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Nervenarzt 2010 · 81:986–991 DOI 10.1007/s00115-010-3014-8 Online publiziert: 9. Juni 2010 © Springer-Verlag 2010 P.P. Urban · I. Wellach · C. Pohlmann Abteilung für Neurologie, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg Langsam progressive Dysarthrophonie bei primärer Lateralsklerose Originalien Eine langsam progressive Dysarthro- phonie lässt sich bereits klinisch auf- grund der auditiven Präsentation der Dysarthrophonie, der Zungentrophik, Intensität des Masseterreflexes und weiterer Symptome bzw. Befunde (pathologisches Weinen, positiver Schnauzreflex) in eine bulbäre und pseudobulbäre Form aufteilen. Der bulbären Form liegt eine Degenerati- on des 2. Motoneurons u. a. im Hypo- glossuskern zugrunde, was zu Atro- phie, Faszikulationen und Fibrillati- onen führt. Bei der rein pseudobul- bären Form besteht eine Degenera- tion der kortikobulbären Anteile der Pyramidenbahn, sodass hier die zen- trale Ansteuerung u. a. des Hypoglos- suskerns beeinträchtigt ist. Gemein- sam ist beiden Formen eine Dysarth- rophonie, wobei die pseudobulbäre Sprechweise gepresster („spastisch“) klingt. Beide Formen weisen als ge- meinsames Merkmal eine deutlich verlangsamte Zungenmotilität und in späteren Erkrankungsphasen auch ei- ne Dysphagie auf. Diese nicht seltene bulbäre und/oder pseudobulbäre, falls in Kombination auf- tretende, Symptomatik lässt sich ursäch- lich am häufigsten auf eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zurückführen [13]. Wir haben in den letzten 2 Jahren drei Patienten zugewiesen bekommen, bei denen eine langjährige pseudobulbäre Symptomatik vorlag und die Diagnose- kriterien [9, 10] einer primären Lateral- sklerose (PLS) erfüllten. Kasuistik 1 Anamnese Bei der 87-jährigen Patientin besteht seit 1990 (17 Jahre) eine langsam chronisch-pro- grediente Sprechstörung, die in letzten Jah- ren zu einer nahezu völligen Unverständ- lichkeit des Gesprochenen führte. 1990 sei bei ihr daraufhin die Diagnose einer ALS gestellt worden. Gelegentlich tritt patholo- gisches Weinen auf. Seit etwa 8 Jahren be- stehen zunehmende Schluckstörungen mit häufigerem Verschlucken beim Trinken, während das Schlucken fester Speisen noch recht gut möglich sei. Das Gewicht sei bis heute unverändert. Seitdem habe sich auch das Gehen verschlechtert mit zunächst ra- scher Ermüdbarkeit der Beine und zuneh- mender Schwäche, weshalb sie seit 5 Jahren nicht mehr selbständig gehen könne. Stuhl- gang und Miktion seien normal. Klinischer Befund Bei der klinisch neurologischen Untersu- chung zeigte sich eine Anarthrie mit un- verständlichen Lautäußerungen bei nor- malem Sprachverständnis. Die Muskelei- genreflexe einschließlich des Masseterre- flexes waren allseits gesteigert. Die Reflexe der Babinski-Gruppe waren negativ. Die Zungenmotilität war stark verlangsamt, der Würgreflex sehr lebhaft. Es bestand eine normale Trophik der Zunge und der Extremitäten, insbesondere ohne Nach- weis von Faszikulationen. Der Befund der oberen Extremitäten war unauffällig. Auf- grund einer hochgradigen Paraparese der Beine, konnten die Beine nur leicht und sehr kurz aktiv im Liegen angehoben wer- den. Es bestand eine deutliche spastische Tonuserhöhung beider Beine, eine unge- störte Oberflächensensibilität, normales Vibrationsempfinden der oberen Extre- mitäten und bimalleoläre Pallhypästhesie von 2/8. Stehen war nicht möglich. Elektrophysiologische Befunde Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Zunge: Bilateraler Ausfall der magnetisch evozierten Potenziale (MEP) bei kortika- ler Stimulation. Regelrechte Antwortpo- tenziale bei subokzipitaler Magnetstimu- lation und elektrischer Stimulation des N. hypoglossus am Kieferwinkel. M. abductor minimi: Beidseits normale Befunde bei kortikaler und zervikaler Sti- mulation. Unauffälliger Amplitudenquo- tient aus kortikalem und peripher elektri- schem Muskelsummenaktionspotenzial (MSAP) (Cx/M-Ratio). M. tibialis anterior: Bei Ableitung rechts zeigt sich bei kortikaler Stimula- tion ein niedrigamplitudiges (150 µV) MSAP bei normaler Latenz und patholo- gisch reduziertem Amplitudenquotienten (Cx/M-Ratio) von 3%. Bei Ableitung links lässt sich bei kortikaler Stimulation kein MSAP evozieren. Beidseits regelrechte MSAPs bei lumbaler Stimulation. Elektroneurographie N. medianus motorisch und sensibel, N. peroneus, N. tibialis mit F-Welle, N. suralis: Normalbefund. Elektromyographie M. tibialis anterior beidseits, M. gas- trocnemius beidseits, M. vastus medialis 986 |  Der Nervenarzt 8 · 2010

