- mische Lauf der Dinge beeinflussen läßt? Fünf bekannte KapitalismuskritikerInnen stellen ihre Theorien zur Diskussion. IG Rote Fabrik/Zürich (Hg.) Krise – welche Krise? Edition ID-Archiv Edition ID-Archiv ISBN: 3-89408-045-0 Krise – welche Krise? Res Stehle Ernest Mandel Robert Kurz Maria Mies Karl Heinz Roth IG-Rote Fabrik/Zürich (Hg.)

Krise – welche Krise? - nadir.org · Art Delirium vor sich hinsiechen und deshalb nicht auf den Gedanken kämen, ihre persönliche Situation selbst in die Hände zu nehmen und sich

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Wer kann heute schon mit Bestimmtheit

voraussagen, wie sich die Ökonomie der

One-World entwickeln wird?

Bietet der Neomarxismus Analyseansätze,

mit denen sich der scheinbar eigendyna-

mische Lauf der Dinge beeinflussen läßt?

Fünf bekannte KapitalismuskritikerInnen

stellen ihre Theorien zur Diskussion.

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Krise – welche Krise? Res StehleErnest Mandel Robert KurzMaria Mies Karl Heinz Roth

IG-Rote Fabrik/Zürich (Hg.)

Krise – welche Krise?

Edition ID-ArchivBerlin – Amsterdam

IG Rote Fabrik/Zürich (Hg.)

Krise – welche Krise?Res Strehle, Ernest Mandel, Robert Kurz,

Maria Mies, Karl Heinz Roth

Edition ID-ArchivBerlin – Amsterdam

IG Rote Fabrik/Zürich (Hg.)Krise – welche Krise?

Res Strehle, Ernest Mandel, Robert Kurz, Maria Mies, Karl Heinz Roth

Edition ID-ArchivPostfach 360205

10972 BerlinISBN: 3-89408-045-0

1. Auflage Mai 1995

TitelEva Meier unter Verwendung eines

Fotos von R. Maro

Layoutseb, Hamburg

DruckWinddruck, Siegen

BuchhandelsauslieferungenBRD: Rotation Vertrieb

Schweiz: Pinkus GenossenschaftÖsterreich: Herder Auslieferung

Niederlande: Papieren Tijger

Inhalt

Vorwort 7

Res Strehle 11Marktwirtschaft auf freier WildbahnAchtzehn Thesen zur Krise

Ernest Mandel 23Nichts gegen junge Bankangestellte ...Die »langen Wellen« der kapitalistischen Entwicklung

Robert Kurz 37Mit Volldampf in den Kollaps

Maria Mies 65Die Krise als ChanceZum Ausstieg aus der Akkumulationslogik

Karl Heinz Roth 97Auf dem Glatteis des neuen ZeitaltersDie Krise, das Proletariat und die Linke

Vorwort

»Der Aufschwung beginnt im Kopf« betitelten 1994 einigeTopwerbeleute eine Plakatkampagne. Sie versuchten damitzu suggerieren, daß die von der Krise Betroffenen in einerArt Delirium vor sich hinsiechen und deshalb nicht auf denGedanken kämen, ihre persönliche Situation selbst in dieHände zu nehmen und sich ganz einfach an den eigenenHaaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Botschaft war klar:Die Schuldigen an der Krise sind die von ihr Betroffenen.Damit wäre das Thema Krise endlich so positioniert, daßsich die Deregulierenden nicht mehr mit ihren Opfern aus-einandersetzen müssen. Wer zum Beispiel keiner Erwerbs-arbeit nachgeht, ist selber schuld und hat nicht automatischAnrecht auf Arbeitslosengeld; dieser Logik folgend werdennun die betreffenden Gesetze verändert.

Das Kulturzentrum Rote Fabrik in Zürich hat im Herbst1994 mit dem ersten Teil der Veranstaltungsreihe »Krise –welche Krise?« einige in Europa wichtige Krisentheoretikerund eine Krisentheoretikerin zu Wort kommen lassen. Die-se Referate liegen hier in zum Teil überarbeiteter Fassungvor. Die fünf Referate sollen der Auftakt zu einer längeren,kontinuierlicheren Auseinandersetzung zum Thema Arbeitund Krise sein.

Uns ist klar, daß eine Diskussion über Krise und Wider-stand auch konkrete Praxis beinhalten müßte. Davon ist zu-mindest im deutschsprachigen Raum wenig zu spüren. Dieversprengte Restlinke ist notwendigerweise mit dem ThemaRassismus beschäftigt – sie vergißt dabei jedoch manchmal,daß der tägliche Rassismus gegen MigrantInnen sehr vielmit deren Ausbeutung als billige, schnell abschiebbare Ar-

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gegenwärtigen ökonomischen Situation in der Schweiz. Er-nest Mandel, der unermüdliche Aktivist der vierten Interna-tionalen, schickt seinem Referat ein erheiterndes »diesesMal irre ich mich nicht« voraus und erklärt ein weiteres Malin aktualisierter Form sein Modell der »langen Wellen« derkapitalistischen Entwicklung. Das entscheidende Problemder derzeitigen Wirtschaftspolitik sei, daß eine staatlicheKontrolle über den ungeheuren Umfang freischwebenderGelder praktisch unmöglich sei und eine Sanierung des Sy-stems einen sehr hohen Preis verlange, so daß die »langeWelle« der kapitalistischen Depression anhalten werde. Ma-ria Mies sieht die gegenwärtige Krise als Chance zum Aus-stieg aus der Akkumulationslogik, da sie nicht nur eine öko-nomische, sondern auch eine politische, soziale und ethischesei. Den freien Markt bezeichnet Maria Mies als »Euphe-mismus für Gewalt, Armut, Macho-Gehabe, Ausbeutungund Hunger«, neue Konzepte für Wirtschaft und Gesell-schaft sollten auf lokale und regionale Produktion sowieSubsistenzwirtschaft aufgebaut sein. Die Ausführungen vonRobert Kurz über den unvermeidlichen Kollaps des kapitali-stischen Systems und der Finanzmärkte hinterließen beimPublikum einige offene Fragen über die postkapitalistischeZeit und was eigentlich zu tun sei, um sich darauf vorzube-reiten. Karl Heinz Roth versucht in seinem Beitrag die amKonkret-Kongreß 1993 und in seinem Buch »Die Wieder-kehr der Proletarität« entwickelten Szenarien weiter auszu-bauen und setzt mit seinem Votum für den Aufbau und dieVernetzung der bestehenden oder neu entstehenden Bewe-gungen die Sache des Widerstandes gegen die kapitalistischeEntwicklung wieder in den Vordergrund.

Wir hoffen, mit dem Abdruck der Referate die Diskussi-on etwas weiter voranzutreiben.

Konzeptgruppe Rote Fabrik, Zürich

Vorwort 9

beitskräfte zu tun hat. Bezeichnend ist, daß sich auch malUnternehmerverbände gegen die Abschiebung spezifischerGruppen von AsylbewerberInnen wehren (jüngst in derSchweiz z.B. der konservative Wirteverband gegen die Aus-schaffung von TamilInnen). Das Gegeneinander-ausspielenvon MigrantInnen und Eingesessenen mit mehr oder weni-ger klaren rassistischen Untertönen funktioniert bestens.Vor zehn Jahren war die Behauptung, Wohnungsnot oderArbeitslosigkeit sei den vielen »AusländerInnen« anzula-sten, noch vornehmlich in Programmen der rechtsextremenParteien zu finden. Heute bedienen sich mehr und mehr ar-rivierte PolitikerInnen dieser Argumentationsweise. Dane-ben läuft der Sozialabbau schon fast reibungslos, werdeneinstige Tabus wie Lohnabbau und Rentenaltererhöhungmit bestürzender Leichtigkeit geknackt und mit der Er-klärung verpackt, daß »wir« »uns« gegen den Rest der Weltzu behaupten hätten und daher »unsere« Wirtschaft ab-specken müsse – Identitätsbildung noch beim Abzocken.

Die von uns eingeladenen ReferentInnen sind keineWunderbringer. Was sie auslösen können, sind Diskussio-nen zur besseren Einschätzung aktueller Entwicklungen undMöglichkeiten von Organisierung der Ausgebeuteten. Zuhoffen ist, daß ihre unterschiedlichen Herangehensweisenund Schwerpunkte enge Blickwinkel ausweiten und inner-linke Widersprüche offenlegen. Eher uninteressant wäre da-bei, wenn alles beim alten linken Spiel bliebe, sich gegensei-tig Fehleinschätzungen vorzuhalten und Wortklauberei zubetreiben. Jede linke Krisenanalyse, die nicht der aktuellenEntwicklung hinterherhinken will, müßte sich eigentlich alsWerkzeug zur Findung neuer Handlungsmöglichkeiten füreinzelne und Gruppen, zum Widerstand gegen postfordisti-sche Konzepte und deren eigendynamische Ausbeutungs-gier bewähren, sich an der Praxis messen.

Res Strehle hat die Veranstaltungsreihe in der Roten Fa-brik eröffnet. Sein Referat gibt einen Überblick über dieneueren Krisentheorien in der Linken und seine Sicht der

8 Vorwort

Res StrehleMarktwirtschaft auf freier WildbahnAchtzehn Thesen zur Krise

1. Jede ökonomische Analyse muß sich vorgängig ihrer be-schränkten Reichweite bewußt sein: Sie ist ein kleiner Aus-schnitt von Theorie, vorläufiger Stand des Irrtums und nurbegrenzt mobilisierend. Versuche, sie zwecks Mobilisierungzu forcieren und mit endzeitlichen Begriffen wie »Spätkapi-talismus« zu unterlegen (Ernest Mandel, 1972), erscheinengut zwanzig Jahre später als gutgemeinte Aufbruchshoffnun-gen – am untauglichen Objekt. Das Verhältnis zur politi-schen Ökonomie darf andererseits aber auch kein Konsum-verhältnis sein. Minimalziel muß eine aktive Beteiligung allervon Verwertung Betroffenen an der kollektiven Analyse un-ter gleichzeitiger Abkehr von gesamtgesellschaftlichen »Wir-alle-Perspektiven« sein. Zu vermeiden sind vorab die gängig-sten Fragestellungen: Was will die BRD? Droht der Schweizdie Isolation? Liebt Liechtenstein sein Fürstenhaus? Auchvor allzu platten, unversöhnlichen Wir-sie-Gegensätzen istzu warnen, etwa jenem zwischen Kapitalisten und lohnab-hängigem Proletariat. Maximalziel ist eine differenzierteKlassenanalyse in der weltwirtschaftlichen Dimension. Wersind die Jäger? Wie haben sie sich mit den Löwen arrangiert?Wie sind die Reviere aufgeteilt? Welche Rolle spielt derken(es)yanische Staat? Der Internationale Währungsfonds(IWF)? Und wie steht’s mit dem Mut der Antilopen? MüssenVegetarier zeitlebens Opfer bleiben? Marktwirtschaft auffreier Wildbahn ist keine Sonntagsschule.

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hängige, eigene Subjektivität und Handlungsfähigkeit. ObKrise oder nicht, geölte oder harzige Kapitalverwertunghängt entscheidend auch von unserem Verhalten ab zwi-schen den Polen Komplizenschaft/Anpassung bzw. Verwei-gerung/Widerstand – je kollektiver wir uns verhalten, um sospürbarer.

5. Die Krisentendenz ist keine Folge ungeschickter staat-licher Eingriffe, sondern mit Marktwirtschaft untrennbarverbunden und hängt mit dem Widerspruch zwischen demRationalisierungswettlauf der Kapitalisten und dessen ge-samtgesellschaftlichen Folgen zusammen. Je freier derMarkt in den Metropolen, um so kapitalintensiver die Pro-duktion, um so größer auch das Mißverhältnis zwischen derstark wachsenden Nachfrage nach Investitionsgütern undder vergleichsweise zurückbleibenden Nachfrage nach Kon-sumgütern. Je mehr Markt also, um so mehr Effizienz kom-petitiver Unternehmer, um so mehr aber auch gesamtwirt-schaftliches Ungleichgewicht.

6. Krise hat aus Sicht der Kapitalverwertung ein Doppel-gesicht: ständig drohender Betriebsunfall bis zur langfristi-gen Zusammenbruchsperspektive einerseits, Krisenangriffim Sinne der Nutzung oder gar Provokation des Ab-schwungs als Voraussetzung zur Wiederherstellung neuerVerwertungsbedingungen andererseits (sogenannte »entge-genwirkende Tendenzen«). Kapital geht damit ähnlich halb-freiwillig und mit demselben behaglichen Schaudern in dieKrise wie Kinder auf eine Geisterbahn. Denkbar genauso,daß es am Ende gestärkt herausfährt, wie daß es eines Tagesnicht mehr herausfährt.

7. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1857/59 hat der Kri-senangriff seinerseits das Doppelgesicht von Neuordnungder Art und Weise, wie die Werte angeeignet werden (Akku-mulation) sowie der Art und Weise, wie diese Wertaneignungreguliert wird (Regulation). So wichtig es ist, diese beiden

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2. Der Begriff Krise ist so, wie er im folgenden verwendetwird, nicht moralische, sondern ökonomische Kategorie. Erbezeichnet damit weder Hunger, Elend noch Umweltkata-strophen, noch Sinn- oder Staatskrisen, sondern einzig undallein eine tiefgreifende, langandauernde Infragestellung vonrentabler Kapitalverwertung. Er bezeichnet mehr als einenkurzfristigen, vorübergehenden Einbruch der Wirtschaft(»Rezession«) und deutet in letzter Konsequenz den mögli-chen Zusammenbruch von Kapitalismus an. Ausgangspunktder Verwertungskrise ist nach wie vor die produktive Sphäre(Wertschöpfung und -aneignung, Akkumulation), abgeleitetdavon betroffen und ihrerseits neue Ursache die Zirkulati-onssphäre (Überakkumulation). Mathematisch läßt sich dieFrage der Krise auf die Höhe des Strichs in der alten Marx-schen Formel G (ursprüngliches Geldkapital) – W (damitproduziertes Warenkapital) – G‹ (neues Geldkapital nachVerkauf des produzierten Warenkapitals am Markt) reduzie-ren.

3. Krise ist aber nicht nur einfach ökonomisch-techni-sches oder gar mathematisches Ergebnis stockender Kapi-talverwertung, sondern Ergebnis eines tendenziell ge-gensätzlichen Verhältnisses zwischen den Subjekten (Träge-rInnen) und den Objekten (Betroffenen) von Kapitalverwer-tung. Ob sich ein Phänomen wie etwa der im großen Stil ge-plante Massentourismus in der Südtürkei durchsetzt, ent-scheiden letztlich weniger die Preisstruktur des Weltmarktsund die Konsumkraft von MetropolentouristInnen (wieetwa Robert Kurz meint) als die praktische Ausdrucksweisedes Einverständnisses bzw. der Verweigerung mit dieser Artvon Verwertung hier und dort – und zwar weit gefaßt (mitinbegriffen jeder Widerstand nationaler, sozialer und ökolo-gischer Bewegungen dort wie auch die moralischen Skrupelmöglicher KonsumentInnen hier).

4. Wir haben, wie alle lebendigen Objekte von Kapital-verwertung, zusätzlich eine von der Kapitalbewegung unab-

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ria Mies, Claudia v. Werlhof). Gerade die Dialektik vonMehrwertaneignung aus Lohnarbeit und Wertraub aus un-freier Arbeit hat historisch zur Durchsetzung neuer kapitali-stischer Gesellschaftsformen geführt (siehe dazu etwa dieKriegsaktualität im Aufschwung nach dem Kriseneinbruchvon 1857/59, den Zusammenhang zwischen Fordismus,Prohibition und 1. Weltkrieg in den USA, Nationalsozialis-mus, 2. Weltkrieg und nachholender Fordisierung Europasoder auch zwischen Stalinismus und Staatsfordismus in derSowjetunion).

9. Im Unterschied zu früheren Kriseneinbrüchen (undbelehrt durch sie) hat sich Kapital mittels einer »Gloca-lism«-Strategie (global denken und planen, lokal handeln)unempfindlicher gemacht gegen regionale Kriseneinbrüche,gleichzeitig beweglicher in der Ausnützung regionalerBooms und in der Rentenabschöpfung auf »aufstrebendenMärkten« (»emerging markets«). 140 Jahre Krisenerfah-rung und Bestrafung von Dinosaurier-Verhalten haben Be-weglichkeit und Flexibilität gefördert und damit jenes Kapi-tal laufend gestärkt, das schon der Form nach die höchsteBeweglichkeit hat: weder branchenmäßig noch regional ab-hängiges, noch stoffwertgebundenes Finanzkapital. Wichti-ger und damit höher belohnt wird die richtige Erwartungdes zukünftigen Ertrags (Boom der Finanzmärkte) sowie derzu erwartenden Differentialrente von Boden (»Immobilien-spekulation«).

Dem Rationalisierungswettlauf der in der produktivenVerwertung tätigen Realkapitalisten entspricht der Wettlaufder Finanzkapitalisten um die möglichst frühzeitige Ab-schöpfung der Erträge aus der realen Verwertung – in Formvon den die Erträge so frühzeitig wie möglich vorwegneh-menden Kursgewinnen auf Finanztiteln und abgeleiteten Fi-nanzinstrumenten (Derivativen). Die Dividende (eigentli-cher Beteiligungsertrag der Eigentümer) wird so zum weniginteressanten, letzten Beutezug des Kleinaktionariats auf das

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Bereiche gedanklich zu trennen, so kurz greift es, ein politi-sches Programm als Programm anderer (sozialer oder ökolo-gischer) Regulation zu formulieren (wie es etwa Ernest Man-del schon 1972 macht). Ohne fundamentale Änderung derzugrundeliegenden Akkumulationsweise sowie der Geldor-ganisation sind solche politischen Programme weder sonder-lich aussichtsreich noch konkretutopisch, eben höchstens»solare« statt »soziale« Revolutionen (Elmar Altvater).

8. Jede Krisenanalyse, die den Blick nur auf Markt,Lohnarbeit, formelle Ökonomie, formellen Rechtsstaatrichtet, sieht nur die helle Seite des Mondes und wird inihrem »Verständnis« des Mondes zwischen Sichel undScheibe stehenbleiben. Sie wird die Spitze des Eisbergs fürden Eisberg halten und böse Überraschungen erleben, wennsie die kleine Scholle nur mal rasch beiseite schieben will.Sie wird insbesondere das »Geheimnis der ursprünglichenAkkumulation« nicht oder (wie Karl Marx) nur historischverstehen, bemerkt wohl die erlöschenden »Lichter desMarktes« (Robert Kurz), nicht aber das schon immer feh-lende Licht in der Rumpelkammer. Das ist nicht bloß histo-rische Lücke, sondern verstellt den Blick auf einen Bereichmit ökonomisch weitreichender Bedeutung (Oligarchie, Re-ligion, Mafia, externe Kosten usw.). Gäbe es nur Markt (alsoetwa für die Arbeitskraft nur Arbeitsmarkt), wäre Kapitalis-mus längst in der Krise »kollabiert« oder zerbrochen. Nungab es aber neben der Akkumulation aus Lohnarbeit (»Mehr-wertaneignung«, äquivalenter Tausch) stets eine Parallelak-kumulation aus Zwangsarbeit, gebundener Arbeit, Abhän-gigkeits- und Zuneigungsarbeit wie auch aus anderen For-men von Wertraub (Parallelakkumulation, nicht-äquivalen-ter Tausch). Rosa Luxemburg hat dazu schon 1912 in ihrerSchrift »Die Akkumulation des Kapitals« die theoretischeGrundlage gelegt, die Bielefelderinnen haben daraus ihreTheorie des »blinden Flecks« der orthodoxen politischenÖkonomie entwickelt (Veronika Bennholdt Thomsen, Ma-

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mics), beschäftigungsstützender Keynesianismus (siehe Clin-tonomics, Japan, EU-Gipfelbeschlüsse 1993).

12. Die Umstrukturierung in der Schweiz erfolgt ver-gleichsweise zögerlich, da hier bezüglich komparativer Ko-stenvorteile des Finanz- und Dienstleistungsplatzes langeeine komfortable Monopolsituation bestand, vergleichbaretwa mit jener des Informatikkonzerns IBM auf dessenMärkten. Abgestuft in den drei konjunkturellen Einbrüchenseit Mitte der siebziger Jahre, waren folgende Strategienund Angriffspunkte erkennbar:

– Die »Produktionsauslagerung« von Mitte der siebzigerJahre (»Ab in die Dritte Welt«, »neue internationale Arbeit-steilung«) mit einem Abbau von insgesamt 240 000 Arbeits-plätzen wird mittels Abschiebung ungarantierter ausländi-scher Arbeitskräfte kaschiert. Die Schwerpunkte des Arbeits-platzabbaus liegen in der Uhrenindustrie (- 40 000), der Tex-til- und Bekleidungsindustrie (- 60 000), der Maschinen- undMetallindustrie (- 30 000) sowie im Bau- und Holzgewerbe (- 40 000). Rund 60 Prozent der innerorts abgebauten Ar-beitsplätze werden in Billiglohnregionen neu aufgebaut.

– Zu Beginn der achtziger Jahre erfolgt eine »Rationali-sierungswelle« mit hohem Kapitalbedarf (»Swatchisie-rung«). Auffällig ist in der Folge die Teilenteignung der amWeltmarkt orientierten »Familiengesellschaft«, die trotzhohem persönlichen Reichtum nicht über ausreichende Fi-nanzkraft für die aufwendige Rationalisierung und den Auf-bau von Monopolstellungen verfügt (typisch dafür ist dieEntmachtung der Rüstungsindustriellenfamilie Bührle inder zweiten Generation, aber auch der Machtverlust zahlrei-cher Textildynastien in der vierten und fünften Generation).Nebenwirkung der Rationalisierung bei gleichzeitiger Be-kräftigung der Auslagerungsdrohung ist die Schwächung derGewerkschaften, exemplarisch in Italien (Niederlage imFiat-Streik 1981), im Kleinen aber auch in der Schweiz(Druckerstreik 1980).

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leere Bärenfell. Der frühzeitigen Beteiligung am Verwer-tungsertrag eines einzelnen kapitalistischen Betriebes ent-spricht die frühzeitige Abschöpfung veränderter Verwer-tungserträge in ganzen Währungsregionen (Devisenspeku-lation).

10. Das Anti-Krisen-Instrumentarium von Staat, Ver-bänden und Konzernen läßt sich auf der Ebene der Regula-tionsweise im Spannungsfeld zwischen Regulierung (Ein-griffe in den Markt, nachfragestützend) und Deregulierung(Marktschub, angebotsstützend) fassen. Regulierende undderegulierende Anti-Krisen-Strategie haben sich historischabgewechselt. Beide Strategien können Krisen entschärfenund aufschieben, beide können sie langfristig aber auch ver-schärfen. Wie lange und in welchem Maß staatliche Regulie-rung möglich ist, ist letztlich ein Problem ihrer Finanzie-rung: Sie scheint in den EG-Metropolen etwa auf halbemWeg ausgereizt (durchschnittlich 70 Prozent Staatsverschul-dung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt). Ab 100 Pro-zent Staatsverschuldung in Höhe des Bruttoinlandproduktsmuß rund eine Stunde eines achtstündigen Arbeitstages zurFinanzierung der Schuld (Zinsen, Amortisationen) aufge-wendet werden, nach eineinhalb Stunden dürfte eine»Schmerzgrenze« für rentable Kapitalverwertung über-schritten sein.

11. Die aktuelle Situation in den Metropolen, z.B. in denUSA, Japan, Großbritannien, der BRD oder der Schweiz,läßt sich kennzeichnen durch die Überlagerung der seit Mit-te der siebziger Jahre virulent gewordenen Weltwirtschafts-krise mit verschiedenen konjunkturellen Aufschwüngen undEinbrüchen seither. Der Krise wurde weltweit vorrangig mitangebotsorientierten Deregulierungsmaßnahmen begegnet(IWF, Reganonomics, Thatcherismus, Europäischer Wirt-schaftsraum, Europäisches Währungssystem), in den Metro-polen sekundär regulierend nachfrageorientiert mit einembegleitenden Rüstungskeynesianismus (siehe etwa Reagono-

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verband SMUV in der Schweiz mit neu geschaffenen Pro-jektgruppen für Beratung und Information der Betroffenen).

13. In der Schweiz liegt das Hautgewicht der staatlichenWirtschaftspolitik seit 1989 ebenfalls auf den angebotsori-entierten Deregulierungsmaßnahmen. Dieses Schwerge-wicht kommt im internationalen Vergleich relativ spät(»nachholend«), außerdem unmittelbar vor dem Konjunk-tureinbruch ab 1991. Es sollte via »external binding« durchAnschluß an den EWR (in der Schweiz nachvollzogen mit-tels eines »Eurolex«-Gesetzespakets) durchgesetzt werden.Nach der ablehnenden Volksabstimmung vom 1. Dezember1992 wird die Deregulierung verlangsamt und mittels Aus-nahmen in sensitiven Bereichen (Arbeitsmarkt, Bodenmarkt,Verkehrspolitik) durchgesetzt. Instrumente sind der vorder-gründig freiwillige »autonome Nachvollzug« (»Swisslex«)und die unfreiwillige Krötenschluckerei aufgrund der Er-gebnisse bilateraler Verhandlungen mit der EU. Von Wirt-schaftsseite wird der Konjunktureinbruch ab 1991 weitge-hend zum autonomen Vorvollzug benützt und bringt derSchweiz eine offene und verdeckte Arbeitslosenrate von eu-ropäischem Durchschnitt (um 10 Prozent), national immer-hin Jahrhundertrekord.

14. Die dreistufige Anti-Krisen-Strategie ist in dem Sin-ne Krisenangriff, als damit ein Umbau der Gesellschaft inRichtung auf eine neue Gesellschaftsformation (Akkumula-tion und Regulationsweise) vorangetrieben wird: Schlag-worte sind in diesem Zusammenhang die »Zweidrittelge-sellschaft«, der »Postfordismus« (ein Begriff des kleinstengemeinsamen Nenners) oder »Toyotismus« – eine Gesell-schaftsformation, die einen Teil der Gesellschaft (eben dasuntere »Drittel«) ausgrenzt, indem sie ihn durch die Ma-schen des staatlichen Netzes und der positiv-moralischen öf-fentlichen Wahrnehmung fallen läßt. Am Ende dieses Pro-zesses steht eine neue Identität des postfordistischen Subjek-tes oder genauer: neue aufgefächerte Identitäten der post-

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– Ab 1989 wird von Unternehmerseite die »Light«- und»Lean«-Welle propagiert gegen den »zu hohen Choleste-ringehalt« (Stephan Schmidheiny) des Schweizer Volkes mitden nach wie vor (zu) hohen Garantien von Staat, Landwirt-schaft, Industrie, Dienstleistungsbereich. Anvisiert wird »in-ternationale Wettbewerbsfähigkeit«, Stimmung gemachtmit einem drohenden Abstieg des Finanz- und WerkplatzesSchweiz in den weltweit geführten Investitions- und Rating-statistiken. Stephan Schmidheiny, ein Schumpeterscher In-dustrieller in der vierten Generation, macht sich gleichzeitigfür nachhaltigen, »intelligenten« und ökologisch verträgli-chen Kapitalismus stark (siehe dazu etwa die Position desvon ihm präsidierten Business Council am Erdgipfel von Rio1991).

Er gruppiert die von ihm geerbten Beteiligungen laufendneu, stößt ab, was nicht zum Kerngeschäft gehört, macht»schlank« (»lean production«), was ihm bleibt, und formtdie einstigen Maschinenindustriebeteiligungen zu einemTechnologiekonzern (ABB, Leica, Landis & Gyr). Ähnlichwie die Schmidheiny-Beteiligungen – wenn auch nicht mitderselben Dynamik – werden Staat und Gesellschaft»schlank« gemacht. Es entstehen »neue Selbständige« iminformellen Sektor, ein »Rassismus der Wohlanständigkeit«(Nora Räthzel), das Appenzeller Patriarchat wird marktför-mig modernisiert (notfalls mit Zwangseinführung desStimmrechts für Frauen via Bundesgericht). Ähnlich wie dieApartheid in Südafrika wird die Geschlechterdiskriminie-rung aus Verfassung und Gesetzen entfernt (neues Eherecht,Abschaffung des Nachtarbeitverbots), bleibt indessen durchden Markt abgesichert (unterschiedliche Kaufkraft, Löhne,Garantien, Inwertsetzung spezifischer Eigenschaften ent-lang den ethnischen und geschlechtsspezifischen Grenzen).Die geschwächten Gewerkschaften erhalten für den Fall ih-rer Kooperationsbereitschaft beim technischen und sozialenUmbau der Betriebe eine Assistenzrolle (siehe etwa IG Me-tall in der BRD oder der Metall- und Uhrenarbeitnehmer-

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einer konsensfähigen Basis in den oberen zwei gesellschaftli-chen Dritteln, halbwegs stabiler (weil sozial regulierter) stattabenteuerlicher Wildwestkapitalismus.

16. Die eingegrenzten zwei Drittel sind ihrerseits nichthomogen, sondern unterscheiden sich wiederum in ein obe-res Drittel (gut gesichert, gut verdienend, interessante Ar-beit) und ein mittleres Drittel, das flexibel sein muß (mittle-re Sicherheit und Einkommen). Das mittlere Drittel ist beiFehlverhalten abstiegsbedroht, gleichzeitig aber auch beibesonders gut gelungener Anpassung aufstiegsberechtigt(bildhaft deutlich in der Sandwichposition überangepaßterZellenchefs in der »teilautonomen« industriellen Fertigung:faktisch Kleingewerbler auf nicht gesicherter Basis).

17. Materialistisch richtet sich die Hoffnung auf Wider-stand gegen diesen gesellschaftlichen Umbau vorab auf dasuntere Drittel, das von Ausgrenzung bedroht ist. Wenn esrichtig ist, daß die Wahrheit über die Ausbeutung im Lohn-arbeitsbereich beim lohnabhängigen Proletariat liegt (KarlMarx), dann liegt die Wahrheit über die Ausgrenzung beimausgegrenzten Menschen und kollektiv in den ausgegrenztenSektoren der Unterklasse. Das heißt keineswegs, daß dieserSektor »automatisch« widerständig ist, sondern an sich amehesten das Bewußtsein über die Ungerechtigkeit einer Aus-grenzung und die Notwendigkeit einer fundamentalen Ver-änderung entwickeln wird. Ob daraus auch ein Bewußtseinfür sich entsteht, ist eine Frage des historischen Prozesses.Außerdem darf im mittleren und oberen Drittel auf Solida-rität gehofft werden, materialistisch werden sich solcheHoffnungen indessen nur in Ausnahmefällen erfüllen.

