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Christian Siegel Wien Freud Kunst Eine künstlerische Annäherung Kunstreise Wien 2006 Hochschule Merseburg (FH)

Kunstreise Wien

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Kunstreise Wien 2006HochschuleMerseburg(FH) Eine künstlerische Annäherung Christian Siegel Leitung: Frank Venske Mitwirkende: Elias Emken Uta Erdmann Esther Rachow Ronald Reichelt Olga Taschirewa Alexandra Tippner Sebastian Wolf Pamela Piffl Franziska Scholze Matthias Kowarschik Julia Hille Eine Audio-Collage anlässlich des Freud-Jahres 2006 / 30 min.

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Christian Siegel

Wien Freud Kunst Eine künstlerische Annäherung

Kunstreise Wien 2006Hochschule Merseburg (FH)

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Freudsche Melange

Eine Audio-Collage anlässlich des Freud-Jahres 2006 / 30 min.

Im Rahmen einer Kunstreise nach Wien begab sich eine Gruppe von Studierenden auf akustische Spurensuche. Aus der Fülle der auditiven Materialien, dokumentarischen Informationen, Interviews und Atmosphären wurde eine Collage erstellt. Die spontanen Äußerungen und Eindrücke wurden Szenen aus dem Anatol-Zyklus von Arthur Schnitzler gegenübergestellt und durch virtuelle Ortswechsel musikalisch verbunden.

Leitung:

Frank Venske

Mitwirkende:

Elias EmkenUta ErdmannEsther RachowRonald ReicheltOlga TaschirewaAlexandra TippnerSebastian WolfPamela PifflFranziska ScholzeMatthias KowarschikJulia Hille

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InhaltsverzeichnisFrank Venske

Autoren

Biografie Siegmund Freud

Christian SiegelWien Freud - Kunst

August RuhsFreud

Michel CullinEin französischer Blick auf Österreich und Wien

Christian Siegel / Thomas Tiltmann Beispiele künstlerischer Auseinandersetzung mit Wien und Freud

Teilnehmer

Impressum

Kai Köhler-Terz

Freudsche Melange - eine Audio-Collage CD / 30 min.

Das Sahnehäubchen - ein Kurzfilm, DVD / 5 min.

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Mit Unterstützung der Volks- und Raiffeisenbank Saale-Unstrut eG.

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Autoren:

Prof. Dr. Michel CullinDiplomatische Akademie Wien,

Kai Köhler-TerzOffener Kanal Merseburg-Querfurt

Ao. Univ.-Prof. Dr. August RuhsMedizinische Universität Wien, Universitätsklinik für Psychotherapie und Tiefenpsychologie

Christian SiegelHochschule Merseburg (FH), Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur, Lehrgebiet künstlerische Grundlagen

Thomas TiltmannHochschule Merseburg (FH), Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur, Bereich Fotografie

Frank VenskeHochschule Merseburg (FH), Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur, Lehrgebiet Musik und auditive Medien

Vergleichende Politikwissenschaft und Leiter der Arbeitsstelle für österreichisch-französische Beziehungen

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Sigmund Freud * 6. Mai 1856 in Freiberg (Mähren) † 23. September 1939 in London

Sigmund Freud war ein bedeutender österreichischer Arzt und Tiefenpsychologe, der als Begründer der Psychoanalyse und als Religionskritiker Bekanntheit erlangte. Seine Theorien und Methoden –so das Freie Assoziieren vor allem im Zusammenhang mit der Traum-Deutung. Freud gilt als einer der einflussreichreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Er war ein Befürworter der Evolutionstheorie Charles Darwins. Er entwickelte zunächst die Psychoanalyse als Theorie der Diagnose und Therapie von Neurosen, dehnte die Psycho-analyse aber später auf andere Bereiche der Psychologie und auf Bereiche der Sozialphilosophie aus. Insbesondere auf die philosophischen Ansichten von Künstlern und künstlerisch inspirierten Philosophen übte er einen großen Einfluss aus. Freud studierte an der Universität Wien Medizin und arbeitete anschließend an der Wiener Universität. 1886 eröffnete er in Wien eine eigene Praxis. Freud musste 1938 vor den Nazis von Wien nach London fliehen.

Die Ursache der Neurose sah er in einer Störung der sexuellen Entwicklung in der frühen

Kindheit eines Menschen. Die Fortwirkung des frühkindlichen Traumas im Erwachsenenalter bewirkt die Neurose.

Zunächst versuchte Freud die kathartische Methode und die Hypnose zur Neurosentherapie einzusetzen. Später bildete vor allem die Traumdeutung und die Methode der freien Assoziation die Grundlage seiner Therapie.

Freud entwickelt zwei topische Modelle des Subjekts, d. h. Modelle

der Komponenten des psychischen Apparats. In der ersten Topik wird das Bewusste vom Unbewussten unterschieden. In der zweiten Topik die er vor allem in seiner Schrift „Das Ich und das Es“ (1923) entwickelt, unterscheidet Freud das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Dabei tritt das Es an die Stelle des Unbewussten. Es bildet das triebhafte Element der Psyche und kennt weder Negation, noch Zeit oder Widerspruch. Nach Freud unterliegt auch die Gesellschaft der Triebdynamik.

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Christian Siegel

Wien, Freud, Kunst Eine Kunstreise nach Wien erklärt sich eigentlich von selbst. Wien hat etwa 80 Museen und Gedenkstätten, davon einen hohen Anteil an Kunstmuseen. In Wien ist die Secession mit Gustav Klimt genauso zu Hause wie Sigmund Freud, der Wiener Walzer genauso wie das Rote Wien. Genau in diesem Spannungsverhältnis treffen sich die unterschiedlichen Kulturausprägungen in der durch die Psychoanalyse Freuds an- und aufgeregten neuen Sichtweise kultureller Werte, womit für unsere Betrachtung gerade die kultur- und gesellschaftskritische Dimension der Psychoanalyse von Bedeutung ist.

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„Goldwyn erbetenen Hilfe: Den Beginn des Interesses Hollywoods an der Psychoanalyse kann am auf das Jahr 1924 datieren, als Samuel Goldwyn dem berühmten Dr. Freud“ 100.000 Dollar für seine Hilfe an „einer wirklich großen Liebesgeschichte“ anbot. … Sigmund Freud rümpfte die Nase, …“ 14 und lehnte die Mitarbeit ab. Wenn wir auch die Aussage Freuds, „dass die Sublimierung unbefriedigter Libido für die Ent-stehung aller Kunst und Literatur verantwortlich sei “ 15, als Hypothese bewerten, dann kann das Schaffen von Künstlern unter diesem Gesichts-punkt angesehen werden, was natürlich neue Fragen aufwirft. Als etwas jüngerer Zeitgenosse Freuds in Wien kommt unweigerlich Gustav Klimt in Frage, der, vergleichbar mit Freuds Biografie, in Wien, obwohl im Ausland schon zu Lebzeiten gefeiert und bekannt, Zeit seines Lebens um Anerkennung kämpfte. Freud lebte 77 Jahre in Wien, „ obwohl er sich, wie Karl Kraus, Arthur Schnitzler oder Arnold Schönberg - als Intellektueller von der Wiener Gesellschaft gemieden fühlte.“ 16

Aber nicht nur biografisch sind Prallelen beider festzustellen. Bis heute scheint man Klimt, wie auch Freud, in Wien nicht offiziell anerkannt zu haben; vielleicht sind diese beiden „Störenfriede“ des künstlerischen und wissenschaf tlichen Mittel-Maßes dem allgemeinen Gesetz der Ablehnung alles genial Neuen durch die etablierte und erstarrte Kunst- und Wissenschaftsgemeinde unterlegen, das um so ambivalenter wird, wenn beider Schaffen gewinnbringend auf Markt des Jubiläen - und Superlative - Tourismus ausgeschlachtet wird. Ein Beispiel dieser Ambivalenz ist neben der

verfallenden Atelier-Villa Klimts in der Feldmühlgasse 11 in Hietzing (s. Abb. u.), deren Zustand immer wieder einmal öffentlich – meistens von der politischen Opposition – angeprangert wird und deren sich auch Dank der Renaissance von Klimts Werk durch den Kinofilm mit John Malkovich in der Hauptrolle ein Klimt - Verein annehmen darf 17, auch folgende Notiz: „Der amerikanische Unternehmer und Museumsgründer Ronald S. Lauder erwirbt für 135 Millionen Dollar Gustav Klimts gold-strotzendes Bildnis „Adele Bloch-Bauer I“, das den Erben der Dargestellten wenige Monate vorher vom österreichischen Staat restituiert worden war.“ 18 Foto der Klimt-Villa, Zustand im September 2006 (Foto: Christian Siegel)

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Das Schaffen Klimts weißt viele Aspekte auf, die Freud psychoanalytisch gedeutet haben würde. Ob sich Freud und Klimt persönlich kannten ist nicht nachweisbar. Dass Klimts Mutter unter hysterischen Anfällen gelitten haben soll, könnte ein Hinweis sein, dass sich Klimt über die damaligen neuen Therapieansätze informiert haben könnte. Das Verhältnis Klimts zu seiner Mutter und zu seiner mit im selben Haushalt lebenden unverheirateten Schwester ließe sicherlich auch Deutungen im Sinne Freuds zu. Andererseits ist anzunehmen, dass der öffentliche Skandal, den einige Werke Klimts in der Wiener Kulturszene hervorgerufen hatten, Sigmund Freud zu Ohren gekommen ist. In dem Buch zum Film „Klimt“ lässt die Autorin Klimt über die Möglichkeit der Therapie auf der Liege von Dr. Freud berichten, was sicherlich aber auch nur eine Annahme auf Grund des biografischen Kontextes sein wird. 19 Ob Klimts Beethovenfries oder das o.g. Porträt, fast allen seinen Werken ist mehr Tiefe und Unterbewusstes, was sich oft zum Ornament auswächst, zu finden, als in vielen Werken seiner Zeitgenossen und Nachahmer bis hin zu Friedensreich Hundertwasser, der sich z.B. lediglich der ornamentalen Formensprache Klimts (und Klimts Jugendstil) bediente, ohne deren Symbolgehalt erkant zu haben, so dass es zu vordergründigen Deutungen und ästhetischen Zustimmungen bzw. Ablehnungen der Werke Klimts kommen muss bzw. musste. Sicherlich könnte manch verspieltes und „goldstrotzende“ Ornament, das seine Frauenbildnisse umrankte, die Sublimierung unbefriedigter Libido oder besser

nicht zu befriedigender Libido sehen. Das würde Freuds Meinung zum Ornament als Gestaltungsform bestätigen. ¹ Studie: S igmund Freud in der österreichischen Wahrnehmung,

Sozialforschung Fessel GfK Institut für Marktforschung Ges.m.b.H., 2006

² Ruhs, Augus t: Freud i n: Siegel, C. (Hrsg.) : Wien-Freud-Kunst. Merseburg 2006, S.

