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Unverkäufliche Leseprobe aus: Lassiter, Rhiannon Der 13. Gast Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustim- mung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Lassiter, RhiannonDer 13. Gast

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text undBildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustim-mung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Diesgilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzungoder die Verwendung in elektronischen Systemen.© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Der dreizehnte Gast

Eva hatte die Ankunft eines letzten Gastes verpasst, aberaus dem Chinesischen Salon drangen Stimmengeplapperund Gläserklirren. Dort hatten sich die Erwachsenen zumAperitif versammelt, und als sie hineinschlüpfte, schienniemand sie zu bemerken. Uniformierte Kellner wandertenmit Tabletts herum, und die Tanten und ihre Gäste schlürf-ten ihre Drinks und knabberten Snacks.

Felix trank Champagner und sah fast feierlich aus, wieer mit einer Hand auf der Sessellehne des Großvaters da-stand, als könnte er es kaum erwarten, dass der alte Mannseinen Sessel endlich freimachte. Sein arroganter und selbst-zufriedener Blick schweifte durch den Raum wie der Strahleines Leuchtturms und streifte Eva, ohne sie zur Kenntniszu nehmen.

Eva blieb in einer dunklen Ecke und hielt Abstand zuden anderen. Normalerweise hätte sie neben dem Sessel ih-res Großvaters gestanden, aber nun hatte Felix diesen Platzfür sich reklamiert.

Tante Cora hatte den Pastor in ein Gespräch verwickeltund betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch, währendsie dem Großvater zwischen den Tupfern verzweifelteBlicke zuwarf. Tante Joyce führte dem Doktor und seinerFrau ihr neuestes Schmuckstück vor: eine große braun-

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gelbe Hornisse aus Golddraht und Messing mit Augenaus Zitrin. Tante Helen löcherte die Verwalterin mit Fra-gen.

»Die Instandhaltung scheint sehr nachlässig zu sein,mein Mann und ich haben überall bröckelnden Putz undwurmstichige Balken gesehen. Das Dach zeigt ernste Schä-den, und der Zustand des Parks ist unglaublich. So kann erden Besuchern keinesfalls gezeigt werden. Hat das Haus imletzten Jahr überhaupt etwas eingebracht?«

»Unglücklicherweise verschlingen die laufenden Kostenalle Eintrittsgelder und das meiste der Subventionen.« LisleLangley hielt inne, um elegant an ihrem Sherry zu nippen.»Die restlichen Subventionsgelder gehen für die Gehälterder Angestellten während der Saison drauf, und danach istfür Renovierungen nichts mehr übrig. Die meisten Her-rensitze in England kämpfen mit den gleichen Problemen.Einige wenige wie Chessington und Longleat haben Ne-beneinkünfte durch Freizeitparks oder Safariparks. Dochdie meisten leiden unter der Langzeitwirkung von Grund-steuern und Versicherungskosten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Landsitze zum Unter-gang verurteilt sind?«, fragte Felix mit hochgezogenenBrauen.

»Ganz und gar nicht«, sagte sie und lächelte völlig unge-rührt zurück. »Nur, dass es ungewöhnlich ist, dass solchein Haus sich selbst tragen kann.«

Die Gespräche wurden lauter, während alle sich an derDiskussion über Geld beteiligten. Jeder schien aufgrundseiner Erfahrungen und seines Berufs mitreden zu wollen:wie man Geld verdiente, Geld sparte oder Geld verlor.

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Eva hätte bezüglich des Letzteren keinen Rat gebraucht.Bisher hatten die Tanten jedes Jahr mit einem neuen Trickversucht, die Touristen zu beeindrucken, und jeder Versuchwar ein Desaster gewesen: Die Bewirtung von Geschäfts-konferenzen hatte ihnen fast eine Klage vom Gesundheits-amt eingebracht, die Vermietung des Hauses als Veranstal-tungsort für Hochzeiten hatte zu drei nichteingehaltenenVerträgen geführt, das Bootfahren auf dem See hatte umein Haar zur Erschaffung von funkelnagelneuen Geisterngeführt. Jede neue Unternehmung war schon von Anfangan mit einer Kette von Problemen behaftet.

Keiner der Kellner schien Eva zu bemerken. Einige derJungen wären dem Alter nach etwa in ihrem Schuljahrganggewesen, und ihr war es nur recht, wenn sie sie nicht wahr-nahmen. Ein großer blonder Typ kam ihr bekannt vor –aber Eva hatte sich in der Schule immer von den Jungenferngehalten, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie sich inihrer Nähe verhalten sollte.