18. Hauptproblem des Widerstands ist seinerseits seineAuffächerung als Übernahme des organisatorischen Prinzipsvon Postfordismus. Als postfordistische Subjekte sind wirgegen die Differenzierung als organisatorisches Prinzip undgegen die Abgrenzung als Verhaltensmuster a priori so we-

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fordistischen Subjekte, nachdem das Grundprinzip die Dif-ferenzierung ist, das Grundmuster die Ab- und Ausgren-zung.

15. Postfordismus nach Schweizer Art unterscheidet sichaufgrund der weltwirtschaftlichen Position von anderenFormen dieses Umbaus sowohl bezüglich Härte und Tempoder Ausgrenzung wie auch bezüglich des Ziels: Die soziale(Ultra-)Stabilität ist für den Liechtenstein-Fleck Schweiz imweltwirtschaftlichen Leopardenfell (Hochwertschöpfungs-region, Finanzplatz, Headquarter-Standort, Humanitätstra-dition) nach wie vor zu wichtig, als daß das Haus mit dem ei-sernen Besen gekehrt würde. Es wird mit dem Flaumer »inOrdnung gebracht«: Der konsenfähige Rassismus ist nichtoffen, blutig oder im ethnischen Anspruch »höherwertig«(»Herrenmensch« oder rassisch fundierte Weltherrschafts-ansprüche), sondern abwägend und pseudo-intellektuell dif-ferenzierend, versteckt sich in Kriminalitäts- und Zahlungs-bilanzstatistiken, ist überwiegend »rechtsstaatlich« abgesi-chert und macht angebliche ethnische Unterschiede an Ei-genschaften und Verhaltensweisen fest. Marktförmig kanner ethnisch zugeordnete Eigenschaften und Verhaltenswei-sen in Wert setzen (»Multikulturalität« von Gastronomieund Kulturbetrieb). Typisch für den »weichen« SchweizerWeg in den Postfordismus sind die Synthese von Repressionund Aufweichung der Prohibition im Bereich illegaler Dro-gen durch das Innenministerium (unter »weicher« Füh-rung), die zögerliche Sanierung der Staatsfinanzen, die nichtüber Leichen geht (»Stichonomics«), sowie die im interna-tionalen Vergleich »sanfte« Renovation von Kranken- undAltersversicherung. Noch das oberste Gremium der Schwei-zerischen Bankgesellschaft beruft sich in einem Konflikt miteinem am US-Standard orientierten Raider auf seine »sozia-le Verantwortung« gegenüber ihren Beschäftigten, Kunden,vorab im Klein- und Mittelgewerbe als Publikums- undVolksbank. Dies ist mehr als Ideologie: Es ist die Suche nach

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Ernest MandelNichts gegen junge Bankangestellte ...Die »langen Wellen« der kapitalistischenEntwicklung

Seit 1973 befindet sich die kapitalistische Weltwirtschaft ineiner langen Depression, die das, was man im Englischen»soft landing« nennt, in absehbarer Zeit ausschließt. Inner-halb der langen Depression, der langen Wellen, wie das inmeinem Jargon heißt, gibt es den normalen Konjunkturzy-klus, also die Auf- und Abbewegungen der Produktion unddes Profits. Aber, und das ist das Kennzeichen dieser langenWelle, es kommt beim Konjunkturaufschwung nicht zu ei-nem Abbau der Erwerbslosigkeit. Diese steigt ununterbro-chen, nicht nur in der Dritten Welt, wo sie horrende For-men angenommen hat, nicht nur in den nachstalinistischenGesellschaften im Ostblock und der ehemaligen UdSSR. Siesteigt auch im Westen.

Um es auf einen einfachen Punkt zu bringen: Die offizi-ellen Zahlen sind gefälscht. Viele der tatsächlichen Erwerbs-losen – Frauen, Jugendliche und nichtqualifizierte männli-che Arbeiter – kommen in der Statistik nicht vor, weil, wie esin der zynischen Sprache der bürgerlichen ÖkonomInnen soschön heißt, diese Leute vom Arbeitsmarkt verschwundensind, sie davon ausgeschlossen wurden. Die Hauptursachedieser Massenerwerbslosigkeit ist einfach zu erklären, beina-he schon eine arithmethische Frage. Die dritte technologi-sche Revolution mit der Halbautomatisierung, Miniaturisie-rung und der Steigerung der materiellen Produktivkräftewirkt weiter. Ein Beispiel aus Belgien: Einer der klassischen

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nig gefeit wie gegen Fast food, Wohnwand und TV-Sams-tagabend im Fordismus. Die Differenzierungs- und Abgren-zungsmuster sind zwischen Metropole und Peripherie rie-senhoch aufgebaut, zwischen Vollanspruchberechtigten,Minderanspruchsberechtigten und Nicht-Anspruchsberech-tigten staatlicher Leistungen, Lohnarbeit und Nicht-Lohn-arbeit (letztere nach wie vor hauptsächlich Frauenarbeit). DieLohnarbeit selber hat sich aufgefächert in solche fürSchwarzarbeitende, flexibel Beschäftigte, Beschäftigte in derZulieferpyramide, Stammarbeiter im Kernbetrieb, interme-diäre Zellenchefs und Inselleiter usw. Die gesellschaftlicheAnalyse vagabundiert zwischen Neuauflagen aller historischbekannter Formen von Idealismus und Materialismus, diepolitischen Strategien auf der Linken zwischen allen Formenvon Reformismus und revolutionärem Weg. Die Eingren-zung führt zu Anpassung in allen Formen zwischen Karriereund Resignation, die Ausgrenzung zur Nicht-Anpassung inebenso vielen verschiedenen Formen zwischen Selbstzer-störung, Flucht in Esoterik, Selbstaufgabe in mafiöser Hier-archie bis zu hoffnungsvollen Formen von Selbstorganisati-on. Wenn schon, ist der Leopardenfleck »Liechtenstein« na-mens Schweiz vor dem Hintergrund der gesamten Weltwirt-schaft die negative Bestätigung einer weltweiten Angleichungder Proletarität, wie sie etwa Karl Heinz Roth vermutet. Auf-fächerung in der Angleichung vielleicht, Angleichung in derAuffächerung womöglich, Auffächerung zur Ungleichheitsicher.

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walten von einem Tag auf den anderen Milliarden vonDollar und haben sich dabei offensichtlich mehrere Maleihre und die Finger ihrer Bank verbrannt. Das gilt für dieSchweiz genauso wie für die USA, Großbritannien und et-was abgeschwächter auch für Frankreich und Belgien, wodie Bankenkontrolle paradoxerweise dank der größeren Ver-staatlichung der Banken seriöser ist und es zu weniger Skan-dalen kommt.

Es gibt Versuche, im Namen der Rentabilität sogenann-te kostensparende Eingriffe etwa bei den Unterrichtsausga-ben oder den Ausgaben für die soziale Sicherheit durchzu-führen. Diese Logik ist brutal und zynisch. Je länger die De-pression dauert und die Erwerbslosigkeit steigt, um so ge-schwächter ist die organisierte ArbeiterInnenbewegung bzw.-klasse.

Ich meine das im weitesten Sinn des Wortes, nach derDefinition wie sie Plechanow und Lenin im ersten Pro-gramm der russischen Sozialdemokratie formuliert haben.Die LohnarbeiterInnnenklasse besteht aus denjenigen, dieunter dem ökonomischen Zwang stehen, ihre Arbeitskraftzu verkaufen. Es sind also nicht nur Industriearbeiter undvor allem nicht nur männliche Industriearbeiter. Dazugehören auch die Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst,im Dienstleistungssektor, in allen Bereichen.

Hinter dieser Offensive des Kapitals, einer neokonserva-tiven Offensive im Weltmaßstab, liegt eine für das Kapitalselbst gefährliche, ich würde beinahe sagen schwachsinnigeIllusion: daß die Folgen des Sozialstaatabbaus keine negativeAuswirkung auf die bürgerliche Klasse selbst hätte. Das istgrob gesagt Unsinn. Es gibt dafür einen historischen Präze-denzfall. Der Anfang der modernen, öffentlichen Hygiene(so simple Sachen wie die Kanalisation) lag in der Tatsachebegründet, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts armutsbe-dingte Seuchen, ich denke in erster Linie an die Cholera,auch in den reichen Vierteln der kapitalistischen Großstädteausbrachen. Das Bürgertum fing an, sich darum zu sorgen,

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belgischen Industriezweige war die Papierherstellung undalles, was damit zusammenhing. Heute gibt es in Belgieneine einzige Papierherstellungsmaschine, die täglich mehrPapier produziert, als in ganz Belgien und Holland verkauftwerden kann. Dies nur als Beispiel, ich könnte eine ganzeReihe von anderen Beispielen anführen, die in dieselbeRichtung gehen.

Welches ist die empirische Bestätigung der langen Wel-len – liegt sie allein in der Massenerwerbslosigkeit? An undfür sich ist das nicht unwesentlich, aber die Ursache liegtnicht allein darin. Sie hat ihre Ursache vor allem in der Re-privatisierung des Geldes, oder, wie es die landläufige For-mel umschreibt, in der wachsenden Globalisierung derWeltwirtschaft, der wachsenden Internationalisierung desKapitals, welche letzten Endes durch die immer stärker her-vortretende Steigerung der Produktivkräfte begründet ist.

Die Spekulation auf den Devisenmärkten in der Weltwird von den Großbanken und von einem nicht unbedeu-tenden Teil der Großindustrie, d.h. vom Kern der kapitali-stischen Klasse, getragen.

An diesem Tatbestand läßt sich wenig ändern. Das hatetwas zu tun mit der Globalisierung der Weltwirtschaft, aberauch mit der technologischen Revolution im Geldhandel(das ist nicht genau der richtige Ausdruck dafür, aber das isthier nicht das Thema). Durch die Anwendung der elektroni-schen Verfahren auf den Devisenmärkten kann man in Se-kunden Milliarden von Dollar von einem Land ins andere,von einem Kontinent in den anderen transferieren. Und die-ser Prozeß entzieht sich jeglicher Kontrolle, auch derjenigender Nationalbanken. Eine der Folgen dieses riesigen Wachs-tums der Bankenaktivität ist, daß das durchschnittliche Ni-veau der Qualifizierung der Bankangestellten katastrophalgesunken ist. Es gibt Großbanken, welche die Verwaltungvon Milliarden von Dollar in die Hände von einzelnen jun-gen Bankangestellten (ich habe nichts gegen junge Bankan-gestellte) legen, die ohne jegliche Erfahrung sind. Sie ver-

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sache, daß sich die heutigen Atomkraftwerke mit der soge-nannten friedlichen Nutzung der Kernenergie, durch denGebrauch von klassischen Waffen nicht nur zu einem, son-dern zu Hunderten von Hiroshimas entwickeln könnten.Wenn man diese Atomkraftwerke mit klassischen Waffenbeschießt, werden sie zu Atombomben mit all den verhee-renden, menschenvernichtenden Folgen. Und wir haben er-lebt, daß sich diese Folgen keineswegs auf die in unmittelba-rer Nachbarschaft lebende Bevölkerung beschränken. Nachdem Reaktorunfall in Tschernobyl war nicht nur die Ukrai-ne verstrahlt, betroffen waren auch Lappland und weit öst-lich und westlich der Ukraine liegende Länder.

Der Kampf für die Abschaffung der Atomkraftwerke istein realistisches Ziel, viel realistischer als all die beschränk-ten Maßnahmen, die von internationalen Instanzen vorge-schlagen werden. Wenn dieser Unfug nicht verschwindet,droht die Menschheit zu verschwinden.

Die Masse der Lohnabhängigen, so wie ich sie vorhergeschildert habe, reagiert, und sie reagiert viel stärker, alsman das noch vor fünf Jahren geglaubt hat. Der Umfangdieser Reaktion kann sehr breit sein. Er wird von einer be-wußtseinsmäßigen Frechheit, auf französisch sagt man »in-solence«, getragen, die alles übersteigt, was aus der Vergan-genheit bekannt ist.

Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staatenüber ein beinahe totales Abtreibungsverbot abstimmte, sindeine Million amerikanische Frauen auf die Straße gegangenund haben gesagt: Wir scheren uns einen Dreck um die Ge-richte, wir bestimmen unser Schicksal selbst. Als vor einigenWochen das italienische Parlament unter dem ziemlich in-kompetenten neuen Premierminister Berlusconi einen An-griff auf die Altersrenten und einige andere Sozialeinrich-tungen verkündete, sind drei Millionen italienische Lohnab-hängige auf die Straße gegangen und haben ebenfalls gesagt:Wir scheren uns einen Dreck, was dieses Parlament, wasdieser Premierminister, beschließen – wir bestimmen unser

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nicht aus sozialem Gewissen, das war nur die nachträglicheRationalisierung, sondern aus Angst. Und heute ist dasGroßbürgertum im Weltmaßstab, einschließlich der reich-sten Länder des Westens, mit einer ähnlichen Problematikkonfrontiert, ohne sich darüber jedoch Rechenschaft abzule-gen. Armutsbedingte Seuchen wie Tuberkolose und Choleragreifen unvermeidlich von der Dritten Welt in die reichstenLänder des Westens über, und die Illusion, daß die reichenViertel davon verschont werden, ist Irrsinn. Wie im 19.Jahrhundert wird es schon wegen des Selbsterhaltungstriebszu einer Reaktion kommen, mit Verspätung, aber mit ver-heerenden Folgen für die gesamte Bevölkerung der reiche-ren westlichen Länder.

Was die neokonservative Ideologie kennzeichnet, ist einewiederum beinahe schwachsinnige Unterschätzung der Ge-fahren, welche die ganze Weltbevölkerung bedrohen. Dievier Reiter der Apokalypse sind bereits unterwegs, und wirspüren ihren Atem bereits im Nacken. Kernenergie, Kriegund Hunger in der Dritten Welt werden politische Folgenhaben, welche die Demokratie bedrohen werden.

Dazu ein fürchterliches Beispiel. Jedes Jahr sterben inder Dritten Welt 26 Millionen Kinder aus Hunger und auf-grund von leicht heilbaren Seuchen. Das ist die schrecklicheRealität des Weltkapitalismus heute. Wer das nicht sieht,wer davon die Augen verschließt und glaubt, das sei unver-meidlich und normal, ist ein Mensch, der nicht mit denFüßen in der Wirklichkeit steht. Es gibt ein altes berühmtesWort von Rosa Luxenburg: Die Menschheit hat die Wahl:Sozialismus oder Barbarei. Heute können wir mit vollerVerantwortung und aus Kenntnis der Weltwirklichkeit mehrRealismus als die Neokonservativen an den Tag legen undsagen, die Menschheit hat die Wahl: Sozialismus oder physi-sche Vernichtung. Nicht nur die der Menschheit, sondernwahrscheinlich jeglichen Lebens auf dieser Erde. Zu dieserThese folgendes Beispiel: Jedermann kennt die Folgen desAtomkriegs. Woran man nicht oder kaum denkt, ist die Tat-

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der Praxis lösen. Es muß etwas Ähnliches (ich sage das jetztganz verkürzt, historische Analogien sind nie richtig, immerhypothetisch) geschehen wie die Russische, Deutsche oderSpanische Revolution, welche die Menschen durch ihren In-halt und ihre praktische Wirkung überzeugt. Wann das ge-schehen wird, weiß kein Mensch, vielleicht wird es zehn Jah-re dauern, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig. Aber eineskann ich mit großer Selbstsicherheit sagen: Was noch vorfünf Jahren als unvermeidlich erschien, der weltweite Tri-umph des Neokonservativismus, das wird in den kommen-den Jahren als völlig illusorisch erscheinen. Die Welt wird infünf Jahren ganz anders aussehen als heute. Ich möchte zweiGründe für diesen vorsichtigen Optimismus angeben. Deneinen Grund hat der große englische Revolutionär Shelleyin einem kurzen Satz zusammengefaßt: we are many, theyare few. Wir haben die Macht der großen Zahlen hinter uns.Ich möchte das mit einer Zahl, die Sie wahrscheinlich er-schrecken wird, bestätigen: Im Weltmaßtab ist die Klasseder Lohnabhängigen auf mindestens eine Milliarde Men-schen gestiegen, und sie steigt ununterbrochen.

Ich möchte zwei Zahlen nennen: In Indien gibt es über100 Millionen LohnarbeiterInnnen, ohne das, was man imMarxschen Sinne als Halbproletariat bezeichnet, mitzurech-nen, das heißt die armen Bauern und Bäuerinnen, die einemTeil des Jahres gezwungen sind, als LohnarbeiterInnen zuarbeiten, weil sie sonst nicht genug zu essen haben. In Chinagibt es über 300 Millionen LohnarbeiterInnen, das Halb-proletariat aus den Dörfern nicht mitgezählt. Sie können je-den Tag in nicht-marxistischen, seriösen Tageszeitungen le-sen, daß durch eine Reihe von Wirtschaftsprozessen, die ichjetzt hier nicht im einzelnen beschreiben will, DutzendeMillionen armer Bauern und Bäuerinnen in die Städte wan-dern, um zu versuchen, sich als Arbeitskraft zu verdingen,weil sie auf dem Dorf verhungern, und daß die Regierungeine riesige Angst vor den politischen Folgen dieser Massen-flucht hat. Das ist eine der großen historischen Voraussagen

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Schicksal selbst. Es fehlt also nicht an Massenreaktion, in ei-nem Land mehr, in einem anderen weniger.

Ein drittes Beispiel, worauf ich besonders stolz bin, weilda die GenossInnen meiner Kapelle doch eine entscheiden-de Rolle gespielt haben: Als der ehemalige brasilianischeStaatspräsident, eine total korrupte Figur, sich an die Machtklammerte, sind über eine Million Menschen, geführt durchdie PT (die ArbeiterInnenpartei), auf die Straße gegangenund haben gefordert, dieses korrupte Schwein muß weg, undsie erreichten seinen Rücktritt. Es ist also nicht das Problem,daß es keine Massenreaktionen gibt, aber diese Massenreak-tionen spielen sich in einem weltweiten Klima der tiefenGlaubwürdigkeitskrise des Sozialismus ab. In den Augen derMehrheit der Lohnabhängigen, männlicher und weiblicher,haben der Stalinismus und der Nachstalinismus total ver-sagt, ebenso die Sozialdemokratie. Für sie gibt es keineglaubwürdige Alternative links von diesen zwei traditionel-len Strömungen der ArbeiterInnenbewegung und -klasse.Wir, ich meine damit sämtliche Kräfte links vom Neostali-nismus und der Sozialdemokratie, werden nicht als eine aufabsehbare Zeit relevante, fähige Alternative angesehen. Mansympathisiert mit uns, findet uns ehrliche Leute, wir sindkeine korrupten SchwindlerInnen, aber man traut uns nichtzu, daß wir uns im Rahmen der von uns befürworteten de-mokratischen Verfassung durchsetzen werden. Unser Sozia-lismusprojekt muß von der Selbstverwaltung getragen wer-den, das heißt von der aktiven Beteiligung der großen Mehr-heit der Bevölkerung – das kann nicht geschehen, wenn mannicht daran glaubt. Das führt zu einem grundlegenden Wi-derspruch. Die großen Massenbewegungen, die ich aufge-zählt habe, sind fragmentiert und diskontinuierlich und kön-nen deshalb in unmittelbarer Zukunft noch von der beste-henden Ordnung, in erster Linie von den staatstragendenParteien inklusive der Sozialdemokratie und den neosozial-demokratischen EurokomunistInnen, rekuperiert werden.Dieses Problem kann man nicht theoretisch, sondern nur in

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mit der Formel Solidarität umschreiben – Kooperation inweltweitem Ausmaß, ohne Differenzierung, ohne Segregati-on, ohne Zersplitterung, ohne die Unterordnung eines Teilsder Ausgebeuteten und Unterdrückten unter irgendeinhöheres Ziel – es gibt kein höheres Ziel als die Emanzipati-on, im weitesten Sinne des Wortes.

Und hier kommt eine nicht zu unterschätzende Gefahrauf uns zu: Worauf spekuliert das Großkapital? Es spekuliertdarauf, daß die Ideologie der Zersplitterung, der Individuali-sierung, der Entsolidarisierung auf die Klasse der Lohnab-hängigen selbst übergreift. Wir müssen uns klar sein, daß essich um einen realen und selbstmörderischen Trend handeltund daß dieser verheerende Folgen haben kann, wenn es zueiner neuen, höheren Welle der Wirtschaftsdepression undder Erwerbslosigkeit kommt. Schon Albert Einstein, keinMarxist, ein religiöser Sozialist und ein kluger Mann, hat inden 30er Jahren die lapidare Formel aufgestellt: Man kannden Faschismus nicht bekämpfen, wenn man nicht die Er-werbslosigkeit radikal ausschaltet. Das ist heute genausowahr wie damals. Und die große Gefahr ist, daß, wenn es an-statt des heutigen Umfangs der Erwerbslosigkeit zu zwei-oder dreimal mehr Erwerbslosen kommt, bei der nächstenWelle der Depression, der Rezession im Rahmen dieser De-pression, daß dann die Gefährdung der politischen Demo-kratie, die Gefährdung der Menschenrechte auf die Tages-ordnung gesetzt wird. Dann verbreitet sich Rassenhaß, Ju-denhaß, Haß gegen die Schwarzen, die AsiatInnen, engstir-niger Nationalismus weltweit in absolut irrationaler Weise.In Japan, wo es praktisch nie Juden oder Jüdinnen gegebenhat, wird das klassische Fälschungsprodukt, die Protokolleder Weisen von Zion, das Hitler in einem großen Maße ani-miert und inspiriert hat, massenweise verbreitet und findetAnklang.

Eine Umfrage hat erwiesen, daß 35 Prozent der japani-schen Bevölkerung, welche nie einen Juden oder eine Jüdingesehen haben, glauben, daß es eine Weltverschwörung des

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von Karl Marx, die Wirklichkeit geworden ist, und die ihnnicht zu einem Kapitalismuskritiker des 19. Jahrhundertsmacht, sondern zu einem genialen Propheten des 21. Jahr-hunderts.

Zu der Zeit, als Marx diese These aufstellte, widersetztensich die LohnarbeiterInnen gegen die unmittelbaren Folgender kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung. Meistendeten diese Kämpfe mit Niederlagen. Aber eines lerntendie lohnabhängigen Klassen aus diesen Niederlagen: dieNotwendigkeit, sich zu organisieren. Als Marx das schrieb,gab es in der ganzen Welt wahrscheinlich nicht mehr als hun-dert – oder hundertfünfzigtausend organisierte Lohnabhän-gige. Heute gibt es kein Land, keine Insel, keine auch so ab-gelegene Gesellschaft, wo es nicht eine organisierte Lohnar-beiterInnenschaft gibt. Dieser Trend wird sich verstärken.

Es gibt einen zweiten Grund für meinen vorsichtigenOptimismus. Diesen Grund möchte ich mit einer Anekdoteumschreiben – die Geschichte der drei Frösche: Drei Frö-sche sind in ein Milchfaß gefallen. Der erste Frosch, derneokonservative Frosch, sagte: »Wir sind ja sowieso verlo-ren, das ist nichts anderes als die Erbsünde, Frösche sindschlecht, bleiben schlecht, sind zum Untergang verurteilt«.Er blieb untätig und ertrank. Der zweite, sozialdemokrati-sche Frosch, ohne Zweifel etwas sympathischer als der erste,meinte: »Och, das ist alles halb so wild, wir werden schoneine Lösung finden, es wird schon noch«. Er tat nichts undertrank ebenfalls. Der dritte Frosch, sagen wir mal der sozia-listische, kommunistische Frosch, man kann ihn nennen wieman will, (nicht nur auf meine Kapelle bezogen), sagte:»Was haben wir denn zu verlieren, wir sehen, die beiden an-deren Frösche sind ertrunken, laßt uns so viel zappeln wiewir können, es kann doch nur besser sein, als nichts zu tun.«Und er zappelte wie wild, und siehe da, die Milch ward zuButter, der linke Frosch konnte herausspringen und wardgerettet. Das ist ein Plädoyer für Aktion, für Aktivität, fürTätigkeit, für Widerstand, für Rebellion, für das, was wir

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kommen heute und sagen mit drohendem Zeigefinger:»Wenn man uns keine Zugeständnisse macht, dann verla-gern wir den Arbeitsplatz nach einem Billiglohnland.« Daskönnen sie machen, es gibt immer Länder mit niedrigeremLohn. Die einzige mögliche und realistische Antwort aufdiese Strategie ist eine weltweite Solidarität und Kooperati-on aller Lohnabhängiger untereinander. Das ist nicht leichtdurchzusetzen, da mache ich mir keine Illusion, das kannJahre dauern. Ich habe einmal das Wort geprägt, es mag einbißchen seltsam klingen: Heute ist die größte Waffe in denHänden von kämpferischen GewerkschaftlerInnen dasAdreßbuch, oder etwas moderner: das Fax-Gerät. Und dannder einfache Entschluß, sobald irgendeine Verlagerung vonArbeitsplätzen in einem Betrieb stattfindet, die Kolleginnenund Kollegen aller Betriebe, die in diesem Arbeitszweig ar-beiten, auf der ganzen Welt zu informieren und zu fragen:Was machen wir dagegen? Anfangs werden sie nicht viel ma-chen, dann mehr und mehr, und dann werden sie dafür sor-gen, daß gemeinsam weltweit gehandelt wird. Das wirdWirklichkeit werden. Wie lange es dauern wird, weiß ichnicht, aber der Zeitpunkt wird kommen.

Natürlich ist es nicht einfach. Menschen agieren nichtfür etwas, woran sie nicht glauben. Ich betone nochmals:Die weltweite Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus hatohne Zweifel zu Tendenzen der Differenzierung und Entpo-litisierung innerhalb der LohnarbeiterInnenschaft geführt.Zudem gibt es verschiedene Niveaus des Arbeitsplatz-schutzes. Es gibt die im großen und ganzen noch immer vollgeschützten Lohnabhängigen, es gibt die nur teilweise ge-schützten, entqualifizierten, und es gibt die überhaupt nichtmehr geschützten.

Als trauriges und symbolisches Beispiel möchte ich dieSituation im Pariser Faubourg Saint-Antoine anführen, wofünf Revolutionen angefangen haben. Dort gibt es einenPlatz, wo jeden Morgen illegale ImmigrantInnen, welchevon den UnternehmerInnen nach Gutdünken erpreßt wer-

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internationalen Judentums gibt, wogegen man sich wider-setzen muß. In der ehemaligen Sowjetunion, heute das Landmit dem größten Antisemitismus, gibt es Irrsinnige, mankann sie ja nicht anders nennen, die mit Hitler-Bildern aufihren T-Shirts herumspazieren und behaupten, Hitler hatnur einen Fehler begangen, er hat zuwenig Juden umge-bracht, sie würden es das nächste Mal besser tun. Und das ineinem Land, wo die Nazis mindestens 30 Millionen Men-schen umgebracht haben. Das ist völliger Irrsinn, aber mankann von diesen Leuten nicht rationale Argumente erwar-ten, man kann sie nur in der Praxis besiegen, und das bedeu-tet, wie bereits gesagt, die Erwerbslosigkeit mit einer sofor-tigen radikalen Verkürzung der Arbeitszeit auf maximal 30Arbeitsstunden pro Woche zu bekämpfen. Das ist die einzi-ge Möglichkeit, diese fürchterliche Gefahr, die da auf unszukommt, im Weltmaßtab zu besiegen.

Hier muß man eines unterstreichen. Es gibt keine be-schränkte Solidarität, das ist unmöglich. Wenn der Wille zurSolidarisierung und zur Kooperation bei einem entschei-denden Teil der Lohnabhängigen verschwindet, dann fängtes mit dem engstirnigen Nationalismus, Land gegen Land,an. Ein klassisches Beispiel sind die USA. Die Lohnabhängi-gen in der Automobilindustrie sagen: Die Japaner sindschuld an unserer wirtschaftlichen Krise. Zusammen mitden Unternehmern setzen sie sich für eine protektionisti-sche Politik gegen den Import von japanischen Autos ein.Das ist ökonomisch total sinnlos.

Aber so fängt es an: Nach Land gegen Land wird es zuProvinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Stadtteil gegenStadtteil kommen, so weit ist es schon in einer ganzen Reihevon Ländern. Solidarität kommt entweder generell unbe-schränkt und im Weltmaßstab, ohne jegliche Form der Dis-krimination zum Tragen, oder sie wirkt nicht und ist irrele-vant. Davon können wir ausgehen, und ich hege einen mil-den, gemäßigten Optimismus. Die größten Erzieher zurgrenzenlosen Solidarität sind ja die Multis selbst. Die Multis

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arbeiterInnen, aber immerhin. Wir haben hier eine prakti-sche Anwendung von dem, was ich in meinem Referat her-vorheben will, nämlich daß der Begriff LohnarbeiterIn, dieKlasse der Lohnabhängigen, ein gesamtgesellschaftlicherBegriff ist. Wenn man ihn auf männliche Arbeiter in derklassischen Großindustrie beschränkt, dann geht diese Zahlzurück, nicht in allen Ländern, sie verlagert sich, geht aberim Weltmaßstab zurück. Das ist aber eine falsche Definition,nicht allein aus theoretischen, sondern aus praktischen Er-wägungen. Ein Beispiel: Bergarbeiter, Stahlarbeiter oder Ar-beiter in der Maschinenbauindustrie konnten auch in derbesten Zeit die kapitalistische Wirtschaft nicht völlig lahm-legen. Das haben sie nie gemacht und nie gekonnt. AberBankangestellte können das mit viel größerer Wirksamkeit.ArbeiterInnen des Telekommunikationssektors können heu-te mit viel größerer Wirksamkeit die kapitalistische Wirt-schaft komplett lahmlegen. Nirgends kann eine kapitalisti-sche Wirtschaft ohne Banken funktionieren, das ist unmög-lich. Nach einer Woche würde die Wirtschaft zusammen-brechen. Ich stelle fest, daß in mehreren Ländern in derWelt, ich könnte mehrere aufzählen, inklusive Belgien, beiden Bankangestellten der Grad des Selbstbewußtseins unddes Willens zur Durchsetzung ihrer potentiellen gesell-schaftlichen Macht steigt. Das sind keine rosigen Aussichtenfür die bürgerliche Klasse, und sie macht sich darüber zuRecht große Sorgen.