3 Ebenda, S.

4 Ebenda, S.

5 Storr, Anth ony: Freud. Freiburg im Breisgau 1992, S. 90

6 Bauer, Gerd: Psychoan alyse und Parapsychologie – Der

Surrealismus, in: Deutsches Institut für Fernst udien an d er Universit ät Tübingen (Hrsg.), Funkkolleg Moderne Kunst, Weinheim und B asel 1989 und 1990, Stud ienbegleit brief 0, S. 29 und Studienbegleitbrief 6,

7 vgl. Salber, Wilhelm: Das Leben des Sigmund Freud, Auszug aus

dem Manuskript, Tr iangel, Mi tteldeutscher Rundfunk (Hrsg. ), 05/2006, S. 14

8 Storr, A.: S. 91

9 Ebenda, S. 92

10 Ebenda, S. 102

11 Ebenda, S. 92f .

12 Ebenda, S. 92

13 Rall, Veronica: Spellbound (1944). In: B eier, Lars -Oliver und Seeßlen, G eorg: Alfred Hitchcock, B erlin 1999, S.325

14 siehe Anm. 8

15 Bläske, Manf red P.: S igmund Freud – Hirnforscher, Neur ologe, Begründer d er Psychoanalyse. I n: KVS-Mitteilungen Heft 5/ 2006

16 Heute, 6.März 2006/Nr . 377, S. 4 PolitikH eute (W iener Zeitung)

17 Herchenröd er, Christ ian: Kuns t um jeden Preis. In : arsprototo 3/2006, Berlin 2006, ISSN 1860-3327, S. 6,

18 Eichel, Chris tine: Klimt – Eine W iener Phantas ie, Berlin 2006

19 Eichel, Chris tine: Klimt – Eine W iener Phantas ie, Berlin 2006

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August Ruhs (Wien)

FREUD

Wie Sie vielleicht schon gesehen haben, ist das Programmheft der diesjährigen Wiener Fest-wochen in einen Schutzumschlag eingebunden, deren eine Seite ein Portrait von Mozart und deren andere Seite ein Foto von Sigmund Freud zeigt. Beide mit nach oben verdrehten Augen. Wenn also in diesem Jahr beinahe weltweit und wahrscheinlich bis zum Überdruss deren runde Geburtstage gefeiert werden, so sollte nicht übersehen werden, dass derartige Kollektiv-phänomene ganz allgemein betrachtet auch einen nicht irrelevanten und nicht ganz un-interessanten psychoanalytischen Erfahrungs- bereich darstellen. Über ihre bewussten und hauptsächlich an der Dialektik von Leben und Tod orientierten Funktionen hinausgehend können sie auch als unbewusste Wirkme-chanismen für Ereignisse und Verläufe der Geschichte fungieren, wobei die Macht des Symbolischen für jene heimlichen Beweggründe einsteht, die oft als die wahren Motive historisch bedeutsamer Geschehnisse in Rechnung zu stellen sind. Diesbezüglich sind es kollektive numerische Signifikanten, welche Einschnitte wie Jahrhundert- oder Jahrtausendwenden markieren oder einer „Jubiläumsmathematik“ unterstehen, und damit Ordnungssysteme für ritualisierte Gedächtnis- und Wiederholungsakte bereitstellen. Wenn also runde Jahrestage nicht nur ein pathetisch-feierliches Andenken und Nachdenken

erzeugen, wenn Jubiläen sich mit der reinen Erinnerung kaum zufrieden geben und daher nicht ohne konkrete Folgen bleiben, sondern bisweilen sogar bedeutsame historische Ent-wicklungen einleiten, so liegt dessen begründende Wahrheit nicht zuletzt darin, dass wir einem dekadischen Zahlensystem unterworfen s ind, das latent den Lauf der Geschichte als Chronologie der Ereignisse steuert. Bezüglich der letzteren Zeiten denke man dabei etwa an den Zusammenbruch fast aller sozialistischen Regime im Osten, welcher offenbar spätestens 1989, also zum Zeitpunkt eines Jubeljahres der französischen Revolution bewerk-stelligt werden musste, wobei Rumänien als letztes Land der Reihe den Termin gerade noch vor der Jahreswende einhalten konnte. Man denke aber auch an den Bosnienkrieg und das Gedenkjahr der Schlacht auf dem Amselfeld oder an die österreichische Waldheimaffäre anlässlich des gleichzeitigen so genannten Bedenkjahres. Diese Zusammenhänge waren allerdings den meisten höchstens vorbewusst. Wenn nun in diesem Jahr 2006 in zahlreichen Veranstaltungen, Projekten und Publikationen Sigmund Freuds 150. Geburtstag gefeiert wird, dürfte man annehmen, dass diese Würdigung fast ausschließlich auf der Entdeckung und Zunächst als psychotherapeutische Praxis

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begründet, hat sie sich sehr schnell zu einer allgemeinen Psychologie des Unbewussten erweitert, so dass sie von Freud über ihr medizinisches Potenzial hinausgehend vor allem wegen ihres Wahrheitsgehaltes den Menschen ans Herz gelegt wurde. Wie alle Diskurse und Dispositive von Wahrheit und Aufklärung hat auch die Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten an gesellschafts-politischer Bedeutung verloren. Ihre häufige Entwertung, in der sie nicht mehr nur ihren gewohnten Gegnern als ein Auslaufmodell erscheint, hat aber weniger mit jenem “Veralten” zu tun, von dem Marcuse schon 1963 gesprochen hat und womit er die Unangemessenheit ihrer an bürgerlich-patriarchalischen Strukturen orientierten Theorie(n) angesichts einer “vaterlosen Gesell-schaft kennzeichnen wollte. Vielmehr geht es heute um ihren in einer ökonomistisch geprägten “Erlebnisgesellschaft” obsolet gewor-denen aufklärerischen Auftrag, den Menschen nicht unbedingt materiellen Wohlstand und konsumorientiertes Glück zu verheißen, ihnen dafür aber Autonomieerweiterung, Emanzipation und Geschichtsbewusstsein in Aussicht zu stellen. Allerdings ist die Psychoanalyse für Existenzgefährdungen besonders anfällig. Denn die psychoanalytische Subjektkritik mit ihrem Vermögen, dem Allgemeinen und den Systemen das je Besondere, das Individuelle und Singuläre mit Nachdruck entgegenzusetzen, gerät mit diesem Unterfangen unweigerlich in eine Gegnerschaftsposition nicht nur zu jeder neuen, sondern grundsätzlich zu jeder gesellschaftlichen

Machtordnung. Sie zerlegt potenziell deren Gefüge, indem sie jedes Handeln und jedes handelnde Subjekt vor die Sinnfrage stellt und sie zur Preisgabe ihrer zumeist verschwiegenen und verschleierten Intentionen zwingt. Damit hat sie, um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, stets an zwei Fronten zu kämpfen, da sie sich nicht nur gegen den auflösenden Zugriff von außen wehren muss, sondern auch gewissermaßen in sich selbst Tendenzen und Kräften zu begegnen hat, welche permanent auf ihre Entwaffnung und Destruktion hinarbeiten. Denn auf dem Weg ihres Erkenntnisfortschritts, der eben die wahreren Motive menschlichen Verhaltens im Auge hat und der bekanntlich vom scheinbar sinnlosen Symptomverhalten des Neurotikers ausgegangen ist, ist die Psychoanalyse sehr rasch an die Kraft der Einbildung und an die Macht der Illusion gestoßen. Ihr Wahrheitsanspruch, der also nicht auf das Aufspüren transzendenter ontologischer Gründe ausgerichtet war, sondern auf die Wahrheit eines Sprechens in Differenz zur Lüge zielte, musste sich am Hang des Menschen zu seiner Selbsttäuschung reiben, gegenüber dem die Dennochdurchsetzung des Wahrhaftigen zumeist nur in verstümmelter Form gelingen kann. Dieser Zug liegt aber gerade darin begründet, dass das menschliche Subjekt selbst in seiner Ichhaftigkeit das Produkt einer illusionären Verkennung ist. Die Psychoanalyse wird also sowohl von außen als auch von innen stets in Frage gestellt, wobei sie, wohlgemerkt, als Wissenschaft von den (unbewussten) Motiven menschlichen Handelns

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und von der Wirkung der Sprache auf den Menschen existenziell und grundsätzlich höchstens ethisch und in diesem Sinn in bezug auf die Wahrung der Würde der Intimität kritisierbar ist. In diesem Sinn hat Norbert Haas spitz formuliert, dass eine grundsätzliche Kritik an der Psychoanalyse einer Kritik an den Zentralalpen gleichkomme. Hinsichtlich autodestruktiver Tendenzen haben vor allem szientistische Selbstmissverständnisse und Unterwerfungsbereitschaften hinsichtlich sachfremder Empirismen jenen in die Hände gespielt, welche die Psychoanalyse in Richtung einer nur noch marktorientierten Psychotherapie gelenkt haben. Dazu hat freilich auch Trägheit geführt, welche zudem mitbewirkt hat, dass in so manchen ihrer Institutionen der Stein des Anstoßes, als welcher Freuds Werk nicht nur im Sinne eines Skandals, sondern auch im Hinblick auf Erkenntnisfortschritt zu nehmen ist, durch einen lauwarmen Dauerregen einer monoton gewordenen Hermeneutik so ausgewaschen ist, dass er wie abgegriffenes altes Geld nur noch die Taschen jener zu füllen hilft, für die die Sicherheit des Bekannten schwerer wiegt als der unbestimmte Gewinn einer vagen Verheißung, welcher durch ein mutiges Überschreiten der Mauern des selbstverständlich Gewordenen aufzufinden wäre. So hat die Psychoanalyse, die auf ein mehr als hundertjähriges Alter zurückblicken kann, etwas durchaus Janusköpfiges an sich. Als Wissenschaft ist sie gleichzeitig ein kleines Kind und eine alte Dame. Und wenn sie auch mit dem Marxismus einiges gemeinsam hat - vor allem

