1
17. JUNI 2018 WELT AM SONNTAG NR. 24 NRW 5 ANZEIGE ANZEIGE Eine vergebene Chance Mit dem Titel „Horizonte und Gren- zen der Kunst“ war die Veranstaltung in der Nordrhein-Westfälischen Aka- demie der Wissenschaften und der Künste angekündigt. Der Abend ver- sprach eine vielseitige Diskussion, da genügte ein Blick auf die Liste der Po- diumsteilnehmer: Bildhauer Tony Cragg, Fotograf und Performance- Künstler Jürgen Klauke und Künstler Gregor Schneider. Doch die Veranstaltung war falsch konzipiert. Moderator Peter Lynen, Mitglied der Akademie der Künste und der Wissenschaften, gab sich vorweg selbst zu viel Raum, indem er einen zu langen und nicht gerade mit neuen Er- kenntnissen gespickten Vortrag über die Freiheit der Kunst hielt, während das Publikum in dem locker gefüllten Saal erwartungsvoll auf die Diskutan- ten wartete. Im Anschluss an die Rede wurde das Publikum erneut in seiner Erwartungshaltung enttäuscht, denn nun referierte Gregor Schneider mehr als 30 Minuten lang über das Scheitern von Projekten aus politischen Grün- den – informativ, aber deplaziert. Nach den beiden Reden (eigentlich waren es drei, denn der Vizepräsident der Akademie hatte sich mit einer län- geren Begrüßung eingeführt) war die anberaumte Veranstaltungszeit be- reits abgelaufen, als die Runde der Diskutanten endlich in den tiefen Ses- seln Platz nahm. Jürgen Klauke merkte mit Blick auf seine Armbanduhr an: „Jetzt können wir eigentlich schon nach Hause ge- hen.“ Was allerdings nach Klaukes Einwurf noch geschah, könnte als Lehrstunde einer missglückten Dis- kussion bewertet werden. Dass auf dem Podium nur vier Männer saßen, war dabei nicht das Allerschlimmste. Das Ärgerlichste war, dass der Mode- rator unvorbereitet schien, die Diskus- sion nicht strukturierte. Was für das Publikum die Situation ein wenig er- träglich machte, waren allenfalls Statements von Cragg und Klauke. Das Thema „Grenzen und Horizon- te der Kunst“ ist so brennend aktuell, dass man bei einem gut vorbereiteten Gespräch gemeinsam mit so klugen und erfahrenen Künstlern neue Er- kenntnisse hätte gewinnen können. Doch dazu kam es leider nicht. Diese Veranstaltung hätte in einer bedeu- tenden Institution wie der Akademie der Wissenschaften und der Künste, die sich als „interdisziplinäre Gelehr- ten-Gesellschaft“ versteht, so nicht stattfinden dürfen. KULTURSPITZEN VON CHRISTIANE HOFFMANS E in paar volle Bücherkis- ten stehen noch in Juli- ka Griems Büro. Ausge- packt hat die neue Di- rektorin des Kulturwis- senschaftlichen Insti- uts (KWI) in Essen al- lerdings schon Niklas Luhmanns Studie „Der neue Chef“. Ganz oben auf einem Stapel Bücher liegt der schmale Band, in dem der Soziologe die Probleme einer Führungsperson seziert. Auch Julika Griem muss das Institut neu positionie- ren, schließlich steht sie als Professorin für Literaturwissenschaft für andere In- halte als ihr Vorgänger, der Politikwis- senschaftler Claus Leggewie. WELT AM SONNTAG: Frau Griem, was hat Sie an der Arbeit am KWI interes- siert? JULIKA GRIEM: Man hat mich aufgefor- dert, mich zu bewerben. Es war nicht so, dass ich zehn Jahre lang darauf hingearbei- tet habe, das KWI zu leiten. Dafür war ich als Vizepräsidentin der Deutschen For- schungsgemeinschaft und Professorin