Die Schlußfolgerung lautet also: Widerstand, Rebellion,unbegrenzte Solidarität. Die unbegrenzte Überzeugung,daß letzten Endes die lohnabhängigen Menschen, die 99Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ihr Schicksalselbst in die Hände nehmen und bestimmen können.

(Mündliches Referat. Schriftliche Überarbeitung unter Einbezie-hung von Antworten auf Fragen aus dem Publikum: DanielStern/Kari-Anne Mey)

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den können, herumstehen und sich zu Hungerlöhnen ver-dingen. Die Löhne sind noch immer etwas höher als dieHungerlöhne, die sie in ihrer Heimat erhalten. Die Unter-nehmerInnen können mit ihnen anfangen, was sie wollen,sie erpressen und sie benutzen, um den Durchschnittslohnzu drücken, was sie selbstredend auch tun. Aber jetzt möch-te ich die Gegenseite der Medaille zeigen. Gleichzeitig hatdiese wachsende Spaltung der Lohnabhängigenklasse zu ei-nem von der Unternehmerschaft gänzlich unerwarteten Er-gebnis geführt. Die entqualifizierten LohnarbeiterInnensind zu einem aktiven, selbstbewußten Widerstand unfähig,aber gleichzeitig findet ein wachsendes Selbstbewußtseinunter den hochqualifizierten Lohnabhängigen statt. Es gibtein geflügeltes Wort, das am ersten Kongreß der polnischenSolidarnosc von einem Genossen (der jetzt Mitglied der4. Internationalen geworden ist) geprägt wurde: »die daoben, korrupt und inkompentent«. Das »korrupt« ist nichtsNeues, aber das »inkompetent«, das ist eine riesige Ände-rung in der Mentalität eines Teils der ArbeiterInnenklasse.Ich habe Arbeiterschulungskurse und Gewerkschaftsschu-lungskurse durchgeführt, in den letzten zwanzig, fünfund-zwanzig Jahren wahrscheinlich vor mehr als 100 000 Ge-werkschaftlerInnen gesprochen. Die allgemeine Reaktionder ArbeiterInnen und GewerkschaftlerInnen, die an diesenKursen teilnahmen, war: Naja, was du da sagst, ist alles sehrschön, wir können froh sein, wenn sich das in die Tat um-setzt, aber wie können wir denn ohne Techniker, Ingenieure,Fabrikdirektore auskommen, dazu haben wir die Fähigkeitdoch gar nicht. Das hat sich jetzt geändert, und es heißt: Wirkönnen es besser als die Ingenieure, die können es nur theo-retisch, wir haben die tägliche Praxis im Betrieb. Sie werdenihnen auf die Schulter klopfen, ohne Gewalt, die ist garnicht notwendig, und sagen: Geht weg, ihr seid unnötig, wirbrauchen euch nicht, wir können es besser als ihr.

Das ist eine große Änderung in der Mentalität. Ich gebegerne zu, es handelt sich nur um einen Bruchteil der Lohn-

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Robert KurzMit Volldampf in den Kollaps

Wir leben heute in einer sehr seltsamen Situation; noch niein der Geschichte der Modernisierung – also in den letztenzwei- bis dreihundert Jahren – hat es eine Situation gegeben,die von einer weltweiten sozialen Krise geprägt wurde, inder ein derartiges ökologisches Zerstörungspotential aufge-baut worden ist und in der so viel kulturelle Zerstörung undVerwahrlosung um sich gegriffen hat, bis hin zu Tendenzenin Richtung einer neuen Barbarei.

Und das Seltsame und Paradoxe dabei ist gleichzeitig,daß in den letzten dreihundert Jahren die Gesellschaftskritiknoch nie so stark abgerüstet hat wie heute. Diese Paradoxiegilt es zu erklären, denn die Welt war noch nie so kritikwür-dig wie heute. Oberflächlich ist der Grund für diesen Wi-derspruch leicht auszumachen, er läßt sich in den Kontextdes Zusammenbruchs des Staatssozialismus im Osten stel-len. In den letzten Jahrzehnten war jene Theorie, welche dasZentrum der Gesellschaftskritik der letzten hundert Jahregebildet hat, nämlich der Marxismus, stark vom Bezug aufdiesen Staatssozialismus eingefärbt. Selbst jene KritikerIn-nen im Westen, welche ein kritisches Verhältnis zur Sowjet-union oder zu China hatten, nahmen, wenn auch untergrün-dig, in ihrer Basisargumentation Bezug auf diesen Staatsso-zialismus. Die Folge ist, daß es uns in gewisser Weise allendie Sprache verschlagen hat.

Das Problem, das hier drinsteckt, läßt sich wohl nur lö-sen, wenn man den Bezugsrahmen erweitert und nicht nur

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lismus mit dem Begriff der »nachholenden Industrialisie-rung« verbunden. Aber diese Reduktion bedeutet, das Pro-blem bloß auf der quasi technischen Ebene der Industriali-sierung und ihrer Kosten zu suchen und nicht von den ge-sellschaftlichen Formbestimmungen auszugehen. Nachho-lende Industrialisierung, das konnte nur ein Problem der –vom modern-kapitalistischen Standpunkt aus – relativ rück-ständigen Regionen der Welt sein: Rußland, China, der spä-ter sogenannten Dritten Welt, der postkolonialen Regionen.Überall dort stand nicht das Problem an, die westlich-kapi-talistische Gesellschaft zu überwinden – was nicht da ist,kann logischerweise auch nicht überwunden werden –, imGegenteil: Es wurden auf eine spezifische Art und WeiseFormen wiederholt, wie wir sie im Westen vor hundertfünf-zig oder zweihundert Jahren auch gekannt haben. Ich erin-nere nur an die staatsökonomischen Systeme des Merkanti-lismus im 17. und 18. Jahrhundert, da fand sich vieles, was esauch im Staatssozialismus gab: Außenhandelsmonopol,staatliche Preisfestsetzung, staatliches Eigentum an denfortgeschrittensten Produktionsmitteln (das waren damalsdie Manufakturen). Das ist alles nichts völlig Neues, nur hatdas im Westen schon viel früher stattgefunden und ist längstmehr oder weniger in Vergessenheit geraten. In diesem Sinnhat sich die westliche Entwicklung wiederholt, inklusive derrevolutionären Formen.

Von diesem Standpunkt aus gesehen, wäre die berühmteOktoberrevolution eine Nachholung der Französischen Re-volution im Osten, und auch die späteren nationalen Befrei-ungsbewegungen, die Revolution in China und ähnliche Re-volutionen wären jeweils sozusagen das Imitat oder dienachholende Einlösung dessen, wofür im Westen die Fran-zösische Revolution steht, inklusive der Fahnen, der Barri-kaden, des bewaffneten Kampfes und allem, was da an My-thologie mitschwingt. Das bedeutet natürlich für die westli-che Linke die bittere Erkenntnis, daß man hier gewisser-maßen einer optischen Täuschung erlegen ist. Nicht, daß

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die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und den soge-nannten Systemkonflikt als Bezugsrahmen nimmt. Den Sy-stemkonflikt hat der Westen gewonnen. Wenn man aberden zeitlichen Rahmen erweitert und sich statt dessen aufjene letzten zwei- oder dreihundert Jahre bezieht, könnteman ironisch feststellen, daß der Staatssozialismus beinahepünktlich zum zweihundertjährigen Jubiläum der Französi-schen Revolution zusammengebrochen ist.

Für den kurzen Zeitraum nach dem Zweiten Weltkriegerscheint es hingegen selbstverständlich, daß mit dem östli-chen Staatssozialismus auch jegliche postkapitalistische Al-ternative am Ende ist. Und so soll es bis in alle Zukunft sein,will man der schönen Rede vom Ende der Geschichte desHerrn Fukujama und anderen Glauben schenken. Aus dieserPerspektive kann sich alles, was an Kritik formuliert wird,nur noch in den Bezugsrahmen der westlichen marktwirt-schaftsdemokratischen Ordnung stellen.

Der weitere Bezugsrahmen bringt einen jedoch auf ganzandere Gedanken: Was jetzt in die Krise gekommen ist, sinddie gemeinsamen Grundlagen jener zweihundert oder mehrJahre Modernisierungsgeschichte. Hier handelt es sich umeine gemeinsame Krise von Ost und West, welche nicht imSystemkonflikt und dessen Kriterien aufgeht, sondern vieltiefer reicht. Es mag einerseits für eineN gestandeneN Ge-sellschafts- und KapitalismuskritikerIn trostreich sein, daß,obwohl der Kapitalismus zwar übriggeblieben ist, er alsnächstes auch in die Krise kommt. Andererseits ist es gleich-zeitig schmerzhaft, heißt es doch, daß die bisherige Gesell-schaftskritik, der Marxismus – zumindest so, wie wir ihn ver-stehen und wie er im theoretischen und öffentlichen Be-wußtsein existiert –, daß dieser Marxismus und die mit ihmverbundenen Gesellschaftsformationen selber Teil dieserModernisierungsgeschichte waren und somit Teil dessen,was jetzt insgesamt in die Krise kommt.

Ich möchte nun versuchen, dieses Problem neu zu defi-nieren. Meistens wurde das Problematische am Staatssozia-

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großen Teilen der Dritten Welt ganze Nationalökonomienzusammengebrochen. Die Misere Afrikas fing damals an, inLateinamerika begann die Epoche der Hyperinflation undder Deindustrialisierung. Das verlorene Jahrzehnt, wie esdann Ende der achtziger Jahre genannt wurde. Man hat esalso erst mal verdrängt und den Zusammenbruch des ver-meintlichen Gegensystems zum Anlaß genommen, sich et-was in die Tasche zu lügen.

Damit verknüpft wurde die Erwartung, daß sich mit derÖffnung des Ostens wunderbare neue Märkte auftun wür-den, ein neuer Akkumulationsschub des Kapitals wie nachdem Zweiten Weltkrieg zu erwarten sei und der Westen sei-ne Krise gerade mit dem Zusammenbruch des Ostens lösenkönne. Mittlerweile sind wir nahezu eine halbe Dekade wei-ter, und es zeigt sich immer deutlicher, daß diese Hoffnun-gen Trugbilder sind, die man sich aus dem Kopf schlagenkann. Im Gegenteil: Nicht nur kehrt die Krise in den We-sten zurück (streng genommen war sie ja nie weg), sie wirdauch in ihrem Ausmaß immer deutlicher erkennbar. DieRückkoppelungsprozesse aus den Zusammenbrüchen imOsten ereilen auch uns allmählich, es kommt also eher Ne-gatives aus diesen Zusammenbruchsregionen auf die westli-che Ordnung zu. Das läßt sich in verschiedene Richtungenausleuchten.

Ein Aspekt dabei ist sicherlich, daß die Krise im Osten»Flüchtlingsströme«, Arbeitsimmigration, neue Formenvon Massenkriminalität hervorbringt – früher hatten wir dieMafia nur im Süden, jetzt haben wir sie auch im Osten –, dieunter anderem Anlaß für rassistische Reaktionen in derwestlichen und gerade auch in der deutschen Bevölkerungsind. Das sind Erscheinungen dieser Krise, die sich mitihrem Andauern fortsetzen werden. Wesentlich ist, daß sichdie Hoffnung auf die neuen Märkte nicht erfüllt hat unddaß, so paradox es vom Standpunkt der alten Kapitalismus-kritik auch klingen mag, diese riesigen Massen im Osten fürdas westliche Kapital größtenteils nicht ausbeutungsfähig

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die Geschehnisse unsinnig waren – es ist sowieso ein frag-würdiger Ansatz, geschichtliche Abläufe und Entwicklungennach Gesichtspunkten wie richtig oder falsch oder gar gutund böse beurteilen zu wollen -, es sind epochale Formatio-nen, in denen unter bestimmten Bedingungen Akteure auf-getreten sind, die nicht über ihren Schatten springen konn-ten, genauso wie wir heute nicht über unseren Schattenspringen können. Doch ist dies ein anderer Schatten, weilwir achtzig oder hundert Jahre weiter sind und von heute ausauf diese Geschichte wie auf eine riesige Trümmerlandschaftzurückblicken können. So ist es eigentlich die gemeinsameModernisierungsgeschichte, welche diese sogenannten Sy-stemkonflikte hervorgebracht hat, viel mehr durch die histo-rische Ungleichzeitigkeit in den verschiedenen Weltregio-nen als durch andere, postkapitalistische Inhalte bedingt.

Das ist keine Verurteilung der Geschichte, ich möchtevielmehr den Charakter der heutigen Krise aufzeigen, wel-che eine gemeinsame Krise des jetzigen einheitlichen Welt-systems ist.

Daß auch der Westen in der Krise ist, war schon vor demZusammenbruch des Staatssozialismus nicht gänzlich ausder Welt. Seit Anfang der achtziger Jahre ist das Stichwortvon der Krise der Arbeitsgesellschaft auch im Westen aufge-taucht. Ich kann mich genau erinnern, wie besorgniserre-gend es war, als in Deutschland Anfang der achtziger Jahredie Arbeitslosigkeit erstmals die Millionengrenze über-schritt. Heute wäre das schon wieder eine Erfolgsmeldung;damals hat man sich gefürchtet, es wurden sogar Stimmenlaut, ob der Osten vielleicht doch die bessere Systemalterna-tive sei. Sogar das gab es damals noch. Und dann kam diesergroße Zusammenbruch. Das ganze System im Osten hatsich wie eine Mumie in Staub aufgelöst, und in der Folge hatman die eigene Krise erst mal ein bißchen verdrängt undvergessen, obwohl ja die sozialen Prozesse, die damit ver-bunden waren, die Massenarbeitslosigkeit und neue Armut,immer noch da waren. Schon zehn Jahre vorher sind in

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klisches Phänomen dar, das mit dem ebenfalls zyklischenkonjunkturellen Aufschwung immer wieder abgebaut wur-de. Marx nannte das die »industrielle Reservearmee«. DieArbeitslosen wurden nur als Reservearmee für den nächstenAufschwung betrachtet und damit für die Reabsorption ih-rer Arbeitskraft in die Verwertungsbewegung des Kapitalsbereit gehalten. Das scheint nun vorbei zu sein. Denn vonZyklus zu Zyklus, ganz unabhängig von dessen Auf und Ab,hat sich die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit erhöht. Ichhabe vorhin erwähnt, für die Bundesrepublik Deutschlandwäre es heute eine Erfolgsmeldung, »nur« eine Million Ar-beitslose zu haben, mittlerweile sind es ca. vier Millionen.Und dabei ist das gar nicht die reale Zahl, denn in Wirklich-keit ist die Massenarbeitslosigkeit viel größer, würde mandie ganzen Auffangmaßnahmen – Vorruhestand, ABM (so-genannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ) – und die stati-stischen Tricks einbeziehen. Dieses Wegretouchieren einesTeils der Massenarbeitslosigkeit durch statistische Tricks istin fast allen Ländern heute üblich, welche überhaupt nocheine Arbeitslosenstatistik führen. Für die Bundesrepublikheißt das, daß man sich bis vor ein paar Jahren noch auf dieGesamtzahl der ArbeitnehmerInnen bzw. die Lohnabhängi-gen bezogen hat. Inwischen bezieht man sich auf die Ge-samtzahl der sogenannten Erwerbspersonen, inklusive sämt-licher Selbständiger und mithelfender Familienangehöriger,und wie die statistischen Bezeichnungen lauten, um damitdie Statistik zu schönen. Dies nur als Beispiel; diese Trickssind von Land zu Land verschieden, werden aber ange-wandt.

Steigende Sockelarbeitslosigkeit ist also unabhängig vonZyklen, das ist nicht nur ein deutsches oder mitteleuropäi-sches, sondern ein globales Phänomen. Im Frühjahr 1994hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf eine Ana-lyse herausgebracht, wonach heute im Weltmaßstab realdreißig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslossind, de facto arbeitslos. In dieser kritischen Analyse wurden

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sind. Auf jeden Fall haben die großen Investitionsströmenach Osten bis jetzt nicht stattgefunden. Es gibt auch keineerkennbaren Tendenzen oder Absichten, diese geöffnetenund sozusagen wehrlosen riesigen Regionen in einer ande-ren Weise zu annektieren, sie sich anzueignen, unter denNagel zu reißen – sie stellen die verbrannte Erde der Markt-wirtschaft oder der Modernisierung dar, und der Westenweiß eigentlich gar nicht, was er damit anfangen soll. DerOsten jagt ihm wieder Angst ein, vielleicht sogar stärker alszu Zeiten der alten Sowjetunion, denn jetzt könnte es ja sein,daß diese riesige, waffenstarrende, mit Atombomben vollge-stopfte Region plötzlich völlig unkontrollierbare Gestaltenhervorbringt, die wesentlich weniger berechenbar sind, alses der gute alte Breschnjew war.

Was nun die gemeinsame Krise angeht, geisterte bei unsein schönes Stichwort im Hinblick auf die deutsche Vereini-gung durch die Zeitungen: statt Aufschwung Ost Ab-schwung West. Das bezog sich eher auf die Konjunktur unddie Rezession der letzten beiden Jahre. Jetzt macht man sichwieder Hoffnungen auf Konjunkturbelebungen, aber es istselbst in den offiziellen Kommentaren spürbar, daß dieserAufschwung wohl auf sich warten lassen wird – zumindest istein säkularer Boom, der die jetzige Krise beheben könnte,nicht absehbar.

Das hat etwas damit zu tun, daß wir es nicht mehr mit ei-ner rein zyklischen Bewegung zu tun haben. Der sozusagennormale Zyklus der kapitalistischen Bewegung wird überla-gert von einem anderen Problem, oft strukturelle Krise ge-nannt. Deswegen spricht man mittlerweile von strukturellerMassenarbeitslosigkeit und nicht mehr bloß von zyklischer.Das bedeutet, daß die Arbeitslosigkeit im sogenannten zykli-schen Aufschwung der Konjunktur nicht mehr zurückgeht,sich statt dessen sogar eher noch ausdehnt.

Das hat es in der Geschichte der Modernisierung nochnie gegeben. Die Massenarbeitslosigkeit (sofern es sie gab,vor allem während der Weltwirtschaftskrise) stellte ein zy-

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ist ja anscheinend überhaupt nicht in der Krise, nur die Ar-beit. Das ist insofern paradox, als diese beiden MomentePole ein- und desselben Verhältnisses sind. So wie es un-möglich ist, daß sich dieses Abstraktum der Moderne, dieArbeit, vom Kapital emanzipieren und für sich alleine wei-terarbeiten kann, wie das die Staatsreligion im Osten waroder auch die Grundauffassung des Marxismus darstellt,ebensowenig ist es möglich, daß die Arbeit für sich alleine indie Krise kommt und das Kapital munter weiterakkumuliert– dann würde ich eher an die katholische Transsubstantiati-onslehre oder an die unbefleckte Empfängnis glauben alsdaran, daß ein Kapital sich ohne eine entsprechende Höhean Vernutzung von abstrakter Arbeitskraft, rein als Geldver-mehrung, weiterverwerten kann. Hier scheint etwas nicht zustimmen. Und darauf will ich jetzt näher eingehen. Ichmöchte die Analyse dieser gemeinsamen Krise mit vierStichworten kurz umreißen: 1. Rationalisierung, 2. Globali-sierung, 3. Tertiarisierung, 4. Fiktionalisierung.

1. Rationalisierung

Was die Krise im Kern auszumachen scheint, ist im weitestenSinne die Rationalisierung. Dazu gehört die Automatisierungvon Produktionsprozessen, die Ausdünnung von organisato-rischen Linien, jene organisatorische Rationalisierung also,durch welche Arbeitskraft im flächendeckenden Maßstab sostark wegrationalisiert wird, daß sie ein Ansteigen der Pro-duktivität in einem Maße bewirkt, das über die Absorptions-fähigkeit des Kapitals hinausgeht, lebendige Arbeit in be-triebswirtschaftlichen Produktionsprozessen zu verwerten.Diese Aussage stößt bei den ÖkonomInnen aller Schattie-rungen auf Kritik. Steigerung der Produktivität, das heißedoch Erweiterung der Märkte und damit früher oder späterdie Überwindung der Krise, folglich neue Prosperität und ir-gendwann auch wieder Abbau der Massenarbeitslosigkeit.

Nun, ich denke, daß auch diese Argumentation auf eineroptischen Täuschung beruht. Sie hat nur die Rationalisie-

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einige der erwähnten Tricks durchleuchtet; diese Zahlkommt der Wahrheit näher als die offiziellen Statistiken, sieübersteigt die Arbeitslosenrate der Weltwirtschaftskrise von1929/33. Vor allem hatte die damalige Weltwirtschaftskrise,trotz ihres Namens, nicht so globale Auswirkungen wie dieheutige strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Man kann alsoin der Tat von einer veritablen Krise der Arbeitsgesellschaftsprechen. Dabei gibt es zwei Merkwürdigkeiten: Die eineist, daß sämtliche Modernisierungsideologien, Marxismusund Liberalismus eingeschlossen, Arbeit als eine ontologi-sche oder anthropologische Grundgegebenheit verstehen.Man geht davon aus, daß die Menschen, seit es sie gibt, »ge-arbeitet« haben, und Arbeit erscheint als etwas, das außer-halb der Geschichte liegt. Wenn man nun von der Krise derArbeitsgesellschaft redet, widerspricht man der eigenen Ba-sisideologie, wonach die Arbeit etwas sei, was den Menschenvom Tier unterscheide. Und dann kann natürlich die Arbeitals solche nie in die Krise kommen.

Der Widerspruch zeigt sich darin, daß hier ein Zusam-menhang in die Krise kommt, der bisher nicht als histori-scher, das heißt als gewordener und wieder vergehender, be-trachtet worden ist, sondern als menschlicher Grundsach-verhalt schlechthin. Es handelt sich nicht um das, was Marxals Stoffwechselprozeß mit der Natur bezeichnet hat, der istunaufhebbar, solange es Menschen gibt. Heute scheint viel-mehr der Begriff des Verwandlungsprozesses von Arbeit inGeld in die Krise zu kommen, was Marx die abstrakte Arbeitnennt, nämlich die Verausgabung von Nerv, Muskel undHirn in die gesellschaftliche Geldform und damit die Repro-duktion des Menschen im Kontext von Arbeit, Geld undWarenkonsum – diese Verknüpfung von Arbeit mit Geld isthistorisch und keineswegs überhistorisch.

Das zweite, was paradox erscheint, ist, daß wenn manfrüher von der möglichen Krise oder zukünftigen Krise desKapitalismus sprach, meinte man die Krise der Geldverwer-tung, und das scheint heute mega-out zu sein. Das Kapital

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wendet, wie es Charlie Chaplin in seinem Film »Modern Ti-mes« so wunderschön karikiert.

Was hat Henry Ford damit erreicht? Man kann es in ei-ner simplen Zahl ausdrücken. Bis kurz vor dem Ersten Welt-krieg hat eine Automobilfabrik im Durchschnitt sechs- biszehntausend Autos im Jahr hergestellt. Das ging zwar schonin großen Fabrikhallen vor sich, aber noch auf eine sehrhandwerkliche, nicht rationalisierte Art und Weise. Was warFords Rationalisierungsgewinn mit seinen neuen Metho-den? Diese Zahl ist nun wirklich ein Hammer, es war damalsein Hammer und ist es auch heute noch. Er hat im Ge-schäftsjahr 1914 – die USA waren damals noch nicht in denKrieg eingetreten – sage und schreibe 248 000 Automobileproduziert. Und das schlug ein wie eine Bombe – ein Er-schrecken ging um die ganze Welt, die Figur Henry Fordwurde deswegen so berühmt, und überall sprachen verschie-dene TheoretikerInnen und AnalytikerInnen innert Kürzevom Fordismus. Das war die neue Welle, nicht bloß eineModeerscheinung, sondern die Zukunft des Kapitalismus,der Marktwirtschaft und der industriellen Produktion über-haupt.

Kein Geringerer als Lenin interessierte sich brennendfür die fordistischen Methoden und ließ verlauten: Diesenletzten Schrei der westlichen Wissenschaft, Technologieund Rationalisierung müssen wir übernehmen. Warum hatnun diese Rationalisierung als solche nicht in die Krise, son-dern langfristig (wenn wir den Boom nach dem ZweitenWeltkrieg miteinbeziehen) zum Gegenteil geführt? Für dieProduktion des einzelnen Automobils bedeutete sie einemassive Zeitersparnis. Trotzdem wurde die menschliche Ar-beitskraft auf diese Weise nicht wegrationalisiert, vielmehrwurde sie sozusagen in ihrem Vollzug selbst rationalisiert.Charlie Chaplin hat diese roboterhaften Handbewegungendes Fließbandarbeiters auf den bildlichen Begriff gebracht.Und der riesige Produktivitätssprung, den die Rationalisie-rung ermöglichte, brachte eine so starke Ausweitung der

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rung bis an die Schwelle der mikroelektronischen Revoluti-on im Auge und nimmt an, daß alles in der alten Weise wei-tergehen wird. Für die Epoche, die man als die fordistischebezeichnet hat, das heißt ungefähr vom Ersten Weltkrieg biszum Ende der siebziger Jahre, war es in der Tat so, daß Ra-tionalisierung – und das ist erst in dieser Zeit überhaupt einStichwort geworden – tatsächlich zumindest mittel- bis län-gerfristig zur Erweiterung der Märkte und zur Absorptionder Arbeitsmärkte geführt hat. Warum? Man kann es sehreinfach an der Person von Mister Henry Ford selbst darstel-len. Ford hat bekanntlich die Rationalisierungsmethodender neuen Arbeitswissenschaft angewandt, welche in diesemZeitraum von dem Ingenieur Frederic Taylor erfunden wur-den. Diese sind übrigens inzwischen weiter verfeinert undentwickelt worden, etwa unter der Bezeichnung REFA, esgibt in Deutschland seit den zwanziger Jahren ein Rationali-sierungskuratorium der deutschen Wirtschaft, das sich mitdiesen Prozessen befaßt. Ford hat als erster UnternehmerTaylors Rationalisierungsmethoden übernommen und somitetwas angefangen, was das kapitalistische Management bisdahin außer acht gelassen hatte. Die UnternehmerInnenentdeckten, daß es in ihren Fabriken einen Rationalisie-rungsspielraum gibt, daß man mit wissenschaftlichen Me-thoden die Leerläufe ausschalten und somit Zeit und Geldsparen kann – time is money.

Anstatt die Gestaltung des Arbeitsprozesses wie bisherden Meistern und Vorarbeitern zu überlassen, griff man zurberühmten Stoppuhr und analysierte jeden Ablauf bis insDetail wissenschaftlich.

Das war die eine Innovation, die andere war bekanntlichdas Fließband. Diese Erfindung stammt allerdings nicht vonFord, sondern wurde bezeichnenderweise aus den Schlacht-höfen von Chicago übernommen. Nach dem Schlachtenwurden die Teile der Rinder und Schweine auf die Fließbän-der verteilt, und dieser Ablauf (das Fließband, nicht dasSchlachten) wurde auf die menschliche Arbeitskraft ange-

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preiswerten und robusten Traktor entwickelt, der fast so er-folgreich war wie seine Automobile.

All das brachte eine tiefgreifende Umwälzung mit sich.Nicht nur die fordistische Lebensweise fand allgemeine Ver-breitung, sondern erstmals wurden riesige Massen menschli-cher Arbeitskraft überhaupt in das Rentabilitätskalkül diesermarktwirtschaftlichen Verwertungsprozesse hineingezogen.Es gerät oft in Vergessenheit, daß bis zur Mitte des 20. Jahr-hunderts das kapitalistische System noch durchsetzt war vonzahlreichen hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen,nichtkapitalistischen kleinen warenproduzierenden Sekto-ren. Erst mit der Rationalisierung wurde diese Logik derBetriebswirtschaft mit der abstrakten Vernutzung vonMensch und Natur überhaupt flächendeckend und hattediese gewaltige Absorptionsfähigkeit zur Folge. DerMünchner Soziologe Burkart Lutz hat ausgerechnet, daßdies allein in der alten Bundesrepublik Deutschland einenzusätzlichen Arbeitsplatzgewinn von acht bis zehn Millionenbedeutet hat. Damit konnten nicht nur die Flüchtlingsströ-me aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oderweniger reibungslos in den Arbeitsprozeß integriert werden,man war in den sechziger Jahren auch auf die sogenanntenGastarbeiter aus dem Süden angewiesen.

Warum ist die heutige Rationalisierung das genaue Ge-genteil? Das läßt sich ganz einfach erklären. Mit Hilfe derneuen mikroelektronischen Technologie wird die Lücke,welche der oder die menschliche ArbeiterIn im hochrationa-lisierten System des Fordismus noch ausfüllte, in der er odersie gewissermaßen die Aufgabe eines chaplinesken Robotersübernahm, diese Lücke wird ausgefüllt mit neuen Steue-rungs- und Automatisierungspotentialen. Nicht nur das: Be-kanntlich hat unter dem Stichwort lean production (schlan-ke Produktion) eine neue Stufe der organisatorischen Ratio-nalisierung stattgefunden. Bei der lean production werdencomputergestützt, also indirekt auch mit Hilfe der Mikro-elektronik, sehr viele Ebenen wegrationalisiert. Der ganze

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Produktion, daß man nicht weniger, sondern insgesamt so-gar mehr ArbeiterInnen brauchte. Das wäre nicht möglichgewesen, wenn das Automobil auf diese Weise nicht gleich-zeitig viel billiger geworden wäre. Das war Henry Fordsstärkster Trumpf – er ermöglichte seinen ArbeiterInnen, einAuto zu besitzen; zu dieser Zeit erschien das als geradezu re-volutionär, denn bis dahin stellte das Automobil quasi einenLuxusgegenstand für Playboys dar. Mit Henry Fords Her-stellungsmethode wurde es durch diese extreme Verbilli-gung zu einem Artikel des Massenkonsums.