gehen beide auf klar definierte Gründungsväter zurück - , so ist dessen offensichtliche (aber wohl kaum endgültige!) Zerschlagung nicht unbedingt ein Beleg dafür, dass auch die Psychoanalyse das neue Jahrhundert nicht überleben wird, wenngleich man sich der Frage stellen muss, inwieweit die Freudsche Institution ein mobiles Unternehmen darstellt, über dessen Auftauchen am Ende des vorvorigen Jahrhunderts wir geradeso verwundert sein dürfen, wie wir mit seinem Verschwinden rechnen müssen. Grund genug also, an einem Punkt der Krise, der als vorweggenommenes "memento mori" uns ein kurzes Einhalten gebietet, den Versuch zu unternehmen, die Psychoanalyse von ihrem Anfang her noch einmal zu denken und zurückzugehen, um, wie es Nietzsche einmal ausdrückte, einen längeren Anlauf zu haben. Im Hinblick auf seine zukünftige „Findung“ – um der Psychoanalyse, was ihre Entstehungs-geschichte betrifft, das Wort Erfindung zu ersparen -, war Freud nur bedingt von Reflexionen deutscher Philosophien beeinflusst, die von Kant über Nietzsche bis herauf zu Eduard von Hartmann an Konzeptionen des Un-bewussten (und nicht zuletzt auch zur Vervollkommnung des deutschen Idealismus) vorgearbeitet hatten. Freuds Wegweiser waren vielmehr bestimmte auffällige Menschen, die man nur mit Vorbehalt als Kranke gelten lassen wollte, da für deren lärmende und unsystematische Symptomatologie die streng auf Rationalität bedachte offizielle Medizin des damaligen Wien keine befriedigende Erklärung liefern konnte. Demgegenüber sollte sich das entsprechende

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Pariser Milieu als günstiger für Freuds Vorhaben erweisen, das Rätsel der Hyster ie zu ent-schlüsseln, weshalb er sich auch 1885 zu seinem Studienaufenthalt an der Salpetrière und zu einem Lehrjahr beim großen Meister Charcot entschied. Unter dem Hysteriebegriff wurden bekanntlich durch Charcot am Ende des 19.Jahrhunderts verschiedene Phänomene, die bis dahin hauptsächlich vom Mystisch-Religiösen sowie von Theologie und Philosophie verwaltet und darin einerseits a ls Wunder oder als Besessenheiten oder aber als Grenzfragen der Empirie verstanden wurden, medizinisch wiedervereinnahmt. Dadurch wurden diese Erscheinungen zu Gegenständen der Klinik, welche gerade im Begriffe war, durch die gegenseitige Durch-dringung von Therapeutik und Ästhetik (Marquard 1963) Wissenschaft und Kunst in sich zu vereinigen. In einer solchen Klinik, in der sich durch den zweifachen Gebrauch der Hypnose, und zwar sowohl Provokation als auch Zähmung des Anfalls bereits das Freudsche Junktim von Heilen und Forschen ankündigt, verbindet sich die Inszenierung des Experiments mit der Kunst der strengen und genauen Beobachtung, welche freilich ganz auf den Blick konzentriert ist. Werden so der Körper und seine Ausdrucks-erscheinungen auf augenfällige klinische Zeichen und damit sichtbare Symptome fixiert, so gilt es, dieselben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst exakt wiederzugeben. Da aber selbst die akribischste Beschreibung eine Treue

zur Form des Symptoms, in dem der ganze Inhalt aufzugehen scheint, nur bedingt wahren kann, ist ihre geforderte Reproduktion sowohl durch das reproduzierende Experiment, also die Hypnose als auch durch die Reproduktion im Bild, sei es gezeichnet oder fotografiert, sichergestellt. Damit wird die klinische Tätigkeit zu einer Kunst des Zeigens und der Mimesis und der epistemologische Akt ist in seiner Hauptsache ein Moment des treffenden Blicks - und treffend insofern, als sich ein zu sehen Gebendes mit einem dies tatsächlich Sehenden treffen soll. Es lässt sich zeigen (Didi-Huberman), wie sich der letztlich scheiternde Charcot, bemüht, in seinem Erkenntnisschritt vom Sehen zum Wissen, vom voir zum savoir, eine Verknüpfung von Geschichte, Kunst und Medizin zu vollziehen, um daraus die Medizin als Meisterdisziplin der anthropologischen Wissenschaften hervorgehen zu lassen, indem in einer gegenseitigen Stützung von Kunst und Medizin die Geschichte schließlich aufgelöst wird. Nachhaltiger Effekt dieser Anstrengung bleibt aber, dass ab diesem Zeitpunkt eine Invasion des Pathologischen in der Kunst zu beobachten ist. Durch Freud findet dann ein zweiter Paradigmenwechsel statt. Ein Wechsel des Wahrnehmungsraumes, welcher vom Visuellen zum Auditiven hin ein bis dahin unerhörtes Sprechen im hysterischen Gebaren aufspürt. In seinem Bestreben, zuzuhören anstatt anzu-schauen, folgt Freud allerdings einem Appell seiner Patientin Emmi von N. (Freud 1895) Ihrer Aufforderung “Seien Sie still - reden Sie nichts - rühren Sie mich nicht an!” folgend gelingt es ihm,

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den Platz des Meisters zu verlassen und, die Position eines Objekts einnehmend, dem anderen, dem Patienten, einen Subjektstatus einzuräumen. Freilich ist es nicht leicht, dem Reden der Emmi von N. zu folgen, und es ist auch nicht leicht für Freud, sich dem Schauspiel, das sich ihm darbietet, zu entziehen. Teilweise, in einer Art hysterie-à-deux, identifiziert er sich noch imaginär mit dem seltsamen Verhalten, teilweise versucht er dieses, wie sein Lehrer Charcot, in einer detaillierten Beschreibung zu zähmen und zu ordnen: “Sie spricht wie mühselig, mit leiser Stimme, gelegentlich durch spastische Sprachstockung bis zum Stottern unterbrochen. Dabei hält sie die Finger ineinander verschränkt, die eine unaufhörliche athetoseartige Unruhe zeigen. Häufige ticartige Zuckungen im Gesichte und an den Halsmuskeln, wobei einzelne, besonders der rechte Sternocleidomastoideus plastisch vor-springen. Ferner unterbricht sie sich häufig in der Rede, um ein eigentümliches Schnalzen her-vorzubringen, das ich nicht nachahmen kann.” Indem es Freud allerdings immer besser gelingt, das Gesehene zugunsten des Gesagten zurückzudrängen und seine “talking cure” bis zur Vollendung zu verfeinern, kommt es auch zu dem von ihm inaugurierten linguistic-turn in der Klinik der Neurosen. Damit offenbart das klinische Tableau seine Wahrheit nicht mehr in einer Logik der Bilder oder in der richtigen Auswahl der Anschauungen, sondern es wird an den Logos als Wort und Rede gebunden, wodurch ein Subjekt der Aussage gegenüber einem Subjekt der leidenschaftlichen Äußerung in den Vordergrund

treten kann. Es ist ganz so, als hätte Freud zur Kenntnis genommen, was da herübertönt aus dem 23. Gesang von Dantes Inferno: “‘Vielleicht hast Du nicht gewusst, dass ich Logiker bin?’, sagt ihm ein schwarzer Dämon”. Da Freud in der Folge auch erkennt, dass das Wesen, das Latente, schließlich das “Unbewusste” der hysterischen Phänomene in einem Wissen liegt, das sich selbst nicht mehr oder noch nicht weiß, das aber nach Gehörtwerden und Aner-kennung strebt, kann er seine entscheidende Frage einführen, die nun nicht mehr darauf abzielt, was die Hysteriker in ihren Symptomen imitieren, sondern was das hysterische Subjekt begehrt. So erhält er die Antwort, dass es einerseits begehrt, begehrt zu werden und dass es andererseits einen Herrn begehrt, um ihn schließlich zu dominieren. Dies gelingt Freud umso leichter, als er sich seines eigenen Begehrens nach Wissen bewusst wird, was wiederum seinen Bemächtigungstrieb und seinen Schautrieb provoziert, denn daraus ist für ihn der sogenannte Wisstrieb zusammengesetzt. Indem er auf dessen Befriedigung verzichtet, kann er ein anderes Begehren seiner Kranken, welche die Kastration nicht ertragen können, freilegen: ein Begehren nach Bedeutung jenseits der Geltungsbedürftigkeit und Abhängigkeit, ein Begehren nach Wissen, nach Differenz, nach Sprache. Damit kann sich eine Psychoanalyse errichten, welche sich auch darauf reduzieren lässt, dass sie die Effekte der Sprache und des Sprechens auf den Menschen untersucht. In einem späteren Resumé wird Freud diesbezüglich feststellen: „In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten

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zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken, klagt, bekennt seine Wünsche und Gefühls-regungen. Der Arzt hört zu, sucht die Gedankengänge des Patienten zu dirigieren, mahnt, drängt seine Aufmerksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder von Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft. Die ungebildeten Angehörigen unserer Kranken – denen nur Sichtbares und Greifbares imponiert, am liebsten Handlungen, wie man sie im Kinotheater sieht – versäumen es auch nie, ihre Zweifel zu äußern, wie man ‘durch bloße Reden etwas gegen die Krankheit ausrichten kann‘. Das ist natürlich ebenso kurzsinnig wie inkonsequent gedacht. Es sind ja dieselben Leute, die so sicher wissen, daß sich die Kranken ihre Symptome ‚bloß einbilden‘. Worte waren ursprünglich Zauber und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen miteinander.“ Freuds Abkehr vom amphitheatralischen Schauraum, in welchem die Charcot’sche Hysterie eingespannt war, war für ihn allerdings insofern nicht so schwer, als seine Visualität von

besonderer Art war. Denn von vornherein ist seine Beziehung zum Bild durch eine hochgradige Ambivalenz gekennzeichnet, da er sich mit Normen, Tabus und Gepflogenheiten einer Kultur auseinander zusetzen hat, in deren Traditionslinie er sich eingeschrieben sieht, einer Kultur, die für ihn das Sinnliche stets zu verdrängen pflegte: “Die Juden sind aus vielen Gründen in ihrer Entwicklung einseitig geworden und legen mehr Wert auf den Verstand, als auf den Körper. Aber wenn ich selber zwischen den beiden wählen müsste, würde auch ich den Intellekt an die erste Stelle setzen.” (n. Drews) Diese im Konjunktiv gefasste Wahl, dieser Distanzierungsversuch von einer letztlich nicht zu verlierenden Identität begründet die Gespal-tenheit, die sich in Freuds psychischer Ökonomie als Dialektik von Wunsch und Gesetz, Begehren und Verbot herstellte. Sein Versuch, sich von den Werten seiner Väter zu emanzipieren, führte im visuellen Bereich zu einer Kompromissbildung, in der eine ausgeprägte Hemmung des Schautriebes diesen gleichzeitig beförderte und ablenkte, was auf eine endlos scheinende Sublimierung von Bild und Körper hinauslief und seinen Wissensdrang fast ins Symptomhafte steigerte. Als sich der Mediziner Freud von der leblosen Materie ab- und dem Menschen zuwandte, also von der tierischen Anatomie über die Neurowissenschaf ten zur menschlichen Psychologie überwechselte, „als er das Mikroskop, das bewaffnete Auge mit dem spitzen Ohr vertauschte, wechselte er vom Bild zur