für Anglistik in Frankfurt viel zu ausgefüllt und zufrieden. Ich bin der Aufforderung aus sportlicher Neugierde nachgekommen, weil ich dachte, es muss ein schieres Glück sein, eine solche Bühne zu bespielen. Glück? Wenn man, so wie ich, gern über den Tel- lerrand der eigenen Disziplin schaut, ist dieser Job genau richtig. Ich habe mich schon lange von einer klassischen Veror- tung der Literaturwissenschaft entfernt. Das KWI ist ein Institut, das interdiszipli- när arbeitet. Man steht hier auf einer Büh- ne und ist auf der Suche nach kompeten- ten Mitspielern. Auch meine Vorgänger wie Claus Leggewie oder Jörn Rüsen wa- ren ja in ihren Fächern Grenzgänger. Es waren Personen, die keine Angst hatten anzuecken. Werden Sie wie Ihre Vorgänger gesell- schaftspolitische Fragen bearbeiten? An den Ideenreichtum und das Kommuni- kationstalent von Claus Leggewie möchte ich unbedingt anknüpfen, aber inhaltlich stehe ich für etwas ganz anderes. Die Per- sonen, die mich ausgewählt haben, dürften sich gewünscht haben, dass hier etwas an- deres gemacht wird, als es bisher der Fall war. Das tue ich jetzt auch. Sie erfinden das KWI neu? Das würde zu weit gehen, aber ich bin si- cher eine Direktorin, die skeptischer auf den Anspruch blickt, dass Wissenschaft per se Gesellschaftsveränderung bewirkt. Es ist ja oft die Rede davon, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen identifiziert werden müssen, damit die Wissenschaft Lösungswissen entwickeln kann. Dies mag für Ingenieurwissenschaf- ten zutreffen, aber für Geistes- und Kultur- wissenschaften ist es schwieriger, sich auf die Lösung von Problemen zu verpflichten. Der damalige NRW-Ministerpräsi- dent Johannes Rau hat das KWI 1989 gegründet mit der Vorstellung, hier einen Ort gesellschaftspolitischer Diskussionen zu schaffen. Diesen An- spruch setzen Sie zurück. Durchaus nicht, aber wir konzentrieren uns auf Missstände vor der eigenen Haus- tür, stellen den Lichtkegel enger auf uns selbst und weiten dann den Blick. Der deutsche Weltpolizeiblick – wir wissen was für die ganze Welt gut ist – liegt mir ferner. Wo setzen Sie Ihren Schwerpunkt? Mich interessiert die Erforschung von Wissenschaft selbst und der Bedingungen, unter denen wir forschen. Es ist ein Gebot der Stunde zu erklären, warum die The- matisierung der Arbeitsverhältnisse von Kolleginnen und Kollegen an deutschen Universitäten ein politisches Anliegen ist. Ich möchte in den ersten drei Jahren den Aspekt der Wissenschaft im Wort „Kultur- wissenschaft“ ins Zentrum stellen. Denn heute wird mit dem Begriff Kultur vieles umschrieben. Es gibt Bier- und Wellness- kultur, Unternehmens- und Fußballkultur. Was meinen wir eigentlich, wenn wir das Etikett Kultur aufkleben, und was meinen wir mit Kulturwissenschaft? Warum sollte ich zu einer Veranstal- tung kommen, wenn ich nicht Teil des Wissenschaftsbetriebes bin? Wir möchten uns natürlich nicht nur mit uns selbst beschäftigen. Ein Thema wird auch die Kultur- und Literatursoziologie sein, die lange vernachlässigt wurde. Hier interessieren mich zum Beispiel Verände- rungen im sozialen Gebrauch von Litera- tur und veränderte Formen der Bewertung und Geschmacksbildung: Warum ist es so populär geworden, sich auf Youtube vor seinem Bücherregal zu