Langsam progressive Dysarthrophonie bei primärer Lateralsklerose

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Page 1: Langsam progressive Dysarthrophonie bei primärer Lateralsklerose

Nervenarzt 2010 · 81:986–991DOI 10.1007/s00115-010-3014-8Online publiziert: 9. Juni 2010© Springer-Verlag 2010

P.P. Urban · I. Wellach · C. PohlmannAbteilung für Neurologie, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg

Langsam progressive Dysarthrophonie bei primärer Lateralsklerose

Originalien

Eine langsam progressive Dysarthro-phonie lässt sich bereits klinisch auf-grund der auditiven Präsentation der Dysarthrophonie, der Zungentrophik, Intensität des Masseterreflexes und weiterer Symptome bzw. Befunde (pathologisches Weinen, positiver Schnauzreflex) in eine bulbäre und pseudobulbäre Form aufteilen. Der bulbären Form liegt eine Degenerati-on des 2. Motoneurons u. a. im Hypo-glossuskern zugrunde, was zu Atro-phie, Faszikulationen und Fibrillati-onen führt. Bei der rein pseudobul-bären Form besteht eine Degenera-tion der kortikobulbären Anteile der Pyramidenbahn, sodass hier die zen-trale Ansteuerung u. a. des Hypoglos-suskerns beeinträchtigt ist. Gemein-sam ist beiden Formen eine Dysarth-rophonie, wobei die pseudobulbäre Sprechweise gepresster („spastisch“) klingt. Beide Formen weisen als ge-meinsames Merkmal eine deutlich verlangsamte Zungenmotilität und in späteren Erkrankungsphasen auch ei-ne Dysphagie auf.

Diese nicht seltene bulbäre und/oder pseudobulbäre, falls in Kombination auf-tretende, Symptomatik lässt sich ursäch-lich am häufigsten auf eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zurückführen [13].

Wir haben in den letzten 2 Jahren drei Patienten zugewiesen bekommen, bei denen eine langjährige pseudobulbäre Symptomatik vorlag und die Diagnose-kriterien [9, 10] einer primären Lateral-sklerose (PLS) erfüllten.

Kasuistik 1

Anamnese

Bei der 87-jährigen Patientin besteht seit 1990 (17 Jahre) eine langsam chronisch-pro-grediente Sprechstörung, die in letzten Jah-ren zu einer nahezu völligen Unverständ-lichkeit des Gesprochenen führte. 1990 sei bei ihr daraufhin die Diagnose einer ALS gestellt worden. Gelegentlich tritt patholo-gisches Weinen auf. Seit etwa 8 Jahren be-stehen zunehmende Schluckstörungen mit häufigerem Verschlucken beim Trinken, während das Schlucken fester Speisen noch recht gut möglich sei. Das Gewicht sei bis heute unverändert. Seitdem habe sich auch das Gehen verschlechtert mit zunächst ra-scher Ermüdbarkeit der Beine und zuneh-mender Schwäche, weshalb sie seit 5 Jahren nicht mehr selbständig gehen könne. Stuhl-gang und Miktion seien normal.