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Sprache und damit zu einem Medium, das sich nicht in der Darstellung, sondern in der Vorstellung erfüllte. Sein visuelles Interesse und seine diesbezügliche Begabung setzten sich damit auf dem Feld der Sprache und des Sprechens fest, wo die Kraft der Bilder zu einer Meisterschaft der Metaphorik führte und einer Rhetorik und einem Schreibstil zum Durchbruch verhalf, welchem auch die Anerkennung von literarischer Seite nicht versagt blieb.“ Die Aufhebung der Welt in der Abstraktion der Sprache, die auf diese Weise erfolgende Bändigung des Sinnlichen bestimmte bekanntlich auch Freuds Verhältnis zur Kunst. In dieser Hinsicht gab es, nach Jones (1982) für ihn zuerst die Dichtung, dann die plastische Kunst und Architektur, dann erst die Malerei und zuletzt, wenn überhaupt, die Musik. Aus diesen Gründen begann bei Freud erst spät, um 1910 und insbesondere 1914 als er mit der Narzissmusfrage die ich- und objekt-konstituierende Bedeutung des Bildes erkannte, auch das Auge ins Theoriegebäude einzudringen, sodass damit der Schautrieb, der in den “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” und dort nur in seiner perversen Form als Voyeurismus und Exhibitionismus behandelt wurde, größere Bedeutung erlangte. Dies schlug sich auch in zahlreichen Schriften seiner Schüler aus dieser Zeit nieder, wobei das kulturelle Umfeld mit dem Aufkommen neuer visueller Medien, vor allem der Kinematographie, einen nicht zu gering zu veranschlagenden Katalysator darstellte. Ab jetzt tauchen auch in Freuds Schriften Bilder und Abbildungen von Bildern und Skulpturen vermehrt

auf. Als er 1917 seine Leonardo-Studie verfasst, wird er nicht zuletzt durch seinen Schüler und Freund Oskar Pfister mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass seine Ästhetik des Unbewussten, wie er sie vor allem explizit in seiner Arbeit über den Witz ausgearbeitet hat, nicht nur innerhalb einer symbolischen Struktur zu erfassen ist. Nicht nur in einer Struktur des Signifikanten in einem Prozess der Verdrängung, welcher einem Koordinatensystem von Oberfläche und Tiefe entspricht. Vielmehr ist nun zu berücksichtigen, dass das Unbewusste auch den Dimensionen des Sichtbaren und Unsichtbaren angehört, wobei das Unsichtbare so wie der versteckte Vogel auf dem Bild der Heiligen Anna Selbdritt keineswegs in der verborgenen Tiefe eines Bildraums zu suchen ist, sondern wo es auf der gleichen Ebene wie das Sichtbare zu finden ist. Die von Pfister vorgeschlagenen Begrifflichkeiten von Kryptolalie, Kryptographie und unbewussten Vexierbildern finden wir zum Teil auch später bei Laplanche und Leclaire (1966) wieder, wenn sie die komplexe Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Strukturen und die Rolle der syste-matischen und libidinösen Besetzungsenergien nach dem Modell des Vexierbildes darzustellen versuchen. Und wenn Freud darauf hinweist, dass der, der mit dem Munde schweigt, mit den Fingerspitzen spricht, und dass Verrat aus allen Poren dringt, so stellt auch er ein Tiefendenken in bezug auf das Unbewusste in Frage und lässt damit das Synonym Tiefenpsychologie für Psychoanalyse als höchst fragwürdig erscheinen. Einer solchen Kennzeichnung, die von dem der

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Psychoanalyse höchst ambivalent eingestellten Eugen Bleuler herrührt, hatte ja Freud mit seiner Archäologiemetaphorik des psychoanalytischen Unternehmens Vorschub geleistet. Schließlich war es Fenichel, der 1935 die Thematik des Visuellen als eines psychischen Organisators wieder aufnahm und in seiner Arbeit “Schautrieb und Identifizierung” zusammenfasste, womit der optischen Wahrnehmung des anderen und der Wirkung der Bilder in Zusammenhang mit der oralen Organisation der Triebentwicklung und deren Modus der Einverleibung eine grund-legende Bedeutung für die Entwicklung subjektiver Strukturen zugesprochen wurde, bevor Lacan kurze Zeit später diesen theoretischen Ansatz in einem geschlossenen Konzept der Ich-Bildung und Ich-Entwicklung vorstellen konnte. Ich widerstehe hier der Verlockung, einen Weg einzuschlagen, der darauf hinauslaufen würde, Freuds Gedanken- und Lehrgebäude mit der damit verbundenen Praxe-ologie einer Lacanschen Lektüre im Sinne einer strukturalen Analyse zu unterziehen, was, wie Ihnen bereits gesagt wurde, zu meiner bevorzugten Lesart unseres Jubi lars gehört. Andererseits ist es mir auch ein Anliegen, auf Grund des besonderen Anlasses noch einiges zur Stellung Freuds und der Psychoanalyse unter den gegenwärtigen Bedingungen des geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens in Österreich zu bemerken. Dazu am besten einige Anekdoten: In seinem Brief vom 12. Juni 1900 an seinen Freund Fliess formulierte Freud ein großes Begehren in Form einer Frage: „Glaubst du eigentlich, dass an dem

Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird:? ‚Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes.’“ Mehr als 75 Jahre danach hat die Stadt Wien die Wette angenommen und in Anwesenheit von Anna Freud wurde am 6. Mai 1977 die von Freud begehrte Tafel enthüllt, und zwar an jenem Ort, an dem sich das berühmte Haus Bellevue, Ursprungsort der „Traumdeutung“, befunden hatte. Dazu eine kleine Vorgeschichte: Die Verantwortlichen der Sigmund Freud Gesellschaft, die dieses Projekt initiiert hatte, hatten sich zunächst an die Gemeinde Wien gewandt, damit diese die Tafel installiere. Der Vorschlag stieß nicht auf Widerstand, aber auf einen kleinen Einwand: „Wir wollen diesem Wunsch gern nachkommen, sagte man dort,“ aber warum soll man eine solche Tafel an einem Platz befestigen, wo niemand und vor allem kein Tourist vorbeikommt, um davon Notiz zu nehmen?“. In dieser Verlegenheit bemühte sich der damalige Präsident der Sigmund Freud Gesellschaft um einen Kompromiss und schlug mit einem Augenzwinkern folgenden Plan vor: „Dann befestigen wir doch die Tafel irgendwo im Stadtzentrum, vielleicht an einem Haus in der Kärntnerstraße, und schreiben darüber: „In diesem Haus enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Doktor Siegmund Freud das Geheimnis des Traumes nicht` “ letztlich, wie bereits gesagt, hat die Plakette doch ihren richtigen Platz gefunden. Eine andere Anekdote: In den 1980er Jahren hatte die Stadt Wien bemerkt, dass es keine Straße, keinen öffentlichen Platz am Geburtsort

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Freuds mit seinem Namen gab. Schließlich, nicht all zu weit entfernt vom Freud-Haus in der Berggasse, fand man einen Park, der dieser Benennung würdig erschien. Und zusätzlich wurde in diesem Freud-Park ein kleines Denkmal errichtet, das folgende Inschrift trägt: „Die Stimme der Vernunft ist leise…“ Wohlgemerkt: Bei Freud liest man: „Die Stimme des Intellekts ist leise.“ Anlässlich der Enthüllung des Denkmals wurde der anwesenden Öffentlichkeit mitgeteilt, dass sich dieser Satz Freuds in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ finde, aber in Wirklichkeit kann man ihn in „Die Zukunft einer Illusion“ lesen. In seiner vollständigen Fassung lautet er: „…die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat“. Und dann heißt es weiter: „Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoffnungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiss in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne. „(Stud. 186) 1985 kritisiert Kurt Eissler in einem Artikel der österreichischen psychoanalytischen Zeitschrift „Texte“ mit einer gar nicht leisen, sondern eher erzürnten Stimme, wie man sie einem Psychoanalytiker zugestehen darf, der, von den Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben, 1938 in die USA emigrieren musste, diese Irrtümer und Fehler, die sich um dieses unsägliche Denkmal herum ereignet haben. Er verurteilt den

mangelnden Sinn in diesem Fragment eines Satzes, der in seiner Gesamtversion eine der wenigen optimistischen Äußerungen eines so notorischen Pessimisten, wie Freud es gewesen sei, darstellt. Dabei erhebe sich die Frage, ob Freud diesen berühmten Satz, auf den die falsche Inschrift hinweist, geschrieben hätte, wenn er die Katastrophe des zweiten Weltkriegs erlebt hätte. Und darüber hinaus könne man Zweifel hegen, ob Freud einen solchen Gedanken tatsächlich in „Das Unbehagen in der Kultur“, welcher man das Zitat fälschlicherweise zugeschrieben habe, formuliert hätte, da diese Arbeit um zwei Jahre älter ist als „Die Zukunft einer Illusion“, wo dieser Satz in Wirklichkeit vorkommt. Und Eissler schreibt: „Es hat vielleicht einen guten Grund, dass man bei der Enthüllung des ‚Denkmals dem Autor’ des „Unbehagens in der Kultur“ eine optimistische Einstellung unterschob. In den zwei Jahren, die die wahre Quelle des Zitats von der vorgegebenen trennen, liegt eine folgenschwere Entdeckung Freuds: Die Rolle der Aggressions-und Destruktionstriebe. Erst nach 1927 erkannte Freud die volle Schwere der menschlichen Schicksalsfrage. ‚Die Zukunft einer Illusion’ ist nur Zwischenstation zu einem tieferen Erfassen der Menschheitsproblematik. Ich war vorschnell, als ich meinte, der zweite Weltkrieg hätte Freuds scheinbaren Optimismus sicher bekehrt. Die Einsicht in das Wirken der Destruktion hatte dies bereits getan, und im ‚Unbehagen’ ist keine Stelle zu finden, die Anlass für Hoffnung auf einen Primat des Intellekts gebe. Man kann sagen, dass die ganze Weltansicht Freuds anders getönt wäre, wenn sich jener versöhnliche Satz im