Die anderen Gäste unterhielten sich bestens, und TanteJoyce war bei ihrem dritten Cocktail angelangt, als derGong wieder ertönte und die Gäste sich in einer ungeord-neten Schlange zum Speisesaal aufmachten. Felix rührtesich als Letzter, er half Großvater mit einer überaus fürsorg-lichen Miene hoch, der Eva keine Sekunde lang traute.

Sie huschte durch die Fenstertüren über die Terrasse inden kleinen Salon und betrat den Speisesaal durch eine ver-borgene Tapetentür. Der lange Mahagonitisch war blank-poliert, auf beiden Seiten war gedeckt, vor jedem Platz standeine perfekt gestaltete Insel aus edelstem Porzellan, ge-schliffenem Kristall, umrahmt von glänzendem Tafelsilber

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und dem perfekt gefalteten Dreieck einer Leinenserviette.Vor jedem Platz waren weiße Karten mit Schnörkelschriftzwischen die Schwanzfedern eines silbernen Pfauen-Tisch-kartenhalters geklemmt, und in der Mitte des Tischs standein riesiger Tafelaufsatz mit einem Arrangement aus Far-nen und Binsen. Hinter dem Tafelaufsatz starrten die leerenStühle auf die der anderen Seite.

Eva wusste, dass man ihrem Großvater als Platz denschweren geschnitzten Stuhl am Kopfende der Tafel zuwei-sen würde, während die anderen Gäste sich ihre Plätzesuchten. Sie selbst würde am unteren Ende sitzen, und siearbeitete sich dorthin durch und dann an der anderen Seiteentlang, bis ihr langsam klar wurde, dass für sie nicht ge-deckt worden war.

Großvater saß am Kopfende, auf der einen Längsseitewaren sechs, auf der anderen fünf Gedecke, immer mitdem säuberlich geschriebenen Namen des Gastes auf denTischkarten. Von Miss Cora Chance bis Miss Lisle Langleywaren alle Namen aufgeführt außer einem.

Evas Name und Gedeck fehlten.Sie hatte gehört, dass dreizehn Gedecke bei Tisch Un-

glück brächten, aber noch schlimmer war es, selber der un-erwünschte dreizehnte Tischgast zu sein. Ob aus Unacht-samkeit oder aus Boshaftigkeit war ihr Name auf der Listeder Tischgesellschaft offenkundig nicht aufgetaucht.

Eva fragte sich, ob Tante Helen vergessen hatte, sie ge-genüber den Caterern zu erwähnen, oder ob Felix dafürverantwortlich war. Doch ganz gleich, wer es gewesen war,Eva wand sich vor Peinlichkeit, denn sie wusste, dass einHinweis auf den Fehler sie auf die schlimmste Weise in den

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Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken würde, die mansich vorstellen konnte.

Sie hörte das Stimmengemurmel am anderen Ende desSaals, als zwei Kellner elegant die Türflügel öffneten unddie Gäste hereingeleiteten. Sie führten sie an ihre Plätze, fürdie Damen wurden die Stühle zurückgeschoben, und allenahmen Platz und zupften ihre Jacketts oder Stolen zu-recht.

Wie in einem Albtraum setzte sich Eva auf den leerenStuhl neben Lisle Langleys Gedeck. Lisle bedachte sie mitkeinem Blick, weil ihre Aufmerksamkeit ganz auf TanteJoyce’ Begleiter auf ihrer anderen Seite gerichtet war. Ver-steckt vor Joyce’ Blicken hinter den breiten Farnwedeln desTafelaufsatzes machte er Lisle übertriebene Komplimente.Auf der anderen Tischseite widmete sich der Doktor sei-nem Champagnerglas und gleichzeitig einer ziemlich wir-ren Geschichte von einem Katzenschutzverein, die ihmTante Cora erzählte – doch dem Champagner galt ganz of-fensichtlich sein größeres Interesse.

Durch einen Wald von gestikulierenden Händen trugeine Gruppe von Kellnern in schwarzweißen Uniformendie Speisen herein und schenkte Wein nach. Eva hörte He-lens und Joyces Stimmen in schrillem Disput über die Mög-lichkeiten, wie das Haus in dieser Saison Geld einbringenkönnte – Helen war für Gartenpartys, wenn der Park ersteinmal wieder gepflegt wäre, und Joyce schlug Bootsfahr-ten vor, falls der See dafür sicher gemacht werden konnte.

In der Zwischenzeit wogte die Welle der Kellner ge-räuschlos am Tisch entlang. Die ihr nächste Kellnerin warein Teenager in einem engen schwarzen Minirock und

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einer gutsitzenden weißen Bluse. Sie hatte blonde, von rosaSträhnchen durchzogene schulterlange Haare. Eva schrakin ihrem Stuhl zurück. Aber bei ihrem Pech hätte sie nichtüberrascht sein dürfen, dass das Kyra Stratton war.