filmen und persön- liche Empfehlungen zu geben? Zurzeit entwickeln wir unter anderem ein literari- sches Programm mit Lesungen. Als Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler werden wir uns auch mit Schriftstellern wie Michael Lentz, Joshua Cohen, Felici- tas Hoppe oder A.L. Kennedy austau- schen. Ist dieses Programm für ein breiteres Publikum gedacht? Unbedingt. Diese Veranstaltungen sind ein Publikumstest für die eigene For- schung, eine Art Nebenbühne, auf der ich überprüfen kann, welche Relevanz meine eigene Wissenschaft hat. Gleichzeitig soll- ten viele literaturinteressierte Menschen etwas davon haben. Treten Sie da nicht in Konkurrenz zur Literaturszene und dem Literaturfes- tival Lit.Ruhr? Wir haben zuerst mit den wichtigen loka- len Größen, mit dem Schriftsteller Nor- bert Wehr und der Buchhandlung Proust, gesprochen. Wir wollen niemandem etwas wegnehmen. Mit der Lit.Ruhr zusammen- zuarbeiten ist allerdings für uns nicht so einfach. Wenn am KWI eine Lesung statt- findet, dann muss man keinen Eintritt zahlen, weil wir ein staatlich gefördertes Institut sind. An diesem Punkt hat die Li- t.Ruhr offenbar andere Vorstellungen. Wir denken aber über Möglichkeiten nach, punktuell zusammenzuarbeiten. Die Projekte des KWI befassen sich mit Migration, Klimawandel, Integra- tion. Zudem sind die meisten Mitar- beiter am KWI Sozialwissenschaftler oder Historiker. Wie können Sie diese in Ihren Forschungsschwerpunkt ein- binden? Der Übergang kann nicht abrupt stattfin- den. Aber ich will und muss das Haus mit neuen Wissenschaftlern bevölkern und neue Projekte anschieben. Das geht aller- dings nicht von heute auf morgen. Man muss die richtigen Leute zusammenbrin- gen, damit gute Projektideen entstehen. Welche schweben Ihnen da vor? Ein Thema wäre die Leseforschung. Wir wissen, dass Bücher gekauft werden. Wir wissen auch, dass Menschen lesen. Aber den Zusammenhang zwischen gekauftem und gelesenem Buch, den kennen wir nicht. Eine Datengrundlage dafür zu schaf- fen, mehr über tatsächliche Lektüren zu erfahren, wäre ein Ansatz, den Literatur- wissenschaftler und Soziologen gemein- sam verfolgen könnten. Auch das Lesever- halten an sich ist ein wichtiges Thema: Warum lesen viele Menschen nicht mehr gerne allein und ganz in sich versunken? Warum sind Lesezirkel und Literaturfesti- vals so beliebt? Solche Phänomene muss ich als Literaturwissenschaftlerin zur Kenntnis nehmen und erforschen. Das können klassische Literaturwissenschaft- ler nur gemeinsam mit Sozialwissen- schaftlern, die wissen, wie man größere Gruppen und gesellschaftliche Zusam- menhänge erforscht. Auch das ist für mich ein politisches Projekt. SILVIA REIMANN „Der deutsche Weltpolizeiblick liegt mir fern“ Julika Griem, neue Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, über Buchkritiken bei Youtube und die Frage, ob Wissenschaft Gesellschaft verändern kann VON CHRISTIANE HOFFMANS UND WILLI KEINHORST Julika Griem studierte Anglistik und Germanistik und war wissenschaftli- che Mitarbeiterin an den Universitäten Freiburg und Stuttgart. Von 2005 bis 2012 war sie Professorin an der TU Darmstadt, danach in Frankfurt. Sie ist seit 2016 Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Julika Griem KWI-Direktorin