Damals war das sensationell, heute wissen wir, daß dasPrinzip von abstrakter Arbeit und Marktwirtschaft in seinerfordistischen Form auch zu katastrophalen Entwicklungengeführt hat, mit den entsprechenden Folgeerscheinungenvon destruktivem Massenkonsum und Massentourismus.

Dieser gewaltige Schub, den die Rationalisierung dermenschlichen Arbeitskraft in ihrem Vollzug und mit der un-geheuren Ausdehnung der Produktion und Verbilligung derProdukte bewirkte, fand in verschiedenen Wellen statt,konnte aber die Weltwirtschaftskrise noch nicht verhindern,dazu waren die meisten Länder noch nicht weit genug.Doch er war Ausgangspunkt einer neuen Ära, die in denUSA bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begann. Mansprach von einer neuen Lebensweise, Ford nannte es eine –heute klingt das zynisch – rationalisierte Lebensweise.

Das betraf nicht nur die Automobilindustrie, innert Kür-ze machten sich auch andere Industrien diese neuen Metho-den zu eigen, die Haushaltsgeräte- und Unterhaltungselek-tronikindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Nah-rungsmittel- und Bedarfsgegenstandsdistribution, was dieVerdrängung der Tante-Emma-Läden durch die heute über-all bekannten Supermärkte zur Folge hatte. Auch die Me-chanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaftwurde auf diese Weise rasant vorangetrieben: Nicht nur dieAutos wurden viel billiger, sondern auch mechanische Gerä-te wie der Traktor. Henry Ford hat übrigens auch einen

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wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, bedeutet das, daßdiese strukturelle Massenarbeitslosigkeit nie mehr durch ei-nen neuen Boom à la Fordismus abgelöst werden kann, son-dern sich unaufhaltsam weiter ausdehnen wird. Hier über-schreitet man irgendwann eine kritische Grenze, die sozia-len Netze werden reißen. Womit sollen sie denn noch finan-ziert werden, wenn die Abschöpfungsmöglichkeiten, die derStaat jetzt noch hat, nicht mehr vorhanden sind? Und dannwird dieser Zusammenhang Arbeit-Geldeinkommen-Wa-renkonsum schlicht fragwürdig. Ganz abgesehen davon, daßer auch aus anderen Gründen, zum Beispiel ökologischen,gelinde gesagt fragwürdig geworden ist.

2. Globalisierung

Dieses Stichwort steht für die Globalisierung der Märkteund die Herstellung eines unmittelbaren Weltkapitals. DieseEntwicklung ist ebenfalls neu, sie beruht auf den neuen Pro-duktivkräften der Mikroelektronik, welche es ermöglichen,sich per Satellitenkommunikation und neuen Steuerungs-und Kommunikationspotentialen weltweit die Märkte zu su-chen. Das sind nicht nur Märkte im Sinne bisheriger Außen-beziehungen, von Import-Export zwischen den in sichkohärenten Nationalökonomien. Diese neuen Potentiale er-möglichen es, den kapitalistischen Produktionsprozeß querzu den bisherigen Nationalökonomien verlaufen zu lassen;die bisherige nationalökonomische Kohärenz wird aufge-sprengt. Ich möchte das anhand eines einfachen kleinen Bei-spiels erläutern, welches man für die zentralen industriellenund Dienstleistungssektoren hochrechnen kann. Ein Schrift-steller aus Ost-Berlin hat mir von einer kleinen Kultur- oderTheaterzeitschrift erzählt, welche von der Treuhandanstaltwie üblich abgewickelt werden sollte, weil sie, mit einemAbonnentInnenstamm von ein paar tausend Leuten, nichtrentabel zu sein schien. Nun fand sich ein englischer Verle-ger dafür, und zwar für denselben AbonnentInnenstamm.Sein Rentabilitätsrezept sah folgendermaßen aus: Er ließ die

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Ablauf wird als einheitlicher Gesamtkomplex gesehen – beider Konstruktion wird schon der Vertrieb mitgeplant, dasergibt einen Durchlauf, bei dem sich viele bis dahin unbesei-tigbare Reibungsflächen eliminieren lassen. Das bedeutetunter anderem auch, daß Teile des Managements selberwegrationalisiert werden. Allein in der deutschen Automo-bilindustrie sind aus den mittleren Führungsebenen in denletzten zwei Jahren ca. 40 000 Leute auf die Straße gesetztworden.

Es tut sich hier eine absolute Grenze auf. Denn dieserProzeß geht weiter, und wir stehen heute erst am Anfang.Nachdem also fünf Millionen wegrationalisiert wurden,startet man alle paar Jahre wieder eine dieser Kampagnen»der Mensch im Mittelpunkt«, schafft wieder 30 000 neueArbeitsplätze und behauptet, die seien hochqualifiziert undbesonders menschlich. Dann kommt die nächste Rationali-sierungswelle. Die ist übrigens jetzt schon vor der Tür –man braucht nur aufmerksam die Wirtschaftspresse und dieentsprechenden Analysen zu verfolgen. Schon jetzt gibt esneue Potentiale der Miniaturisierung, welche bisher nichtfür möglich gehaltene Rationalisierungsmöglichkeiten bein-halten. Bei den KybernetikerInnen oder InformatikerInnenwird es z.B. »der Griff in die Kiste« genannt. Man muß demRoboter nicht mehr die Arbeitsgeräte fein säuberlich hinle-gen, er kann so programmiert werden, daß er idealerweise ineine Kiste mit wild angehäuften Teilen greift und das richti-ge rausholt. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht nurauf die Industrie, sondern weitet sich auf die anderen Sekto-ren aus: auf die Dienstleistungssektoren zum Beispiel, aufdas Geld- und Versicherungsgewerbe. Das hat unter ande-rem zur Folge, daß sich die Kundschaft zunehmend selbstbedienen muß. Bei unserer Sparkasse zum Beispiel erhältman die Kontoauszüge nicht mehr zugeschickt, statt dessenmuß man den Kontostand per Karte an einem Automatenselber erfragen. Das alles war vor ein paar Jahren noch nichtmöglich, da mußten es noch Menschen bearbeiten. Aber

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ment, die politische Klasse oder jedenfalls die Führungs-mannschaften noch eine gemeinsame Strategie hätten à laErster Weltkrieg, ist auf dem Holzweg. Das ist ein Anachro-nismus geworden, jedoch auf eine ungute Weise: Der kapi-talistische Prozeß selber wächst blind über die nationalöko-nomischen Grenzen hinaus. So verschärft sich mit der Inter-nationalisierung der Arbeitsmärkte die Krise der Arbeitsge-sellschaft. Die Internationalisierung ist aber nur dem Kapitalmöglich: Das kann dorthin gehen, wo die Arbeitskraft ambilligsten ist, und kann seine Zelte auch sehr schnell wiederabbrechen – wie es zum Beispiel bei der deutschen Textilin-dustrie der Fall ist. Die produktiven Arbeitsplätze wurdenalle nach Südostasien oder nach Südeuropa ausgelagert, undjetzt hat man die Rationalisierungsstufe erreicht, bei der essich lohnt, die Produktion wieder zurückzuverlagern. Jetztkommen aber nicht die Arbeitsplätze zurück, sondern die in-zwischen hochautomatisierte Produktion.

Diese Prozesse gehen ständig weiter, es gibt hier keineSicherheit mehr. Das Management versucht, mittels »globaloutsourcing« alles dorthin zu verlagern, wo es von denMärkten, den Krediten, der Arbeitskraft, den Steuern undwas es alles an Rentabilitätsgesichtspunkten noch gibt, wo esin der Welt am günstigsten ist. So wird die nationalökono-mische Loyalität, auch gegenüber den sozialen Prozessen,aufgekündigt.

Es gibt Leute, die versuchen das mit dem Begriff derEinebnung zu erklären, welche die bisherige nationalökono-mische Aufteilung in reiche und arme Länder aufhebt. DieErste, Zweite und Dritte Welt existieren zwar noch als eineArt Schattenriß, im großen und ganzen wird diese Auftei-lung aber allmählich eingeebnet, die Erste und die DritteWelt schließlich ist überall. In Gelsenkirchen liegt die Drit-te Welt gleich neben der Ersten Welt, Bulgarien und Indienverfügen über konkurrenzfähige Softwareproduzenten, Bra-silien exportiert erfolgreich Düsenjäger und chemische Pro-dukte – ganz zu schweigen von Südostasien –, gleich neben-

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Zeitschrift in Singapur drucken und über die Karibik auslie-fern, weil dort die Postgebühren so billig sind. Das heißt, esist nach wie vor eine deutsche Kulturzeitschrift für einenkleinen ostdeutschen AbonnentInnenstamm, wird aber voneinem englischen Verleger in Singapur gedruckt und überdie Karibik ausgeliefert, und das lohnt sich auch noch.

Jetzt kann man sich vorstellen, wie sich das erst bei denAutomobil- und den Elektronikteilezulieferern usw. lohnt.Und genau das findet statt. In den letzten zehn bis fünfzehnJahren hat sich der Welthandel stärker ausgedehnt, als dieProduktion angestiegen ist. Ein auf den ersten Bick verblüf-fendes Phänomen, das sich genau durch diese Globalisie-rung erklären läßt. Denn sehr vieles, was rein formal als Ex-port und Import irgendwelcher Nationen erscheint, ist inWirklichkeit längst Teil einer internationalen Arbeitsteilungin der Produktion selber. Das bedeutet, daß diese internatio-nalisierte Produktion über den nationalökonomischen Rah-men hinauswächst. Das zeigt sich auch auf dem Sektor derFinanzmärkte, die Nationalbanken haben schon längst keineKontrolle über ihr eigenes Geld mehr, welches in bank-mäßig exterritorialen Zonen der Welt herumvagabundiert.So werden zum Beispiel D-Mark-, Dollar-, Franken-, Yen-Kredite vergeben, die überhaupt nicht unter Kontrolle derjeweiligen Notenbanken stehen, also Geldschöpfungspro-zesse außerhalb der bisherigen Kontrollmechanismen dar-stellen. Das läßt sich auch noch weiter illustrieren: Ende1994 hat zum Beispiel das Paradeunternehmen der deut-schen Geldinstitute, die Deutsche Bank, ihren Investment-bankingsektor ostentativ nach London verlegt. Es gab eingroßes Geschrei, sogar die Deutsche Bundesbank hat von ei-ner illoyalen Haltung gesprochen. Hier stellt sich die Frage,worauf sich dieser Loyalitätsbegriff eigentlich bezieht, er be-zieht sich wohl oder übel auf die alte Nationalökonomie.

Der Teil der Linken, der immer noch in alten Imperialis-muskategorien denkt und davon ausgeht, daß hier noch einenationale Kohärenz besteht, daß das Weltmarktmanage-

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durch verursacht werden, andererseits dadurch, daß dieLeute schon aufs Eingemachte zurückgreifen, um sich denUrlaubsstandard noch leisten zu können. Das wird krachenin den nächsten Jahren, wenn nicht ein neuer industriellerBoom kommt, der aber nicht zu erwarten ist.

Erst recht Essig ist es mit dem Gros der staatlichenDienstleistungen, mit denen die sogenannte Infrastrukturbetrieben wird, von der Kanalisation bis zu den Universitä-ten. Das ist von Haus aus alles keine Warenproduktion fürden Markt, sondern es handelt sich um gesamtgesellschaftli-che Rahmenbedingungen für diese Produktion, die gar nichtnach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage funktionierenkönnen. Diese Sektoren sind angewachsen durch den kapi-talistischen Prozeß der Verwissenschaftlichung, aber damittut sich nur ein neuer Systemwiderspruch auf. Vom Stand-punkt des Systems aus ist das keine Produktion, sondernKonsum, und deswegen hat der Staat das übernehmen müs-sen, es ist Staatskonsum. Damit tun sich auf Dauer unbewäl-tigbare Finanzierungsprobleme auf, darauf werde ich gleichzurückkommen.

Die Infrastrukturbereiche sind fast alle chronisch defi-zitär, aber das liegt eben an ihrem Charakter, nicht daran,daß sie der Staat betreibt. Die Neoliberalen sind so blöd, daßsie das nicht erkennen und sich einbilden, das wäre ein ideo-logischer Fehler gewesen, daß der Staat das macht, unddurch Privatisierung könnten diese Bereiche in Felder derKapitalakkumulation verwandelt werden. Aber das privateBetreiben der Infrastruktur akkumuliert kein Kapital, son-dern zehrt ebenfalls vom industriellen Mehrwert, es ist nureine Umverteilung innerhalb des Gesamtkapitals. Und vorallem: Wenn diese Sektoren als private profitabel betriebenwerden sollen, gesamtkapitalistisch unproduktiv, aber be-triebswirtschaftlich profitabel, dann muß alles abgestoßenund stillgelegt werden, was bloß defizitär funktioniert; unddas heißt dann letzten Endes, daß die Infrastruktur ihren Be-ruf nicht mehr erfüllt und als solche zusammenbricht.

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an jedoch fängt der Slum an. Also eine Welt nach dem Prin-zip der »Selbstähnlichkeit«, wie man es schon fast ironischmit dem Prinzip der Chaostheorie definieren könnte. DieMikrostrukturen entsprechen der Makrostruktur, es gibt injeder Stadt, jedem Stadtteil, jedem Land, bald in jeder Welt-region sogenannte Produktivitätsinseln, die immer noch fürden Weltmarkt produzieren können, und daneben die Ver-slumung. Das ist natürlich eine Momentaufnahme, der Kri-senprozeß geht auch dann noch weiter.

3. Tertiarisierung

Damit ist die Hoffnung gemeint, daß die strukturelle Krisebloß den Industriekapitalismus betrifft und daß die Beschäf-tigung in den tertiären Sektor der Dienstleistungen umge-schichtet werden kann, der dann auch die Kapitalakkumula-tion tragen soll. Zu den Hoffnungen auf diesen Sektor nurso viel: Er scheint mir auch keine Lösung des Problems an-zubieten. Das hängt mit dem Charakter dieser Sektoren zu-sammen. Die kommerziellen Dienstleistungen stellen teil-weise gar keinen eigenständigen Sektor der Kapitalakkumu-lation dar, sie sind von Haus aus trotz formeller Selbständig-keit kapitalistisch unproduktiv und müssen aus dem indu-striellen Mehrwert gespeist werden. Marx hat das für denHandel-und-Banken-Sektor gezeigt.

Die Freizeit- und Tourismusindustrie wiederum ist einereine Luxusangelegenheit der Noch-Gewinner auf demWeltmarkt. Die Mehrzahl der Menschheit, vor allem natür-lich in den Billiglohnländern und in den bereits abgekoppel-ten Regionen, macht keinen Tourismus. Als Massenphäno-men ist er abhängig von den industriellen Masseneinkom-men der wenigen Kernländer. Wenn diese Einkommen rapi-de zurückgehen, bricht auch der Massentourismus zusam-men – und damit übrigens die darüber laufende Umvertei-lung von Nord nach Süd sowohl in Europa als auch auf glo-baler Ebene. Schon jetzt haben wir eine Art Krisentouris-mus, einerseits durch die kostenintensiven Schäden, die da-

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tal, das sich wirklich in betriebswirtschaftlichen Produk-tionsprozessen verwertet, und daneben, wie man es am Akti-enkapital mit schöner Deutlichkeit feststellen kann, eine so-zusagen eigene Bewegung, eine scheinbare Verwertungsbe-wegung des bloßen Namens dieses Geldkapitals.

Das klingt jetzt etwas komplizierter, als es ist: wenn dieKursbewegung der Aktien wesentlich mehr an Gewinn ab-wirft als die reale Rendite der Produktionsprozesse, welchehinter diesem Kapital stehen, wenn also die Dividende, wel-che eine Aktie von Siemens ausschüttet, etwas völlig Ne-bensächliches wird. Denn das würde ja den eigentlich reel-len kapitalistischen Prozeß ausmachen – daß man Geld in ei-nen realen betriebswirtschaftlichen Produktionsprozeß in-vestiert, der am Markt erfolgreich ist, und dann eine Divi-dende ausbezahlt kriegt. Das sind heute jedoch Peanuts. DieDividende ist völlig uninteressant, interessant ist allein dieKursbewegung der Aktie. Wenn eine Nominalaktie von 50Mark auf 800 oder 1 000 oder 2 000 Mark gestiegen ist, istdas phantastisch.

Ähnlich verhält es sich mit der Immobilienspekulation.Die berühmte Geschichte vom Parkplatz in Tokio, derdurch die Immobilienspekulation so viel «wert» ist wie eineganze Großregion in Kalifornien, zeigt die verschobenenRelationen, dahinter steht kein wirklicher kapitalistisch pro-duktiver Prozeß mehr, bloß heiße Luft. Und wenn man sichjetzt vorstellt (nachrechnen kann man das gar nicht mehr,das weiß niemand), welche Dimension dieses spekulative fik-tive Kapital seit den achtziger Jahren erreicht hat, ist dasheute gigantisch. Da stellt sich die Situation vor der Welt-wirtschaftskrise mit der damaligen Bankenkrise und derEntwertung von spekulativem Kapital als ein kleiner Ver-kehrsunfall dar. Um es in einen bildhaften Vergleich zu brin-gen: Wenn diese Blase platzt, entspricht der Unterschied zurWeltwirtschaftkrise etwa dem, ob man aus dem Erdgeschoßoder aus dem 50. Stock ’runterfällt.

Und deswegen versuchen die internationalen Finanzin-

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Der tertiäre Sektor ist also keine Ausweichmöglichkeit,sondern immer eine Kostenbelastung für die reelle Kapital-akkumulation, und soweit hier überhaupt eine Wertschöp-fung stattfindet, ist sie so gering, daß das insgesamt eher aufdie Profitrate drückt. Nicht auf der Ebene der Kapitalstruk-tur selbst findet eine Umschichtung der Beschäftigung inden tertiären Sektor statt, das ist wieder eine optische Täu-schung, sondern nur durch die industriellen Weltmarktge-winne eines Landes. Natürlich können sich die Weltmarkt-gewinner bei industriellen Produkten noch eine Zeitlang diestaatlichen Dienstleistungen leisten, z.B. eine flächen-deckende Infrastruktur. Aber überall dort, wo der Prozeßder Krise weiter fortgeschritten ist, der sich nach Einsetzendes Selbstähnlichkeitsprinzips herstellt, bricht die flächen-deckende Infrastruktur zusammen. Und die entsprechendenTeile der Arbeitskraft, die bisher dort absorbiert waren, wer-den ebenfalls in die Arbeitslosigkeit entlassen.

4. Fiktionalisierung

Ich möchte zum letzten Punkt kommen, der klingt einbißchen seltsam: Fiktionalisierung. Er bezieht sich auf denBegriff des fiktiven Kapitals und stammt wieder einmal vomguten alten Karl Marx, und zwar aus dem berühmten »Kapi-tal« – allerdings weit hinten im dritten Band, wohin sich lei-der die wenigsten MarxistInnen vorgearbeitet haben, ob-wohl diese Teile heute fast die interessantesten sind.

Was heißt fiktives Kapital? Ich habe vorher kurz das Pro-blem der Kapitalakkumulation angeschnitten, oder andersausgedrückt: Wie kann sich Geld verwerten, wenn es garnicht mehr in ausreichendem Maße lebendige Arbeitskraftvernutzen kann? Wenn also Arbeit immer mehr wegrationa-lisiert wird, wo kommt dann das scheinbar gelingende kapi-talistische Prozessieren her? Hier kann nun der Begriff desfiktiven Kapitals von Marx Auskunft geben. Dieser beziehtsich auf zwei Sektoren. Der eine ist die kommerzielle Speku-lation, das heißt ein Nebeneinandertreten von realem Kapi-

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nur auf der Finanz- und Kreditebene sieht und irrational aufeine Weltverschwörung des angeblich »jüdischen« Finanz-kapitals zurückführt. Es kommt also darauf an, die Krise alsKrise der realen Kapitalakkumulation selbst zu erklären unddie Kapitalismuskritik gegen die abstrakte Arbeit, gegen denArbeitswahn des modernen »Produktivismus« selbst zurichten.

Das war jetzt der eine Sektor der Kreation von fiktivemKapital, die kommerzielle Spekulation, welche diese schein-bare Unmöglichkeit zumindest zeitweilig möglich macht,daß das Kapital ohne Arbeit oder ohne einen entsprechendenStandard von Arbeitskraftvernutzung akkumulieren kann.

Der zweite Sektor ist der Staatskredit. Auch das hat Marxim dritten Band des «Kapitals» sehr ausführlich und klar ge-zeigt, nur konnte er sich natürlich nicht vorstellen, welcheDimension dies im 20. Jahrhundert annehmen würde. DerStaatskredit ist eigentlich eine Paradoxie vom marktwirt-schaftlichen, kapitalistischen, reellen «Standpunkt» aus.Denn die einzige reelle, systemisch gesehen reelle Einnah-mequelle, die der Staat hat, sind die Steuern. Er muß also amMarkt reell erzielte Gewinn- oder Arbeitseinkommen be-steuern. Staatsaufgaben wie Infrastruktur, Sozialstaat oderauch Rüstung usw. haben aber längst eine Dimension er-reicht, welche unmöglich nur mit den Steuereinnahmen ge-deckt werden kann. Diese Entwicklung hat schon im ErstenWeltkrieg eingesetzt. Schon nach ein paar Kriegswochenmerkte man, daß man mit den reellen Einnahmen diesenerstmals industrialisierten Krieg überhaupt nicht führenkann. Dann kamen die großen Spendenkampagnen wie»Gold für Eisen«, bei der die Leute ihre Eheringe hergaben.Alle kriegführenden Länder merkten aber schnell, wielächerlich sich das ausnahm – Peanuts, Tropfen auf denheißen Stein, so konnten sie den Krieg nicht durchhalten.Also ging man über zu massiven Staatskrediten in bis dahinungekannten Größenordnungen. Das führte sogar dazu, daßsich der Staat Geld von seiner Notenbank drucken läßt oder

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stitutionen und das Bankensystem mit allen Mitteln, dieseBlase am Platzen zu hindern. Sie versuchen eine logische,und ich denke, letztlich praktische Unmöglichkeit, nämlichdieses fiktive Kapital entweder bis in alle Ewigkeit weiterwu-chern zu lassen, sozusagen als unproduktive, aber gültigeGeldschöpfung, oder eben diese Blase sanft platzen zu las-sen. Ein sanftes Platzen kann ich mir, ehrlich gesagt, nichtvorstellen. Ich kann jetzt nicht auf die Manipulationsmecha-nismen eingehen, die es da gibt. In Japan sind sie am phanta-stischsten, da gibt es Auffanggesellschaften, die nichts weiterzu tun haben, als die faulen Kredite, die da mittlerweile an-gefallen sind, für die Zeit der Bilanzierung temporär zuübernehmen, damit die Unternehmen sauber bleiben. Mankann also mit Bilanzierungstricks arbeiten, ich frage micheinfach, wie lange das hält.

Jetzt kommt der Clou: Ein Teil dieses fiktiven Kapitalsverbleibt nicht in diesem Spekulationsüberbau, wie es Marxgenannt hätte, sondern wird wieder in den scheinbar reellenKonjunkturzyklus eingespeist. Ein ganz simples Beispiel:Wenn ein Spekulant Gewinn gemacht hat, kauft er sich ei-nen dicken Benz, und dann heißt das auch reale Produktion.Nur, wenn die Blase platzt, hat irgend jemand den Schwar-zen Peter in der Hand, ein Entwertungsschock wird irgend-wann stattfinden.

Für eine kritische Reflexion wichtig ist dabei, daß es sichum einen objektiven Systemwiderspruch handelt, daß es dieobjektive Schranke der reellen Kapitalakkumulation ist, diedas kommerzielle fiktive Kapital hervorgebracht hat. Mankann nicht die Gilde der Spekulanten subjektiv verantwort-lich dafür machen, womöglich als Sündenböcke. Der marxi-stische »Produktivismus«, der manchmal in einen solchenZungenschlag verfällt, zeigt hier seine eigene Fixiertheit aufeine fordistische Warenproduktion. Wenn das Ganze nichtals Systemwiderspruch hergeleitet wird, sondern als subjek-tive Bosheit und Gier der Spekulanten, dann ist übrigensauch der Antisemitismus nicht mehr weit, der die Krise auch

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momentan nicht als produktives Kapital verwendet werdenkann, im Bankensystem zu konzentrieren und an fungieren-des Kapital auszuleihen, um damit reale betriebswirtschaftli-che, produktive Prozesse in Gang zu bringen. Darin liegtder Sinn des Kreditsystems im Modernisierungsprozeß.

Was aber macht der Staat, wenn er Kredit nimmt? Neu-tral formuliert, betreibt er vom Standpunkt des Systems ausKonsum, denn all seine Tätigkeiten sind vom marktwirt-schaftlichen Standpunkt aus Konsum. Diese zinspflichtigenGelder sind längst im Orkus des Staatskonsums verschwun-den, werden aber so behandelt, als wären sie Teil eines fun-gierenden kapitalistischen Produktionsprozesses. Die Ver-zinsung der Staatskredite macht mittlerweile selbst in denentwickeltsten Ländern bereits zwischen zehn und zwanzigProzent des Staatshaushalts aus, so kann das nicht in alleEwigkeit weitergehen.

So weit Marx’ dritter Band, in dem er diesen Vorgang alsfiktives Kapital beschreibt. Ich rechne damit, daß die beidenSäulen des fiktiven Kapitals, inklusive des Staatskredits,früher oder später einstürzen werden.

Wenn ich das einem linken Publikum erzähle, sind dieLeute meistens skeptisch. Ich habe inzwischen aber auchGelegenheit gehabt, mit Bankern, Sparkassendirektorenund anderen Leuten zu sprechen, die sich da ein bißchenbesser auskennen. Ihre Reaktion war: »Bloß nicht laut sa-gen.« Wenn das an die große Öffentlichkeit kommt, danngibt es kein Halten mehr, dann bricht alles unkontrolliertzusammen. Bei sämtlichen Regierungen (vor allem der derUSA, die mit dem Dollar immer noch eine Art »Weltgeld«kontrollieren) gibt es angeblich Blaupausen, wie man »kon-trolliert« auf den irgendwann anstehenden Entwertungs-schock reagieren will. Ein Banker, der sich wirklich gut aus-kennt, hat mir gesagt: Wenn das passiert, werden vom Sozi-alrentner bis zum Großspekulanten alle enteignet. Denndas, worauf unsere Reproduktion heute beruht, was sich be-zeichnenderweise im Gleichklang mit Rationalisierung und

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inzwischen per Elektronik überweisen läßt und auf seinenKonten Geld aufweist, hinter dem nichts mehr steht außerdem Ukas an die Nationalbank. Und schon steht die Hyper-inflation vor der Tür, d.h. die Entwertung dieses Geldes.

Diese Hyperinflation, wie sie am Ende des Ersten Welt-kriegs stand, ist inzwischen bereits Teil eines inflationärenoder hyperinflationären Zyklus einer Vielzahl von Staatender heutigen Welt. Das betrifft Lateinamerika, Afrika, inAsien vor allem die mittelasiatischen Republiken, Rußlandund teilweise Osteuropa. Für die meisten Menschen ist heu-te die auf dem Geld beruhende Wirtschafts- und Lebens-weise bereits am Ende, sie erfahren das täglich am hyperin-flationären Zyklus.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat diese Ent-wicklung angefangen, hat sich über den Keynesianismusfortgesetzt und ist in den achtziger Jahren endgültig ausge-ufert. Es gibt zwar die monetaristische Gegenkampagne – eszeigt sich jedoch in Ländern wie Großbritannien und denUSA, die versuchen, den Staatskredit wieder zurückzu-führen, daß das nicht funktioniert. Man müßte nicht nur ei-nen Großteil der Rüstungsindustrie, des Sozialstaats oderder Infrastruktur stillegen, sondern noch viel mehr, dennvierzig bis fünfzig Prozent der Bevölkerung in allen moder-nen Staaten hängen direkt oder indirekt bereits von diesemStaatskredit ab. Und wenn der Staat seine Einnahmen nichtaus der hyperinflationären Kreation von Geld direkt durchBefehl an seine Notenbanken beziehen will, wie es in vielenLändern als letzte Notmaßnahme schon üblich ist, kann ereben nur noch bei den Geldbesitzern, jenem Geld, das imBankensystem konzentriert ist, Kredit aufnehmen. Der Staatist dann plötzlich nicht mehr der forsche uniformierte Sou-verän, sondern ein ganz normaler Kreditnehmer, der sich andas Zinsgefüge halten und Zinsen zahlen muß.

Wofür ist der Kredit in einem kapitalistischen Systemda? Seine Aufgabe besteht vom kapitalistischen Standpunktaus darin, brachliegende Gelder, Spargelder, Cash, alles was

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ohne Lohnausgleich – so verläuft die Diskussion inDeutschland zumindest sehr stark. Das wirft natürlich sofortdie Frage auf: Was machen wir dann mit der gewonnenendisponiblen Zeit, die nicht mehr in Arbeit und Geld im bis-herigen Sinn aufgehen kann? Konsumierend in der bisheri-gen Weise, inklusive der destruktiven Seite dieser Massen-konsumtion des Kapitalismus, das geht nicht mehr, aber wasdann? Kann man zum Beispiel jetzt in dieser neuen Situati-on, unter neuen, bisher nie dagewesenen Bedingungen, viel-leicht doch zurückkommen auf Formen wie Genossenschaft,Kibbuz, auf altbekannte Formen wie selbstverwaltete,selbstversorgende gesellschaftliche Gruppierungen? Es gabschon sehr viele Ansätze – von der Alternativbewegung überverschiedene Formen von Selbstverwaltungsversuchen, vonSelbstorganisation, von Selbsthilfegruppen, von Wohnge-meinschaften, von Stadtteilgruppen, Bürgerinitiativen usw.Es gibt ja sehr viele Ansätze, nur waren alle bisher immernoch in irgendeiner Weise auf das Bezugssystem Arbeit-Geld-Ware bezogen, bis hin zum Einbezug von Staatsknete.