Kyra war die Anführerin der Mädchenbande und regiertedie Schule mit ihrem von der Clique beflügelten Selbstbe-wusstsein. In direktem Gegensatz zu Evas ererbter aristo-kratischer Armut schien es Kyra und ihrer Truppe niemalsan Geld zu mangeln, und sie trugen die teure Boutiquen-mode, die Eva mit Neid erfüllte und die sie gleichzeitig ver-achtete. Mit ihren lauten Stimmen, bunten Haarsträhn-chen, Nasen- und Zungenpiercings wollten sie die Jungenbeeindrucken, und man sah sie entweder als kichernde, ga-ckernde Gruppe oder einzeln mit einem watschelnden Jun-gen im Schlepptau. Kyras Clique hatte Eva das Leben in derSchule zur Hölle gemacht. Von Anfang an hatten dieseMädchen sie als nichtdazugehörig abgestempelt, und Evashochgestochene Redeweise bis hin zu ihren altmodischenKleidern war die Zielscheibe ihrer Witze gewesen.

Sie hatte mal mitbekommen, dass Kyra in London beiPromi-Events bediente, aber sie hatte keine Verbindungzwischen diesem Job und der hiesigen Cateringfirma her-gestellt. Eva sah stur auf den Tisch und ihr fehlendes Ge-deck, während Kyra näherkam. Kyra war nun hinter ihr,noch ein Schritt, und sie war vorbeigegangen. Eva sah Ky-ras Rücken, während die weiterging, die rosagesträhntenblonden Haare schwangen über ihre Schultern, als sie sichauf dem Absatz umdrehte und wieder zum Kopfende desTisches zurückging. Sie hatte vor Lisle einen Vorspeisentel-ler hingestellt und Eva total übersehen.

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Eva starrte auf den leeren Tisch vor sich und wäream liebsten gestorben. Vielleicht war das fehlende Gedeckkein Versehen ihrer Familie, sondern ein dreister Spaß, densich Kyra und ihre Freunde in der Küche ausgedacht hat-ten. Vielleicht würden die Kellner während des restlichenAbends immer so tun, als ob sie sie nicht sähen, bis sie inirgendeinem entscheidenden Moment als der übriggeblie-bene dreizehnte Gast bloßgestellt wurde.

Bestecke kratzten auf Porzellan, während Stimmen ange-regt schwatzten und Wein gluckerte, und Eva fühlte sichdurch die Mischung aus Lärm, Hitze und den verschiede-nen Gerüchen und Alkoholdünsten wie betäubt und ange-ekelt. Wieder ging jemand am Ende der Tafel vorbei, undEva spürte hinter sich einen kühlen Windstoß wie aus ei-nem offenen Fenster. Sie drehte sich um und sah die Kell-ner im Gänsemarsch aus dem Zimmer eilen. Kyras weißerBluse und ihrem schwarzen Minirock folgte eine Gestaltin altmodischer Dienstbotenuniform aus schwarzem Kleidund weißem Schürzchen, die etwas von einer Elster hatte.Im Gegensatz zu Kyra sah das Elstermädchen Eva direktan – und eins ihrer kohlschwarzen Augen zwinkerte ihrganz offensichtlich zu.

Eva zuckte überrascht zusammen und starrte dem Els-termädchen nach, als es der Reihe der Kellner folgte. Ihreschwarzen Haare waren zu einem straffen Zopf gefloch-ten und hingen wie ein Pferdeschwanz unter einem weißenHäubchen herunter. Kyra war etwa fünf Schritte vor ihr,und die Tür schwang hinter ihrem Hüftschwung zu, geradeals das Elstermädchen sie erreicht hatte. Aber die schwarz-weiße Gestalt hielt nicht inne, sondern marschierte durch

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die Tür hindurch, als gäbe es das schwarze Holz nicht, undals Letztes verschwand ihr schwingender Zopf.

Auch ohne die altmodische Kleidung und die Art, wie siedurch eine feste Tür hindurchging, hätte Eva durch denkalten Windhauch gewusst, worum es sich hier handelte.Das Dienerinnengespenst hatte so gut in die Gruppe ge-passt, dass niemand es bemerkt hatte – niemand außer Eva.

»Geister! Das ist aber eine gute Idee«, sagte jemand laut,und Eva fuhr zusammen und sah an der Tafel hinunter. Siekonstatierte, dass Tante Joyce’ Begleiter sich unerwarteter-weise in die Debatte eingemischt hatte, wie man die Haus-besichtigungen besser verkaufen könnte.