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‚Unbehagen’ finden ließe. Es waren vielleicht stille Hoffnungen und Widerstände gegen eine schmerzliche Einsicht am Werke, die einem falschen Zitat eine falsche Quellenangabe folgen ließen“. So haben die Fehlleistungen selber jenen Satz des Glaubens an den Primat des Intellekts im Sinne Hegels aufgehoben. Und Eissler schließt, dass die Ambivalenz und die Ignoranz unbesiegbar seien und dass sie vorläufig die ständigen Geführten von Freuds Werk bleiben würden. Peinlich nur, die Stimmen der Ignoranz und der Ambivalenz bei der Betrachtung eines Freud-Denkmals hören zu müssen. Es sei aber unheimlich zu beobachten, wie inmitten aller Bezeugungen von Dankbarkeit und Ehrerbietung die Ambivalenz doch ihr Recht behaupte. Man solle sich durch Briefmarken, Lobreden, Museen und Parkanlagen nicht täuschen. Das Werk Freuds bleibe ein Fremdkörper in der abendländischen Kultur trotz der Versuche, ein positives, lebendiges und eindeutiges Bild herzustellen, Versuche, die immer von Ambivalenz und von der Wiederkehr des Verdrängten konterkariert werden. In dieser Hinsicht sei darauf hingewiesen, dass 1985 auf einem Plakat, für die Ausstellung „Wien 1880-1938. Geburt eines Jahrhunderts“ ein Foto von Freud und seiner Tochter Anna als Symbol eines Willkommensgrußes in Österreich zu sehen war, aber – dummerweise – war dieses Foto, das die zwei Personen umrahmt von einem Zugfenster zeigte, anlässlich ihrer Abreise von Wien ins Londoner Exil aufgenommen worden…Noch eine Anekdote: Anlässlich des

„2.Weltkongresses für Psychotherapie“ in Wien im Jahre 1999, welcher vom österreichischen Präsidenten des Weltverbandes für Psychotherapie, einem Psychotherapeuten und Psychoanalytiker (!) organisiert worden war, konnte man in der Einladung in mehreren Sprachen ungefähr folgenden Satz lesen: „Kommen Sie doch nach Wien, wo Sie die berühmte Couch von Sigmund Freud sehen können“. Man weiß jedoch, dass sich die tatsächliche Couch Freuds seit 1938 in London befindet. Übrigens hat sich anlässlich dieses Kongresses derselbe Kollege an einige Politiker gewandt, um sie zur Stiftung eines „Internationalen Sigmund-Freud-Preises für Psychotherapie“ zu gewinnen, ohne die regionalen oder internationalen psychoanalytischen Vereinigungen oder auch die Wiener „Sigmund Freud Gesellschaft“ in diese Überlegung einzubinden. Trotz heftiger Proteste wurde der Preis, der , wie man der Öffentlichkeit mitteilte, den Namen des „Vaters der Psychotherapie“ trage, eingerichtet. Und der Hinweis auf diese seltsame Genealogie, welche die Psychoanalyse mit nicht-freudianischen und antifreudianischen Psycho-therapien verbinden sollte, hat sich ein zorniger Psychoanalytikerkollege veranlasst gesehen, in einem Leserbrief einer großen Wiener Tages-zeitung zu schreiben, dass die Qualifizierung Freuds als eines Ahnherren aller Psycho-therapien genauso treffend wäre wie die Be-hauptung, dass Mozart sowohl ein Salzburger als auch der Erfinder der berühmten „Mozartkugeln“ gewesen sei. Weitere Anekdoten beiseite lassend

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möchte ich zu jener Fehlleistung im Hinblick auf das Denkmal im Park zurückkommen, in welcher der Intellekt in die Vernunft umgewandelt wurde, oder, besser gesagt, durch welchen der Intellekt zur Vernunft gebracht wurde. In dieser Hinsicht kann man nicht mehr von einem einfachen Lapsus sprechen, sondern darüber hinaus von bestimmten Denkungsarten bzw. von bestimmten Ideologien. Dabei erhebt sich die Frage, ob Freud eher ein Intellektueller oder eher ein Vernunftmensch gewesen ist. Intellekt und Vernunft scheinen zunächst einander sehr ähnlich zu sein. Während der aus dem lateinischen „Intellectus“ stammende „Intellekt“ auf der Seite des Erkenntnis- und Denkvermögens und des Verstandes zu finden ist, bezeichnet das rein deutsche Wort „Vernunft“, das sich vom Vernehmen, Ergreifen, Erfassen herleitet, eine etwas andere Verstehensform, die der Einsichtigkeit, der Besonnenheit, der Sinn-haftigkeit und der Klugheit entspricht. Daraus leitet sich schließlich auch eine erzieherische Bedeutung im Sinne von „jemand zur Vernunft bringen“ her. Sicherlich gehört die revolutionäre Entdeckung Freuds weniger zur Ordnung des Vernünftigen als zur Logik des Un-Sinns im Sinne eines unbewussten Es, das vom Primärprozess regiert wird, während die Sekundärprozesse im Ich liegen, welches auch der Ort der Widerstände, der Kompromisse und der Vernunft ist. So erscheint der Intellekt wie das Synonym der Analyse, während die Synthese eher der Kategorie der Vernunft angehört. Andererseits verfügte Freud selbst sicherlich über einen Charakter, den man nicht leicht zur Vernunft hätte

bringen können. Als der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler und seine Frau anlässlich eines denkwürdigen Diners in der Berggasse 19 Freud fragten, ob es nicht vernünftiger wäre, den Begriff der Sexualität in seiner Theorie fallen zu lassen, um seine Ideen in der medizinischen und wissenschaftlichen Welt besser propagieren zu können, stießen sie nur auf ein Lächeln ihres Gastgebers, der diesen Vorschlag als eine inakzeptable Zumutung empfand. Sicher lich haben einige Nachfolger Freuds seine Gedanken zur Räson gebracht, vor allem unter dem Begriff der in den USA entwickelten „Ich-Psychologie“. Und es ist schon einige Zeit her, dass sich ein größerer Artikel im deutschen Journal „ Der Spiegel“, mit verschiedenen Strömungen der Psychoanalyse befasste, und als Titel wählte: „Vernunft bis zum Tod, Irrationalismus bis zum Wahnsinn“, womit er einerseits die Frankfurter Schule der Psychoanalyse, andererseits den Lacanismus kennzeichnete. In Anspielung an seine jüdische Tradition legte Freud immer Wert auf die Feststellung, dass er sich dem Intellekt näher fühlte als seinem Körper und dem Sinnlichen, und in dieser Perspektive lässt er sich eher an einem irrationalen Pol situieren, dessen Macht er erkannt und dessen Intelligibilität und eigene Logik er auch offen gelegt hatte. Wenn er auch im späten Alter etwas Wasser in seinen Wein gegossen hat, so erscheint er uns dennoch als jemand, der in seinem Leben vom Intellektualismus zur Weisheit ohne nennenswertes Durchgangs-Stadium der Vernunft vorangeschritten ist. Eine Einschränkung ihrer genuin intellektuellen Kraft

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hat die Psychoanalyse auch in ihrem Ursprungsland Österreich in den letzten Jahrzehnten durch äußere institutionelle Zwänge hinnehmen müssen. Wenn auch gilt, dass sich die Psychoanalyse hierorts vom Schlag, den ihr der Nationalsozialismus zugefügt hat, nicht mehr wirklich erholt hat, so arbeiten doch seit einiger Zeit andere politische Kräfte an ihrer Destruktion. Durch das 1991 in Kraft getretene Psycho-therapiegesetz, an dessen Realisierung auch Psychoanalytiker mitgewirkt haben, ist die Psychoanalyse, die bislang die Infragestellung von Gesetzen stets zu ihren Anliegen gezählt hatte, selbst einer gesetzlichen Regelung unterworfen worden. Unter weitgehendem Verlust ihrer kultur- und gesellschaf tskritischen Dimensionen hat sie sich in ein Arsenal verschiedenartigster Psychotherapien einordnen müssen, wobei die Fragwürdigkeit mancher darunter eingereihter Verfahren sich auch ungünstig auf ihr eigenes Prestige ausgewirkt hat. Seit man sich auch in anderen Ländern um die Schaffung von Psychotherapie- und Psycho-therapeutengesetzen zu bemühen begonnen hat - und Österreich spielt hier eine zweifelhafte Vorreiterrolle -, zerbrechen sich zah lreiche Analytikerkollegen die Köpfe für Formulierungen zur öffentlich geforderten Rechtfertigung ihres Berufes. Dadurch freilich arbeitet die Psychoanalyse an ihrer Infragestellung eigenhändig mit und macht sich selbst fragwürdig. "Wenn heute Analytiker ihr spekulatives Potential verbrauchen für die Über-lebenssicherung ihrer Methode (und damit ihrer Existenz), für Stellungskämpfe um den