Soweit ich weiß, ist auch dieses Haus hier [das Kultur-zentrum Rote Fabrik, Anm. d. Red.] von Staatsknete abhän-gig. Da spricht nichts dagegen, im Gegenteil, warum sollman die nicht nehmen. Ich meine nur, das stößt an Grenzen,wir sollten nicht mit Haut und Haar davon abhängig sein.Und zwar nicht nur an die Grenzen des subjektiven Bewußt-seins oder der Politik irgendeiner Rechten, sondern an ob-jektivierte Systemschranken. Also müßte man sich überle-gen, was kann man, um das aufzufangen, selbstorganisiertmachen, und neue Formen von Leben und Sichreproduzie-ren ausprobieren, ohne gleich ins Utopische oder in sekten-hafte Positionen abzudriften. Wie kann man in diesem Kon-text auch neue Forderungen, durchaus auch Kampflosun-gen, entwickeln, denn das geht natürlich nicht konfliktfreiab. Das ist auch eine Frage von Ressourcen; es darf ja nichtum Armutsniveaus und Selbstausbeutung gehen. Wenn die-ses marktwirtschaftliche System als Weltsystem gar nicht

Mit Volldampf in den Kollaps 63

Globalisierung in den letzten fünfzehn Jahren systematischaufgebaut hat, ist zu einem erheblichen Teil heiße Luft. Dasmuß man einfach sagen.

Dieses Krisenpanorama zielt auf etwas ab. Jetzt stellt sichnämlich die Frage: Wie soll man denn damit umgehen? Mitden alten Begriffen marxistischer Gesellschaftskritik kommtman offensichtlich nicht mehr weiter. Nicht nur, weil dienachholende Modernisierung gescheitert ist und das marxi-stische begriffliche Denken der letzten Jahrzehnte durch dasProblem nachholender Modernisierung gefiltert und nichtdurch eine Situation bestimmt wurde, in der dieser schein-bar endlose Modernisierungsprozeß an ein definitives Endekommt. Zum andern ist es so, daß gerade der Marxismus,das läßt sich bis zu Marx selber zurückführen, ganz stark imParadigma der Arbeit verankert war, in einem Mythos desabstrakten »Produktivismus«. Der Begriff Arbeit wurde nurschemenhaft umrissen: einerseits überhistorisch als ontolo-gische menschliche Grundtatsache, andererseits aber schonklammheimlich in der Form, die ihn als kapitalistisch aus-weist, nämlich als eben dieser scheinbar kohärente Zusam-menhang Arbeit-Geldeinkommen-Warenkonsum. Undwenn bei einer wirklichen Krise der Arbeitsgesellschaft die-ser Vermittlungszusammenhang Arbeit-Geld-Konsum jetztzerreißt, dann steht natürlich auch, und damit schließt sichjetzt der Kreis, die bisherige marxistische Gesellschaftskritikmit leeren Händen da. Denn die bisherigen Formen derKritik, auch die bisherigen Vorstellungen der Emanzipation,die brechen sich insgesamt an dieser Schranke der Moderne.Und zurück in die Vormoderne können wir auch nicht. Esist quasi eine paralytische Situation.

Ich denke, daß es möglich sein muß, ein Denken zu ent-wickeln, das eine Bewältigungskraft dieser Krise hervor-bringt. Es muß möglich sein, sich Formen nicht nur vorzu-stellen, sondern auch praktisch zu entwickeln, welche an ak-tuelle Debatten anknüpfen wie Arbeitszeitverkürzung auch

62 Robert Kurz

Maria Mies Die Krise als Chance: Zum Ausstieg aus der Akkumulationslogik

Der Titel meiner Veranstaltung suggeriert, daß ich zu denengehöre, die auf den Zusammenbruch des derzeitigen Sy-stems warten, damit sich dann aus dem Chaos etwas Neuesentwickeln kann. Angesichts der Opfer, die diese Krise be-reits gefordert hat, wäre eine solche Haltung jedoch zynisch.Andererseits können wir aber auch jetzt schon feststellen,daß das Umdenken gerade denen am schwersten fällt, diesich noch relativ gesichert wähnen in den Zentren der kapi-talistischen Industriegesellschaft, und daß kreatives, neuesDenken bei manchen von der Krise am stärksten Betroffe-nen zu finden ist. Diese sind nach meiner Beobachtung vorallem die Armen aus der »Dritten Welt«, vor allem die ar-men Frauen. Meine Formulierung, daß die Krise eine Chan-ce sein kann, aus der Kapitallogik auszusteigen, macht sichan den Erfahrungen der Überlebenskämpfe solcher Grup-pen fest. Da die Krise eine globale ist, finden solche Überle-benskämpfe inzwischen aber auch schon in den Zentren desreichen Nordens statt. Ich denke, daß es höchste Zeit ist,hier von den Beispielen aus den sogenannten Drittweltlän-dern zu lernen.

Was ist das für eine Krise?

Ehe ich mich den – hoffnungsvollen – Alternativen zuwen-de, ist es notwendig, über den Charakter der derzeitigenKrise nachzudenken. Worin besteht sie, welche Dimensio-nen unseres Lebens betrifft sie, wie weit reicht sie?

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mehr in der Lage ist, einen Großteil der Ressourcen über-haupt zu besetzen, wenn es mangels Rentabilität immermehr Sektoren der Produktivkräfte stillegen und die ent-sprechende Bevölkerung außer Kurs setzen muß, dann stelltsich doch ganz klar die Frage: Können diese Ressourcen inanderer Weise mobilisiert werden, oder müssen sie brachliegenbleiben? Das fängt mit Grund und Boden an, die Pa-rolen für Landbesetzung, Hausbesetzung sind ja nicht unbe-kannt, sie haben schon in der Vergangenheit eine Rolle ge-spielt. Und wie gesagt, vielleicht könnten all diese Ansätze,diese Begriffe in diesem neuen, bisher nicht dagewesenenKontext der absoluten Schranke des warenproduzierendenmodernen Systems eine neue Bedeutung bekommen undnicht mehr so einfach von einem neuen Schub der Kapital-akkumulation aufgesaugt werden wie in der Vergangenheit.Und das ist etwas, das nicht mehr aus der Theorie herauspräjudiziert werden kann, das ist eine Frage an alle, die sichdamit praktisch auseinandersetzen.

(Mündliches Referat; schriftliche Überarbeitung: Kari-Anne Mey)

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der »Dritten Welt« ins Unermeßliche gestiegen: 1992 wur-de sie auf 134, 3 Milliarden US-Dollar beziffert. In der Sub-sahara war die Verschuldung viermal so hoch wie das Brut-tosozialprodukt aller Drittweltländer zusammen.

Natürlich sind Frauen von Erwerbslosigkeit und dieser»neuen« Armut in den Industrieländern stärker betroffen alsMänner, und ältere stärker als junge. Vor allem viele alleinle-bende Mütter leben bereits unter der Armutsgrenze, d.h.sind Sozialhilfeempfängerinnen – und wir werden daran ge-wöhnt, daß dies »normal« sei. Die Prognosen für die Zu-kunft, wie sie beispielsweise das Prognos-Institut bis zumJahr 2000 errechnet hat, sehen zwar ein Wirtschaftswachs-tum vor, aber auch die Fortdauer der Erwerbslosigkeit undUnterbeschäftigung. Es entsteht das, was die Ökonomen»jobless growth« nennen. Doch selbst diese Erwartungenbezeichnen Hickel und Priewe noch als zu optimistisch, dasie von einer erfolgreichen Reindustrialisierung Ostdeutsch-lands ausgehen, die ihrer Meinung nach nicht stattfindenwird.1 Sie erwarten vielmehr eine weitere Spaltung der Ge-sellschaft nach dem Muster der Zweidrittelgesellschaft mitetwa 6 Millionen Erwerbslosen.2 Die Rückkehr der Armutin die Industrieländer hat noch drastischere Formen imreichsten Land der Welt angenommen, nämlich in denUSA. Hier spricht man schon von einer »Drittweltisierung«des Landes.

Erstaunlicher als diese Tatsache ist jedoch, daß den»Verantwortlichen« in Wirtschaft und Politik auch keineanderen Strategien einfallen als die, die sie bisher – auchohne Erfolg – der »Dritten Welt« vorgeschlagen haben. Danämlich der Keynesianismus und die Vollbeschäftigung end-gültig am Ende zu sein scheinen, soll die »informelle Öko-nomie« ausgeweitet werden. Der deutsche Wirtschaftsmini-ster Rexrodt hat vor einiger Zeit die Bildung eines Bil-liglohnsektors innerhalb Deutschlands vorgeschlagen, wodie Löhne niedriger, die Arbeitszeiten länger, der Arbeits-schutz geringer sei als das, was die Gewerkschaften für den

Die Krise als Chance 67

Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei dem, was hierund heute Krise genannt wird, um eine ökonomische Krisehandelt, allerdings nicht nur um eine jener zyklischen wirt-schaftlichen Talfahrten, die nach der Lehre der neoklassi-schen Wirtschaftstheorie wieder durch einen Aufschwungabgelöst wird. So wie uns die Ökonomen – rechtzeitig vorder Bundestagswahl – versicherten, es ginge wieder aufwärtsmit der Weltwirtschaft. Die Krise, von der hier die Rede ist,geht tiefer und reicht weiter.

Sie ist auch nicht erst jetzt hier aufgetaucht, sondern istim Grunde genommen schon eine Dauerkrise, seit es denKapitalismus gibt. Sie ist natürlich zunächst eine ökonomi-sche Krise, die sich trotz wieder steigenden Bruttosozialpro-dukts im Zusammenbruch von Firmen manifestiert, in derwachsenden oder stagnierenden Erwerbslosigkeit, schrump-fenden Märkten für langlebige Wirtschaftsgüter und einerwahnsinnig gestiegenen Konkurrenz auf allen Märkten. Ob-wohl die Politiker und Ökonomen das Volk zu beruhigenversuchen, die Krise sei eine vorübergehende und werdedurch Investitionen in »Zukunftstechnologien« wie die Bio-technologie überwunden, glauben die Menschen das nichtmehr. Es wird immer deutlicher, daß das Paradigma des un-begrenzten Wachstums nicht nur ökologisch eine Katastro-phe ist, sondern auch ökonomisch nicht »nachhaltig« ist,weder im Süden noch im Norden.

Die Armut ist allzu sichtbar in die Zentren des reichenNordens zurückgekehrt. In Deutschland beispielsweise istdie Zahl der Obdachlosen auf eine Million Menschen gestie-gen. Im Winter 1992/93 sind in Deutschland 30 Menschenerfroren, und es gibt immer mehr Bettler. In London über-nachten Menschen in Pappkartons. Die Zahl der Erwerbslo-sen ist in den letzten Jahren – besonders in Ostdeutschland –enorm angestiegen und stagniert mehr oder weniger trotzangeblichen Konjunkturanstiegs. Das neue Phänomen die-ser Krise ist das Andauern des wirtschaftlichen Wachstumsin den Industrieländern; gleichzeitig ist die Verschuldung

66 Maria Mies

usw. den Wohlfahrtstaat nicht zu viel kosten. Allerdings istzu erwarten, daß mit dem Andauern der Krise in Zukunftauch mehr Männer hausfrauisiert werden.

Claudia von Werlhof schrieb schon Anfang der achtzigerJahre in ihrem Aufsatz »Der Proletarier ist tot, es lebe dieHausfrau«, daß »nicht die Verallgemeinerung der Hausar-beit der Traum aller Kapitalisten« sei. »Es gibt keine billige-re, produktivere, fruchtbarere menschliche Arbeit, und mankann sie auch ohne Peitsche erzwingen. Die Umstrukturie-rung der Ökonomie wird ein Versuch sein, das weibliche Ar-beitsvermögen auch den Männern anzuerziehen ... Dennder Lohnarbeiter macht zu wenig und kann zu wenig. Erkann nur tun, was bezahlt wird und was vertraglich verein-bart wurde. Er tut nichts darüber hinaus, und er hat keineAhnung von Menschenproduktion. Er funktioniert als Ro-boter, als Anhängsel der Maschine, entemotionalisiert ... Erarbeitet zu kurz und ist zu schnell erschöpft. Er hat keinenGrund, innovativ zu werden, und kein Motiv für die Arbeit,er ist nicht rundherum, als ganze Person, als ganzer Menschmobilisierbar. Das männliche Arbeitsvermögen ist viel zuunflexibel und ›unfruchtbar‹«.5

Was uns auf der Grundlage der Nicht-Lohnarbeit derHausfrau und damals der SubsistenzproduzentInnen der»Dritten Welt« klar wurde, trifft heute voll auch für die rei-chen Länder des Nordens zu: die Hausfrauisierung der Ar-beit.

Die heutige Krise ist jedoch nicht nur eine ökonomische.Sie ist vielmehr verknüpft mit einer Reihe weiterer Krisen;oder anders ausgedrückt, die derzeitige Krise hat verschie-dene, miteinander verbundene Dimensionen: neben derökonomischen die ökologische, die soziale, die politische,die ethische und die psychologische Dimension. Nicht zu-letzt sind wir mit einer enormen Krise des Denkens, einerErosion des gesunden Menschenverstandes, einer Konfusi-on des Erkennens und mit einem Mangel an Orientierungund Perspektiven konfrontiert.

Die Krise als Chance 69

formellen Sektor durchgesetzt haben. Dies entspricht demsogenannten Deregulierungsmodell, das wir seit langemschon in der »Dritten Welt« beobachten können. Wie dortempfiehlt der Minister, daß vor allem Frauen in diesem Bil-liglohnsektor arbeiten sollen. Denn gleichzeitig erfolgen dieKürzungen der staatlichen Ausgaben vor allem im Sozialbe-reich, in dem nicht nur viele Frauen tätig sind, sondern vondem sie auch abhängig sind: Gestrichen werden Gelder fürKindergärten, Frauenhäuser, Wohngeld u.a. Wie in denverschuldeten Ländern des Südens, die unter dem Regimeder Strukturanpassungsprogramme des InternationalenWährungsfonds leiden, sind die Betroffenen dieser Strategiehauptsächlich ärmere Frauen.

Rexrodt schlägt nicht nur einen Billiglohnsektor inDeutschland vor, um so der Konkurrenz aus den Billiglohn-ländern des Südens – und jetzt des Ostens – und der Abwan-derung des deutschen Kapitals in andere Billiglohnländerentgegenzuwirken, er progagiert nicht nur eine duale Öko-nomie mit einem formellen und einem informellen Sektor,sondern er schlägt – wie in der »Dritten Welt« auch – denprivaten Haushalt als Standort für die neuen Jobs vor, dievor allem im Dienstleistungsbereich angesiedelt werden sol-len. Natürlich denkt er auch nicht an Männer als Arbeiter indiesem Bereich, sondern an Frauen, Hausfrauen. Der priva-te Haushalt sei, so Rexrodt, »ein attraktiver Arbeitsplatz, be-sonders für Frauen mit kleinen Kindern, wo sie ihre Erfah-rung voll nutzen können«.3

Dieses Statement zeigt, daß Politik und Wirtschaft heutein den reichen Ländern keine andere Strategie verfolgen alsdie, die wir (Veronika Bennhold-Thomsen, Claudia vonWerlhof und ich) bereits 1982 in unserer Ansalyse der Kapi-talakkumulation, vor allem in der »Dritten Welt«, die»Hausfrauisierung der Frauen« genannt haben.4

Frauen werden durch diese Strategie nicht nur aus demformellen Sektor verdrängt, es wird auch sichergestellt, daßdie notwendigen Sozialen Dienste für Kinder, Kranke, Alte

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lität, der Gewalt, der Selbstmordraten, des Drogenkonsumsu.a. belegt. Die sogenannte »civil society« ist heute der Orteiner enormen Brutalisierung des Alltagslebens, einer zu-nehmenden »Ramboisierung« der Männer, die vor allemFrauen und Mädchen betrifft, und einer Abstumpfung ge-genüber grundlegenden menschlichen Werten und Empfin-dungen. Die zwei Jungen, die in Liverpool ein zweijährigesKind töteten, ahmten nach, was sie in Gewalt- und Horror-videos gesehen hatten. Die Unterhaltungselektronikindu-strie hat in ihrer Konkurrenz um Märkte keine Bedenken,die Phantasie der Erwachsenen und Kinder zu vergiften undso ein Klima des Sozialdarwinismus zu schaffen, in welchemnur die Brutalsten überleben. Die Philosophie von Hobbes,Darwin und Adam Smith wird am Ende dieses Jahrhundertsnicht nur »draußen« in den Kolonien, sondern mitten in der»Zivilgesellschaft« praktiziert. Werte wie Solidarität, Ach-tung, Verantwortung, Mitgefühl oder Sorge um andere ver-schwinden aus dem Alltagsleben. Übrig bleibt der Kampf al-ler gegen alle – die Hobbessche Grundannahme.

Dieser Kampf muß nun zunehmend von atomisiertenEinzelnen geführt werden, denn die bisher noch funktionie-renden Gemeinschaften – Familie, Nachbarschaft, Ver-wandtschaft, Gemeinde – sind zum großen Teil zerfallen.Das heißt, dem harten Konkurrenzkampf im Arbeitslebensteht nicht einmal mehr ein mehr oder weniger intaktesRückzugsgebiet zur psychischen Reproduktion der Men-schen zur Verfügung, wie es z.B. die traditionelle Familiemit der Hausfrau für die Reproduktion der männlichen Ar-beitskraft darstellte.

Die politische Dimension der Krise ist engstens ver-knüpft mit der ökonomischen und ökologischen. Sie ist viel-fältig und vielschichtig. Besonders in den Industrieländernwird mehr und mehr deutlich, daß das »Volk«, die Wähler-schaft, immer weniger Macht hat, das politische Geschehenmitzugestalten. Nicht nur wegen einer immer undurch-schaubareren Bürokratie, sondern auch wegen der neuen

Die Krise als Chance 71

Die ökologische Krise wurde in den letzten Jahren inden Vordergrund gerückt, und es wurde genug über ihreUrsachen geschrieben. Inzwischen wird weltweit auch zuge-geben, daß diese Krise durch das wachstums- und fort-schrittsorientierte Industriesystem, verbunden mit Ressour-cenverbrauch, der Ausbeutung der »Dritten Welt« und ei-nem verschwenderischen Lebensstil im Norden, verursachtwird. Doch anstatt das Dogma des permanenten Wachstumsabzuschaffen und den Konsumstil drastisch zu ändern, set-zen Wirtschaft und Politik unter dem Schlagwort »sustaina-ble growth« auf weiteres Wachstum, auf mehr »quantitati-ves« Wachstum im Süden und mehr »qualitatives« Wachs-tum im Norden. Das ist natürlich die Quadratur des Kreisesinnerhalb eines begrenzten Planeten. Auch der Club ofRome vertritt dieses Wachstumsmodell in seinen aktuellenPositionen. Der Begriff »sustainable growth« wurde zudemvon den multinationalen Konzernen sofort vereinnahmt, umden Anschein einer Lösung der ökologischen Krise zu ver-mitteln. Der deutsche Multi Hoechst hat beispielsweisekürzlich in der »Frankfurter Rundschau« ein ganzseitigesInserat publizieren lassen mit dem Titel: »Sustainablegrowth – damit unsere Kinder noch eine Zukunft haben.«

Dieser »grüne Kapitalismus«, der auf umweltfreundlicheTechnologie setzt, soll der Wirtschaft neues Wachstum undden Erwerbslosen neue Arbeitsplätze bescheren. An denausbeuterischen Verhältnissen zwischen Männern und Frau-en, Klassen, reichen und armen Ländern soll nichts geändertwerden: eine typische Strategie des weißen Mannes zur Lö-sung der Krise. Die ökonomische Krise verführt zudemdazu, die bescheidenen Anfänge einer ökologischen Umkehrvom traditionellen Wachstumsmodell wieder zu blockierenoder sogar rückgängig zu machen.

Die soziale und psychologische Dimension der Krisekann vor allem im Zusammenbruch des sozialen Friedens inden Metropolen der Industrieländer beobachtet werden.Dies wird meist mit Stichworten wie Zunahme der Krimina-

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des Südens, nichts geändert. Unsere These ist, daß diesesWirtschaftssystem nicht ohne fortgesetzte ursprünglicheAkkumulation existieren könnte, d.h. praktisch nicht ohneKolonien, interne und externe, wo nicht vor allem die freieLohnarbeit ausgebeutet wird, sondern die Nicht-Lohnar-beit, und wo nicht nur Vertrags- sondern auch Gewaltver-hältnisse den Mehrwert erpressen, abgesehen von den billi-gen Rohstoffen, die diesen Ländern häufig geraubt werden.Diese Gebiete befinden sich also schon seit langem in einemZustand der Krise.

Dennoch: Wenn wir jetzt von der Krise im Zusammen-hang mit der Globalisierung der Wirtschaft reden, dann istdamit eine weitere Phase in diesem historischen Prozeß derKapitalakkumulation gemeint, nämlich die Verlagerungganzer arbeitsintensiver Produktionsbereiche wie z.B. dieHerstellung von Textilien und Kleidung, Elektronik, Spiel-waren, Schuhe u.a. in Billiglohnländer des Südens, vor allemnach Südostasien und nach Mexiko. Dort wurden sogenann-te freie Produktionszonen oder Weltmarktfabriken errich-tet, in welchen meist junge, unverheiratete Frauen oft unterZwangsverhältnissen Waren für den Weltmarkt herstellen.Diese Phase begann Anfang der siebziger Jahre und wurdeauch als Neue Internationale Arbeitsteilung (NIAT) be-zeichnet.7

Diese NIAT war eine Strategie der MultinationalenKonzerne (MNKs) zur Senkung der Lohnkosten und derBekämpfung der Krise in der Wirtschaft, die teils durch denÖlschock, teils durch hohe Lohnforderungen der Gewerk-schaften verursacht wurde.

Die Lösung war eine Restrukturierung der Weltwirt-schaft durch die Schaffung von exportorientierten Industrie-enklaven in den Billiglohnländern, in denen westliche undjapanische Firmen produzieren und die Löhne um ein Viel-faches niedriger waren als in den Industrieländern. Das Ka-pital entdeckte die Frauen in Südkorea, auf den Philippinen,in Mexiko, Tunesien – später in Sri Lanka, Bangladesh, Indi-

Die Krise als Chance 73

ökonomisch-politischen Blockbildungen wie EU, NAFTA,APEC, welche die nationalen Demokratien quasi außerKraft setzen. Hinzu kommen die neue mafiaartige Politikund die Korruption in den Parteiendemokratien, wie es vorallem in Italien der Fall ist. Die Machtspiele derer »daoben« werden für viele immer undurchschaubarer, und siewenden sich angeekelt gänzlich von der Politik ab mit derHaltung: »Da kann man sowieso nichts ändern.«

Diese Ohnmachtsgefühle werden noch deutlicher imZusammenhang mit den sogenannten neuen Zukunftstech-nologien wie z.B. der Gentechnologie.

Die Krise und die Globalisierung der Wirtschaft

Wenn von der Krise die Rede ist, dann denken die Leutemeist nur an eine temporär begrenzte ökonomische Flautein den Industrieländern des Nordens. Es ist nicht in ihremBewußtsein, daß die kapitalistische Wirtschaft seit ihren An-fängen dauernd irgendwelche Gebiete der Welt in solcheKrisen stürzte, daß die Krise und die damit verbundenenProzesse der Verarmung den »Untergrund« des kapitalisti-schen Akkumulationsmodells darstellen.

Unser System benötigt dauernd Kolonien, um zu funk-tionieren: die fremden Völker, die Frauen und die Natur –das, was nicht offiziell zur Wirtschaft zählt, bildet den »Un-tergrund« des gesellschaftlichen Systems, in dem Gewaltund nicht ein Vertragsverhältnis herrscht.

Die Krisen sind lediglich exportiert und externalisiertworden, und zwar in die Kolonien. Diese gehören genausozum Kapitalismus wie die Lohnarbeit in den reichen Zen-tren, in denen akkumuliert wird. Das bedeutet auch, daßdieses Wirtschaftssystem, das heute beschönigend Markt-wirtschaft genannt wird, immer schon ein Weltsystem warund ist.6 Ohne die Ausbeutung der Kolonien wäre der Kapi-talismus nicht entstanden und hätte sich nicht erhalten. Dar-an hat auch die sogenannte Entkolonisierung, die Errei-chung der politischen Unabhängigkeit der meisten Länder

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• Polen $ 1,40• Mexiko $ 2,40• Indien $ 0,50• China $ 0,50• Indonesien $ 0,50

Kein Wunder, daß Minister Rexrodt einen Billiglohn-sektor nach dem Muster der »Dritten Welt« in Deutschlanderrichten will.

Die Integration der Drittweltländer in den Weltmarktbeschränkte sich jedoch in dieser Phase der Restrukturie-rung nicht nur auf die Industrie, sondern erfaßte auch dieLandwirtschaft. Es war die Hochkonjunktur der »GrünenRevolution«, die vor allem durch die Chemie-, Saatgut- undLebensmittelmultis gefördert wurde.

Millionen von Menschen wurden von ihrem Land ver-trieben, der Boden ausgelaugt und versalzen, die Wasser-vorräte aufgebraucht und die Artenvielfalt vernichtet. VieleKleinbauern verloren ihre Existenzgrundlage und fandenauch keine Arbeit in den Städten. Die »Grüne Revolution«,die mit der Versprechung propagiert wurde, den Hunger zubeseitigen, entpuppte sich als permanente Krise, als Gewaltgegen die Natur und die Menschen.11

Den verarmten und verelendeten Menschen, die in dieStädte flohen, blieb nichts als die Arbeit im informellen Sek-tor, in dem wiederum vor allem Frauen, in Heimarbeit odersogenannten Sweatshops, für einen Hungerlohn Waren fürden internationalen Markt herstellten: Handarbeiten, Krims-krams, Lebensmittelkonserven, Kleidung. Viele Frauen wa-ren gezwungen, sich zu prostituieren, um zu überleben.12

Für die meisten Länder der »Dritten Welt«, die sich aufdie Strategie der exportorientierten und kreditgesteuertenIndustrialisierung/Modernisierung eingelassen hatten, en-dete dies mit einer Dauerkrise, mit Verschuldung und demDiktat des Internationalen Währungsfonds (IWF) und sei-nen Strukturanpassungsprogrammen.

Die Krise als Chance 75

en und Malaysia als optimale Arbeitskräfte. Vor allem junge,unverheiratete Frauen wurden rekrutiert. Bis zu 80 Prozentder Arbeitskräfte in diesen Weltmarktfabriken waren undsind Frauen. Sie brachten alle Hausfrauenfähigkeiten mit,die für die Textil- und Elektronikindustrie gebraucht wur-den, waren »docile« (gefügig), hatten »nimble fingers« (ge-schickte Finger)8 und konnten gefeuert werden, wenn sieheirateten. Sie sahen als Hausfrauen ihre Lohnarbeit nur alseine temporäre an. Außerdem verlangen die MNKs von denRegierungen dieser Länder bestimmte Konzessionen wiedie Lockerung von Arbeitsgesetzen, in vielen Fällen das Ver-bot von Gewerkschaften, Steuererlaß bis zu 15 Jahren, eineLockerung der Umweltauflagen, kostenlose Lieferung dernötigen Infrastruktur, Verbot von Streiks usw.

Das war das Erfolgsrezept solcher Länder wie beispiels-weise Südkorea. Heute hat sich dieses Produktionsmodellauf den ganzen Raum der eingangs aufgeführten Billiglohn-länder ausgedehnt.

Die Konzerne waren vor allem an einer Senkung ihrerLohnkosten interessiert. 1987 waren die durchschnittlichenLohnkosten pro Stunde im herstellenden Gewerbe in ver-schiedenen Ländern wie folgt:9

• Mexiko $ 0,97 • Brasilien $ 1,10• Südkorea $ 1,43• Japan $ 9,92• Schweden $ 10,57• USA $ 10,82• Deutschland $ 13,16

Die deutschen Arbeiter waren bisher die teuersten derWelt. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Nach einerStudie von Woodall waren 1994 die durchschnittlichenLohnkosten pro Stunde in:10

• Deutschland $ 25,00• USA $ 16,00

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der Telekommunikation. Die Hälfte der MNKs befindetsich in den USA, die andere Hälfte in Europa und Japan.Die »Dritte Welt« ist von dieser Konzentration von Geldund Macht ausgeschlossen und wird von diesem Machtblockausgebeutet.

Diese neokoloniale Struktur der globalen Ökonomiewird ideologisch und politisch von einigen globalen Institu-tionen wie der Weltbank, dem IWF und seit 1993 vom Ge-neral Agreement on Trade and Tariffs (GATT) – heute derWTO (World Trade Organisation) – aufrechterhalten. Diejetzige Phase der Umstrukturierung der Weltwirtschaft wirdvor allem von diesen Institutionen bestimmt. Darüber hin-aus sind es die großen neuen Wirtschaftsblöcke wie EU,NAFTA und APEC, die die günstigen Rahmenbedingungenfür die MNKs herstellen. Diese Blöcke werden mit demSchlagwort der Beseitigung der Arbeitslosigkeit propagiert,und viele Menschen fallen auf diese Propaganda herein, wiez.B. Schweden und Österreich.

Vor allem das GATT ist erfunden worden, um die Frei-handelsphilosophie des 19. Jahrhunderts noch einmal aufle-ben zu lassen. Das heißt zunächst, daß alle Handelsschran-ken, die die Staaten errichtet hatten (Zölle, Einfuhrbe-schränkungen etc.), um bestimmte Sektoren ihrer Wirt-schaft zu schützen, beseitigt werden, daß sie ihre Märkte fürden Import der Güter aus der ganzen Welt öffnen müssenund daß die Multis überall ihre Standorte einnehmen kön-nen. Während sie sich in der ersten Phase noch auf Enkla-ven beschränken mußten, gehört ihnen praktisch nun dieganze Welt. Der letzte Überrest von nationaler Souveränitätder einzelnen Staaten ist ans Ende gekommen.

Die Freihandelspolitik geht davon aus, daß1. der Handel die Grundlage des Lebens ist,2. alle Handelspartner gleich sind,3. durch das Prinzip der sog. »comparative advantages«

alle am meisten von diesem »freien« Handel profitierenwürden.