»Marketing ist mein Ding«, verkündete er. »Ich habezahllosen Betrieben geholfen, erfolglose Marken wiederzu-beleben. Sie müssen einfach auf Ihre Stärken setzen.« Wieum sich selbst Mut zu machen, trank er einen Schluck Weinund redete schnell weiter. »Sind Häuser wie dieses hierdenn nicht voller Gespenster? Damit könnte man Besucheranlocken. Eine Geistertour, so nennt man das. Sie könnenmir doch nicht weismachen, dass dieses alte Gemäuer nichtjede Menge Sagen hat, aus denen man irgendwas Attrak-tives fabulieren könnte.«

»Ich glaube nicht, dass wir so etwas machen wollen.«Tante Helen duldete keinen Widerspruch. »Das klingt dochziemlich geschmacklos …«

»Unsinn«, kam Tante Joyce ihrem Begleiter zu Hilfe.»Wenn das Geld einbringt, bin ich total dafür.« Währendweiter heftig debattiert wurde, versuchte sie, die übrigenDinnergäste auf ihre Seite zu ziehen.

»Wir könnten das bestimmt schaffen«, fuhr der Marke-

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ting-Experte mit wachsender Begeisterung fort und wandtesich an seine Tischnachbarin Miss Langley. »Man könntedas sehr dezent arrangieren, zum Beispiel in Verbindungmit einem Renovierungsfond. Was halten Sie davon?«

»Geistertouren sind in anderen Herrenhäusern sehr er-folgreich gewesen«, stimmte Lisle ihm hoffnungsvoll zu.»Doch das wäre für das Haus etwas ganz Neues undmüsste fachmännisch gemanagt werden.«

»Aber unter den herrschenden Umständen müsste dochbestimmt …« Als sich alle Tante Cora zuwandten, begannihre Stimme zu zittern, und Eva merkte, dass Tante Coraden Tränen nahe war. »Ist es denn so eine gute Idee, denTod zum Thema zu machen?«

Alle an der Tafel schwiegen, die Gäste sahen sich unbe-haglich an, und zum ersten Mal hörte man das Krächzenvon Großvaters Stimme.

»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …« Erstieß jedes Wort hervor, als wäre es eine körperliche An-strengung, »… als eure Schulweisheit sich träumen lässt«.Er holte mühsam Luft, und Eva starrte ihn an, als wollte sieihn zum Weitermachen ermuntern. Und er zwang die Ta-felgesellschaft, ihm zuzuhören. »Ihr redet von Geistern –aber wer von euch glaubt wirklich daran? Haltet ihr es fürmöglich, in diesem Bereich zwischen Leben und Tod gefan-gen zu sein? Wer von euch gibt zu, dass er die Gespenstersieht, die zwischen uns herumwandern? Ich habe die Geis-ter von früheren Chances gesehen und möchte, dass wir siein Ruhe lassen.«

Eva beugte sich nach vorn und versuchte, durch dasMeer von Kristallglas und Silberbesteck dem Blick ihres

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Großvaters zu begegnen. Sie wollte ihn wissen lassen, dasszumindest sie ihm glaubte.

»Ich habe Geister gesehen«, sagte sie. Aber ihre Stimmewar anscheinend kaum zu hören, und sie merkte, dass siegeflüstert hatte.

Am Kopf der Tafel schüttelte Felix den Kopf, und alsplötzlich jeder anfing zu sprechen und der Lärm wieder an-schwoll, klopfte er dreimal mit der Gabel an sein Weinglas,und es wurde still.

»Es gibt keine Geister«, sagte er. »Es gibt auch keineSpukhäuser. Das sind nur Themen für spannende Geschich-ten, nichts weiter. Ich glaube kein Wort davon.« Er blicktesich um, bis er sicher war, dass alle ihm aufmerksam lausch-ten, und fuhr fort: »Ich finde, wir sollten den Vorschlag auf-greifen und in dieser Saison Gespenster zur Hauptattrak-tion machen. Denn, ehrlich gesagt, brauchen wir jedenPenny, den wir den Touristen aus der Tasche ziehen können,um dieses Haus vor dem Zusammenbruch zu retten.«

»Aber Großvater hat gesagt, wir sollen sie in Ruhe las-sen!«, rief Eva aus. »Und die Geister sind schon durch ir-gendwas beunruhigt. Geistertouren sind gefährlich!«

Doch niemand hörte ihr zu.Großvater war zurück in seinen Sessel gesunken, und

Eva fand es schrecklich, ihn so zu sehen. Felix’ Selbstver-trauen loderte über die Tafel und löschte die Einwände sei-ner Eltern aus, genau wie die wirren Proteste von TanteCora. Als die Verwalterin und der Anwalt nun anfingen,die praktische Umsetzung zu besprechen, war es offen-sichtlich, dass der Kampf schon verloren war – die Haupt-attraktion dieser Saison sollten die Geistertouren werden.

