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Friederike Bahl Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft Institut für Sozialforschung Hamburger Edition .

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Am Anfang der Dienstleistungsgesellschaftstand eine Utopie: Dienstleistungsarbeitwerde den Weg der Lohnarbeit von einerproletarischen Beschäftigung zum Garantenwirtschaftlichen Aufstiegs, sozialer Identität und politischer Stabilität weisen. Mit Blickauf die Gegenwart »einfacher« Dienstleis-tungsarbeit zeigt sich zweifellos ein anderes Bild.

Dienstleistungen wie Sorgen, Säubern undService sind gekennzeichnet durch Niedrig-lohn und Grundsicherung, Minimalstandardswohlfahrtsstaatlicher Versorgung. Der Traumvom Aufstieg ist hier ausgeträumt. Das Profil von Dienstleistungsarbeit erschwert dieEntstehung professioneller Identität. Unddie sozialliberalistische Vorstellung, dassüber Ökonomie und wohlfahrtsstaatlicheAnrechte eine gesellschaftliche Ordnungerzeugt wird, die die Lebenschancen allerGesellschaftsmitglieder mehrt, hat für dieBeschäftigten »einfacher« Dienste jedeÜberzeugungskraft verloren. Wie betrachten die Beschäftigten ihre Lage? Empfinden sieSolidarität, Berufsstolz, welche Erwartun-gen an die Zukunft haben sie?

Auf der Basis von zahlreichen Interviews, Beobachtungen und Diskussionen wird deut-lich, dass in den »einfachen« DienstenArbeits- und Lebensformen entstanden sind,die auf eine neue Form von Proletarität ohne Proletariat verweisen. Friederike Bahl stellt den Menschen und seine Selbstverortung in den Mittelpunkt ihrer Studie und zeigt: Wound wie wir uns im gedachten Ganzen ver-orten, beeinflusst immer auch die Formation einer Gesellschaft.

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Friederike Bahl, Soziologin, ist wissen-schaftliche Mitarbeiterin und Mitglied derForschungsgruppe »Zukunftsproduktion«am Hamburger Institut für Sozialforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind der Wandelder Arbeitswelt, die Soziologie sozialer Un-gleichheit und die politische Soziologie.

Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft ist bisheute mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Hoffnungen auf Erfolg und Wohlstand verbunden.Doch gilt das auch für den Bereich der »einfachenDienst leistungen«? Gekennzeichnet durch Niedrig-lohn und mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten, istlängst die Rede von einem neuen »Service-Proletariat«.

Friederike Bahl untersucht die Lebensmodelle amRand der Dienstleistungsgesell schaft und leistetdamit einen wichtigen Beitrag zur Beschreibungunserer politisch-sozialen Gegenwart.

ISBN 978-3-86854-282-0

Friederike Bahl

Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft

Institut für Sozialforschung

Hamburger Edition.Institut fürSozialforschung

Hamburger Edition.

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Friederike Bahl

Lebensmodelle in derDienstleistungsgesellschaft

Hamburger EditionHamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHVerlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-625-5E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

Der Text basiert auf der Dissertation, vorgelegt an der Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften (Abschluss des Promotionsverfahrens am 8. September 2014).

© 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-282-0

Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus der Stempel-Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Umschlagabbildung (Ausschnitte):»Deutschland, Berlin, Vivantes Klinikum Friedrichshain in der Landsberger Allee - Krankenpfleger transportiert Krankenhausbett« © ullstein bild - CARO / Andreas Teich»Deutschland, Berlin - eine Reinigungsfrau wartet darauf abgeholt zu werden« © ullstein bild - CARO / Andreas Teich »XXII. Olympische Winterspiele Sotschi 2014« © ullstein bild - Sven Simon»United Parcel Service in den USA« © ullstein bild - vario images / Bernhard Classen

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InhaltInhalt

Einleitung 7

I Das Konzept eines Dienstleistungsproletariats odervon der Reformulierung eines verbrauchten Begriffs? 13

Die Ernüchterung einer Vision 13Zwischen Arbeit und Leben – Gesellschaftsbilderals soziologisches Problem 35

II Dienstleistungsarbeit im Wandel –von der Profession zum Job 87

Von der Hand- zur Kopfarbeit und zurück –das Versprechen der Professionalisierung 88Von der Hoffnung auf Rehumanisierung zur Autonomieder Arbeitsverdichtung 101Wenn der Körper zehrt – neue Herausforderungen eineskörperlichen Leistungsstolzes 141Arbeit muss sich lohnen – eine instrumentelle Arbeitsorientierungim Leerlauf 157