Die Krise als Chance 77

Globalisierung ohne »menschliches Gesicht«

Die heutige Phase der globalen Umstrukturierung begannmit der Rezession um 1990. Sie ist einerseits gekennzeichnetdurch die Fortsetzung und Expansion der schon vorherpraktizierten Politik der exportorientierten Produktion inIndustrie, Landwirtschaft und informellem Sektor, anderer-seits gibt es aber auch quantitative und qualitative Unter-schiede zu den vorangegangenen Restrukturierungsphasen.Die Verlagerung der Produktionsstätten in Billiglohnländerbezieht sich heute nicht nur auf die »Dritte Welt«, sondernauch auf die deindustrialisierten Länder des Ostens und aufChina. Während die erste Phase der Verlagerung sich vor al-lem in den arbeitsintensiven Bereichen der Leichtindustrievollzog, wird heute auch die Schwerindustrie in den Berei-chen Kohle-, Stahl-, Autoindustrie und Schiffsbau ausgela-gert.

Heute sind vor allem Männer in Europa und in den USAvon Firmenschließungen betroffen. Es sind außerdem nichtnur die hohen Lohnkosten, die die MNKs in die Billiglohn-länder treiben, sondern vor allem auch deren laxe Umwelt-gesetze. Darum sprechen die Gewerkschaften in den nördli-chen Industrieländern von einem »social and environmentaldumping«. Wie schon in der ersten Phase wird der heutigeProzeß der Umstrukturierung der Weltwirtschaft zu immermehr exportorientierter Warenproduktion, auch im soge-nannten Süden und Osten, von den großen MNKs vorange-trieben. Immer mehr Kapital konzentriert sich in ihrenHänden. Die 15 großen MNKs, einschließlich General Mo-tors, Exxon, IBM, Royal Dutch Shell, haben ein Bruttoein-kommen, das größer ist als das BSP von über 120 Ländernzusammen, einschließlich aller Drittweltländer.13 DieMNKs kontrollieren den Weltmarkt für Konsumgüter wieComputer, Autos, Haushaltgeräte, Textilien usw., aber auchdenjenigen für Nahrungsmittel. Cargill, einer der größtenMNKs, besitzt 60 Prozent des Welthandels von Getreide.Eine ähnliche Kapitalkonzentration gibt es auch im Bereich

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stört ist wie im entwickelten Norden. Das heißt, daß z.B. dieBauern in Indien ihres traditionellen Wissens über diePflanzenzucht durch die Patentinhaber beraubt und vonmultinationalen Saatgutfirmen abhängig gemacht werden.Jeder Bauer, der so patentiertes Saatgut benutzt und weiter-verwendet, muß dann Lizenzgebühren an die Patentinhaberzahlen. Was also für Tausende von Jahren kollektives kultu-relles Eigentum des Volkes war, vor allem von Frauen, näm-lich das Wissen um die Regenerierung und Züchtung vonPflanzen, wird nun wie zur Zeit des Frühkolonialismus ge-raubt, patentiert, privatisiert, kommerzialisiert. Die Multisdrängen darauf, daß alle Patentgesetze »harmonisiert«, d.h.dem amerikanischen Patentrecht angeglichen werden.14

Auch im Norden hat die Biotechnologie, die von denPolitikern und vor allem von den Chemiemultis (wieHoechst) als die Zukunftstechnologie progagiert wird – z.B.als Arbeitsplatzbeschaffer –, verheerende Konsequenzen, dieallerdings erst von wenigen wahrgenommen werden. InKombination mit der EU, wo jetzt eine »Novel Food«-Be-stimmung verhandelt wird, wird jetzt zentral von der Brüs-seler EU-Kommission die Tür geöffnet für alle möglichenbiotechnisch oder gentechnisch manipulierten Nahrungs-mittel. Da die meisten Menschen in den Industrieländernbereits total vom Kauf der Waren aus dem Supermarkt ab-hängen, werden sie praktisch zu ZwangskonsumentInnenvon Gen-Tech-Food gemacht. Sie verlieren die Freiheit zuwählen, was sie essen wollen.

Was für den Nahrungsmittel- und Gesundheitssektorgilt, trifft im selben Maß für den Bereich der Reproduktionzu. Die neuen Reproduktionstechnologien – propagiert alsHilfsmittel für einzelne Frauen, ein Kind zu bekommenoder nicht zu bekommen und durch pränatale Diagnostik,Gentherapie an Föten, Sex-Selektion auch ein behindertesKind zu verhindern.

Diese Technologien eröffnen nicht nur Tür und Tor fürrassistische, eugenische, sexistische Selektion, sondern ver-

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In der Praxis werden jedoch die schwächeren Partner,z.B. die Länder der »Dritten Welt«, gezwungen, Bestim-mungen zu akzeptieren, die nicht nur ihre Souveränität ero-dieren, sondern auch ihre Landwirtschaft den Multis öffnenund ihre Politik der Selbstversorgung, vor allem im Nah-rungsmittelsektor, aufzugeben und zuzulassen, daß toxischerIndustrieabfall aus dem Norden in ihrem Territorium »ent-sorgt« wird und daß »schmutzige« Industrien aus dem Nor-den in ihre Länder verlagert werden. Außerdem müssen siezulassen, daß Banken und Versicherungen des Nordens sichin ihrem Territorium breitmachen. Am gefährlichsten amPaket des Freihandels sind jedoch die »Trade Related In-tellectual Property Rights« (TRIPs), die ausländischen Fir-men und Wissenschaftlern erlauben, die biologische Vielfaltund das kulturelle Erbe der Länder der »Dritten Welt« zupatentieren, zu monopolisieren und zu kommerzialisieren.

Das GATT und die TRIPs sind natürlich auch tödlichfür die Kleinbauern und die KonsumentInnen im Norden,aber hier scheinen sich die Menschen dieser Gefahren, diedie Liberalisierung vor allem des Agrarmarktes bedeutet,kaum bewußt zu sein. Wen kümmert z.B. schon das Bauern-sterben, daß schließlich nur noch drei Prozent der Bevölke-rung in der Landwirtschaft arbeiten und unsere Nahrungvon den Multis gentechnisch zusammengebraut wird. Dasist jedoch anders in der »Dritten Welt«, wo GATT, TRIPsund SAPs (Structural Adjustment Programms) die unmittel-baren Lebensgrundlagen der Menschen zerstören. VandanaShiva hat die Konsequenzen von GATT und TRIPs für dieindische Landwirtschaft, vor allem im Zusammenhang mitder Biotechnik, aufgezeigt. Chemie- und Nahrungsmittel-multis wie Cargill, Monsanto, W. R. Grace u.a. sind ingroßem Stil in die Biotechnologie eingestiegen und versu-chen mit Hilfe von TRIPs und dem Patentrecht die Kon-trolle über alle Lebensformen, Pflanzen, Tiere und schließ-lich die Menschen und ihre Gene zu erreichen, besondersim tropischen Süden, wo die Artenvielfalt noch nicht so zer-

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Weltwirtschaft ist die Tatsache, daß diejenigen, die für nied-rige Löhne in den Billiglohnländern produzieren sollen,nicht gleichzeitig die Käuferschaft für diese Produkte seinkönnen. Vor allem Frauen sind von dieser Entwicklung be-troffen. Wenn sie überleben wollen, müssen sie neue/alteWege der Subsistenz finden. Für das Kapital sind sie über-flüssig, sowohl als ProduzentInnen wie als KonsumentIn-nen. Das ist der Grund dafür, daß sie zur Zielscheibe für dieBevölkerungskontrolleure geworden sind. Das ist z.B. ingroßem Ausmaß in Afrika der Fall; von diesem Kontinent istkaum noch die Rede.

Die Kairoer Bevölkerungskonferenz im September 1994hat die notwendige ideologische Akzeptanz geschaffen, dieseArmen, speziell die Frauen, als Hauptschuldige für Armutund Umweltzerstörung hinzustellen. Die »überflüssigenMenschen« sollen zum Verschwinden gebracht und dezi-miert werden.

Die jetzige Globalisierung führt aber nicht nur zur be-denkenlosen Eliminierung derer, die für den Markt uninter-essant geworden sind, und trotz der Rhetorik über »eineWelt« oder »one global village« zu einer weiteren Polarisie-rung zwischen reichen und armen Ländern, sondern auch zueiner größeren Kluft zwischen Reich und Arm innerhalbdieser Länder, sowohl im Norden wie auch im Süden. DerLebensstil der Eliten im Süden hat sich mehr und mehr demder Eliten im Norden angeglichen.17 Diese stellen zusam-mengenommen einen riesigen Markt für Konsumgüter dar.In der Tat: Die Ökonomen erwarten von diesen Eliten oderMittelklassen in Südkorea, Thailand, Indonesien und vor al-lem in China und Indien die notwendigen Wachstumsim-pulse für eine weitere Runde der Kapitalakkumulation. Siesollen, wie Pam Woods im »Economist« schreibt, »die rei-che Welt aus der Rezession der frühen neunziger Jahre zie-hen«. Nach einer Schätzung der OECD wird es in Indien,China und Indonesien im Jahre 2010 700 Millionen Konsu-mentInnen für moderne Konsumgüter geben. Dieser

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hindern auch das Verhalten aller Frauen zu etwas Normalemwie Schwangerschaft und Geburt. Alle diese Lebensprozessewerden medikalisiert und damit industrialisiert15. Darüberhinaus werden Frauen weltweit zunehmend nur noch alsProduzentinnen von biologischem Rohmaterial instrumen-talisiert, z.B. von »fötalem Material« für Forschungszweckeund Organtransplantationen.16

Dem Zugriff der Multis auf die ganze Welt zum Zweckder Kapitalakkumulation steht der Zugriff auf alles Lebendi-ge gegenüber. Beides entspricht dem totalitären Anspruchdieser kapitalistischen Wirtschaftsweise, die alles, was da ist,in Ware verwandeln will.

Eines der größten Probleme dieser Wirtschaftsweise istdas Dilemma, daß diejenigen, die entsprechend dem Gesetzder fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation ausgebeu-tet, hausfrauisiert, marginalisiert und pauperisiert werden,eben keine potenten KäuferInnen für all diese Waren sind,die global produziert werden. Die Märkte in den reichenLändern expandieren nicht so sehr, wenigstens nicht mehrfür die konventionellen Waren. Der IWF hat für diese aus-gelaugten, verschuldeten Gebiete das Disziplinierungspro-gramm der Strucutural Adjustment Programmes (SAPs) ge-schaffen. Diese SAPs sollen die verschuldeten Länder wie-der unter das Regime des »freien Marktes« bringen, undzwar durch den Abbau aller Maßnahmen, die noch an Ver-teilungsgerechtigkeit und Keynesianismus erinnern. Allestaatlichen Subventionen für die Bauern, Frauen, für Ge-sundheit, Bildung, Soziales, Nahrung für Arme werden ge-strichen. Herrschen soll der Sozialdarwinismus, »the survi-val of the most brutal«. Während der zweiten Periode derGlobalisierung konnten die Armen sich noch an der Illusionwärmen, daß ihr Staat sich in Richtung Schwedens,Deutschlands oder anderer Wohlfahrtsstaaten entwickelnwürde. Diese Illusion ist nach den SAPs, kombiniert mitGATT, TRIPs und den neuen Wirtschaftsblöcken endgültigvorbei. Eines der Probleme der Umstrukturierung der

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Tatsache ihrer Armut: vor allem in ihrer billigen Arbeitskraftund ihrer größeren Toleranz gegenüber Umweltverschmut-zung.« 18

Was bedeutet diese Analyse für die von der Krise Betroffenen?

1. Das Ende der Illusion der Vollbeschäftigung im Nor-den – im Süden gab es sie sowieso nie.

2. Den Abbau des Sozialstaates im Norden. Im Südenwurde er nie geschaffen.

3. Der »Traum« von der Entwicklung für alle in der»Dritten Welt« ist zu Ende.

4. Der »freie Lohnarbeiter«, die » freie Lohnarbeiterin«werden zu einer Randerscheinung, die weltweit in Konkur-renz zu den nichtfreien NichlohnarbeiterInnen stehen(These Claudia von Werlhof).

5. Das bedeutet auch das Ende einer an bloßem Selbstin-teresse festgemachten internationalen Solidarität des Prole-tariats. Die ArbeiterInnen des Nordens stehen faktisch in ei-nem antagonistischen Verhältnis zu den ArbeiterInnen desSüdens – auch des »Südens« in ihrem eigenen Land.

6. Die Hoffnung auf »nachholende Entwicklung« er-weist sich für die Mehrzahl der Menschen im Süden als Illu-sion. Gleichheit für alle ist im Rahmen des kapitalistischenPatriarchats nicht möglich.

7. Ökologisch gesehen wäre eine »Gleichheit« der Kon-summuster von Nord und Süd außerdem eine Katastrophe.Das Industriemodell ist nicht verallgemeinerbar für alle.

8. Die weitere kapitalistische Industrialisierung ist auchnicht wünschenswert für den Norden (siehe die verschiede-nen Dimensionen der Krise). Dieses Modell zerstört nichtnur die Grundlagen des Lebens auf diesem Planeten, son-dern auch die Grundlage der Demokratie und ihrer Werte:Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Das be-trifft auch die sogenannten Gewinner dieses Systems.

9. Es geht ums Überleben. Das Kapital kann kein Leben

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»nachholende Konsum« wird allerdings nicht für die Mehr-heit der Bevölkerung dieser Länder gelten. Diese wird wei-ter verarmen und lediglich im informellen Sektor als »haus-frauisierte« ArbeiterInnen und BäuerInnen dafür sorgen,daß die Waren für den täglichen Bedarf wie Nahrung undKleidung nicht zu teuer werden.

Diese Polarisierung zwischen Reich und Arm wird aberauch im Norden zunehmen. Nicht nur, weil die Verlagerungganzer Industriebereiche in die Billiglohnländer die Arbeits-losigkeit weiter steigern und die Reallöhne senken wird,sondern auch, weil, wie anfangs ausgeführt wurde, die Stra-tegien der Krisenbekämpfung dieselben sind wie die in der»Dritten Welt«, nämlich Deregulierung, Hausfrauisierung,Informalisierung von Arbeitsverhältnissen, die Schaffungvon Billiglohnsektoren à la Rexrodt inmitten der reichenLänder, in welchen hauptsächlich Frauen arbeiten, ein gra-dueller Abbau des Sozialstaates, die Eliminierung der Bau-ern und die Industrialisierung der Landwirtschaft und desLebens.

Die »Drittweltisierung« der »Ersten Welt« zeigt, daßdie Globalisierung der Wirtschaft die Krise für das Kapitalzeitweilig zu lösen scheint, aber daß sie keineswegs Wohl-stand für alle bringt. Denn die fortgesetzte Kapitalakkumu-lation ist nur möglich, solange es externe und interne Kolo-nien gibt, Gebiete und Menschen, die als Nichtgleiche be-handelt und ausgeraubt werden können. Pam Woodall hatdies unmißverständlich ausgedrückt, daß der komparativeKostenvorteil der armen Länder eben ihre billigen Arbeits-kräfte und ihre laxe Umweltgesetzgebung sind und daß dieWirtschaft kein Interesse an Gleichheit hat:

»Die Vorteile des internationalen Handels bestehen dar-in, daß man den Ländern (des Südens, M.M.) erlaubt, ihrekomparativen Kostenvorteile auszubeuten, nicht aber darin,daß man verlangt, daß sie (den reichen Ländern, M.M.)gleich werden. Und vieles der komparativen Vorteile derDritten Welt liegt, in der einen oder anderen Weise, in der

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»Das kann doch nicht alles gewesen sein – das bißchenAuto und Führerschein, da muß doch noch Leben ins Le-ben« (Biermann).

5. Die Erfahrung und die Erkenntnis des gigantischenBetrugs und der Beraubung (der Natur, der Menschen, desLebens, der Zukunft), die mit der Globalisierung der kapita-listischen Wirtschaft einhergehen, ist eine Chance, wiederlokale und regionale Wirtschaftsräume und -strukturen auf-zubauen. Denn nur innerhalb solcher »Wirtschaften vonunten« kann sichergestellt werden, daß die Natur nicht ver-nutzt, die Versorgung von allen mit dem Lebensnotwendi-gen gewährleistet, die Menschen nicht ausgebeutet und derMilitarismus eingedämmt wird. Erst innerhalb solcher über-schaubarer Öko-Regionen ist auch Gleichheit wieder mög-lich, allerdings nicht auf dem Niveau des Luxus- und Ver-schwendungskonsums, sondern auf dem der wirklichenGrundbedürfnisbefriedigung. Innerhalb solcher begrenzterLokal- und Regionalökonomien werden die Menschen nichtnur sorgfältig und respektvoll mit der Natur, sondern auchmiteinander umgehen müssen, wenn sie überleben wollen.

6. Das heißt auch, daß diese Situation die Chance in sichbirgt, daß die uralten Ausbeutungs- und Unterdrückungs-verhältnisse – die zwischen Männern und Frauen, zwischenStadt und Land, zwischen den Klassen, zwischen Kopf- undHandarbeit – aufgehoben werden, zumindest, daß um ihreAufhebung gerungen werden muß.

Keine solche »Wirtschaft von unten« kann sich auf Dau-er patriarchale, feudale oder kapitalistische Verhältnisse er-lauben, denn – und das ist neu – inzwischen ist das Bewußt-sein über diese Ausbeutungsformen ein anderes als vor demKapitalismus.

Allerdings sind dies nur CHANCEN. Ob sie genutzt wer-den, wird von uns allen abhängen, die diese Epoche durchle-ben. Es gibt keine Garantie, daß sie genutzt werden, denn esgibt keinen Automatismus der Geschichte, der die Dingenotwendigerweise in eine bestimmte Richtung bewegt. Wir

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schaffen, es kann nur Leben in Geld und Kapital verwan-deln. Es ist heute notwendigerweise totalitär. Die von derKrise am meisten Betroffenen müssen ihr Überleben selbstorganisieren, es gibt für sie kein »soziales Netz« (mehr). Da-bei sind sie quasi gezwungen, sich wieder auf die eigentli-chen Grundlagen des Lebens zu beziehen: auf die unmittel-bare Subsistenzproduktion.

Warum sind diese Erkenntnisse »Chancen«?

1. Sie zerstören Illusionen und falsche Analysen über das,was Kapitalismus oder Marktwirtschaft genannt wird,einschließlich des Glaubens an die »Produktivitätsfort-schritte«, die angeblich alle Probleme lösen sollen.

2. Sie führen zurück zu der Erkenntnis, daß wir die Defi-nition des »guten Lebens« nicht den Multis, dem Kapitalund der Warenproduktion überlassen dürfen, daß das »guteLeben« vielmehr in der Interaktion miteinander und mit derNatur besteht. Kein Glück, keine Freiheit wird durch dieÜberwindung des »Reiches der Notwendigkeit« erreicht,wie die Aufklärer und auch Marx glaubten, sondern nur in-nerhalb dieses Reiches. Das nennen wir die Subsistenzper-spektive.

3. Diese Perspektive, die die Akkumulationslogik über-schreitet, wurde zuerst von denen entdeckt und praktiziert,die bisher immer nur die Kosten für das Fortschritts- undAkkumulationsmodell tragen mußten, vor allem Frauen undanderen Menschen in der »Dritten Welt«. Sie wissen, daßsie nie zur Gewinnerseite gehören werden, und sie wollendas auch nicht. Sie wollen die Kontrolle über ihre Subsi-stenzbasis behalten.

4. Auch in den reichen Ländern wächst die Erkenntnis,daß der real existierende Kapitalismus nicht die beste allerWelten ist, nicht nur, weil die Herrschenden nicht mehrweiterwissen, sondern weil sich die Lebensqualität von Tagzu Tag verschlechtert. Innerhalb der Warenfülle des globa-len Supermarkts leiden wir Mangel am Lebensnotwendigen.

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2. Die Neem-Kampagne und der Saatgut-Krieg in Indien

In Südindien entstand 1992 eine breite Bauernopposition,die etwa eine Million Menschen umfaßt, die gegen die Frei-handelspolitik des GATT, die Durchsetzung der Exportori-entierung und vor allem der »Trade Related IntellectualProperty Rights« (TRIPs) kämpft. Durch die GATT undTRIPs wird nicht nur der indische Agrarmarkt – und vor al-lem der Saatgutsektor – für die großen Agrar- und Saatgut-Multis geöffnet, sondern mehr noch: Im Zuge der Expansi-on der Biotechnologie wird es nun möglich, Patente aufPflanzen, Pflanzen- und Tiergene, Pflanzeneigenschaftenund auf Saatgut zu erteilen und so das Wissen der Bauern,das seit Jahrtausenden existiert, zu privatisieren, zu monopo-lisieren und zu kommerzialisieren. Bekanntestes Beispieldieser neuen Bio-Piraterie ist das Patent, das dem Amerika-ner Larson und der Firma W. R. Grace auf Neem erteiltwurde. Dieser Baum ist seit uralter Zeit wegen seiner schäd-lingsbekämpfenden Eigenschaften – in Blättern, Zweigen,Samen usw. – genutzt worden. Nun wird er industriell ver-wertet, und das Wissen um seine Wirkung gehört nun denPatentinhabern. Gegen diesen Raub indigenen Wissens, dasAllgemeingut war, und gegen einen ähnlichen Versuch, allesSaatgut in die Hand multinationaler Konzerne, z.B. vonCargill, zu überführen, wehrt sich die Karnataka Rajya Ryo-ta Sangha (KRRS) und vergleicht Cargill Seeds (India) mitder alten kolonialen East India Company. Die Bewegungfordert, daß Cargill und andere Multis das Land verlassen,das Recht, ihr Saatgut selbst herzustellen und zu verkaufen,das Recht auf Selbstversorgung des Landes, bessere Preisefür Agrarprodukte und eine wirksame Landreform.

Die Bauern haben sich verpflichtet, hauptsächlich fürden indischen Markt und nicht für den Weltmarkt zu produ-zieren.

3. Der Seikatsu-Club in Japan20

Die indische Bauernbewegung gegen GATT, TRIPs und

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selbst bewegen uns und damit die Dinge, oder wir bewegenuns nicht. Alles ist offen.

... und sie hat schon angefangen

nämlich die Besinnung auf die Subsistenzperspektive unddie Selbstorganisation. Die folgenden Beispiele sollen zei-gen, daß die Kritik am globalen Supermarkt und die Suchenach Alternativen keineswegs nur eine Sache von linkenund/oder feministischen AkademikerInnen ist, sondern vonverschiedenen Gruppen, Initiativen, Massenbewegungengeteilt wird.

1. Die Frauen von Rio19

1992 organisierten Frauen in Rio einen Workshop im Zu-sammenhang der UNCED, auf dem sie das kapitalistisch-patriarchale Weltwirtschaftssystem und sein Entwicklungs-modell zurückwiesen. Die Früchte dieser Entwicklung seienArmut, Hunger, Entwicklungsflüchtlinge, Gewalt, Müllber-ge, zerstörte Natur. Sie forderten: »Ein Basta dem Wirt-schaftsmodell!«

Statt weiterer »Entwicklung« verlangten sie eine echteLandreform, ein Durchbrechen der Isolation von verschie-denen Frauen zum Beispiel in der Stadt und auf dem Landund den Aufbau direkter Tauschbeziehungen zwischen ver-schiedenen ProduzentInnen statt der Produktion für einenanonymen Weltmarkt. Sie stellten fest, daß sie das meiste,was sie brauchten, bereits selbst herstellten. Warum dieseDinge exportieren?

»Es lebe die Fülle« war einer ihrer Slogans, und sieschlugen vor, daß die Gewerkschaften dabei mitmachten,Verbindungen zwischen den Kleinbäuerinnen, Gummizap-ferinnen, Fischerinnen, Kokosnuß-Sammlerinnen, Klein-produzentinnen in den Städten – die alle auf diesem Work-shop zusammen waren – herzustellen und so eine wirkliche»sustainable economy« zu schaffen.

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Die Konsumenten weigern sich einfach, ausländischenReis zu kaufen. Sie bestehen auf Nahrungssicherheit. 1989hatten diese Kollektive ungefähr eine Viertelmillion Mit-glieder.

4. Deutschland: Die SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln)21

Diese Bewegung entstand während der Studentenbewe-gung. Sie hatte ursprünglich Kommunen für entlaufene Ju-gendliche und Psychiatriepatienten aufgebaut. Zu ihremKonzept gehörte es, kein Geld vom Staat zu nehmen, son-dern von eigener Gelegenheitsarbeit zu leben.

Nach Tschernobyl konzentrierten sich die Gruppen stär-ker auf die Ökologiefrage und entwickelten ein neues Behäl-terkompostierungsverfahren. Es gelang einigen der Grup-pen, Verträge für die Kompostierung von Hausmüll mitKommunen im Bergischen Land abzuschließen. Danach er-warben sie Land und begannen eine neue Subsistenzland-wirtschaft mit dem Ziel der Selbstversorgung. Dieses Zielhat die Gruppe weitgehend erreicht. Sie hat aber diesenKampf um die Subsistenz und den Müll stets als politischenKampf verstanden und verlangt heute beispielsweise, daß dieVerträge mit dem größten Müllkonzern der Region aufge-kündigt werden und aller Haushaltsabfall nach ihrer Metho-de kompostiert wird. Eine Frau aus der SSK ist inzwischenim Stadtrat Berg-Neustadt.

Ähnlich wie die SSK gibt es zahlreiche Kommunen, diesich in der einen oder anderen Weise an einer Subsistenz-perspektive als Strategie der Überwindung der Akkumulati-onslogik orientieren und dabei sowohl ökologische, kom-munitäre und feministische Ziele verfolgen.

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Freihandel wurde u.a. unterstützt von dem Seikatsu-Club inJapan, der ebenfalls für Selbstversorgung, Self-Reliance undNahrungssicherheit kämpft. Dieser Seikatsu-Club stellt eineErzeuger-Verbraucher-Kooperative dar, die u.a. nach derMinamata-Katastrophe – der Verseuchung von Fischendurch Quecksilber – und durch eine Milchgenossenschaftentstand. Sie war vor allem von Hausfrauen gegründet wor-den, die sicher sein wollten, daß sie wußten, was sie ihrenFamilien als Nahrung auftischten. Je acht Haushalte tatensich zu einem Han zusammen, der den Kontakt zu den Bau-ern direkt organisierte. Dem Seikatsu-Club geht es nichtnur um angemessene Preise, sondern vor allem um Nah-rungssicherheit, die Veränderung des Konsumverhaltens,um eine andere Beziehung zwischen Produzenten und Kon-sumenten und nicht zuletzt um ein Aufbrechen der Kapital-logik dadurch, daß die Bauern und andere Produzenten nurdas und nur so viel produzieren, wie gebraucht wird. Es gibtalso keine Überproduktion für einen anonymen Markt.

Weil der Seikatsu-Club ursprünglich von Hausfrauengegründet wurde, ist es logisch, daß die Frage der Hausar-beit thematisiert wurde. Diese Diskussion führte dazu, daßein anderer Arbeitsbegriff durchgesetzt wurde als der im Ka-pitalismus übliche, der sich nur auf Lohnarbeit bezieht. Ne-ben den Hans wurden »Workers’ collectives« gegründet, indenen alle notwendigen anfallenden bezahlten und unbe-zahlten Arbeiten gleichmäßig verteilt wurden. Zu diesen Ar-beiten gehörten neben der eigentlichen Hausarbeit auch diePflege von Alten, Kranken und die Betreuung von Kindern.

Inzwischen sind die Hans und »Workers’ collectives« zugrößeren Einheiten zusammengeschlossen, die in Gemein-deräten, in Provinz- und Landesparlamenten vertreten sind.Der Seikatsu-Club, der seine Strategie als antikapitalistischversteht, hat eine Politisierung der Konsumsphäre erreicht,die u.a. dazu geführt hat, daß sich Japan bis heute nur halb-herzig dem Druck der USA gebeugt hat, amerikanischenund thailändischen Reis zu importieren.

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Swissair ihre Abrechnung in Indien machen läßt und da-durch gute Arbeitsplätze schafft?

M.M.: Die Auslagerung von Arbeitsplätzen folgt der Lo-gik der Kapitalakkumulation. Darum wird auch eine Sozial-und Umweltklausel der WTO nicht durchgesetzt werden,sollte sie überhaupt kommen. Aber die Solidarität der Arbei-ter wird dabei zerstört; Arbeiter werden gegen Arbeiter ge-setzt, die dadurch in zwei antagonistische Lager gespaltenwerden.

Wenn die einen Arbeitsplätze haben, haben die anderenkeine – mal so platt ausgedrückt. Am meisten Sturm gelau-fen sind die französischen Gewerkschaften gegen diese neueinternationale Arbeitsteilung. Die Folge dieser Entwicklungist, daß die traditionelle Gewerkschaftspolitik, die sich nurauf die Lohnarbeiter im eigenen Land bezog, nicht mehradäquat ist, um dieser Globalisierungsstrategie zu begegnen.

3. Dieser Antagonismus zwischen Arbeiterschaft in der»Dritten Welt« und der in den Industrieländern bestehtaber schon seit langem.

M.M.: Bisher wurden die Ereignisse in den Kolonien je-doch aus der gewerkschaftlichen Diskussion völlig ausge-blendet. Die Gewerkschaften in England und Japan warensogar gegen die Entkolonialisierung. Sie fürchteten, daß dieUnabhängigkeit Indiens oder Koreas ihre Situation ver-schlechtern würde. Die Frage einer materiellen Basis für dieinternationale Solidarität ist bis dahin in der Linken generellvernachlässigt worden und sollte endlich in die politischeAuseinandersetzung miteinbezogen werden.

4. Welche Chancen haben solche Formen der Selbstorgani-sation wie die der brasilianischen Frauen oder der Bauernund Bäuerinnen in Südindien? Werden sie nicht nur so lan-ge geduldet, wie sie keinen ernsthaften Störfaktor für die In-teressen der Multis darstellen, um sie andernfalls problemlos

Die Krise als Chance 91

Diskussion

1. Wenn ich dich richtig verstanden habe, sind es also kleineKonsumenten – respektive Basisorganisationen, welche sol-che Produzentinnen-Konsumentinnen-Kooperativen aufge-baut haben, wie sie von dir beschrieben wurden?

M.M.: In Indien sind es immerhin mindestens eine Mil-lion Menschen, welche die Produktionsweise der Subsi-stenzwirtschaft verteidigen. Das würde ich nicht als kleineGruppe bezeichnen.