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Eva stand auf. Keiner der Gäste beachtete sie, und sie ge-langte unbeobachtet bis zur Tür, drückte leise die Klinkerunter und verließ das Speisezimmer.

��Eva schlich hinter den Caterern vorbei, die in der Küchebeschäftigt waren, und ließ den Lärm der Dinnerpartyhinter sich. Zum ersten Mal seit der Ankunft ihrer Ver-wandten war das Haus wieder still, weil alle an einem Ortversammelt waren. Aber Eva spürte die unsichtbare Span-nung, die wachsamen Augen der Vergangenheit. Und daihre Familie entschlossen war, Ärger zu schüren, wollte Evaihn lieber gleich im Keim ersticken. Vielleicht würden dieGeister nicht böse werden, wenn sie ihnen alles erklärte.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert glaubt niemand anGeister. Das waren Relikte aus der Vergangenheit, wie dieÜberreste vergangener Zeiten, die überall im Haus ver-streut lagen: etwas, das einfach nicht in die Welt da drau-ßen passte. Eva hatte keine der Tanten je zugeben hören,dass sie Geister gesehen hatte. Nur Großvater hatte davongesprochen, als gäbe es sie wirklich. Wie die Spinnen undKüchenschaben, den Schimmel und die Fäulnis hatte dasHaus im Lauf der Zeit auch Geister bekommen, alles zu-sammen ergab die Atmosphäre. Die meisten Besucher be-kamen von ihnen nichts mit, da die Geister nicht stöhnendoder kettenrasselnd mit dem Kopf unterm Arm herumwan-derten. Der Einfluss der Geister war subtil und heimtü-ckisch.

Wann immer bislang das Haus für die Touristen geöffnet

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wurde, hatte Evas Großvater erfolgreich alle Pläne ge-stoppt, wonach Geister zur Reklame eingesetzt werdensollten.

»Daran soll man nicht rühren«, hatte er immer gesagt,und Eva wusste, was er meinte. Geister waren beunruhi-gend – ganz gleich, wie sehr man an sie gewöhnt war.

Wenn man die Geister ausnutzen wollte, konnte dasÄrger bringen. Wenn Felix die Wünsche ihres Großvatersignorierte, beging er einen schrecklichen Fehler, und dannwar nicht er derjenige, der die Folgen zu spüren bekam.Nach dem Familienrat würde Felix in die Villen seines Va-ters zurückkehren, und dann mussten Eva und ihr Groß-vater mit einer Legion wütender Geister klarkommen, dievon den Touristen aufgestört und wie Tiere in einer Mena-gerie gereizt würden.

��In der Halle schimmerten die Pfauenaugen im Dämmer-licht und hielten blind Wache über das Haus. Durch dieGlaskuppel oben über der Treppe drang Mondschein. Ertauchte die Treppe in einen verträumten Glanz und ver-silberte sie mit diffusem Licht.

Die einzelnen Teile des Hauses besaßen sehr unter-schiedliche Atmosphären. Eva wusste, dass man das Spuk-gefühl leicht dem Staub und der Vernachlässigung anlastenkonnte. In allen Räumen waren die Möbel mit Laken ab-gedeckt, und vor den Fenstern hingen schwere dunkle Vor-hänge und schützten so die Tapeten vor Sonnenlicht. Die-len vibrierten und knarrten, und von den Wänden fiel

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raschelnd der Putz, und in den Kaminen rieselte der Rußherab. Aber es gab auch andere Geräusche. Das Schleifeneines Seidenkleids über den Fußboden, das Knistern undZischen einer aufflackernden Gasflamme, Gelächter oderMusikgeklimper aus einem entlegenen Raum. Die Ver-gangenheit war im Haus nie weit entfernt. Jetzt kam es Evaso vor, als könnte sie sie mit der ausgestreckten Hand be-rühren.

Ihr Entschluss, mit den Geistern ein Gespräch zu suchen,schwand schon bei den ersten Stufen. Das Elsterhausmäd-chen hatte ihr wie eine Verbündete zugezwinkert. Aber hierwar der Boden kalt, und das Mondlicht über der Treppeendete nach den letzten Stufen in einer Pfütze. Bildete sie essich ein, oder sah dieses Dunkle nass aus? Konnte man miteinem Spukfleck vernünftig reden?