l i e g t m i r f e r n Ò W e l t p o l i z e i b l i c k ... · Title: df Author: Suchantke, Rosemarie Created Date: 6/20/2018 9:32:35 AM

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: l i e g t m i r f e r n Ò W e l t p o l i z e i b l i c k ... · Title: df Author: Suchantke, Rosemarie Created Date: 6/20/2018 9:32:35 AM

17. JUNI 2018 WELT AM SONNTAG NR. 24 NRW 5ANZEIGE

ANZEIGE

Eine vergebeneChance

Mit dem Titel „Horizonte und Gren-zen der Kunst“ war die Veranstaltungin der Nordrhein-Westfälischen Aka-demie der Wissenschaften und derKünste angekündigt. Der Abend ver-sprach eine vielseitige Diskussion, dagenügte ein Blick auf die Liste der Po-diumsteilnehmer: Bildhauer TonyCragg, Fotograf und Performance-Künstler Jürgen Klauke und KünstlerGregor Schneider.

Doch die Veranstaltung war falschkonzipiert. Moderator Peter Lynen,Mitglied der Akademie der Künste undder Wissenschaften, gab sich vorwegselbst zu viel Raum, indem er einen zulangen und nicht gerade mit neuen Er-kenntnissen gespickten Vortrag überdie Freiheit der Kunst hielt, währenddas Publikum in dem locker gefülltenSaal erwartungsvoll auf die Diskutan-ten wartete. Im Anschluss an die Redewurde das Publikum erneut in seinerErwartungshaltung enttäuscht, dennnun referierte Gregor Schneider mehrals 30 Minuten lang über das Scheiternvon Projekten aus politischen Grün-den – informativ, aber deplaziert.Nach den beiden Reden (eigentlichwaren es drei, denn der Vizepräsidentder Akademie hatte sich mit einer län-geren Begrüßung eingeführt) war dieanberaumte Veranstaltungszeit be-reits abgelaufen, als die Runde derDiskutanten endlich in den tiefen Ses-seln Platz nahm.

Jürgen Klauke merkte mit Blick aufseine Armbanduhr an: „Jetzt könnenwir eigentlich schon nach Hause ge-hen.“ Was allerdings nach KlaukesEinwurf noch geschah, könnte alsLehrstunde einer missglückten Dis-kussion bewertet werden. Dass aufdem Podium nur vier Männer saßen,war dabei nicht das Allerschlimmste.Das Ärgerlichste war, dass der Mode-rator unvorbereitet schien, die Diskus-sion nicht strukturierte. Was für dasPublikum die Situation ein wenig er-träglich machte, waren allenfallsStatements von Cragg und Klauke.

Das Thema „Grenzen und Horizon-te der Kunst“ ist so brennend aktuell,dass man bei einem gut vorbereitetenGespräch gemeinsam mit so klugenund erfahrenen Künstlern neue Er-kenntnisse hätte gewinnen können.Doch dazu kam es leider nicht. DieseVeranstaltung hätte in einer bedeu-tenden Institution wie der Akademieder Wissenschaften und der Künste,die sich als „interdisziplinäre Gelehr-ten-Gesellschaft“ versteht, so nichtstattfinden dürfen.

KULTURSPITZEN

VON CHRISTIANE HOFFMANS

Ein paar volle Bücherkis-ten stehen noch in Juli-ka Griems Büro. Ausge-packt hat die neue Di-rektorin des Kulturwis-senschaftlichen Insti-uts (KWI) in Essen al-

lerdings schon Niklas Luhmanns Studie„Der neue Chef“. Ganz oben auf einemStapel Bücher liegt der schmale Band, indem der Soziologe die Probleme einerFührungsperson seziert. Auch JulikaGriem muss das Institut neu positionie-ren, schließlich steht sie als Professorinfür Literaturwissenschaft für andere In-halte als ihr Vorgänger, der Politikwis-senschaftler Claus Leggewie.