Berufsstand, über Gesetzesregelung und Krankenkassenzugänglichkeit, so gerät wohl die psychoanalytische Arbeit langsam in den Bereich des Zweifelhaften, nicht mehr ganz Ernst-zunehmenden" (Kuster 1992). Tatsächlich sind jene nunmehr extrem bürokratisierten psychoanalytischen Institutionen, die dem Recht-fertigungsdruck einer gesetzlichen Regelung unterworfen sind, permanent mit abstrusen Gutachten beschäf tigt, um ihr Verfahren unter jenen Therapiemethoden unterzubringen, deren Wirksamkeit unter wissen-schaftlich kontrollierten Bedingungen in einer genügenden Anzahl voneinander unabhängiger Untersuchungen geprüft und erwiesen wurde, so dass sie zum Spektrum der bewährten psychotherapeutischen Methoden gezählt und als Bestandteil einer Psychotherapieausbildung für die Berufs-zulassung anerkannt werden. Ob Freud gelacht hätte? Sicherlich, denn Freud hat diesbezüglich schon einmal gelacht, als er anlässlich der Verleihung seines Professorentitels an Fliess schrieb: "Es regnet auch jetzt schon Glückwünsche und Blumenspenden, als sei die Rolle der Sexualität plötzlich von seiner Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traumes vom Ministerrat bestätigt, und die Notwendigkeit einer psychologischen Therapie der Hysterie mit 2/3 Majorität im Parlament durchgedrungen" (Freud, 1986, 503). In Anbetracht seiner eindeutigen Ambivalenz zur Psychoanalyse hat Österreich als erstes Land die Realisierung dieses Witzes von Freud vollzogen, und anstatt zu lachen haben sich nicht wenige Analytiker darüber gefreut, dass die Psychoanalyse

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den Nachweis erbringen konnte, dass sie eine wissenschaftlich fundierte Therapiemethode ist, deren Ergebnisse einer (letztlich sachfremden!) empirischen Überprüfung standhalten und die als solche auch zum Spektrum der bewährten psychotherapeutischen Verfahren zu zählen ist, sodass ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung im Rahmen des seit 1991 in Kraft getretenen österreichischen Psychotherapiegesetzes gewährleistet ist. Welchen Wert aber hat diese Anerkennung angesichts der Tatsache, dass Freud wörtlich die Psychoanalyse nicht als Therapie empfohlen hat, sondern wegen ihres Wahrheitsgehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten liegt, nämlich sein eigenes Wesen. Um einer punktuellen Reduktion der Psychoanalyse vorzubeugen, hatte er schon 1926 geschrieben: "Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, dass sie nicht die richtige ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dieses Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt" (Freud, 1975, 339). Sicherlich, gerade die einseitige Inan-spruchnahme der Psychoanalyse und auch der anderen Psychotherapieverfahren durch die Medizin, deren gesetzlich festgelegtes Behandlungsmonopol dazu führte, dass die so genannten Laienanalytiker und Laienpsycho-therapeuten immer am Rand der Illegalität arbeiten mussten, stellte einen Missstand dar, für dessen Behebung eine gesetzliche Neuregelung tatsächlich nahe lag. Indem dadurch die

Psychotherapie insgesamt auf eine breitere Basis gestellt werden sollte, erhofften sich auch viele Analytiker einen Aufschwung sowie einen Bewertungs- und Anerkennungszuwachs ihrer Disziplin. Mittlerweile müssen auch sie sich eingestehen, dass sie nicht auf der Gewinnerseite dieses Unternehmens stehen, dass sich ihre Erwartungen keineswegs erfüllt haben und dass die Art, wie die Psychoanalyse nunmehr staatlich reglementiert wird, einen vorläufigen Tiefpunkt in ihrer Abwärtsentwicklung darstellt. Diesen malignen Prozess von einem die Welt verändernden Denken zu einer Institution, welche mit einer Kirche oder einer politischen Partei gleichzusetzen sei, sieht Cremerius (1992, 64ff) auch schon im Schicksal der Psychoanalyse in der Internationalen Psychoanalytischen Ver-einigung, welches durch folgende Kennzeichen bestimmt sei: - Eine Verflüchtigung des Sexuellen - Das Aufgeben der Gesellschaftskritik - Die Verschleierung der die Neurosen

verursachenden und fördernden Funktion der Gesellschaft

- Die Vernachlässigung des aufklärerischen, emanzipatorischen Auftrages der Psycho-analyse

- Die Verdrängung von Freuds Theorie der Objektbeziehung, wonach seine erschreckende Feststellung, dass der menschliche Trieb nicht ein spezielles Liebesobjekt, ein "Du" sucht, sondern ein "Sexualziel" beliebiger Art, das nur die sexuelle Spannung lösen soll, mit jenen Idealen verkleistert sei, die Freud als verlogen erkannt hätte

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- Die Bindung der Psychoanalyse an Medizin, Psychiatrie und Psychologie, d.h., den Aus-schluss von Laien aus den Psychoanalytischen Vereinigungen

- Die Pathologisierung der Homosexualität und der daraus abgeleiteten Folgerung, Homo-sexuelle nicht zur psychoanalytischen Aus-bildung zuzulassen.

Diesen in ihrem Inneren sich vollziehenden Verfallserscheinungen der Psychoanalyse, welche Lucien Isräel vor allem als Dogmatismus, Szientismus, Psychologismus und Fetischismus der Technik namhaft gemacht hat, gesellt sich nun jene von außen kommende Destruktion hinzu, welche, wie schon gesagt, als legitime Bemühung zur Behebung des Unrechts der Lai-enanalyse und der Laienpsychotherapie begonnen hat und nunmehr das Kind mit dem Bade ausschüttet. Denn wenn jetzt in Österreich, wie es durch das Psychotherapiegesetz gehandhabt wird, das Gremium des so genannten Psychothera-piebeirates, das sich aus Vertretern öffentlicher Körperschaften von der Ärztekammer bis zum Bundeskanzleramt und aus Funktionären aller psychotherapeutischen Richtungen zusammen-setzt, der Psychoanalyse die Ausrichtung ihrer Organisation, ihrer Lehre und ihrer Behandlungspraxis vorschreibt, wie es sonst in totalitären Staaten üblich war oder üblich ist, dann hat die Psychoanalyse ihre Unabhängigkeit verloren und ihren emanzipatorischen Anspruch endgültig eingebüsst und müsste eigentlich ab-danken. Wenn also die Psychoanalyse nicht mehr selbst entscheiden kann, was sie ist, dann haben

wir Analytiker, indem wir die Freiheit der Sicherheit opferten, daran mitgewirkt, unserer eigenen Disziplin ein Grab zu schaufeln. Als dessen hauptamtliche Totengräber fungieren übrigens gerade jene Vertreter unserer Zunft, an welchen immer schon ein gespaltenes Verhältnis zur Psychoanalyse aufgefallen ist, welche anderen Identitäten immer schon stärker zugeneigt waren und somit den Geist und den Buchstaben Freuds zu verstehen oder zu tradieren nicht imstande waren. Allerdings könnte das Grab leer bleiben, weil man den Körper, bevor er zum Kadaver geworden ist, aufgefressen haben wird. Denn unter den gegebenen Verhältnissen wäre der Tod der Psychoanalyse keineswegs ein Mord - wenn es wenigstens einer wäre! -, sondern ein Verschwinden im Sinne einer Phagozytose, einer Einverleibung. Denn die Königsdisziplin der Psychotherapie, Stammmutter aller jener Verfahren, welche vorgeben, einen schnelleren und weniger mühevollen Weg zum seelischen Heil gefunden zu haben und in welchen das suggestive Kupfer in der Legierung mit dem Gold der Psychoanalyse derart überwiegt, dass man rasch zu ihrer Anwendung schreiten muss, um nicht das Ablaufdatum zu überschreiten, muss nun zusehen, wie ihre Couch zu einem Prokrustesbett verwandelt wird, in das sich alles, was sich Psychotherapie nennt, und was von der monopolistischen Zentralmacht eines selbstgefälligen und selbstgerechten Dachverbandes als solches anerkannt worden ist, legen muss. Infolgedessen werden jedem psychotherapeutischen Verfahren nicht nur die buchstäblich von der Psychoanalyse abgekupferten

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Kriterien hinsichtlich eines nunmehr verall-gemeinerten Anwendungsbereiches und einer generalisierten Zielvorstellung aufgezwungen, sondern es werden auch jene Grundzüge der Übermittlung der Lehre, wie sie als Eigenanalyse und als Kontrollanalyse die Eckpfeiler der analytischen Ausbildung darstellen, ausnahmslos jedwedem Vorgehen, das sich psycho-therapeutisch nennt, unter den Begriffen von Selbsterfahrung und Supervision verbindlich vorgeschrieben. Notabene auch der Psycho-analyse selbst. Grotesk nicht nur dies, sondern auch etwa die Vorstellung, wie sich eine Verhaltens- oder Familientherapie ihre so genannte Selbsterfahrung organisieren wird, um den Buchstaben des Gesetzes treu zu sein (es ist allerdings anzunehmen, dass es genügend Zunftkollegen geben wird, die mit ihrem oft auch nur spärlichen Wissen die Konkurrenz mit diesbezüglichem Nachhilfeunterricht bedienen werden). In dieser e inheitlichen psycho-therapeutischen Klostersuppe, die fortan an alle Bedürftigen, an alle Mühseligen und Beladenen kostenlos ausgeschenkt werden soll, wird nun der Geist der Psychoanalyse, besser gesagt, die Psychoanalyse als Geist weiterleben. Wenn es, wie Lacan sagt, durchaus nicht gleichgültig ist, auf welcher Seite der Strasse die Psychoanalyse auf den Strich geht, und wenn sich herausstellen wird, dass das Strichabenteuer mit einem tödlichen Ausgang endet, dann ist es vielleicht eher möglich, dass dieser "Ghost of the father" seinen Hamlet finden wird, der schließlich den Tod auf sich nehmend Rache nehmen wird an jenen Hunden, mit welchen sich die Mutter ins

Bett gelegt hat, um mit Flöhen aufzustehen. Vorher wird man aber noch an jener Speise kosten, die uns ein Witz darbietet, in welchem die Frau eines armen alten Ehepaares sich bei ihrem Mann beklagt, dass die Reichen im Gegensatz zu ihnen selbst sich stets an köstlichen Palatschinken delektieren könnten. "Machen wir doch auch Palatschinken", sagt da der Mann. "Aber wir haben doch keine Eier". "Dann machen wir sie eben ohne Eier", entgegnet wiederum der Mann. "Aber wir haben auch keine Milch". "Dann machen wir sie eben ohne Milch", sagt der Mann. Und nachdem die Frau aus Mehl und Wasser einen Palatschinkenteig zubereitet hat und nachdem sie daraus Palatschinken gefertigt hat und auf den Tisch stellt, und nachdem beide davon gekostet haben, schiebt der Alte degoutiert den Teller von sich weg mit der Bemerkung: "Pfui, und so was schmeckt den Reichen?" Wohl gemerkt, nicht einer elitären Verbreitung, nicht einer elitären Selbstfindungsveranstaltung mit eingeschränktem Einlass auf beiden Seiten ihres Zugangs soll hier das Wort geredet werden, weil es dabei nicht um die Verteilung von Reichtümern geht, welche eine Gesellschaft in Besitzende und Besitzlose trennen würde. Die Psychoanalyse ist vielmehr etwas von allen für alle, und deshalb sollte sie auch stets im Sinne einer Reparation an ihre rechtmäßigen Eigentümer, das heißt eben an alle, zurück-gegeben werden. Und dies nicht nur als klinische Arbeit im weitesten Sinn, sondern auch als allen zugängliche Rückerstattung in Form von Wissen, das einen mittlerweile in den Hintergrund getretenen Aufklärungsgedanken wiederaufnehmen könnte.