Eva kniete sich hin und tastete widerstrebend nach demFleck. Ihre Fingerspitzen berührten den Teppich und zuck-ten zurück. War er nass oder nur kalt? Sie zitterte. Wurdesie nur von den Pfauenaugen beobachtet, oder stand etwasUnsichtbares hinter ihr, bereit sie anzuspringen?

Sie stand schnell auf und sah sich um.Da war niemand.Aber das Spukgefühl verschwand nicht, und Eva sah,

wie sich der Fleck unten ausbreitete – die Schwärze tropfteauf die unterste Stufe und näherte sich ihren Füßen.

Mit einem gewaltigen Satz sprang sie darüber weg,klammerte sich an das Geländer und drehte sich um ausAngst, der Blutfleck würde sie verfolgen. Aber die Dun-kelheit war reglos, und der Fleck lag hinter ihr, jetzt unbe-wegt.

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Gelächter splitterte durch die Halle, es kam nicht ausdem Speisezimmer, sondern von weiter oben. Auf dem obe-ren Flur erhaschte das Licht den Spitzenrand einer weißenHaube, und ein bleiches Gesicht sah zu ihr herunter: dasElstermädchen.

Eva eilte die Stufen hinauf, aber als sie in der Galerie an-kam, war das Mädchen verschwunden. Sie blieb stehenund wusste nicht, was sie tun sollte, als sie ein leises Ge-räusch vernahm. Eine Diele knarrte unter einem schwerenTritt. Ein nächster, noch schwererer Tritt folgte: Langsame,leise Schritte kamen die Treppe herauf.

Eva machte einen Schritt, und hinter ihr im Flur machteirgendetwas ebenfalls einen leisen Schritt nach vorn. Evabewegte sich nicht mehr, und die Schritte verharrten nacheiner Sekunde ebenfalls, sie ahmten Evas Bewegungennach. Sie wurde verfolgt.

Eva hatte Geister finden wollen, und nun hatten die siegefunden. Aber nichts an diesen Schritten deutete auf einenVerbündeten hin – oder auf etwas, mit dem man vernünftigreden konnte. Alle ihre Instinkte schrien auf aus Angst derVerfolgten vor dem Verfolger. Der Geist hinter ihr folgteihr nicht einfach – er verfolgte sie.

Mit den riesigen Räumen vor sich und den Schritten hin-ter sich zögerte sie und blickte sich unentschlossen im Flurum. Währenddessen setzten die Schritte wieder ein, dies-mal warteten sie nicht auf sie, sie klangen noch schwererund langsamer. Eva strengte die Augen an, um irgendeineBewegung wahrzunehmen, aber in dem schlechtbeleuch-teten Flur war nichts zu sehen, obwohl die Schritte immernäher kamen.

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Noch drei Meter, zwei Meter, ein Meter.Evas Füße scharrten über den Fußboden, ihre Beine zit-

terten, und sie konnte es nicht unterdrücken. Ihr Körpergehorchte ihr nicht mehr, er fasste ohne sie einen Ent-schluss und bestand darauf, weiterzugehen.

Ein schwerer Tritt ließ die Dielen vibrieren, und Eva ver-lor die Beherrschung. Sie drehte sich um und bewegte sichentschlossen von den Schritten weg zum Ostflügel hin.Hinter ihr knarrten die Dielen, als die Tritte ihr folgten undmit ihr Schritt hielten.

Sie beschleunigte ihre Schritte, doch die hinter ihr wur-den ebenfalls schneller. Schon rannte sie los, ihre Sandalenklatschten wild auf den Fußboden und rutschten kratzendum eine Ecke im Flur, donnerten über drei niedrige Stufenund klackerten weiter. Die anderen Schritte folgten: Siehallten von den Dielen wider und bogen um die Ecke, don-nerten über die Stufen und jagten hinter ihr her.

Die rennenden Schritte hörten sich noch bedrohlicheran, das war kein unheimliches Geräusch mehr, sondern hin-ter ihr war der nackte Horror. Der unsichtbare Verfolgerschloss auf, kam näher trotz ihrer wilden Flucht. Sie wagtenicht, sich umzublicken, aus Angst, was sie dann sehenwürde – oder was sie nicht sehen würde. Wäre der Korri-dor leer trotz der Schritte fast neben ihr? War das ein Luft-hauch oder ein kalter, feuchter Atem in ihrem Nacken?

Ihre Sicht verschwamm, ihr Herz hämmerte, ihr Pulsjagte schwindelerregend, ihre Lungen schrien nach mehrLuft, als sie einatmen konnte.