In Europa ist eine Mehrheit der Leute an ökologischsauberen Nahrungsmitteln interessiert; wie diese aber pro-duziert werden, interessiert nicht viele. Eine Beteiligung amProduktionsprozeß wie beispielsweise bei Ernten – wie esdie Seikatsu-Clubs in Japan tun – wäre bei uns zur Zeit un-denkbar. In Japan haben sich die Leute auch mit Erfolg ge-gen einen verstärkten Nahrungsmittelimport, vor allem ausden USA, gewehrt und z.B. darauf gepocht, daß der Exportder Computer und Autos zugunsten der Nahrungsmittelsi-cherheit für das eigene Land gedrosselt wird.

Das sollte man einmal im »Industriestandort Deutsch-land« fordern – das wäre die reinste Blasphemie! Außerdemist es zunächst nicht eine Frage der Zahl, ob in der Krise, diedas Kapital schafft, eine Chance gesehen wird. Es kommtvielmehr darauf an, ob in diesen Bewegungen und Initiati-ven die Grundstruktur des Kapitalismus ansatzweise über-schritten wird.

2. Fortschrittliche Kreise wie das »Third-World-Network«meinen, daß der Anteil der in Billiglohnländern ausgelager-ten Arbeitsplätze nur etwa ein Prozent aller Arbeitsplätzeausmacht. Zudem fordern die USA und Frankreich als Mit-gliedländer der World Trade Organisation eine Sozialklau-sel, welche spezielle Schutzbestimmungen für solche ausge-lagerten Arbeitsplätze enthalten soll. Nun die provokativeFrage: Was ist daran eigentlich so schlimm, wenn z. B.

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diese – per Geld – ihre Existenzgrundlage sichern, die sieandererseits doch selbst schaffen.

5. Ist die Forderung nach einer Umverteilung von bezahlterund unbezahlter Arbeit nicht nur eine seltsame Illusion voneiner Existenzgrundlage?

M.M.: So wie ich es sehe, wird das Geld auch hier sichernicht Existenzgrundlage bleiben. Alles kann nicht bezahltwerden, auch vom Staat nicht. Außerdem wäre zu klären, waswir unter Existenzgrundlage verstehen. Das ist, darüber istman sich einig, die Befriedigung der Grundbedürfnisse nachNahrung, Kleidung, Wohnung, Schutz, Wissen, Anerken-nung, Liebe usw. (vgl. Mies/Shiva 1993). Diese sind bei allenGesellschaften und zu allen Zeiten gleich. Sie werden durchmenschliche Arbeit in Kooperation mit der Natur und denanderen Menschen befriedigt. Im Kapitalismus werden sieaber zunehmend, jedenfalls in den Metropolen, durch dieProduktion und den Konsum von Waren befriedigt. Unddazu brauchen die Menschen Geld. Das Geld ist daher hier –nicht überall in der Welt – zur Existenzgrundlage geworden– wie bekannt, auf der Basis von Ausbeutung und Raub.

Darum wird auch die Forderung »Lohn für Hausarbeit«nicht erfüllt werden. Als Alternative bleibt dann meines Er-achtens nur eine andere geschlechtliche Arbeitsverteilung,nämlich die, daß die unbezahlte und unbezahlbare, aber ge-sellschaftlich notwendige Arbeit (wie z.B. Kinder versorgen,Alte und Kranke pflegen, ökologische Aufräumarbeit tunusw.) von Männern genauso getan wird wie von Frauen.

Wenn eine solche Umverteilung nicht erfolgt, die Frau-en hier aber die Bezahlung aller ihrer Arbeit fordern, ein-schließlich der Hausarbeit, und auf dem gleichen Wohl-standsniveau bleiben wollen, dann geht das nur, wenn dieNatur und die »Dritte Welt« weiter ausgebeutet und kolo-nisiert werden.

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zu eliminieren? Ich sehe keinen Ausweg aus diesem Wirt-schaftssystem.

M.M.: Ich erzähle diese »Erfolgsstories«, weil ich an dieMöglichkeit einer Veränderung glaube. Die Frauenbewe-gung hat einiges erkämpft, wie spezifische Frauenräume, umnur ein Beispiel zu nennen. Innerhalb der Kooperativen inJapan wurde die Hausarbeit in die öffentliche Diskussion derArbeitsverteilung miteinbezogen. Die Bauernbewegung inSüdindien stellt durchaus einen ernst zu nehmenden Stör-faktor für die Multis dar. Die Karnataka Rajya Ryota Sangha(KRRS) hat das Büro des Saatgut- und LebensmittelmultisCargill in Bangalore gestürmt, die Papiere auf die Straße ge-worfen und verbrannt. Sie fordert, daß Cargill und andereMultis Indien verlassen, weil sie, wie die alte East IndiaCompany der Engländer, Indien wie eine Neo-Kolonie be-handeln. Die indische Regierung kann nichts gegen eine sogroße Bauernbewegung unternehmen, selbst, nachdem sieden GATT-Vertrag unterschrieben hat und die Freihandels-politik unterstützt. Immerhin hat u.a. diese Bewegung gegendie GATT und die Wirtschaftsliberalisierung in Indien imletzten Dezember zu einer Niederlage der Kongreßpartei inden zwei indischen Staaten Karnataka und Andhara Pradeshbeigetragen, und die Regierung von Narasimha Rao mußheute um ihr Überleben fürchten.

Ich habe noch keine weiteren Rückmeldungen über dieSelbstorganisation der armen Frauen in Brasilien bekom-men. Aber ich finde es bemerkenswert, daß die von der Kri-se am meisten Betroffenen eben keine Hoffnungen mehr indie Fortsetzung dieses Weltwirtschaftssystems investieren,sondern wieder unmittelbar nach den tatsächlichen Grund-lagen ihrer und unserer Existenz fragen und anfangen, dieseselbst zu organisieren.

Bei uns sind die von der Krise Betroffenen, z. B. die Er-werbslosen, noch meilenweit von einer solchen Erkenntnisentfernt. Sie fordern immer noch von Kapital und Staat, daß

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Erwerbsarbeit zum Großteil nicht mehr zu einem bezahltenJob gekommen, trotz Weiterbildungsangeboten. Das alles istein Bluff, klingt ganz schön, funktioniert aber nicht.

Es kann auch nicht das Ziel sein, dem Kapital und neue-sten technologischen Entwicklungen dauernd hinterherzu-rennen und uns permanent an die neuesten Erfindungen an-zupassen. Wir kommen gar nicht dazu, die Produktion vondem, was wir brauchen, selber zu bestimmen. In einemWeltmarkt, in dem die Produkte von dort geholt werden, wosie am billigsten hergestellt werden, und dort verkauft wer-den, wo am meisten Geld ist, entsteht eben der universaleSupermarkt mit den totalen KonsumentInnnen. Dies er-zeugt unter anderem die Perspektivelosigkeit bei den Ju-gendlichen – es ist ja alles schon vorhanden, sie brauchennur Geld zu haben. Aber es wird nie genug Geld für alle dasein, um das zu kaufen, was weltweit für den globalen Super-markt produziert wird. Da werden auch die Umgeschulten,die sich jedem neuen Technologietrend anpassen müssen, zuwenig Geld haben. Außerdem sind Kapital und Technikdann die einzigen Subjekte der Geschichte, und wir Men-schen, auch wir Frauen, reagieren nur auf sie.

Es ist unser Recht, etwas Vernünftiges und Sinnvollesmit unseren Körpern und unserem Intellekt anzufangen undnicht nur auf diese Verwertungszwänge des Kapitals zu rea-gieren. Aber dazu müßten wir eben das ganze System um-krempeln.

Fußnoten:1 Hickel, Rudolf, Priewe, Jan: »Der gespaltene Arbeitsmarkt der Zwei-

drittelgesellschaft«, in: Frankfurter Rundschau, 18. August 1994.2 ibidem3 Wirtschaftsminister Rexrodt in: Frankfurter Rundschau, vom 29. No-

vember 1993.4 Bennhold-Thomsen, Veronika, Mies, Maria, v. Werlhof, Claudia:

»Frauen, die letzte Kolonie«, heute bei: Rotpunkt, Zürich. 5 v. Werlhof, Claudia 1983/1988: 129.

Die Krise als Chance 95

6. Als Frauen werden wir, auch hier in Mitteleuropa, amstärksten durch das Weltwirtschaftssystem ausgebeutet. Ichfinde es problematisch, wenn wiederum wir es sein sollen,welche die Arbeit leisten müssen, »aus dem Kapital auszu-steigen«. Zudem kommt das dem Interesse der Unterneh-mer entgegen, wenn sich Leute selber von der bezahlten Ar-beit ausschließen.

M.M.: Frauen sind bereits jetzt mehrheitlich – typischer-weise – in ungeschützten Lohnverhältnissen und werden esweiterhin auch bleiben. Honorarverträge, ein bißchen Tip-pen hier, ein bißchen Heimarbeit da: Das ist bereits der Bil-liglohnsektor. Die duale Wirtschaftsform, formeller und in-formeller Sektor, mit vielen Beschäftigen in prekären Ar-beitsverhältnissen wird bestehen bleiben.

Und es ist richtig, daß das im Interesse der Unternehmerist. Wenn wir »aus dem Kapital aussteigen« – und zwarFrauen und Männer (s.o.) –, dann bedeutet das allerdingsmehr als nur in der Dualwirtschaft zu funktionieren. Es be-deutet z.B. nicht nur, wieder mehr Selbstversorgung undSelbstorganisation (Subsistenz) zu praktizieren, sondernauch dadurch dem Kapital einen Markt zu entziehen. Esgeht auch nicht um einen moralischen Aufruf an Frauen,wieder einmal die Drecksarbeit bei der gesellschaftlichenUmgestaltung zu tun, sondern es geht darum zu erkennen,daß das, was wir ja sowieso schon tun, nämlich das Lebenproduzieren und erhalten, einen höheren Wert als die Pro-duktion von Mehrwert hat.

7. Es heißt, die Erwerbsbiographien der Geschlechter solleneinander »angeglichen« werden, d.h. auch Männer weisenzunehmend unterbrochene Erwerbsbiographien – vor allemwegen Weiterbildung und nicht wegen Familienarbeit – auf.Liegt hier eine Chance für Frauen auf dem Erwerbsmarkt?

M.M.: In Deutschland, vor allem in Ostdeutschland, sinddie Frauen nach einer familienbedingten Unterbrechung der

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Karl Heinz RothAuf dem Glatteis des neuen ZeitaltersDie Krise, das Proletariat und die Linke

1. Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters

Eine Gegenwart muß immer von der Vergangenheit abge-trennt werden. Die vergangene Epoche war die Epoche vonFord und Keynes. Eine Epoche, in der die Beziehung zwi-schen Massenproduktion, Massenarbeit und Einkommens-garantie mit dem Anspruch auf Vollbeschäftigung gekoppeltwar. Eine Epoche, in der es einen konstanten Ausgleich derinneren Instabilität der Kapitalakkumulation durch staatli-che Nachfragemobilisierung gegeben hat. Diese Epochewurde Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in dieKrise gestürzt. Einmal von unten, durch die Sozialrevolte,die damals internationale Dimensionen angenommen hatte.Und danach, 1971–73 – ausgehend von den USA und deninternationalen Wirtschafts- und Finanzeliten –, wurde die-se Krise von oben vertieft. Die ökonomischen Folgen sindbekannt. Wichtig scheint mir der Hinweis, daß diese Krise –wie meiner Meinung nach alle Krisen – gemacht wurde, undzwar von unten, und danach – im Gegenzug – von oben.

Seit den siebziger Jahren konturiert sich nun allmählichdas Ufer des gegenwärtigen Zeitalters. Es ist einmal geprägtdurch die Internationalisierung des Krisenangriffs durch dasFinanzkapital, das über neue Geld- und Bondmärkte dieEmanzipation der Zinssätze von den fallenden Profitratenerzwungen hat. Und es ist zweitens charakterisiert durcheine »monetaristische Konterrevolution« (Milton Fried-

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6 Wallerstein, Immanuel: »The Modern World System: CapitalistAgriculture and the Origin of the European World Economy in theSixteenth Century«, Academic Press, New York 1974.

7 Fröbel, F., Kreye, J. & O. Heinrichs: »The New International Divi-sion of Labour«, Cambridge University Press, Cambridge 1980.

8 Grossmann, Rachael: »Women’s Place in the Integrated Circuit«,in: South East Asian Chronicle no. 66, 1979.

9 Labour Research Review, zit. in Kamel, Rachael: »The Global Fac-tory«, published by the American Friends Service Committee, 1990.

10 Woodall, Pam: »The Glolobal Economy«. The Economist, 1. Okto-ber 1994.

11 Shiva, Vandana: »The Violence of the Green Revolution«, ZedBooks, London 1991.

12 Mies, Maria: »Patriarchat und Kapital. Frauen in der Internationa-len Arbeitsteilung«, Rotpunktverlag, Zürich 1992.v. Werlhof, Claudia: »Was haben die Hühner mit dem Dollar zutun?«, Frauenoffensive, München 1993.

13 Lang, Tim & Colin Hines: »The New Protectionism: Protectingthe future against free trade«, Earthscan, London 1994.

14 Shiva, Vandana: »Monocultures of the Mind: Biodiversity, Biotech-nology and the Third World«, Third World Network, Penang, 1993.

15 Mies, Maria: »Wider die Industrialisierung des Lebens«, CentaurusVerlag, Pfaffenweiler 1990.

16 Vgl. das Symposium über Neurotransplantation zur Therapie derParkinsonschen Krankheit, 28./29. Januar 1995 in Hannover. Beider Neurotransplantation wird Patienten fötales Material von bis zuzehn Embryonen ins Gehirn gespritzt.

17 Mies, Maria & Vandana Shiva: »Ecofeminism«, ZED Books, Lon-don. Kali for Women, Delhi. Spinifax, Melbourne. 1993. (Erscheint1995 im Rotpunktverlag)Sklair, Leslie: »Capitalism and Development in Global Capitalism«,in: Sklair, L. (ed): »Capitalism and Development«. Routledge, Lon-don 1994.

18 Fernandez-Kelly, Maria Patricia: »For we are Sold, I and my People:Women and Industry on Mexico’s Frontier«, State University ofNew York Press, Albany, NY 1983.

19 Vgl. Viezzer, Moema u.a. (Hg.): »Com Garra e Qualidade: Mulhe-res em Economias Sustentávais: agricultura e extrativismo«, RedeMulher, Rio de Janeiro 1992.

20 Mies & Shiva: »Ecofeminism«, a.a.O. 21 ibidem

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Wie sieht dieses neue Zeitalter aus der Sicht von untenaus? Aus der Sicht von unten dominiert die endgültige Zer-störung der agrarischen Subsistenzproduktion [Produktionzum Lebensunterhalt] in der Peripherie und Semiperipheriedes Kapitalismus. Die Expropriierten werden zu Millionen inlatente Bestandteile der industriellen Reserverarmee umge-wandelt. Nur ein Bruchteil von ihnen wird im internationa-len Agrobusiness absorbiert. Der größere Teil ist zur Abwan-derung in städtische Agglomerationen gezwungen worden.Wir haben seit Mitte der Siebziger und vor allem in denachtziger Jahren in diesen Agglomerationen die Entstehungneuer Schwitzbudensektoren erlebt, die höflich als informel-ler Sektor bezeichnet werden. Der zunehmende Stadt-Land-Gegensatz in der Pauperisierung [Verarmung] wurde teilwei-se gegenläufig aufgehoben durch zirkulierende Migrations-bewegungen. Sie stellten gleichzeitig eine Verbindung zumschrumpfenden formellen Sektor der Krisenbranchen her.Dieser allgemeine Mobilisierungsprozeß des neuen Proleta-riats wurde in den Metropolen ergänzt durch die Einschrän-kung der Sozialbudgets zur Absicherung proletarischer Exi-stenzrisiken (Alter, Krankheit, Invalidität und vor allem Ar-beitslosigkeit). Die mehr und mehr dem Hire-and-Fire-Prin-zip ausgelieferte aktive Arbeiterarmee wird parzelliert, seg-mentiert, verkleinert und immer häufiger flexibel ausgewech-selt. Hinzu kommen besondere Ausgrenzungsformen, bei-spielsweise gegenüber Ausländern, denen in den Metropolenzunehmend eine Sündenbockfunktion zugewiesen wird. Da-mit soll von den eigenen Ängsten und Erfahrungen im per-manenten Entsolidarisierungsprozeß abgelenkt werden.

Die Quantitäten dieser neuen, angebotsorientierten Ar-beitsmarktstrukturen sind bekannt. 150 Millionen Men-schen befinden sich heute auf Wanderschaft innerhalb undaußerhalb ihrer Länder und Kontinente. 120 Millionen sindoffiziell arbeitslos, davon 38 Millionen in den OECD-Län-dern. 500 Millionen – etwa 100 Millionen Familien – vege-tieren als enteignete kleinstbäuerliche und Squatterfamilien

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man), die zuerst in den Volkswirtschaften der damaligenSchwellenländer begann, dann in die Metropolen USA undEngland übertragen wurde und zuletzt im Implosionsprozeßdes osteuropäischen Staatskapitalismus geendet hat. DieHauptcharakteristika dieser Konterrevolution sind bekannt:Budgetrestriktionen, Sozialabbau, Kreditsperren gegenüberakkumulierte Schlüsselsektoren, Liberalisierung desAußenhandels, Kapitalexporte in Niedriglohngebiete, Priva-tisierung des staatlichen Kapitalbudgets (Transportsektor,Telekommunikation usw.) und nicht zuletzt Zerschlagungder tarifpolitisch regulierten Arbeitsmärkte, das heißt der in-tegrierten Arbeiterbewegung zusammen mit und nach denaufbegehrenden Fraktionen der neuen Linken.

Die Folgen sind seit den achtziger Jahren absehbar. Diesozialstaatliche Regulation, der Klassenkompromiß, wurdevon der kapitalistischen Investitionspolitik entkoppelt. Ko-stenfaktoren der Einzelunternehmen werden seither immermehr auf gesamtwirtschaftliche Strukturen abgewälzt. Eskam in der Folge zur Umwandlung der Sozialstaaten. Nachdem Verlust ihrer Währungs-, Zins- und zunehmend auchihrer Steuersouveränität erlebten wir ihre Umwandlung inkonkurrierende Staubecken totalisierter Kapitalmärkte. DerTransportsektor und damit – in keynesscher Terminologie –das gesamte Kapitalbudget des Staatssektors wurde Teil derinneren Kapitalakkumulation. Das Ergebnis war weltweitdie Herausbildung einer neuen industriellen Reservearmee,ein Trend zur Massenverelendung bei allgemeiner Polarisie-rung der Gesellschaften in Arm und Reich auf der Vertei-lungsebene. Wir haben also die Wiederkehr von Proletaritätim Rahmen eines normalisierten, quasi vorkeynesianischenKrisen- und Akkumulationszyklus zu konstatieren. Trotz al-ler Phasenverschiebung handelt es sich dabei um eine Wie-derkehr im Weltmaßstab. Nach der Niederlage der Sozialre-volten und dem Untergang des Realsozialismus ist dieservorkeynesianische und zugleich neue Kapitalismus zur Ta-gesordnung übergegangen.

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cherungssucht werden von ihnen als Kernelemente einerneuen kulturellen Hegemonie beansprucht.

Das zweite wesentliche Charakteristikum sehe ich imProzeß der Unternehmensrationalisierung: Vom Postfordis-mus und Toyotismus zum Akkumulationstyp à la Hol-lywood. Unter dem Hochzinsdiktat und der Liquiditätsprä-ferenz »lieber sparen statt investieren« wurden vielfältigeInitiativen zur Wiederherstellung des produktiven Unter-nehmergewinns gestartet. Zu Beginn der achtziger Jahrewurde eine Konzeption der flexiblen Automatisierung ver-sucht. Das computerintegrierte Manufacturing wurde pro-klamiert. Es scheiterte an der Rigidität der Arbeiter. Mitteder achtziger Jahre wurde weltweit das »3. Italien« mit sei-nen innovativen Klein- und Mittelunternehmen und den an-geschlossenen Subunternehmen und selbständigen Arbeite-rinnen und Arbeitern entdeckt. »Small is beautiful«, tönte esdurch die Lande, der Postfordismus assoziierte sich mitgrünalternativen Denkstrukturen. Währenddessen akkumu-lierte ein neues System der Benettonschen Netzwerkunter-nehmen. Es kam zu einer Zentralisation des Kapitals ohneeine Konzentration der Produktionsstrukturen.

In der 2. Hälfte der achtziger Jahre wandten sich dage-gen die internationalen Konzernkonglomerate vor allem derAutoindustrie dem sogenannten Toyotismus zu, einem japa-nischen Produktionsmodell, das nach der blutigen Zerschla-gung der japanischen Arbeiterklasse Mitte der sechziger Jah-re dort entwickelt worden war. Es wurde nur partiell über-nommen. Die Einfriedungsstrukturen, beispielsweise die»company unions« und die »company worlds« [Betriebsge-werkschaften und Betriebswelten], die Beherrschung ganzerRegionen durch die Familienkonzerne (Zaibatsu) warennatürlich nicht transferierbar. Man paßte sich der Produkti-onsstruktur an. »Lean Production« wurde zum Schlagwort.Die Verbindung von Arbeitsprozeß und Produktkontrolle,Just-in-time (Kanban), die Ausbildung von Zulieferkettennach einem Supermarktmodell, der kontinuierlich verbes-

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im neuen pauperistischen Sektor als Bondlabour [Leihar-beit], als selbständige Arbeiter, als Saisonarbeiter und Job-ber. In den Metropolen erleben wir den Übergang von Wel-fare zu Workfare [Welfare: Wohlfahrt]. Gleichzeitig werdenbis zu 30 Prozent der Arbeitsverhältnisse – in einigen Län-dern sind es noch mehr – entgarantiert. Es entstehen Nied-riglohnsektoren. Prekäre Arbeitsverhältnisse setzen sichdurch. Weltweit sehen sich die Proletarierinnen und Prole-tarier mit einer neuen Qualität des Verwertungsanspruchskonfrontiert, mit – überspitzt formuliert – einer Vollbe-schäftigungsstrategie auf pauperistischer Basis. Denn welt-weit geht nicht die Arbeit aus, sondern die Einkommen sin-ken. In den Beziehungen zwischen deregulierten Arbeits-märkten und Mehrwertketten kann deshalb nicht mehr zwi-schen Ausbeutung für normale und parallele Kapitalakku-mulation unterschieden werden, wie dies Rosa Luxemburgnoch für die Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts wahr-nahm. In gewisser Weise wird heute die Eroberung dernichtkapitalistischen Sphären und ihre Umwandlung in Be-standteile des Akkumulations- und Krisenzyklus abgeschlos-sen, und zwar als Massenerfahrung.

Mir scheint es wichtig, diese Fakten, die auf den erstenBlick sehr banal wirken, doch einmal zu resümieren, weil ichglaube, daß wir die internationalen Dimensionen der heuti-gen Gesellschaftsprozesse ins Auge fassen müssen.

Wie sieht das neue Zeitalter aus der Sicht von oben aus?Es ist charakterisiert durch eine wiederhergestellte interna-tionale Despotie des Kasino-Finanzkapitals. Die Einkünfteaus Geldvermögen überflügeln weltweit die produktivenUnternehmergewinne. Die Rentierschichten haben sich inden letzten zwei Jahren weltweit verdoppelt bis verdreifacht.Diese Rentierschichten mobilisieren die Bodenmärkte unddie entnationalisierten Transportsphären – vor allem Trans-port- und Geldmärkte sowie Dienstleistungen. Sie plündernals Rentiers der Staatsverschuldung die Staatshaushalte.Spekulation, antisozialer Egoismus und allgemeine Berei-

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an: Vom Supermarkt Toyotas und von den Netzwerkunter-nehmen Benettons zur Hollywoodpremiere unmittelbar ne-ben dem Spielsaal des internationalen Finanzkapitals. Aufdiese Weise werden mikroökonomische Kostenfaktoren op-timal auf die Gesamtgesellschaft übertragen, die gleichzeitigimmer mehr Instrumente zur wirtschaftspolitischen Ge-samtsteuerung verliert. Die Profitraten der Einzelunterneh-men steigen wieder. Aber die ausgelagerten Kostenfaktorendrohen im Prozeß des Ausgleichs der Durchschnittsprofitra-ten und der Mehrwertrealisierung zurückzukehren. Deshalbforcierter Sozialabbau, deshalb mehr Armut, deshalb aberauch Anstieg der behördlichen Armuttransfers bei immergeringer werdenden Leistungen und so eine Spirale der De-regulierung, die nach unten geht. Das ist die Vision des ge-genwärtigen Zeitalters aus der Sicht von oben.

Zweifellos wird diese Optik in den jeweiligen territoria-len Konstellationen recht unterschiedlich durchgesetzt.Nehmen wir den Fall Osteuropa. Die postsozialistischenEliten verzichteten 1989-90 auf gemischtwirtschaftliche In-terventionsschritte beim Übergang vom Staatskapitalismuszur Marktökonomie. Interne Deregulierung und schlagarti-ge Konfrontation mit der internationalen Konkurrenz be-wirkten die rapide Zerstörung der rohen staatskapitalisti-schen Variante der Massenproduktion, ohne daß bisher Zy-klen von Neuinvestitionen – von einigen Ländern abgese-hen – nachfolgten. Von der Depression geht es weiter zurDeindustrialisierung. In Rußland leben inzwischen offiziellzwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Im krassen Gegensatz dazu erleben wir im Indopazifikeinen neuen Boom auf der Grundlage eines blutigen, infor-matisierten Taylorismus und Toyotismus. Benachbart sind inChina neue Entwicklungszentren mit einem Akkumulati-onsschub in der massenhafte Pauperisierung entstanden.

In den Metropolen stagniert die wirtschaftliche Ent-wicklung. In den USA ist ein sehr merkwürdiges Nied-riglohnwunder bei riesiger Massenverelendung zu beobach-

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serte Produktionsprozeß, das Teamwork, die Qualitätszirkel:Diese Schlagworte waren in der 2. Hälfte der achtziger Jah-re noch neu – heute haben sie sich weitgehend durchgesetzt.Das Produktionsmodell selbst hat sich aber nicht durchge-setzt, denn seine begrenzte Übernahme als »management bystress« brachte keinen Druchbruch der Profitabilität. DieTransplants [z.B in den USA aufgebaute Fabriken japani-scher Autokonzerne] und die Großkonzerne, die das japani-sche Modell übernahmen, wurden mehr und mehr zum»concession bargaining« [gewerkschaftliches Feilschen umZugeständnisse] gezwungen, das heißt, sie mußten die feh-lende Einfriedung und Atomisierung der Arbeiterklassedurch die Drohung und Realisierung von Produktions- undAbteilungsauslagerungen im Falle von Restriktionen vonseiten der Arbeiterklasse ersetzen.

Den letzten Schritt und das neueste Modell erleben wirseit Anfang der 90er Jahre von den USA aus: Das Konzeptdes »industrial engineering« [Analyse und Umgestaltungganzer Unternehmen oder Teilbereiche davon]. Ein neuerMischtyp von Benetton und Toyota wird versucht. Es ent-stehen Netzwerkkonglomerate, in denen sich die Beziehun-gen zwischen Kern- und Randbelegschaften zunehmendverwischen und traditionelle mittlere Managementhierar-chien zunehmend abgebaut werden. An die Spitze dieserKonglomerate treten Manager mit despotischer Herr-schaftsfunktion. Sie setzen geschäftsführende Einheiten,Generalisten ein, die Projekte in Gang bringen. Nur nochfür jeweilige Aufträge werden befristet Entwicklungsspezia-listen, Konstrukteure, Programmierer, Fertigungsarbeiterusw. gemietet. Selbst so traditionsreiche Konzerne wie bei-spielsweise Siemens haben sich in der jüngsten Zeit in solchegeschäftsführenden Einheiten aufgesplittert. Das ist dieHollywoodmethode: Man produziert, wie man einen Filmplant und erstellt.

Diese Produktionsweise, und das halte ich für entschei-dend, nähert sich der Mobilität der Geldvermögen maximal

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decouvriert wurden. Hier begann vor wenigen Monaten dieÄra Berlusconi. Er band die politisch-ökonomische VarianteB – prekäre, selbständige Arbeiter und Kleinunternehmerder Lega Nord – in den politischen Machtblock ein und ver-suchte, neue autoritäre mediale Voraussetzungen für die erstnoch bevorstehende, entscheidende Deregulierungsoffensi-ve (Deregulierung des Staatssektors, Zerstörung der Sozial-renten, völlige Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Budget-restriktionen) zu schaffen. Bevor er damit durch war, zwangihn das Finanzkapital vorfristig zu diesem Angriff. Das war,wie die neu aufgeflammten Massenkämpfe zeigen, zu früh.Die Wiederherstellung des sozialen Friedens als Gradmes-ser jeder effizienten Aufspaltung des Widerstands und alsVorbedingung der endgültigen Durchsetzung des Deregu-lierungsmodells wird jetzt nur noch gelingen, wenn der öko-nomisch verschlankte Staat ihn politisch-diktatorisch er-zwingt. Andernfalls muß die Sozialrevolte in einer neuenReregulierung aufgefangen werden.

Dagegen Deutschland. Die Umstrukturierung erfolgteeher zögerlich. Ein Durchbruch zu schlanker Produktion,Produktionsauslagerung und schlankem Staat setzte erst ab1990/91 ein, wobei sich der Anschluß der DDR im Zugschlagartiger monetärer Substanzvernichtung als entschei-dender Hebel erwies. Seither ist der sozialstaatliche Nach-kriegskompromiß nicht nur konzeptionell, sondern auchpraktisch-politisch erfahrbar zu Ende. In den letzten Jahrenbegann nicht nur eine breite Privatisierungswelle der öffent-lichen Unternehmen im Transportsektor, gleichzeitig wur-den auch die Tarifautonomie offen zur Disposition gestelltund die Sozialversicherung als Instrumentarium zur Abfede-rung der Risiken eigentumslos lohnabhängiger Existenzwei-sen in vielen kleinen Einzelschritten ausgehöhlt (vor allemdie Bereiche Arbeitslosenversicherung und Krankenversi-cherung, noch nicht das Rentensystem). Das Recht auf So-zialhilfe ohne Gegenleistung ist beseitigt. In Riesenschrittenbeginnt auch in der BRD der Übergang von Welfare zu

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ten. England steckt in einer Depression: Dort steht trotz desFiaskos des Thatcherismus – Sozialabbau und Steuerentla-stung haben zu einer größeren Staatsverschuldung statt zurVerschlankung des Staatsapparats geführt, und das Landwird mitnichten mit neuen Investitionszyklen belohnt – keinKurswechsel ins Haus. In Schweden hingegen hat dieserKurswechsel stattgefunden. In West- und Mitteleuropa gibtes Regionen mit unternormalem Wachstum. Auf sie werdeich im zweiten Teil zu sprechen kommen.