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So hat aber nunmehr, und das nicht nur in Österreich die Psychoanalyse nach ihrer Vertreibung ins Exil und nach Jahrzehnten kümmerlichen Dase ins ihren Weg wieder gefunden. Er führt, wie zu befürchten war, direkt in die Mittelmäßigkeit. Aber nicht genug damit hat unser Land auf diesem Weg auch noch eine Führungsrolle übernommen und einen Zug zusammengestellt, in welchen auch Lemminge anderer Staaten aufzuspringen bereit sind. Ist doch immer stärker auch international der Trend spürbar, dass psychotherapeut ische Verfahren einschließlich der Psychoanalyse sich Gesundheitsdiensten unterwerfen, die für ihre Leistungen nicht ohne Einfluss bleiben wollen auf die Gestaltung von Praxis, Forschung und Ausbildung im Namen einer effizienten und damit ökonomischen Gesichtspunkten unterstellten psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung. Und von der Position der Inter-nationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus prognostizierte Cremerius 1992 (S. 80), dass bald kein Unterschied mehr zwischen IPV-Analyse und der Analyse der vielen Gruppen und Schulen existieren würde, die irgendeine Art von Psychotherapie machten. Den Namen Freud dürften alle führen. Die IPV hätte vergessen, ihn sich patentieren zu lassen, weil sie zu sicher gewesen sei in ihrem "Freud habemus". Und Cremerius fragt sich diesbezüglich: "Besorgt mich das? Nein. Dem Niedergang der psychoanalytischen Institution zu einem reinen Berufsverband kann ich gelassen zusehen. Er war nach der Aufgabe ihrer sozialen Funktion so

voraussagbar wie der Niedergang der anderen Internationale, die denselben Weg gegangen ist. Die psychoanalytische Gesinnung, welche die IPV vertritt, deckt sich nicht mehr mit dem Gedanken der Aufklärung, die im Namen vorbehaltlosen, kritischen Forschens und von Gedankenfreiheit die Aufhebung von Willkür und das Ende von Glaubenshaltungen fordert und Vorurteile und Heuchelei unterbinden will. In ihr haben sich fast alle Freudschen Ideale ins Gegenteil verkehrt" (ebd.). Sollen wir trotzdem, als Optimisten, für die Sache der Psychoanalyse voller Zuversicht und unbesorgt sein? Sollen wir, wie Cremerius (ebd.) damit zufrieden sein, dass sie in diesem Jahrhundert als bloße Idee, unabhängig von den organisatorischen Machtapparaten der IPV ein "Klima der Denkungsart" geschaffen hat, das noch weit in das nächste Jahrhundert hinein-reichen wird? Sollen wir sie als jene Praxis, als welche Freud sie begründet hat, dahinfahren lassen und das Terrain, auf welchem die Neurosen wachsen, jenen anderen thera-peutischen Schulen überlassen, die sich schon seit einiger Zeit mit dem Dekor Analyse schmücken, von der Gestaltanalyse bis hin zur Verhaltensanalyse? Unter dem Titel “Die Psychoanalyse und ihre Tod” habe ich 1993 wütend gegen das kurz zuvor in Kraft getretene österreichische Psychothera-piegesetz angeschrieben. Da meine damaligen Behauptungen und Besorgnisse bis heute nichts an Gültigkeit eingebüsst haben und da sich meine seinerzeitigen Befürchtungen als durchaus begründet erwiesen haben, habe ich großen Teil

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jenes Textes unverändert in diesen Beitrag zur gegenwärtigen Situation der Psychoanalyse in Österreich übernehmen können. Was allerdings noch nachzutragen wäre betrifft eine Entwicklung der letzten Jahre im klinischen Bereich, wobei es zu einer Art Schulterschluss psychoanalytischer Vereinigungen im weitesten Sinn des Wortes (also Schulen von Adler und Jung inbegriffen) gekommen ist, um dem rauen Wind zu trotzen, welcher der Psychoanalyse vor allem aus der Richtung des staatlich organis ierten “Psychobooms” entgegenweht. So hat vor mehreren Jahren die Dachgesellschaft psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Vereine für die Psychoanalyse, allerdings beschränkt auf die Bundeshauptstadt Wien, eine Ausnahmestellung bezüglich der Refundierung von Behandlungskosten durch Kranken-versicherungen er reichen können, wodurch hochfrequente und mehrjährige “Analysen mit Krankenkassenunterstützung” ohne wesentlichen Verwaltungs- und Kontrollaufwand möglich wurden. Darüber hinaus konnte die Wiener Gebietskrankenkasse dafür gewonnen werden, für ihre Versicherten mit geringem Einkommen 50 Analyseplätze zur Verfügung zu stellen, für die die Versicherung die Kosten vollständig übernimmt. Trotzdem lassen hierzulande Status und Prestige der Psychoanalyse zu wünschen übrig, ganz im Gegensatz übrigens zur Hochkonjunktur Freuds, was seine Person, die Legenden und die kleinen und großen Ereignisse um ihn herum betrifft. So ist auch das Freudmuseum in der Berggasse, dem es nicht an Besuchern und Pilgern aus aller

Welt mangelt, ein kultureller und touristischer Faktor geworden. Als Teil der Sigmund-Freud-Gesellschaft und demokrat isch durch das Vereinsgesetz geregelt und verwaltet, hatte es sich neben dem üblichen Verkauf von Devotionalien zu einem öffentlichen Forum entwickelt, das auch einen offenen psychoanalytischen Diskurs und einen freien Meinungs- und Gedankenaustausch zwischen Analytikern verschiedener Herkunft ermöglichte. Dies hat sich leider geändert, als es einige Vorstandsmitglieder – dieses Mal Nicht-Analytiker – als vernünftig erachteten, das Museum in eine Art Handelsgesellschaft umzuwandeln und eine Privatstiftung anstelle des öffentlichen Vereins mit seinen demokratischen „Hindernissen“ einzusetzen. Gestützt durch Repräsentanten der Wirtschaft, die die Museumsak tivitäten subventionierten und gestützt auch durch die Gemeinde Wien wurde das Projekt vor zwei Jahren realisiert. Da es vor allem die Person Freuds als eine historische Figur ist, die es zu repräsentieren gilt und da in dieser Perspektive wiederum Freud nicht so sehr als ein revolutionärer Denker mit bedeutsamen Konse-quenzen betrachtet wird, sondern eher als Sammler alter Statuetten oder als großer Zigarrenraucher, hatte auch der neue Vorstand der neben der Privatstiftung weiter bestehenden Gesellschaft keinen besonderen Bedarf mehr an psychoanalytisch ausgebildeten Mitgliedern. Wie ein Feigenblatt, das sowohl die Scham eines solchen Aktes als auch die sexuellen Partien des Freudschen Werkes verdecken sollte, findet sich nun unter den 20 Personen des Präsidiums der

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Gesellschaft, nur noch ein in Österreich wirkendes Mitglied mit entsprechender Kompetenz. In einer solchen Perspektive ist es für die Sigmund-Freud-Privatstiftung tatsächlich vernünftiger sich einer zu Freud mehr oder weniger in Beziehung stehenden Kunstsammlung zu widmen, als seine Ideen zu fördern und sie auf die großen Herausforderungen sozialer, kultureller und politischer Art unserer Gegenwart anzuwenden. Bedauerlich ist dabei vor allem, dass für letztere Aufgaben dann nur noch wenige finanzielle Mittel sowohl aus öffentlichen als auch aus privaten Quellen zur Verfügung stehen. Um die Privatisierung Freuds zu vervollkommnen, hat es schließlich die Privatstiftung geschafft, sich den Namen Freud patentrechtlich schützen zu lassen (im österreichischen Patentamt als Wortmarke unter der Nummer AT 215872 eingetragen). Von einem machtpolitisch-ökonomischen Blickwinkel aus ist dieses Vorgehen sicher vernünftig. Man sieht also, dass die Stimme der Vernunft laut ist und manchmal so laut, dass sie die leise Stimme des Intellekts erstickt. (Erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen der „Science talks“ in der Neuen Galerie Graz am 12. Jänner 2006)

August RuhsBleistiftskizze von Christian Siegel, 2006

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Michel Cullin Ein französischer Blick auf Österreich und Wien - Reflexionen zur republikanischen Nation in Frankreich und in Österreich Republik und Nation, zwei untrennbare Begriffe in Frankreich, die aber, wie es die Krise in den „banlieues“ gezeigt hat, neu aktualisiert werden sollten. Tatsächlich hat ja die Nation etliche nationalistisch und xenophob denkende Schreiber immer wieder beflügelt. Von Clovis bis Charles de Gaulle gibt es eine metaphysische französische Nation, die Politiker à la Jean Marie Le Pen- aber leider nicht nur er- groß in den Mund nehmen, um überall über Verfall und Verschwinden der Nation zu reden. Daher hat dieser Begriff den Sprachgebrauch ausländischer Medien genährt und immer wieder zu diesem hämisch besetzten Wort der „grande nation“ geführt. Dank an alle ausländischen Medien für die Lektion in Sachen Stereotype! Wir Franzosen revanchieren uns mit dem “Sissi- und Lipizzaner-Österreich“. Unser Österreich-Bild ist voll von Klischees über die habsburgische Zeit, ohne Bezug auf die österreichische Gegenwart. Aber bleiben wir seriös: worum geht es in der Analyse von nation building zwischen Österreich und Frankreich. Beide Länder verfügen über die „Atomwaffen“ der g roßen historischen Traditionen: Kön ige und Kaiser, die Mythen bilden, aus deren Fundus eine idealisierte Nation schöpft. Wobei Frankreich im nationalen Diskurs über die Nation alles miteinander mischt: Könige, Revolution und Republik. Total versch iedene