»Hier lang!« Ein schwarzweißer Blitz tauchte plötzlichvor ihr auf, und Eva hielt darauf zu, ihre Sandalen rutsch-

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ten, als sie auf das Elstermädchen am Ende des Korridorszustürzte.

Die Schritte waren nur noch Sekunden entfernt, sie lan-deten bereits auf ihren Fußspuren, als sie sich mit letzterKraft nach vorn warf. Ein drahtiger Arm griff nach ihremÄrmel und zerrte sie weiter zu einer Wand und in dasdunkle Loch, das sich darin auftat. Dunkelheit umgab Eva,als sie hart auf einen kalten Boden stürzte, der Aufprall er-schütterte sie, und im gleichen Moment gab der Boden un-ter ihr mit rasselndem Getöse nach.

In hilfloser Panik rang sie keuchend nach Luft undmerkte, dass der Boden sich senkte. In einem metalle-nen Käfig fiel sie in einen dunklen Schacht, der nur voneiner schwachen Glühbirne an der Decke des Käfigs er-hellt wurde. Es war der Lastenaufzug. Ihr gegenüber standdas Hausmädchen in ihrer schwarzweißen Uniform, dassie hierhergelotst hatte. Das Gesicht des Mädchens warschmutzig. Sie drehte an einem Metallrad, das den Aufzugdurch den Schacht senkte. Die Schritte über ihnen warenvöllig verklungen.

»Du willst dich von dem nicht erwischen lassen«, sagtedas Elstermädchen mit leichter Dialektfärbung. »Das istder Stalker, und der bleibt immer hinter dir, wohin du auchgehst oder rennst.«

Eva stand zitternd auf, das Rumpeln des Käfigs über-tönte ihr Gefühl der Unsicherheit, nachdem es ihr buch-stäblich die Füße weggerissen hatte. Der Lastenaufzug warzu Zeiten von Königin Viktoria eingebaut worden undwar, soweit sie wusste, seit fünfzig Jahren nicht benutztworden. Die Steinmauern des Hauses glitten dunkel-ölig

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hinter dem schmiedeeisernen Gitter des Aufzugs vorbei.Während sie sich von Stockwerk zu Stockwerk bewegten,begriff Eva, dass sie einen Schritt zur Seite in eine andereWelt getan hatte: eine, die schattenhaft verborgen parallelzu ihrer eigenen lag.

»Ich kenne dich«, sagte das Hausmädchen. Ihre dunklenAugen blickten Eva forschend über die kleine Fläche desMetallkäfigs hinweg an. »Ich habe dich unten gesehen, duhast bei deiner Familie gesessen, und niemand hat dir Be-achtung geschenkt.«

»Du hast mir zugezwinkert«, sagte Eva, und das Mäd-chen zuckte die Achseln.

»Du hast mich gesehen. Sonst niemand. Ich dachte eineSekunde lang, du wärst wie ich, aber das stimmt nicht, nichtwahr? Du bist eine von ihnen. Eine von den Chances.«

»Ich bin Eva.« Eva versuchte, die schwarzen Augen zuergründen. »Evangeline Chance.«

»Mir egal, wie du heißt.« Das Elstermädchen ruckte amEnde jeden Satzes mit dem Kopf nach vorn, als wollte siezubeißen. »Wieso kannst du mich sehen, wenn die anderenvon deiner Familie das nicht können?«

»Das weiß ich nicht.« Eva schüttelte den Kopf. »Ichhabe immer schon Dinge sehen können, die – Dinge, dieangeblich nicht existieren, wie Geister.«

»Glaubst du, ich bin ein Geist?«, fragte das Mädchenmit raschem, vogelähnlichem Blick, und Eva schrak zurück.

»Ja«, gestand sie. »Tut mir leid. Entschuldige. Abernicht so ein Geist wie das, was mich gejagt hat. Ihr seidbeide Geister, stimmt’s? Aber du hast mir geholfen, und dasDing da …«

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»Der Stalker«, sagte das Elstermädchen ausdruckslos.»Wenn er dich erwischt hätte, hätte er dich umgebracht.Das macht er immer. Er folgt dir, dann jagt er dich, undwenn er dich einholt, stirbst du.«

Eva überlief ein Schauder. Sie wollte fragen, ob der Stal-ker-Geist auch lebendige Menschen umbrachte oder nurGeister verfolgte, aber sie ahnte, dass diese Frage unpas-send war. Doch da keine erwähnenswerte Anzahl von Lei-chen herumlag oder Gerippe aus den Schränken fielen,nahm sie an, dass der Stalker wohl meistens andere Geisterattackierte.