Klinischer Befund

Bei der klinisch neurologischen Untersu-chung zeigte sich eine Anarthrie mit un-verständlichen Lautäußerungen bei nor-malem Sprachverständnis. Die Muskelei-genreflexe einschließlich des Masseterre-flexes waren allseits gesteigert. Die Reflexe der Babinski-Gruppe waren negativ. Die Zungenmotilität war stark verlangsamt, der Würgreflex sehr lebhaft. Es bestand eine normale Trophik der Zunge und der Extremitäten, insbesondere ohne Nach-weis von Faszikulationen. Der Befund der oberen Extremitäten war unauffällig. Auf-grund einer hochgradigen Paraparese der Beine, konnten die Beine nur leicht und sehr kurz aktiv im Liegen angehoben wer-den. Es bestand eine deutliche spastische

Tonuserhöhung beider Beine, eine unge-störte Oberflächensensibilität, normales Vibrationsempfinden der oberen Extre-mitäten und bimalleoläre Pallhypästhesie von 2/8. Stehen war nicht möglich.

Elektrophysiologische Befunde

Transkranielle Magnetstimulation (TMS)Zunge: Bilateraler Ausfall der magnetisch evozierten Potenziale (MEP) bei kortika-ler Stimulation. Regelrechte Antwortpo-tenziale bei subokzipitaler Magnetstimu-lation und elektrischer Stimulation des N. hypoglossus am Kieferwinkel.

M. abductor minimi: Beidseits normale Befunde bei kortikaler und zervikaler Sti-mulation. Unauffälliger Amplitudenquo-tient aus kortikalem und peripher elektri-schem Muskelsummenaktionspotenzial (MSAP) (Cx/M-Ratio).

M. tibialis  anterior: Bei Ableitung rechts zeigt sich bei kortikaler Stimula-tion ein niedrigamplitudiges (150 µV) MSAP bei normaler Latenz und patholo-gisch reduziertem Amplitudenquotienten (Cx/M-Ratio) von 3%. Bei Ableitung links lässt sich bei kortikaler Stimulation kein MSAP evozieren. Beidseits regelrechte MSAPs bei lumbaler Stimulation.

Elektroneurographie

N. medianus motorisch und sensibel, N. peroneus, N. tibialis mit F-Welle, N. suralis: Normalbefund.

Elektromyographie

M. tibialis anterior beidseits, M. gas-trocnemius beidseits, M. vastus medialis

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beidseits, M. interosseus dorsalis I beid-seits, M. biceps brachii rechts: In allen Muskeln Zeichen des fortgeschrittenen chronisch-neurogenen Umbaus ohne Jit-ter oder Blockierungen im Unblanketing-Verfahren, keine Denervationszeichen, keine Faszikulationspotenziale.

Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP)

Medianus-SEP und Tibialis-SEP: beidseits Normalbefund.

Schädel-MRT

Diskrete mikroangiopathische Verände-rungen des Marklagers bei ansonsten un-auffälligem Befund.

Kasuistik 2

Anamnese

Bei der 76-jährigen Patientin besteht seit 2001 (8 Jahre) eine langsam chronisch-pro-grediente Sprechstörung. Dies sei auf ein kleines Meningeom im Bereich der linken Zentralwindung zurückgeführt worden, weshalb eine operative Entfernung 2006 vor-genommen wurde. Dies habe allerdings zu keiner Beeinflussung der Sprechstörung ge-führt, die sich weiter progredient verstärkt habe. Kein pathologisches Weinen oder La-chen. Keine subjektiven Schluckstörungen. Seit 2008 habe sich das Gehen mit zuneh-mender Ermüdbarkeit der Beine nach län-geren Gehstrecken (>1 km) verschlechtert. Stuhlgang und Miktion seien normal.

Klinischer Befund

Bei der klinisch neurologischen Untersu-chung zeigte sich eine spastische Dysarth-rophonie bei noch guter, aber leicht beein-trächtigter Verständlichkeit. Der Masse-terreflex war sehr lebhaft auslösbar. Nor-males Reflexniveau der oberen Extremi-täten. Gesteigerte Muskeleigenreflexe der Beine. Die Reflexe der Babinski-Grup-pe waren negativ. Die Zungenmotilität war verlangsamt, der Würgreflex lebhaft. Normale Trophik der Zunge und der Ex-tremitäten, insbesondere ohne Nachweis von Faszikulationen. Regelrechte Halte-versuche und Koordinationsprüfungen

der Extremitäten. Ungestörte Oberflä-chen- und Tiefensensibilität. Stand unauf-fällig. Leichte spastische Tonuserhöhung der Beine nach längerem Gehen.