III Vom Projekt der Moderne zum Ende der Welt 185

Die tragische Apokalypse 213Die ironische Apokalypse oder von der Autonomieinnerer Verfristung 216Die sarkastische Apokalypse 221Die zynische Apokalypse oder davon, wie man wird,wie man ist 225

IV Die Suspendierung einer geordneten Welt –zwischen Resignation und Ressentiment 233

Zum Anachronismus marxistischer Denkgebäude 234Die unmögliche Gruppe zwischen fragiler Assoziation undpotenziertem Misstrauen 245Die Enttäuschten oder vom resignativen Rückzug 298

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Die Aufständigen oder von der regressiven Revolte 310Die Ironischen oder von der gezähmten Resilienz 321Die Zornigen oder von der autoritären Rebellion 330

V Konklusionen – von Proletarität ohne Proletariat odervon den Helden des Marktes 339

Danksagung 348

Literaturverzeichnis 349

Zur Autorin 372

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Einleitung

Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft ist bis heute ein Flucht-punkt sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hoffnungen, diedie Konturen moderner Arbeitsgesellschaften neu definieren. AlsWissensgesellschaft setzt die Dienstleistungsgesellschaft anstelle desproletarischen Arbeiters den autonomen Angestellten, der selbstbe-stimmte Arbeit verrichtet, gut verdient und im sozialen Aufstieg mitden Kollektivkategorien der Arbeiterschaft nichts mehr anzufangenweiß.

In diese Debatte um Tertiarisierung hat der dänische Politikwis-senschaftler und Soziologe Gøsta Esping-Andersen in den 1990erJahren ein Konzept eingebracht, das für Zündstoff sorgt. Mit demBegriff eines »Service-Proletariats«1 skizziert er in modernen Ar-beitsgesellschaften eine mögliche sozialstrukturelle Spaltung, dieim Bereich »einfacher« Dienstleistungsarbeit beginnt.2 Zündstoffbietet seine Überlegung vor allem, da sie eine Gruppe auf das Ta-bleau sozialstruktureller Gliederung zurückkehren lässt, die die Ter-tiarisierung eigentlich hinter sich zu lassen glaubte: Das Dienstleis-tungsproletariat stellt die Frage nach der Rückkehr des Arbeiters indie Welt der Angestellten. Angefangen beim sogenannten PrinzipSchlecker über Günter Wallraff in der Brötchenfabrik und dasSchwarzbuch Lidl bis hin zu tagesaktuellen Mindestlohndebattenkann der Begriff für diese Phänomene mit einer gewissen Spontan-plausibilität aufwarten.3 Doch wer gehört zum Dienstleistungspro-letariat, und was kann die Diagnose der Proletarität für eine Be-schreibung der Gegenwart tatsächlich leisten?

Diesen Fragen ist die vorliegende Studie nachgegangen. MitProletarität wird eine alte Figur der Arbeitswelt revitalisiert. Aufden Industriearbeiter schaute seinerzeit die Industriegesellschaft alsGanzes. In ihm wurde die sozialpolitische Schlüsselfigur verortet,

1 Esping-Andersen (Hg.), »Post-industrial Class Structures«.2 Esping-Andersen (Hg.), Changing Classes; Blossfeld/Giannelli/Mayer, »Is

There a New Service Proletariat?«; Oesch, Redrawing the Class Map.3 Breitscheidel, Arm durch Arbeit; Wallraff, »Undercover«; Ehrenreich, Arbeit

poor.

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die die Trends für die Gesamtgesellschaft diktierte und Arbeit zursoziologischen Traditionsantwort machte, wenn es um die Fragegeht, wo eigentlich der rechte Ort soziologischer Analyse ist.