Insgesamt ist also eine zunehmende geografische Diffe-renzierung bei uniformer globaler Strategie erkennbar. DieZukunft wird zeigen, wie weit es den internationalen Wirt-schafts- und Finanzeliten gelingt, die Kompensation derKrisenspirale durch innerimperialistische Blockbildungenund Konfrontationen aufzuhalten.

2. Metropolitane Varianten des neuen Akkumulations-und Deregulierungsmodells

In Italien folgte seit Beginn der Niederschlagung der Arbei-terkämpfe in den achtziger Jahren ein wirtschaftspolitischesRegime, das in vielem den Konzepten der Reaganomics undThatcheristen verwandt war, allerdings unter »sozialisti-schen« Vorzeichen. Dabei entstand eine Polarisierung derGesellschaft in zwei Machtblöcke: Big Business, die großenGewerkschaften, die politischen Machtstrukturen und dieStaatsunternehmen auf der einen Seite, neoliberale Unter-nehmensstrukturen und Strukturen prekärer und selbständi-ger Arbeitsverhältnisse, die aus dem Regulationssystem zu-nehmend ausgegrenzt wurden, auf der anderen Seite. Dienach wie vor dominante Variante A, die eine durchaus ver-langsamte Transformation kennzeichnete, schien zu zerbre-chen, als seit 1992 Übergangsregimes an die Kernbeständedes sozialen Nachkriegskompromisses – Scala Mobile, CassaIntegrazione [automat. Teuerungsausgleich über eine glei-tende Lohnskala und umfassende Lohnausgleichskasse] usw.– herangingen und die Eliten als korrupte Machtsymbiose

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Deutschland geraten. Die Schweiz ist eine Art letzter Domi-nostein, an dem sich ablesen lassen wird, inwieweit es denUtopisten des neoliberalen Irrsinns tatsächlich gelingt, denGlobus nach ihren Visionen umzugestalten. Vielleicht be-steht also gerade hier noch die Möglichkeit, die Erfahrun-gen aus den schon weiter transformierten Nachbarländernin die Widerstandsperspektive dieses Landes einzubeziehen.Aber auch für die Linken der Schweiz dürfte die Zeit drän-gen. Die weitere Deregulierung der Finanzmärkte wird denglobalen Standort Schweiz bald um seine Privilegien brin-gen, und dann steht recht schnell eine Massenarbeitslosig-keit der Bankangestellten ins Haus.

3. Neoliberalismus und politische Macht

Im Gegensatz zu den Wirtschafts- und Finanzeliten sind diepolitischen Führungsschichten dort, wo sie wirkliche Machtausüben, nur national und nur in marginalen Ansätzen su-pranational organisiert. Die gesamtgesellschaftlichen Regu-lierungs- und Umverteilungsfunktionen sind oder waren imGegensatz zur Kapitalakkumulation an den Staat gebunden.Sie aber kommen den politischen Eliten zunehmend abhan-den. Ihre Macht verfällt, je mehr sie zu subalternen Verwal-tern von Staubecken für die Geld- und Kapitalströme dege-nerieren. Oberflächlich kommt dieser Prozeß in den vielfäl-tigen Korruptionsaffären zum Ausdruck, mit denen sich diepolitischen Herrschaftsgrenzträger inzwischen herumschla-gen müssen.

Was sich aber wirklich hinter »tangentopoli« usw. ver-birgt, ist weitaus wichtiger. Unter dem Diktat von flexibili-sierten Währungen, Zinsregimes und allgemeiner Bereiche-rungssucht sind politische Ideologien zusammengebrochen,deren Bandbreite von der Rechten bis tief in die sozialisti-schen und grünen Bewegungen hineinreicht. Diese Anpas-sung und Unterwerfung haben nicht nur den späten eu-ropäischen Arbeiterreformismus, sondern auch große Teileder linken Intelligenz, beispielsweise in Lateinamerika, be-

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Workfare. Damit ging 1992/93 die erste Ausgrenzungsope-ration als Angriff auf das Existenzrecht einher: Zwangsinter-nierung von Flüchtlingen und radikalisierte Abschiebepraxiswurden durchgesetzt.

Nach der Bundestagswahl vom 16. Oktober haben dieFinanciers und Unternehmenslobbyisten ganz große Keulengeschwungen. Die Drohungen mit Vermögens- und Kapi-talflucht gehen einher mit Forderungen zu einem Sozialab-bau, wie sie seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehrgehört wurden. Falls sie durchgesetzt werden, was durchausnoch offen ist, würde die bundesrepublikanische Gesell-schaft in einen Strukturbruch hineingetrieben, wie wir ihnbisher nur aus England, den USA und teilweise Frankreichkennen.

Der Fall Schweiz. Sie scheint mir, aus dem Blickwinkeldes Nordens, noch eindeutiger als Nachzügler. Auch dieSchweiz hat in den achtziger Jahren Produktivitätssprüngedurch Auslagerungen, Rationalisierungswellen und Ver-schlankung des sozialen Status quo hinter sich gebracht. DerSchwerpunkt liegt inzwischen offensichtlich ebenfalls aufangebotsorientierten Deregulierungen. In einigen Agglo-merationen erreicht die Arbeitslosigkeit das Niveau derdreißiger Jahre. Das alternative Grundmuster zur sozial-staatlichen Integration heißt jetzt offensichtlich auch in derSchweiz Ab- und Ausgrenzung. Die ersten sozialen Stigma-tisierungen der Ausländerinnen und Ausländer stehen bevor,wahrscheinlich der erste Akt eines breiteren Angriffs auf densozialstaatlichen Status quo, der die Lohnabhängigen ver-ängstigt. Aber gerade auch im Vergleich zur BRD verläuftder Umbau offensichtlich weniger hart und schnell. Diesliegt, wie Res Strehle mehrfach ausgeführt hat, vor allem ander weltwirtschaftlichen Sondersituation. Die Schweiz istinternationaler Finanzplatz, Zentrum vieler transnationaloperierender Konzerne und ein Standort für Qualitätsar-beit. Wenn, dann wird sie in die neue soziale Unfriedlichkeiterst nach Italien, Frankreich und wahrscheinlich auch

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schwindet. Die Fassaden der Telekratie bröckeln, sobald die»common people« am eigenen Leib erfahren, wie hinterhäl-tig sie um ihre existentiellen Sicherheiten gebracht werden.Die Revolution der Erwartungen ist durch diese neue kultu-relle Hegemonie des »enrichissez-vous« aber keineswegsgedämpft worden. Die politische Destabilisierung der Ver-hältnisse ist die notwendige Konsequenz des Neoliberalis-mus. Das Band zwischen sozialstaatlichem Status quo undrepräsentativ-parlamentarischer Massendemokratie beginnttatsächlich zu reißen. Autoritäre politische Lösungen wer-den zu einer zwingenden Option der Wirtschafts- und Fi-nanzeliten, ihrer Expertokratie und ihrer wachsenden Klien-tel von Spekulanten, Unternehmensrationalisierern undCouponschneidern. Entwicklungen zu mehr als nur for-mierten Demokratien müssen wir gerade auch dann insAuge fassen, wenn wir davon ausgehen, daß die ethnisch na-tionalistischen Anbiederungen einiger ost- und südosteu-ropäischer postsozialistischer Eliten an die internationalenFinanzmärkte in ihrer Resonanz wohl eher marginal geblie-ben sind. Es wäre jedoch falsch, vorschnell eine Wiederho-lung des Umschlags von der Deflationspolitik zur faschisti-schen Arbeitsschlacht mit rüstungsparasitärer Nachfrage-mobilisierung anzunehmen, wie sie in Mittel- und Südeuro-pa die frühen dreißiger Jahre geprägt hat. Ich glaube, eskommt etwas ganz anderes als das, was wir unter dem Fa-schismus analysiert haben. Das macht die Faschismusanalyseaber keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Die Herausar-beitung der Unterschiede wird uns helfen, politische Alter-nativen zu finden.

4. Neue Proletarität

Auffächerung in der Homogenisierung oder Homogenisie-rung in der Auffächerung?

In globaler Perspektive öffnen sich die Klassenverhält-nisse. Wenn die analytischen Voraussetzungen zutreffen,dann lassen sich für den proletarisierten und pauperisierten

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troffen und von innen heraus zerstört. In vielen Fällen sind»sidepayments« der neoliberalen Weltwirtschaftsinstitutio-nen auf den Mythos der Guerilla gefolgt. In den Metropolenentspricht diesem Prozeß am ehesten die Involution [Ein-wicklung] der grünen Bewegungen, die nun vor den interna-tionalen Sachzwängen der Deregulierung genauso kapitulie-ren wie vor ihnen die Sozialdemokratie und die mit ihr ver-bündete Gewerkschaftsbewegung.

Besonders grausam ist es den osteuropäischen Oppositi-onsbewegungen ergangen. Seit Ende der sechziger Jahre ha-ben wir beispielsweise viele Hoffnungen auf die Kader derspäteren Solidarnosc gesetzt – Kuron, Geremeck, Modzele-wski. Wir haben von der Arbeiteropposition als Massenbe-wegung gegen den versteinerten Tonnenindustrialismus ge-träumt. Wir haben gesehen, wie diese Perspektive im Aus-nahmezustand zu isolierten antikommunistischen Kaderntransformiert wurde, wie sich diese überlebenden Kader1989/90 umstandslos und ohne jedes Nachdenken dem»dernier cri« des Neoliberalismus und dessen Beratern ver-schrieben haben. Das Fiasko der thatcheristischen Transfor-mation vom Staatskapitalismus zur Utopie selbstregulierterMärkte ist riesig. Solidarnosc ist als populistische Randszeneder neokonservativen Rechten geendet. Karol Modzelewskihat inzwischen Bilanz gezogen (»Le monde diplomatique«,November 1994). Er gehört zusammen mit der alten intel-lektuellen Riege von Solidarnosc heute zu denen, die diepräsidialdiktatorische Fortsetzung einer Wirtschaftspolitikbekämpfen, die die Hälfte der Bevölkerung pauperisiert. DieNiederlagen meiner Generation der »new left« – auch dieseSolidarnosc-Kader sind in unserem Alter – haben viele Fa-cetten.

All diese Beispiele, vor allem aber Italien und Polen zei-gen, daß der deregulierte Kapitalismus im Kampf um dasrettende Ufer nicht einfach nur auf eine immer größere öko-nomische Depressionsspirale zutreibt, sondern inzwischenauch politisch extrem destruktiv wird. Der Massenkonsens

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arbeit – werden als Durchbruchspunkte der prekären Ar-beitsverhältnisse überhaupt sichtbar. Frauen sind am stärk-sten betroffen. Sie haben oft nur als prekäre Arbeiterinnendie Möglichkeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit zu finan-zieren. Zusätzlich nehmen völlig unsichtbare, weil nichtmehr oder nicht entlohnte Arbeitsformen zu. Ein Beispiel istdie Katastrophe der Frauen in der Ex-DDR, die in die unbe-zahlte Hausarbeit zurückgetrieben werden.

Als weiteren Fächer der Ausdifferenzierung erleben wireine Ausweitung unfreier Arbeitsverhältnisse: »Forced com-merce« [erzwungener Handel], Arbeitsleistung für Mieten,Arbeitsleistung für Pachtschulden, eine zunehmende »de-commodification« der Arbeitsmärkte, obwohl sie voll in denWertschöpfungsprozeß mit unbezahlten Arbeitsanteilen in-tegriert bleiben. Wir erleben eine Auffächerung in verdeckteLohnbeziehungen der »Subcontractors« [Zulieferer], Werk-vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, der selbständigen Arbei-terInnen. Diese Differenzierungen werden konzerninternreproduziert. Und wir erleben – vielleicht die dramatischsteForm der Auffächerung – Ausgrenzungen bis zur völligenBeseitigung des Existenzrechts bei den Flüchtlingen.

Diese beiden Momente – Homogenisierung und Diffe-renzierung – müssen wir gegeneinander stellen. Unabhängigvon der Frage, wie in der Beziehung Homogenisierung undDifferenzierung tendenziell überwiegende Momente zu fin-den sind, gibt es aber eine Möglichkeit der Synopse beiderBeziehungen, und das selbst in solchen metropolitanen Re-servaten, in denen sich erstens Krisengewinnler und Aufstei-ger, zweitens flexibilisierte und abstiegsbedrohte Arbeiterin-nen und Arbeiter sowie drittens prekarisierte und ausge-grenzte Drittel in etwa die Waage halten. Homogenisierungheißt auch »making«, Solidarisierung, gegenseitige Hilfe,Assoziation. Differenzierung heißt »unmaking«, Entsolida-risierung, Entassoziation, Individualisierung. Ich glaube, essind beides untrennbare Teile des heutigen Sozialprozessesin der globalen Krise.

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Teil des neuen Panoramas von Klassengesellschaft unzwei-deutige Homogenisierungsprozesse ausmachen. Ich sprecheerstens von einer strukturellen Homogenisierung. Bedingtdurch eine weltweite Freisetzung von relativer Übervölke-rung [nicht beschäftigte Teile des Proletariats, vgl. KarlMarx, Kapital, MEW 23, S. 657] entstehen strukturell glei-che Wechselbeziehungen von industrieller Reservearmee,aktiver Arbeiter- und Arbeiterinnenarmee und Unterbe-schäftigten. Ich spreche zweitens von einer ökonomischenHomogenisierung. Tendenziell werden überall gleichartigeNeuzusammensetzungsstrukturen sichtbar: moderne Grup-penarbeiter, prekäre Schwitzbudenproletarier und Proleta-rierinnen, self-employed des informellen Sektors. Sie allewerden arbeitsteilig in die reorganisierten Ausbeutungsket-ten hineingezwungen. Und drittens behaupte ich, daß wireine Tendenz zur geografischen Homogenisierung zu beob-achten haben. Dem transnationalisierten Kapital stehen aufallen Stufen der Mehrwertkette die erforderlichen Arbeits-kräftepotentiale tendenziell weltweit, standortunabhängigzur Verfügung. Swissair kann eben Computerzentralen in-zwischen nach Indien auslagern.

Das alles kann natürlich, je nach Entwicklungsstadien,mit ungeheuer verschärften Einkommensdifferenzierungenunterschiedlichsten Ausmaßes von Prekarisierung, Ausgren-zung, Ghettoisierung und Überlebenschancen einhergehen.Aber das alles ist zunächst einmal nur von quantitativer Be-deutung.

Ich gebe zu, daß diese analytische Dimension völlig an-ders wahrzunehmen ist, wenn wir einen lokalen Blickwinkeleinnehmen, wenn wir den jeweiligen Bezugspunkt an derbestimmten, definierten Ausbeutungskette als Ausgangs-punkt formulieren und vor allem natürlich im aktuellen po-litischen Tageskampf. Die Zerklüftung des neuen Proleta-riats schreitet voran in eine generationen- und geschlechts-hierarchische Neuzusammensetzung. Die wichtigsten Fak-toren der Auffächerung – Kinderarbeit und Frauenteilzeit-

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sie eingebundene politische Praxis bedürfen. Wir sollten dieDialektik von Homogenisierung und Dissoziation des neuenProletariats in dieser Sichtweise angehen und nicht voreiligbeantworten.

5. Die Krise der Linken

Das neue Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, daß es aus ei-ner fundamentalen Krise ein neues Akkumulations- und Re-gulationssystem hervorbringt, dessen endgültige Perspekti-ve freilich noch keineswegs auszumachen ist. Vor allem ist esaber auch ein Zeitalter der Krise der Linken. Mit »der Lin-ken« meine ich jene gesellschaftlichen Kräfte, die sozialre-formerische Prozesse allein ablehnen und nach einem völligandersgearteten Modell gesellschaftlicher und politischerEgalität streben. Je größer und je tiefer diese Krise – unsereKrise – wurde, desto stärker war die Tendenz, die Beziehungzur eigenen Geschichte – unserer Geschichte seit den sech-ziger Jahren – zu verlieren. Ich glaube, daß wir von einemVerlust des kollektiven Gedächtnisses bedroht sind. Ge-schichtslosigkeit ist aber mehr als bloße Resignation oderUnachtsamkeit. Es ist vor allem auch ein Akt des Verdrän-gens. Ich will nur ein paar Stichworte nennen, über die invielen Zusammenhängen ein stillschweigender Konsens desSchweigens besteht:

Viele unserer politischen Zusammenhänge waren im In-nern autoritär strukturiert. Sie hatten sehr starke Tendenzenzur Ausgrenzung oft besonders naher Nachbarströmungen.Und das hat intern entsolidarisiert. Das bezieht sich keines-wegs nur auf die neoleninistischen Gruppierungen.

Wir haben ziemlich intensiv versucht, die materialisti-sche Kritik unserer eigenen Geschichte zu vermeiden. Wirwollen uns damit nicht konfrontieren. Wir wollen die ver-gangenen Optionen und Niederlagen nicht dahingehenduntersuchen, inwieweit diese Niederlagen notwendig waren,nicht vermieden werden konnten und inwieweit sie ver-meidbar waren.

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Das »unmaking« geschieht nicht von selbst, sonderndurch systematische Deformation der Fähigkeiten zurWahrnehmung der realen Grundlagen postfordistischer Ell-bogenideologie: Telekratie als politische Artikulation ver-doppelter und zugleich deformierter Wirklichkeitswahrneh-mung. Die Auffächerung der neuen Klassenverhältnissewird letztlich erst durch die kulturelle Hegemonie des neoli-beralen Regimes befestigt, das sich gleichzeitig mit den indi-vidualisierten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen aufdie allgemeine Flucht aus der Arbeit einstellt.

Aber auch das »making« von unten kommt keineswegsautomatisch. Es gibt keinen Automatismus, der von derWahrnehmung der realen Lage zu kollektiven Verhaltens-weisen – Solidarisierung usw. – führt. Wir sollten die Debat-te über Homogenisierung und Auffächerung mit einem Ver-weis auf den großen britischen Historiker E. P. Thompsonversehen, der in seinem »Making of the english workingclass« dazu eine ganze Menge gesagt hat. Er wies nach, daßdas »making«, die Homogenisierung eines außerordentlichdifferenzierten Proletariats, zwischen 1780 und 1830 einbreit angelegter Lernprozeß war, der im übrigen die Homo-genisierungshoffnungen der nachfolgenden marxistischenUtopie, das große industrielle Fabrikarbeiterproletariat alsKern des Umsturzes, sozusagen ex ante (und aus der Sichtdes Exkommunisten Thompson ex post) widerlegt hat.

Auch wir selbst sind Teil dieser Prozesse und müssen zu-erst einmal davon ausgehen, daß wir uns zwar in der klassen-analytischen Annäherung nicht grundsätzlich irren sollten,wenn wir von sozialempirischen Evidenzen und Massener-fahrungen – Selbstuntersuchung auf breiter Ebene – ausge-hen. Der reale Prozeß der kollektiven Neuzusammenset-zung kann aber trotzdem ganz anders verlaufen, als wir ihntheoretisch vorwegnehmen. Zwischen gesellschaftspoliti-scher Analyse – militanter Untersuchung – und emanzipato-rischem Handeln gibt es immer nur Annäherungen, die lau-fend der Korrektur durch die Massenerfahrung und die in

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Das sind unsystematische Beispiele. Ich möchte zeigen,daß der Kampf gegen die Krise als ein Weg zu solidarischemund egalitärem Handeln immer innere Solidarität voraus-setzt. Das ist ein unverzichtbarer Teil des kollektiven Ge-dächtnisses, denn ohne innere Solidarität kann nicht kollek-tiv-historisch agiert werden. Solange wir hier stagnieren, so-lange wir uns gegenseitig ausgrenzen und nicht aufeinanderzugehen, werden wir nicht in der Lage sein, neu in dasWechselspiel von proletarischer Homogenisierung und Dis-soziierung einzugreifen und wieder geschichtsmächtig zuwerden.

6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung

Genau ein solches Eingreifen halte ich für nötig und mög-lich. Nur mit Klassenorientierung bleibt die Option auf einesozialistische Alternative als einer offenen Lebens- und Ge-sellschaftsformation, die sich durch gesellschaftliches Eigen-tum an den Produktionsmitteln und durch die ausschließli-che Produktion und Reproduktion zur Befriedigung basis-demokratisch ermittelter gesellschaftlicher Bedürfnisse aus-zeichnet, belanglose Utopie. Wie soll das geschehen?

Strategisch. Ich schlage vor, die altbekannte Suche nachbesonders avantgardistischen Fraktionen des neuen Klassen-subjekts aufzugeben und die neuen Möglichkeiten aus derKonstitution des neuen Proletariats in ihrer ganzen Vielfaltzum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und Handelns zumachen. Wir brauchen also eine offene Struktur des Klas-senantagonismus von unten, für alle, die ihre Arbeits- undLebenskraft hergeben müssen, um leben zu können, unab-hängig davon, ob sie entlohnt, auf Werkvertragsbasis hono-riert, für Arbeitsmärkte zur Verfügung gehalten, zu nichtentlohnter Arbeit gezwungen oder patriarchalisch im infor-mellen Sektor geknechtet werden. Das, meine ich, ist an je-dem Widerstandspunkt des Globus möglich, da bei allenquantitativen Unterschieden grundsätzlich gleichartigestrukturelle ökonomische Bedingungen vorliegen und zu je-

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Es gab und gibt auch eine große Unfähigkeit zu Kurs-korrekturen. Ich möchte hier nur das Beispiel des bewaffne-ten Kampfs andeuten. Das Syndrom der Pentiti [pentiti:Reumütige, unter Kronzeugenregelungen aussagende Rot-brigadisten] ist auch eine Rache am Prinzip, daß Grenzüber-schreitungen in der Militanz nur in eine einseitige Richtungvorzunehmen waren. Wenn Illegalität immer zur Ablösungvom Massenkonsens und zu einer elitären Selbstkonstitutionführt, und wenn sie notwendigerweise immer dazu führenwürde, dann müßten wir sie vielleicht doch prinzipiell ver-werfen. Auch hier, glaube ich, muß viel aufgearbeitet undnachgedacht werden, um die zweifellos vorhandenen positi-ven Erfahrungen der Illegalität für die Zukunft zu bewahren.

Die eigene soziale und materielle Selbstwahrnehmungwar und ist in unseren politischen Zusammenhängen oftausgegrenzt. Dabei sollte sie nach meiner These Kern unse-res politischen Engagements sein. Wir sollten gerade alsLinke von unseren eigenen materiellen Lebensbedingungenausgehen und nicht als Prekarisierte auf politischen Ersatz-ebenen agieren. Gerade im Prozeß und in der Erfahrung dersozialen Marginalisierung gibt es sehr starke Individualisie-rungserfahrungen und Rückzugstendenzen. Das ist eine ansich paradoxe Verhaltensweise, die aber aus dieser Ausgren-zung der eigenen materiellen Konstitution herrührt und ge-genwärtig viele Restprojekte gefährdet.

Ich meine aber auch, daß wir in vielen Fällen unfähig ge-wesen sind, Teilsiege wahrzunehmen und erkämpfte Positio-nen auszubauen. Ich erinnere an die Frauenbewegung, diewohl von allen Sozialbewegungen am weitesten egalisierendin die Gesellschaft gewirkt hat und die – so meine ich – auchuns linke Männer ein Stück weit verändert hat. Es sollte ei-gentlich möglich sein, jetzt über einen neuen politischenSchulterschluß zu reden und über Bedingungen eines ge-meinsamen Widerstands gegen die Deregulierung und ge-gen die mit ihr einhergehende »Wiederentdeckung« derunbezahlten Hausarbeit nachzudenken.

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ungeheuer angehäuften Privatvermögen reorganisiert undin Selbstverwaltung übernommen werden.

Ich halte es also strategisch für möglich, einen solchenZusammenschluß in politisch-wirtschaftlich homogenisier-ten Assoziationen von Gegenmacht in Gang zu bringen, undzwar im Rahmen einer internationalen Vernetzung.

Die taktischen Aspekte, wie diese Perspektive anzugehenwäre, sehe ich einmal darin, daß auf dieser strategischen Ba-sis in die bevorstehenden oder schon stattfindenden Kämpfegegen den sozialen Generalangriff einzugreifen wäre; daßwir von hier aus aber auch an die Seite derer treten, die vomPopulismus der Deregulierungsexperten am stärksten aus-gegrenzt werden: Ausländer, chronisch Kranke usw.

Ich bin mir bewußt: Derartiges kann vielleicht noch ge-dacht, aber angesichts der Krise der Linken und der realenKräfteverhältnisse nur noch mit Mühe und Anstrengungvorgeschlagen werden. Trotzdem bin ich vorsichtig optimi-stisch. Was beispielsweise seit einigen Wochen in Italienpassiert, haben bis vor wenigen Wochen die meisten für un-möglich gehalten. Ich glaube also, daß ein soziales Beben,auch in den Metropolen, zu spüren ist und daß wir dieses so-ziale Beben wahrnehmen, uns darauf einrichten sollten.Wenn in die aktuellen Basisinitiativen bewußte Handlungs-fähigkeit hineinkommt, dann werden ihre Militanten sichbald als Teil einer neuen emanzipatorischen Massenbewe-gung wiederfinden. Vielleicht. Ich hoffe es.

(Der Text ist das von Karl Heinz Roth durchgesehene und leichtergänzte Transkript seines Referats. Die Anmerkungen in eckigenKlammern stammen von der Zürcher Redaktion »Vorwärts«,welche Roths Referat bearbeitete und zuerst veröffentlichte.)

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dem anderen Widerstandspunkt vermittelt werden können.Die Homogenisierung ist also strukturell bedingt, zugleichaber auch eine Vorwegnahme. Genau hier liegt die Aufgabeder Linken.

Es geht also nicht darum, ein neues Primat des Agrarso-zialismus zu postulieren; es geht nicht darum, ausschließlicheine neue Kampagne der Prekären und Jobber in Gang zubringen; es geht nicht darum, das sozialistische Heil alleinvon den aus der Arbeitslosigkeit entlassenen selbständigenArbeiterinnen und Arbeitern zu erwarten, auch nicht vonden Gruppenarbeitern, sondern wir brauchen eine offeneSynthese der jeweils unterschiedlich gewichteten Kommu-nikationsweisen und Kampfformen am Ort. Dafür sind, im-mer noch strategisch gedacht, Strukturen nötig. Ich votierefür eine internationale Vernetzung der lokalen Widerstands-punkte im Sinne einer internationalen Assoziation durch er-ste politische Initiativen: Gegeninformation, Analyse, kon-krete Hilfeaktionen.

Ich plädiere zweitens dafür, die lokalen Konfrontations-punkte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber demZiel der Synthese aller möglichen Teilbewegungen zurDurchsetzung einer moralischen Ökonomie des Existenz-werts zu assoziieren: Recht auf Boden und Wohnung, politi-scher Lohn, Recht auf soziale Reproduktion. Diese neuemoralische Ökonomie wäre zu realisieren durch die sozialeAneignung und kommunale Selbstverwaltung von Bodenund Wohnen. Sie wäre im Kampf in und gegen die lokalenArbeitsmärkte zu realisieren durch einen neuen »social-mo-vement unionism« [auf sozialen Bewegungen basierendeGewerkschaftspolitik] gegen flexibilisierte Arbeitsverhält-nisse, durch den Kampf für einen politischen Lohn in denBasiskomitees der Netzwerkunternehmen. Das Recht aufsoziale Reproduktion wäre in kommunaler Selbstorganisati-on anzugehen, als Rückeroberung selbstbestimmter sozialerReproduktionsgarantien. Die sozialstaatlichen Transferrui-nen sollten bei gleichzeitiger kommunaler Aneignung der

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Die AutorInnen

Robert Kurz lebt als freier Publizist in Nürnberg. Er istMitherausgeber der Theoriezeitschrift »Krisis« und veröf-fentlichte zuletzt die Bücher »Honeckers Rache« (1991),»Der Kollaps der Modernisierung« (1991), »PotemkinsRückkehr« (1993) und »Der Letzte macht das Licht aus«(1993).

Ernest Mandel, geb. 1912, lebt in Brüssel. LangjährigerAktivist der 4. Internationalen, zahlreiche Buchveröffentli-chungen, u.a. »Die langen Wellen im Kapitalismus«, »DerSpätkapitalismus« und »Börsenkrach und Weltwirtschafts-krise«.

Maria Mies, Professorin für Soziologie, lehrte bis zu ih-rer Pensionierung an der Fachhochschule Köln. Zu ihrenwichtigsten Büchern gehören »Frauen, die letzte Kolonie«(1983 zusammen mit Claudia von Werlhof und VeronikaBennoldt-Thomsen) und »Patriarchat und Kapital« (1986).Im Frühjahr 1995 erscheint bei Rotpunkt »Ecofeminismus«(zusammen mit Vandana Shiva).

Karl Heinz Roth, Arzt und Historiker, lebt in Hamburg.Mitarbeit an der »Hamburger Stiftung für Sozialgeschichtedes 20. Jahrhunderts« und deren Zeitschrift »1999«. Autoru.a. von »Die andere Arbeiterbewegung« (1974), »Die Wie-derkehr der Proletarität« (1994). Ein Teil seiner politischenTexte ist zusammengestellt in dem Band »und es begann dieZeit der Autonomie« (Verlag Libertäre Assoziation, 1994).

Res Strehle ist Ökonom und Wirtschaftsjournalist inZürich. Er schreibt u.a. für die »WoZ«, das »Magazin« unddie »Weltwoche«. Buchpublikationen: »Die Bührle-Saga«(1981, m.a.), »Damengambit« (1985), »Ganz oben. 125 Jah-re Schweizerische Bankgesellschaft« (1987, m.a.), »Kapitalund Krise« (1991) und »Wenn die Netze reissen« (1994).

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