Elektrophysiologische Befunde

Transkranielle MagnetstimulationZunge: Bilateraler Ausfall der magnetisch evozierten Potenziale (MEP) bei kortikaler Stimulation. Regelrechte Antwortpotenzi-ale bei subokzipitaler Magnetstimulation und elektrischer Stimulation des N. hypo-glossus am Kieferwinkel.

M. abductor minimi: Beidseits normale Befunde bei kortikaler und zervikaler Sti-mulation. Unauffälliger Amplitudenquo-tient aus kortikalem und peripher elek-trischem Muskelsummenaktionspotenzi-al (MSAP) (Cx/M-Ratio).

M. tibialis  anterior: Die zentralmo-torische Leitzeit ist beidseits zu den un-teren Extremitäten in Bezug auf die Kör-pergröße pathologisch verlängert (rechts: 20,6 ms, links: 21,3 ms).

Elektroneurographie

N. medianus motorisch und sensibel, N. peroneus, N. tibialis mit F-Welle, N. suralis: Normalbefund.

Elektromyographie

M. tibialis anterior beidseits, M. gas-trocnemius rechts, M. vastus medialis beidseits, M. interosseus dorsalis I beid-seits, M. extensor digitorum communis rechts, M. biceps brachii rechts: In allen Muskeln Zeichen des fortgeschrittenen chronisch-neurogenen Umbaus ohne Jit-ter oder Blockierungen im Unblanketing-Verfahren, keine Denervationszeichen, keine Faszikulationspotenziale.

Somatosensorisch evozierte Potenziale

Medianus-SEP: beidseits Normalbefund. Tibialis-SEP: links keine P40 evozierbar, rechts verzögerte P40 (45 ms).

Schädel-MRT

Zustand nach Trepanation links tem-poral. Kleine Defektzone mit angren-

Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2010 · 81:986–991DOI 10.1007/s00115-010-3014-8© Springer-Verlag 2010

P.P. Urban · I. Wellach · C. Pohlmann

Langsam progressive Dysarthrophonie bei primärer Lateralsklerose

ZusammenfassungEine langsam progressive Dysarthrophonie kann über Jahre erstes Symptom einer pri-mären Lateralsklerose (PLS) sein. Klinisch handelt es sich um eine Pseudobulbärparaly-se die erst im Verlauf klinisch (Dauer ≥4 Jah-re) und elektrophysiologisch (zentral patho-logische magnetisch evozierte Potenziale zur Zunge und fehlende Zeichen der Denervati-on im EMG) von einer amyotrophen Lateral-sklerose (ALS) differenziert werden kann. Ge-genüber der PLS unterscheidet sich die here-ditäre spastische Spinalparalyse (HSP) durch eine primäre Paraspastik der Beine, das meist spätere Manifestationsalter, positive Familien-anamnese und im Einzelfall durch den direk-ten Mutationsnachweis.

SchlüsselwörterPrimäre Lateralsklerose · Motoneuronerkran-kung · Dysarthrophonie · Pseudobulbärpara-lyse · Transkranielle Magnetstimulation

Slowly progressive dysarthria in primary lateral sclerosis

SummarySlowly progressive dysarthria over many years may be the only sign of primary lateral sclerosis (PLS). Clinically it presents as pseu-dobulbar palsy which can be differentiated from amyotrophic lateral sclerosis (ALS) by the longer disease duration (≥4 years), cen-tral pathological magnetic-evoked poten-tials to the tongue and lack of denervation in EMG. In contrast, hereditary spastic paraple-gia (HSP) is characterized by a primary spas-ticity of the lower limbs, mostly later onset, the fact that other family members are affect-ed and in isolated cases by positive genetic testing for mutations.

KeywordsPrimary lateral sclerosis · Motoneuron  disease · Spastic dysarthria · Pseudobulbar palsy · Transcranial magnetic stimulation

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zender Gliose links temporal bis präzen-tral reichend ohne Kontrastmittelaufnah-me. Diskrete periventrikuläre fleckige Si-gnalanhebungen.