WELT AM SONNTAG: Frau Griem, washat Sie an der Arbeit am KWI interes-siert?JULIKA GRIEM: Man hat mich aufgefor-dert, mich zu bewerben. Es war nicht so,dass ich zehn Jahre lang darauf hingearbei-tet habe, das KWI zu leiten. Dafür war ichals Vizepräsidentin der Deutschen For-schungsgemeinschaft und Professorin fürAnglistik in Frankfurt viel zu ausgefülltund zufrieden. Ich bin der Aufforderungaus sportlicher Neugierde nachgekommen,weil ich dachte, es muss ein schieres Glücksein, eine solche Bühne zu bespielen.

Glück?Wenn man, so wie ich, gern über den Tel-lerrand der eigenen Disziplin schaut, istdieser Job genau richtig. Ich habe michschon lange von einer klassischen Veror-tung der Literaturwissenschaft entfernt.Das KWI ist ein Institut, das interdiszipli-när arbeitet. Man steht hier auf einer Büh-ne und ist auf der Suche nach kompeten-ten Mitspielern. Auch meine Vorgängerwie Claus Leggewie oder Jörn Rüsen wa-ren ja in ihren Fächern Grenzgänger. Eswaren Personen, die keine Angst hattenanzuecken.

Werden Sie wie Ihre Vorgänger gesell-schaftspolitische Fragen bearbeiten?An den Ideenreichtum und das Kommuni-kationstalent von Claus Leggewie möchteich unbedingt anknüpfen, aber inhaltlichstehe ich für etwas ganz anderes. Die Per-sonen, die mich ausgewählt haben, dürftensich gewünscht haben, dass hier etwas an-deres gemacht wird, als es bisher der Fallwar. Das tue ich jetzt auch.

Sie erfinden das KWI neu?Das würde zu weit gehen, aber ich bin si-cher eine Direktorin, die skeptischer aufden Anspruch blickt, dass Wissenschaftper se Gesellschaftsveränderung bewirkt.Es ist ja oft die Rede davon, dass die großengesellschaftlichen Herausforderungenidentifiziert werden müssen, damit dieWissenschaft Lösungswissen entwickelnkann. Dies mag für Ingenieurwissenschaf-ten zutreffen, aber für Geistes- und Kultur-wissenschaften ist es schwieriger, sich aufdie Lösung von Problemen zu verpflichten.

Der damalige NRW-Ministerpräsi-dent Johannes Rau hat das KWI 1989

gegründet mit der Vorstellung, hiereinen Ort gesellschaftspolitischerDiskussionen zu schaffen. Diesen An-spruch setzen Sie zurück.Durchaus nicht, aber wir konzentrierenuns auf Missstände vor der eigenen Haus-tür, stellen den Lichtkegel enger auf unsselbst und weiten dann den Blick. Derdeutsche Weltpolizeiblick – wir wissen wasfür die ganze Welt gut ist – liegt mir ferner.

Wo setzen Sie Ihren Schwerpunkt?Mich interessiert die Erforschung von

Wissenschaft selbst und der Bedingungen,unter denen wir forschen. Es ist ein Gebotder Stunde zu erklären, warum die The-matisierung der Arbeitsverhältnisse vonKolleginnen und Kollegen an deutschenUniversitäten ein politisches Anliegen ist.Ich möchte in den ersten drei Jahren denAspekt der Wissenschaft im Wort „Kultur-wissenschaft“ ins Zentrum stellen. Dennheute wird mit dem Begriff Kultur vielesumschrieben. Es gibt Bier- und Wellness-kultur, Unternehmens- und Fußballkultur.Was meinen wir eigentlich, wenn wir das

Etikett Kultur aufkleben, und was meinenwir mit Kulturwissenschaft?

Warum sollte ich zu einer Veranstal-tung kommen, wenn ich nicht Teil desWissenschaftsbetriebes bin?Wir möchten uns natürlich nicht nur mituns selbst beschäftigen. Ein Thema wirdauch die Kultur- und Literatursoziologiesein, die lange vernachlässigt wurde. Hierinteressieren mich zum Beispiel Verände-rungen im sozialen Gebrauch von Litera-tur und veränderte Formen der Bewertung

und Geschmacksbildung: Warum ist es sopopulär geworden, sich auf Youtube vorseinem Bücherregal zu filmen und persön-liche Empfehlungen zu geben? Zurzeitentwickeln wir unter anderem ein literari-sches Programm mit Lesungen. Als Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftlerwerden wir uns auch mit Schriftstellernwie Michael Lentz, Joshua Cohen, Felici-tas Hoppe oder A.L. Kennedy austau-schen.