Gesellschaftsanalyse ist zu dieser Zeit Arbeitsdiagnose. Als solcheist sie über Jahrzehnte fester Bestandteil im Anspruchskatalog einerdeutschen Arbeits- und Industriesoziologie. Wie es dazu kam, istnach einer Überlegung des Soziologen Hans Paul Bahrdt vor allemihrem zeitdiagnostischen Potenzial geschuldet. Ihm zufolge hat sichdie soziologische Analyse in ihrer Geschichte immer an den Proble-men entzündet, die »bestimmte gesellschaftliche Situationen denWissenschaftlern vor die Füße warfen«.4 Folgt man dieser diszipli-nären Prämisse, dann hat die junge Bundesrepublik der Nachkriegs-zeit der soziologischen Disziplin vor allem solche Probleme »vordie Füße« geworfen, die ihr diagnostisches Interesse auf das Feldder Arbeit lenkten. Der rasante Wirtschaftsaufbau, die Industriali-sierung des Produktionsgewerbes, der Auftritt einer nivelliertenMittelstandsgesellschaft in den Wirtschaftswunderjahren der 1950erund das Stocken gesellschaftlichen Fortschritts nur zwei Dekadenspäter forderten immer wieder aufs Neue eine auf Arbeit zentrierteSoziologie heraus.5 Sie forderten eine Disziplin, die in der Lage war,diesen Umbruch in seinen gesellschaftlichen Dimensionen zu be-greifen, Fehlentwicklungen zu benennen und wissenschaftlich be-gründete Positionen in die Lösungsdebatte einzubringen. In einerKritik der Arbeit postulierte soziologische Analyse nicht nur, etwasüber die Bedingungen der Arbeitswelt zu sagen. Sie war getragenvon der Überzeugung, dass eine Kritik der Arbeit immer auch etwasüber das Ganze der Gesellschaft aussagt. Eingebettet in die Ideeeiner Theorie der »industriellen Gesellschaft« überhaupt, wurde in-dustrielle Produktion zum Ort der Erzeugung gesellschaftlicherWirklichkeit und der Industriearbeiter zur Paradefigur sozialpoli-tisch relevanter Diagnose.

Heute stellen allerdings zwei Herausforderungen die traditionsrei-chen Überzeugungen und mit ihnen die Diagnose eines Dienstleis-tungsproletariats auf den Prüfstand. Die erste betrifft den angespro-chenen Ort soziologischer Analyse. Kann Arbeit heute überhaupt

4 Bahrdt, »Schwerpunkte und Arbeitsgebiete des Seminars in der Lehre«, S. 32.5 Schumann, »Das Ende der kritischen Industriesoziologie?«, S. 14f.

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noch der rechte Ort für gesellschaftliche Gegenwartsdiagnosensein? Gegen Ende der 1970er Jahre wird das Proletariat aus der Rea-lität soziologischer Beschreibung in die geschichtsphilosophischenBücher verbannt. Einerseits impliziert industrielle Arbeit zu dieserZeit keine materielle Verelendung mehr. Ganz im Gegenteil: Stei-gende Löhne, Mitbestimmungsrechte im Rahmen einer Demokra-tisierung des Betriebes, Arbeitsschutzgesetzgebung, die korpora-tistische Regulierung des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit,später auch Arbeitszeitverkürzungen entbanden die Arbeiter vomZwang, »von der Hand in den Mund«6 zu leben. Sie hatten nun nichtnur vergleichsweise mehr Freizeit und einen höheren Spielraum fürindividuellen Konsum. Der technische Wandel bedingte auch eineVeränderung typischer industrieller Arbeitsprofile, mit denen derFacharbeiter und der Ingenieur zu den paradigmatischen Figurendes fertigenden Gewerbes werden. Andererseits wird der Einspruchgegen eine aus der Arbeitswelt kommende Spaltungslinie umso grö-ßer, als Dienstleistungsarbeit in der internen Differenzierung ab-hängiger Beschäftigung zunehmend in den Mittelpunkt arbeits-gesellschaftlicher Wirklichkeit tritt. Beide zusammen markieren dieEntstehung eines Typus des Wissensarbeiters, der sich, mit hohenQualifikationen ausgestattet, nicht mehr täglich im blauen Overalldie Hände schmutzig macht.

Stattdessen führt die Pluralisierung arbeitsgesellschaftlicher Wirk-lichkeit eher zu der Überlegung, dass die Figur des Arbeitnehmersin der Entwicklung der Produktion nicht mehr ohne Weiteres eineFigur der Vereinheitlichung zu sein scheint. Mehr noch: Arbeitscheint überhaupt nur noch bedingt zur Thematisierung sozial-struktureller Ungleichheit und normativer Deutungsheimat zu tau-gen. An ihre Stelle sind neue Arenen soziologischer Ungleichheits-analyse getreten. Nicht mehr der Betrieb gilt als Verdichtungspunktgesellschaftlichen Wandels, sondern die Zivilgesellschaft bildet zu-nehmend den Ort, an dem Vergesellschaftung paradigmatisch beob-achtet werden kann. An die Stelle des Arbeiters tritt der Bürger insZentrum der Aufmerksamkeit, der sich, ungeachtet seines sozio-ökonomischen Status, an Assoziierungen beteiligen kann – odereben nicht. Großgruppenkategorien ergeben sich nicht mehr orga-

6 Bahrdt, »Die Angestellten«, S. 16

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nisch aus einer Situation gemeinsamer Betroffenheit. Kollektive wer-den zunehmend zu individuellen Assoziationen der Gleichheit.