Kasuistik 3

Anamnese

Die 71-jährige Patientin habe 1998 (vor 11 Jah-ren) zunächst eine leichte Schwäche beider Beine beim Gehen bemerkt. Unter der Dia-gnose einer zervikalen Myelopathie erfolgte 2000 eine Operation des zervikalen Spinal-kanals in Höhe von HWK 4/5. Anschließend habe sich die Gangstörung weiterhin lang-sam verstärkt und 2002 sei ein zunehmend undeutlicher werdendes Sprechen aufgefal-len. Kein pathologisches Weinen oder La-chen. Seit 2006 bestehen zunehmende Schluckstörungen mit häufigerem Verschlu-cken beim Trinken, während das Schlucken fester Speisen noch recht gut möglich sei. Stuhlgang und Miktion seien normal.

Klinischer Befund

Bei der klinisch neurologischen Untersu-chung zeigte sich eine spastische Dysarth-rophonie bei noch guter, aber beeinträchtig-ter Verständlichkeit. Der Masseterreflex und die Muskeleigenreflexe aller Extremi-täten waren gesteigert. Beidseits positives Babinski-Phänomen. Die Zungenmotilität war verlangsamt, der Würgreflex lebhaft. Normale Trophik der Zunge und der Ex-tremitäten, insbesondere ohne Nachweis von Faszikulationen. Regelrechte Haltever-suche und Koordinationsprüfungen der Ex-tremitäten bei spastisch erhöhtem Muskel-tonus aller Extremitäten. Ungestörte Ober-flächen- und Tiefensensibilität. Stand unauf-fällig. Spastisches Gangbild am Rollator.

Elektrophysiologische Befunde

Transkranielle MagnetstimulationZunge: Bilateraler Ausfall der magnetisch evozierten Potentiale (MEP) bei kortikaler Stimulation. Regelrechte Antwortpotentiale bei peripherer Stimulation (. Abb. 1).

M. abductor minimi und M. tibialis an-terior: Beidseits normale Befunde bei kor-tikaler und zervikaler Stimulation. Un-auffälliger Amplitudenquotient aus kor-tikalem und peripher elektrischem Mus-

Abb. 1 8 Magnetisch evozierte Potenziale zur Zunge. Bei kortikaler transkranieller Magnetstimulation (TMS) Ausfall eines Muskelantwortpotenzials an beiden Zungenhälften (Spuren 1–4). Bei okzipitaler Magnetstimulation des proximalen N. hypglossus (Spur 5) ist beidseits ein normales Muskelantwort-potenzial registrierbar. a TMS Kortex rechts, Zunge rechts. b TMS Kortex links, Zunge links. c TMS Kor-tex rechts, Zunge links. d TMS Kortex links, Zunge rechts

Abb. 2 8 Magnetisch evozierte Potenziale zum M. abductor digiti minimi (ADM) beidseits: Bei kortika-ler und zervikaler transkranieller Magnetstimulation (TMS) sind beidseits normwertige Antwortpoten-ziale erhältlich. a TMS Kortex rechts, ADM links, b TMS Kortex links, ADM rechts

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Originalien

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kelsummenaktionspotential (MSAP; Cx/M-Ratio; . Abb. 2, 3).

Elektroneurographie

N. medianus motorisch und sensibel, N. peroneus, N. tibialis mit F-Welle, N. suralis: Normalbefund.

Elektromyographie

M. tibialis anterior beidseits, M. gastrocne-mius links, M. vastus medialis rechts, M. in-terosseus dorsalis I beidseits, M. extensor digitorum communis rechts, M. biceps bra-chii rechts: In allen Muskeln Zeichen des fort-geschrittenen chronisch-neurogenen Um-baus ohne Jitter oder Blockierungen im Un-blanketing-Verfahren, keine Denervations-zeichen, keine Faszikulationspotenziale.

Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP)

Medianus-SEP: beidseits Normalbefund. Tibialis-SEP: beidseits keine P40evo-zierbar.

MRT des Schädels und der HWS

Altersentsprechender Normalbefund des Gehirns. An der Halswirbelsäule Zustand nach Cage-Implantation HWK 4/5 ohne eindeutige Zeichen einer Myelopathie.