Wirklichkeiten und politische Bezugssysteme. Kein roter Faden. In Österreich ist auch die Last der Vergangenheit deutlich zu spüren, denn zumindest gibt es eine kaiserliche Tradition, die bis in die Gegenwart hineinwirkt („Kaiser Bruno“ aus der Zeit von Bruno Kreisky) und der Bundespräsident residiert bitteschön in der Hofburg. Für republikanische Franzosen unmöglich dass in Versa illes das Staatsoberhaupt, manchmal spöttisch als „republikanischer Monarch“ bezeichnet, residiert. Dennoch ist die französische Nation eine politische Nation, keine ethnische Nation, keine Sprachnation, keine Kulturnation im Sinne von Kulturkontinuität und Kulturhomogenität, sie ist schlicht und einfach die Umsetzung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Österreich ist auch eine politische Nation und keine ethnische. Dafür zeugen die Pollanys, Kovacs, Wiltschecks, Swobodas, die jedes Wiener Telefonbuch aufweist, weit weg von der pseudogermanischen Substanz dieser großen Mischpoche. Die Republik macht die Nation möglich und die Nation gibt der Republik ihre Substanz. Nach-zulesen bei Ernest Renan in Frankreich und Ernst Karl Winter in Österreich. Nun heißt natürlich Republik in Frankreich, wie in Österreich, nicht „daham statt Islam“ sondern „Islam weil daham“ d.h. Frankreich aber auch Österreich sind Ein-wanderungsländer, wo die verschiedenen kulturellen, religiösen Identitäten dann zugunsten der republikanischen zurücktreten und den „citoyen“

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voll und ganz ermöglichen. So ist die Laizität zu verstehen, die in Frankreich das Herz der Republik und der Nation bildet, während in Österreich die katholische Identität bestimmend bleibt. Es gibt in Frankreich eine republikanische Nation, die zwei Ufer hat, ein linkes und ein rechtes. Dazwischen gibt es den Fluss Demokratie, der nie austrocknen darf, damit die beiden Ufer immer erreichbar werden und eine Mischung aus Konsens und Debatte bilden. Über den Fluss führen Brücken, die die beiden Ufer miteinander verbinden, vorausgesetzt man bleibt beim Ufer und entfernt sich nicht davon, um in die hinteren populistischen Territorien zu gelangen. A propos: Von welchem Land ist jetzt die Rede: Von Frankreich oder von Österreich? Denn die österreichische Nation ist auch eine republikanische, nachzulesen bei den beiden Kronzeugen der be iden Ufer, dem Anhänger einer Volksmonarchie, Ernst Karl Winter und dem marxistischen Denker Alfred Klahr. Denn die österreichische republikanische Nation, die, wie auch die französische, aber aus anderen Gründen, durch Kr isen gegangen und durch Proporzdenken und Populismus deformiert wurde, ist in einer Ze it geboren worden, a ls es um Werte in der Politik ging , Werte gegen Faschismus, gegen den Austrofaschismus als ersten (Es sei in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Engelbert Dollfuss in seinen so genannten patriotischen Reden, die Österreicher als die besseren Deutschen pries und ein anderer Kanzler dieser Ze it namens Kurt von Schuschnigg tritt im März 1938 zurück, damit

„kein deutsches Blut fließt“). Aber die Werte der österreichischen Nation wurden hauptsächlich hervorgehoben, um den Kampf gegen den Nationalsozial ismus nicht nur zu leg itimieren sondern zu stärken. Nachzulesen bei Ernst Karl Winter und bei Alfred Missong vor und nach 1945. Der Beitrag jener Schar von christlich gesinnten Antinazis ist nie genug gewürdigt worden und das hat dazu geführ t, dass jahrzehntelang nach 1945 der einsame aber mutige Kampf, den Irene Harandt mit ihrer Mitte der dreißiger Jahre erschienenen Replik auf Hitler mit dem Titel „Sein Kampf“ geführt hatte, in Vergessenheit geraten war. Auch die KPÖ mit ihrer theoretischen Zeitschrift „Weg und Ziel“ hat zur Neudefinition von Nation und Republik beigetragen, und dies in einer Zeit, wo die Sowjetunion zwar im Sinne der Neuorientierung des Kominterns seit Mitte der dreißiger Jahre das Bündnis mit bürgerlichen Antifaschisten empfohlen hatte, aber auch – wenn nicht ausdrücklich formuliert- eine Art präeurokommunistisches Abgleiten vom Stalinismus bei Teilen der KPÖ verurteilt hatte... Die österreichische Republik, deren Wiedergeburt nie genug gefeiert werden kann, ist die Bedingung der Nation auch hier in Österreich. Und die Nation gibt dieser Republik ihre geistige Substanz. Daher ist Wien entgegen mancher populistischen Phrasen tatsächlich Istanbul, wo es im Übrigen eine Republik auch einmal in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab. Aber sie ist mehr als Istanbul, weil die Republik Österreich die mémoire des Donauraums mit sich trägt , ohne deswegen in die Nostalgie der

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Habsburger zu verfallen und dennoch die österreichische Nation als Erbin eines multikulturellen Raumes definiert. Eine Republik, die auch Nation ist, weil sie ein Stück Europa verkörpert.

Michel CullinBleistiftskizze von Christian Siegel, 2006

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Elias Emken

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Elias Emken

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Eva Lusch

Eva LuschEva Lusch

Katja HantschickKatja Hantschick

Elias EmkenAndrea Wittstock

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Katja Hantschick Eva Lusch Katja Bach

Claudia SchuberthKatja Bach Katja Bach Katja Bach

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Katja Hantschick

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Eva Lusch

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Eva LuschKatja Bach Eva Lusch

Katja Bach Mirjam Krafft Mirjam Krafft

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Eva Lusch Elias Emken Elias Emken

Franziska Könitzer Eva Lusch Katja Bach

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Elias Emken

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Eva Lusch

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Christian Siegel

Christian Siegel

Mirjam Krafft

Mirjam Krafft Sebastian Henning

Monika Milicevic

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Susann Otto Marcel Volkmar Susanne Ullrich

Eva Lusch

Joachim Stedtler

Monika Milicevic Marcel Volkmar

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Eva Lusch

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Eva Lusch

Matthias Fischer Monika Milicevic

Marcel Volkmar

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Susann Otto

Anett SyrbeChristiane TrenkaChristian Siegel

Susanne Ullrich

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Matthias Fischer

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Joachim Stedtler

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Martina Wöller

Marcel Volkmar

Marcel Volkmar

Marcel Volkmar

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Christiane Trenka

Sandra Fertig Jana Brambach

Susann Otto

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Martina Wöller

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Susann Otto

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Marcel Volkmar Marcel Volkmar

Katharina Taubert

Monika Milicevic

Monika Milicevic

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Kunstreise-Teilnehmer

Bach, Katja; Brambach, Jana; Buchta, Jacqueline; Dierl, Bianca; Elsner, Linda; Emken, Elias; Erbe, Martin; Erdmann, Uta; Fertig, Sandra; Geyer, Andrea; Hantschick, Katja; Hartung, Franziska; Heine Maria; Helch, Jan-Andreas; Henning, Sebastian; Hille, Julia; Katte, Katrin; Knoblauch, Volkmar; Köhler-Terz, Kai; Könitzer, Franziska; Kowarschik, Matthias; Krafft, Mirjam; Kunkel, Matthias; Lorenz, Jennifer; Milicevic, Monika; Möller, Tina; Otto, Susanne; Piffl, Pamela; Rachow, Esther; Reichelt, Ronald; Scholze, Franziska; Schuberth, Claudia; Seidel, Stefanie; Siegel, Christian; Simmelbauer, Alina; Sprebitz, Tobias; Syrbe, Anett; Taubert, Katharina; Tiltmann, Thomas; Tippner, Alexandra; Ullrich, Susanne; Venske, Frank; Volkmar, Marcel; Wittstock, Andrea; Wolf, Sebastian; Wöller, Martina

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Thomas Tiltmann

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Herausgeber: Christian Siegel Hochschule Merseburg (FH)Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. KulturLehrbereich Ästhetik und KommunikationLehrgebiet künstlerische GrundlagenMerseburg 2006

Anschrift: Geusaer Strasse 88D - 06217 Merseburg

Telefon: (03461) 462221Website: www.hs-merseburg.de

Redaktion: Christian Siegel

Layout/Gestaltung: Andrea WittstockJacqueline Buchta

Außenlayout: Andrea WittstockKatja Hantschick

Text/Bildbearbeitung: Thomas TiltmannKatharina TaubertKatja HantschickJacqueline Buchta

Druck: JUCO-Buchfabrik Hallewww.jucogmbh.de

Impressum

ISBN 3-9807981-8-6

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Das Sahnehäubchen

Ein Kurzfilm, DVD / 5 min.

Im Rahmen der Kunstreise Wien bewegten sich 4 Studenten der Kultur- und Medienpädagogik aus Merseburg mit der Kamera auf den Spuren Siegmund Freuds. Daraus entstand ein Kurzfilm der sowohl Spielfilm als auch Dokumentarcharakter besitzt. Maskierte Freudgesichter ziehen sich durch den gesamten Film und das berühmte Sofa in moderner Gummiversion wird von den unterschiedlichsten Menschen zur Gruppen- und Einzeltherapie genutzt. Gleichzeitig bietet der Film wiederkehrende versteckte Hinweise auf Freuds Psychoanalyse und Antwort auf das Fragezeichen, welches der Titel auf den ersten Blick vielleicht auslöst. Das Kamerateam verwandelt sich von Regisseuren über Schauspieler zu Aktionskünstlern. Wien empfanden sie als eine Stadt voll Bewegung, jung und modern, und waren begeistert von der Offenheit der Passanten. Diese Dynamik spiegelt sich sowohl in den Bildern des Films, als auch in der ausgewählten Musik wieder.

Leitung:

Kai Köhler-Terz

Mitwirkende:

Jan Andreas HelchTina MöllerAndrea GeyerAlina Simmelbauer

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ISBN 3-9807981-8-6