Ist dieses Programm für ein breiteresPublikum gedacht?Unbedingt. Diese Veranstaltungen sindein Publikumstest für die eigene For-schung, eine Art Nebenbühne, auf der ichüberprüfen kann, welche Relevanz meineeigene Wissenschaft hat. Gleichzeitig soll-ten viele literaturinteressierte Menschenetwas davon haben.

Treten Sie da nicht in Konkurrenz zurLiteraturszene und dem Literaturfes-tival Lit.Ruhr?Wir haben zuerst mit den wichtigen loka-len Größen, mit dem Schriftsteller Nor-bert Wehr und der Buchhandlung Proust,gesprochen. Wir wollen niemandem etwaswegnehmen. Mit der Lit.Ruhr zusammen-zuarbeiten ist allerdings für uns nicht soeinfach. Wenn am KWI eine Lesung statt-findet, dann muss man keinen Eintrittzahlen, weil wir ein staatlich gefördertesInstitut sind. An diesem Punkt hat die Li-t.Ruhr offenbar andere Vorstellungen. Wirdenken aber über Möglichkeiten nach,punktuell zusammenzuarbeiten.

Die Projekte des KWI befassen sichmit Migration, Klimawandel, Integra-tion. Zudem sind die meisten Mitar-beiter am KWI Sozialwissenschaftleroder Historiker. Wie können Sie diesein Ihren Forschungsschwerpunkt ein-binden?Der Übergang kann nicht abrupt stattfin-den. Aber ich will und muss das Haus mitneuen Wissenschaftlern bevölkern undneue Projekte anschieben. Das geht aller-dings nicht von heute auf morgen. Manmuss die richtigen Leute zusammenbrin-gen, damit gute Projektideen entstehen.

Welche schweben Ihnen da vor?Ein Thema wäre die Leseforschung. Wirwissen, dass Bücher gekauft werden. Wirwissen auch, dass Menschen lesen. Aberden Zusammenhang zwischen gekauftemund gelesenem Buch, den kennen wirnicht. Eine Datengrundlage dafür zu schaf-fen, mehr über tatsächliche Lektüren zuerfahren, wäre ein Ansatz, den Literatur-wissenschaftler und Soziologen gemein-sam verfolgen könnten. Auch das Lesever-halten an sich ist ein wichtiges Thema:Warum lesen viele Menschen nicht mehrgerne allein und ganz in sich versunken?Warum sind Lesezirkel und Literaturfesti-vals so beliebt? Solche Phänomene mussich als Literaturwissenschaftlerin zurKenntnis nehmen und erforschen. Daskönnen klassische Literaturwissenschaft-ler nur gemeinsam mit Sozialwissen-schaftlern, die wissen, wie man größereGruppen und gesellschaftliche Zusam-menhänge erforscht. Auch das ist für michein politisches Projekt.

SIL

VIA

RE

IMA

NN

„Der deutscheWeltpolizeiblick

liegt mir fern“Julika Griem, neue Direktorin des Kulturwissenschaftlichen

Instituts in Essen, über Buchkritiken bei Youtube und die Frage,ob Wissenschaft Gesellschaft verändern kann

VON CHRISTIANE HOFFMANS UND WILLI KEINHORST

Julika Griem studierte Anglistik und Germanistik und war wissenschaftli-che Mitarbeiterin an den Universitäten Freiburg und Stuttgart. Von 2005bis 2012 war sie Professorin an der TU Darmstadt, danach in Frankfurt.Sie ist seit 2016 Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Julika GriemKWI-Direktorin