Diskussion

Das klinische Bild der vorgestellten Patien-ten ist durch eine langsam progrediente

spastische Dysarthrophonie im Sinne einer Pseudobulbärsymptomatik gekennzeichnet. Der klinische Verlauf, der zwischen 8 und 17 Jahren lag, war bei zwei Patienten durch initiale Sprechstörungen gekennzeichnet, bei denen erst 8 bzw. 7 Jahre später eine pro-grediente Paraspastik der Beine hinzukam. Bei diesen Patienten wurde fälschlicherwei-se initial die Diagnose einer amyotrophen Lateralsklerose gestellt bzw. ein Meningeom der Zentralregion operativ entfernt. Bei der dritten Patientin lag initial eine Paraspastik der Beine vor mit Zustand nach Operation der HWS unter der Annahme einer zervi-kalen Myelopathie, bei der 4 Jahre später ei-ne spastische Dysarthrophonie auftrat.

Alle drei Patienten erfüllen die dia-gnostischen Kriterien einer primären La-teralsklerose (PLS) nach [9, 10] (. Tab. 1, . Abb. 4). Obwohl bei der großen Mehr-zahl der Patienten mit einer PLS eine ini-tiale Paraspastik der Beine vorliegt [6, 7, 9], wurde bereits über eine chronisch-pro-gressive Pseudobulbärsymptomatik mit ei-ner spastischen Dysarthrophonie als Erst-symptom einer wahrscheinlichen PLS be-richtet [7]. Diese kann mit einem patho-logischen Weinen oder Lachen assoziiert sein. Funktionelles Korrelat der spasti-schen Dysarthrophonie ist eine Läsion der kortikobulbären Projektionen, die mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS) belegt werden kann. Wir berichten erst-mals über die Befunde der TMS zur Zun-genmuskulatur bei pseudobulbär verlau-fender PLS mit bilateralem Ausfall der Ant-wortpotenziale bei kortikaler Stimulation. Die magnetische und elektrische Erregbar-keit des N. hypoglossus war hingegen beid-

seits erhalten. Diese Konstellation, ausge-fallene Reizantworten bei kortikaler Stimu-lation und normale periphere Erregbarkeit, ist typisch für eine PLS [2, 7, 14], aber nicht spezifisch, da diese auch bei anderen Ur-sachen einer Läsion der kortikobulbären oder kortikospinalen Projektionen vorlie-gen kann [12, 13]. In den Fällen, bei denen sich noch ein Antwortpotenzial bei korti-kaler Stimulation evozieren lässt, ist bei der PLS die zentralmotorische Leitungszeit pa-thologisch verlängert [2, 7, 14].

Nachdem andere Möglichkeiten wie ei-ne primär chronisch-progrediente Multi-ple Sklerose, eine ausgeprägte subkortika-le Enzephalopathie und andere in den di-agnostischen Kriterien der PLS genann-te Erkrankungen ausgeschlossen wurden, bleibt als wichtigste Differenzialdiagno-se einer Pseudobulbärparalyse im Rah-men einer PLS die ALS. Diese Differen-zierung kann zu Erkrankungsbeginn prak-tisch nicht vorgenommen werden, solange nicht bekannt ist, ob sich im weiteren Ver-lauf klinische oder elektromyographische Hinweise auf eine Beteiligung des 2. Mo-toneurons ergeben. Die in den PLS-Krite-rien geforderte Verlaufsbeobachtung von ≥3 [9] bzw. >4 Jahren [10] versucht, diesem Aspekt Rechnung zu tragen. Allerdings schließt das alleinige zeitliche Kriterium eine sich doch noch entwickelnde ALS nicht mit letzter Sicherheit aus, wie dies bei 3 von 20 Patienten mit initialer Verdachts-diagnose im Mittel nach 11,6 Jahren mögli-cherweise der Fall war [7]. Bei diesen 3 Pa-tienten begann die Symptomatik mit einer Paraspastik der Beine.

Abb. 3 8 Magnetisch evozierte Potenziale zum M. tibialis anterior (TA) beidseits: bei kortikaler und lumbaler transkranieller Magnetstimulation (TMS) sind beidseits normwertige Antwortpotenziale er-hältlich. a TMS Kortex rechts, TA links. b TMS Kortex links, TA rechts

Abb. 4 8 MRT-Gehirn (T1w-axial): beidseitige Atrophie des Gyrus präcentralis (Pfeil)

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Originalien

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Eine weitere Differenzialdiagnose stellt die hereditäre spastische Spinalparalyse (HSP) dar. Diese beginnt allerdings im-mer mit einer Paraspastik der Beine, wie dies bei jeweils 7 Patienten mit einer SPG4 (Spastin)- und SPG7 (Paraspastin)-Muta-tion der Fall war [3]. Eine negative Fami-lienanamnese schließt eine HSP jedoch nicht aus, da bei bislang 15 bekannten Gendefekten autosomal-dominante, au-tosomal-rezessive und X-chromosomale Erbgänge identifiziert wurden. Auch das Manifestationsalter ist kein zuverlässiges Trennkriterium da in der Untersuchung von Brugman et al. [3] das Manifestations-alter zwischen 29 und 69 Jahren lag.