»Warum hast du mir geholfen?«, fragte sie stattdessen.»Das geht dich nichts an«, fauchte das Mädchen, offen-

sichtlich verärgert über die Frage. Sie drehte heftig am Rad,so dass sie schneller nach unten fuhren und die Wände nurnoch so vorbeirauschten. »Vielleicht wollte ich rausfinden,warum er dich verfolgt. Was ist an dir so Besonderes, dassdu das ganze Haus in Aufruhr versetzt? Du stinkst nachÄrger!«

»Gar nicht wahr!« Eva war gekränkt und dachte, immerbekommt der Bote die Schuld. »Das bin ich nicht. Ich ma-che keinen Ärger.«

»Alle Chances machen Ärger.« Als der Aufzug rumpelndzum Stehen kam, drehte sich das Elstermädchen wieder zuEva um. »Du bist entweder bösartig oder verrückt, und dieSchlimmsten von euch sind beides gleichzeitig.«

»Dafür kann ich nichts.« Eva funkelte sie an. »Ich kannnichts für die Familie, in die ich hineingeboren wurde, oderdafür, wer meine Verwandten sind. Außer meinen Groß-vater kann ich keinen von denen ausstehen.«

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»Oh, jammern, jammern, jammern.« Das Elstermäd-chen war kein bisschen beeindruckt. »Dann versuch mal,von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang diese launenhaf-ten, kaltherzigen Monster zu bedienen, eine miesgelaunteSau und einen Wurf Mistviecher, von denen keins wert ist,deine Stiefel zu lecken.«

Eva erschauerte wieder. Die Luft um das Geistmädchenwar frostig, kälter als die Steinwände ringsumher. JedesMal, wenn sich das Elstermädchen aufregte, wurde es nochein paar Grad kälter.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht be-klagen.« Sie hatte genug Erfahrung in Hausarbeit, um sichdafür zu schämen, wie rücksichtslos ihre Vorfahren ihreDienstboten behandelt hatten. »Hast du gehört, worüberdie Gäste beim Essen geredet haben?«

»Über Besucher, die Geister sehen wollen.« Das Elster-mädchen warf ihr einen lauernden Blick zu. »Ich hab’s dirdoch gesagt: Sie sind entweder böse oder verrückt genug,um es zu versuchen. Und wenn sie es tun, droht ihnen Ge-fahr.«

»Wie meinst du das? Was für eine Gefahr?«»Du solltest das wissen«, sagte der Geist. »Du steckst

doch mittendrin, auf dir liegt ein Fluch. Auch wenn du dasnicht weißt. Ich bin keine Unruhestifterin, das war ich nie –trotz allem, was behauptet wird.« Jahrhundertealte Wutloderte kurz auf. »Aber ich weiß, woher der Wind weht.Und das Glück hat die Chances verlassen, ist doch so,oder?« Sie sah Eva durchdringend an.

»Ich weiß nicht.« Eva dachte an ihren kränkelndenGroßvater und dass Felix demnächst das Haus erben

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würde und drohte, daraus einen Golfclub oder ein Hotel zumachen, und dass sich bald die Touristen versammeln wür-den wie Geier, die sich von einer Leiche ernähren. »Viel-leicht hat uns das Glück verlassen. Aber noch sind wirnicht tot.«

»Wenn du meinst.« Das Elstermädchen sah sie wütendan, und Eva wurde rot.

»Entschuldige. Aber wenn mein Großvater stirbt, wirdmein Cousin Felix mich rausschmeißen. Und Großvaterwird nicht gesund werden, wenn im ganzen Haus die Geis-ter verrückt spielen. Falls es gefährlich wird, muss ich siedaran hindern.«

»Dann bist du also eine von den Verrückten.« Das Els-termädchen lächelte bissig und zeigte ihre Zähne. »Tja,aber gib nicht mir die Schuld, wenn du eines Morgens totbist.« Sie rüttelte an der Tür, die sich daraufhin öffnete,und trat in den Flur dahinter.

»Wart mal«, sagte Eva. »Es muss doch irgendwas geben,was ich tun kann. Ich brauche deine Hilfe.«

»Ach wirklich?« Das Elstermädchen wandte Eva ruck-artig das Gesicht zu. »Pah, wenn du unbedingt Ärger krie-gen willst, dann solltest du mal im Keller nachschauen.«

Dann war sie verschwunden, zwischen zwei Herzschlä-gen, ihre weiße Schürze war ein Spritzer Mondlicht auf derWand, das dunkle Kleid die finstere Kurve des Tunnels.