Aufgrund dieser differenzialdiagnosti-schen Erwägungen ist es notwendig, Pati-enten mit einer chronisch-progredienten pseudobulbären Symptomatik im Krank-heitsverlauf regelmäßig klinisch und elek-trophysiologisch zu untersuchen. Auch therapeutisch hat dies Konsequenzen. Wenngleich der Nutzen von Riluzole bei der PLS nicht untersucht wurde, kann es, solange eine ALS differenzialdiagnostisch möglich ist, eingesetzt werden, zumal es auch für die Verdachtsdiagnose einer ALS zugelassen ist. Da die PLS quoad vitam mit einer günstigeren Prognose als eine ALS einhergeht, ist eine entsprechende Zurück-haltung gegenüber dem Patienten mit der Formulierung einer ALS-Diagnose ratsam und der Patient sollte auch über die Mög-lichkeit einer PLS als günstigere Variante informiert werden. Bei Auftreten eines pa-thologischen Weinens oder Lachens kann bei entsprechendem Leidensdruck analog zur ALS ein medikamentöser Behandlungs-versuch mit Amitriptylin oder einem Sero-toninwiederaufnahmehemmer erfolgen.

Fazit für die Praxis

Einer langsam chronisch-progredienten Pseudobulbärsymptomatik kann in sel-tenen Fällen eine primäre Lateralsklero-se zugrunde liegen. Der elektrophysiolo-gische Nachweis der kortikobulbären Lä-sion ist durch Untersuchung der magne-tisch evozierten Potenziale zur Zungen-muskulatur möglich. Die Abgrenzung zu einer primär pseudobulbär beginnenden amyotrophen Lateralsklerose erfordert klinische und elektrophysiologische Ver-laufsuntersuchungen.

KorrespondenzadresseProf. Dr. P.P. UrbanAbteilung für Neurologie,  Asklepios Klinik BarmbekRübenkamp 220, 22291 [email protected]

Interessenkonflikt.  Keine Angaben.

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Tab. 1  Diagnostische Kriterien der primären Lateralsklerose

Pringle et al. [9]  Singer et al. [10]

Klinische Kriterien

Schleichender Beginn mit spastischer Paraparese der Beine, gelegentlich auch bulbär oder an den Armen

 

Beginn im Erwachsenenalter, meist >50 Jahre Beginn >20 Jahre

Negative Familienanamnese  

Progressiver Verlauf  

Krankheitsdauer ≥3 Jahre ≥4 Jahre

Klinische pathologische Befunde beschränken sich auf eine kortikospinale Dysfunktion

 

Symmetrische Verteilung, im Verlauf schwere Pseudo-bulbärparalyse

 

Labor

Normales Routinelabor, normales Vitamin B12  

Negative Tests auf Syphilis, Borreliose, HTLV-1  

Normaler Liquor  

EMG: keine Denervation (einzelne Fibrillationen erlaubt) EMG darf nicht ALS-Kriterien erfüllen

Ausschluss zervikale Spinalkanalstenose  

Schädel-MRT: Normalbefund  

Unterstützende Kriterien

Normale Blasenfunktion Blasenfunktion kann beeinträchtigt sein

Ausfall der MEPs oder verlängerte ZLZ bei normalen peripheren Antworten

 

Fokale Atrophie des Gyrus präcentralis im MRT ( vergl. 

Abb. 4)

 

Verminderte Anreicherung präzentral im FDG-PET  

  Verminderte NAA/Cr-Ratio des Motor-kortex in der MR-Spektroskopie

  MRT mit Diffusion Tensor ImagingALS amyothrophe Lateralsklerose, MEP motorisch evoziertes Potenzial, ZLZ zentralmotorische Leitungszeit, NAA/Cr N-Acetyl-Aspartat/Kreatin.

991Der Nervenarzt 8 · 2010  |