Betrifft die erste Herausforderung den Ort, betrifft die zweite dieFrage nach dem Subjekt soziologischer Analyse. Sie lenkt den Blickauf die Notwendigkeit einer Soziologie, die den Akteur ins Zentrumihrer Überlegungen rückt. In der Betonung der Akteurskompetenzlässt sich soziale Ungleichheit nicht ohne Weiteres in der Großgrup-penlogik eines Proletariats industrieller Moderne verstehen. Zwarbestimmt die objektive Lage die Handlungsfähigkeit der Leute we-sentlich mit. Aber es gilt doch zu klären, wie Subjektivität, Ressour-cenausstattung und Institutionen zusammenhängen. Kurz gesagt:Arbeit und Proletarität wurden aufs Abstellgleis soziologischer Ge-genwartsbeschreibung manövriert.

Stattdessen haben Arbeitslosigkeits-, Exklusions-, und Prekari-tätsforschung7 mit konzeptionell ebenso wie empirisch vielfältigenStudien auf neu entstehende Verwundbarkeiten und veränderteMuster sozialer Ungleichheiten unter den Bedingungen von Lang-zeitarbeitslosigkeit, atypischer Beschäftigung und dem Wandel so-zialstaatlicher Sorgeleistungen hingewiesen. Wie das Konzept desDienstleistungsproletariats gerade im Schatten dieser Diagnosen zursoziologischen Herausforderung wird, steht im Zentrum der fol-genden Überlegungen.

Es gibt mehrere Möglichkeiten der Lektüre dieses Buches: Werden direkten Problemeinstieg sucht, kann mit dem zweiten, phäno-menorientierten Teil beginnen, um sich den im ersten Teil entwickel-ten Rekonstruktionsansatz sowie den Traditionsbezug nachträglichzu erschließen. Die Diskussion um das Be- oder Entstehen einesDienstleistungsproletariats im Zuge ökonomischer Tertiarisierungbeziehungsweise die Frage nach der Persistenz von Klassen undProletarität8 rückt im ersten Teil einen Bereich der Sozialstrukturund Arbeitswelt ins Licht, mit dem die Dynamiken moderner Ar-beitsmärkte unter dem Stichwort sozialer Spaltung herausgefordert

7 Siehe dazu etwa: Scherschel/Streckeisen/Krenn (Hg.), Neue Prekarität; Jür-gens, »Prekäres Leben«; Grimm/Vogel, »Prekarisierte Erwerbsbiographienund soziale Ungleichheitsdynamik«; Castel/Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg,Ausgrenzung; Vogel, »Prekarität und Prekariat«.

8 Geißler, »Das mehrfache Ende der Klassengesellschaft«; ders., »Kein Ab-schied von Klasse und Schicht«; Vester, »Was wurde aus dem Proletariat?«

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sind. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass die bisherigen Analysenzum Dienstleistungsproletariat allerdings um eine Dimension er-weitert werden müssen, die die Verwendung eines Proletariatsbe-griffs geradezu einfordert und die die Konzeptionen jedoch weitge-hend außen vor lassen: Es ist die Dimension der Gesellschaftsbilder.Proletarität ist ein sozialer Sachverhalt, der mehr ist als ein Beschäf-tigungsverhältnis. Mit ihr wird immer auch nach der Spezifik vonLebensmodellen gefragt. Das heißt, wer sich dafür interessiert, durchwelche Faktoren Dienstleistungsarbeit eine proletarische Qualitäterhält, kann nicht nur nach der materiellen Ausstattung fragen, son-dern muss sich auch die Frage nach dem Selbst- und Weltbezug derBeschäftigten stellen. Gesellschaftsbilder sind das Scharnier, dasdie Strukturbildungen und Handlungsabläufe einer sozialstrukturellsensiblen Analyse erst um die notwendige Dimension der Sinnpro-jektionen zu einer Trias ergänzt. Es bleibt die Frage: Lassen sich sol-che generalisierbaren Korrespondenzen zwischen Arbeitserfahrun-gen und Bewusstseinszuständen heute überhaupt noch erwarten?Was das Konzept heute leisten kann und warum es gerade in derGegenwart zum zentralen Bezugspunkt soziologischer Forschungwird, zeigt der erste Teil.

Nach der Sondierung der Debatte um das Dienstleistungsprole-tariat und dem Forschungsstand zum Gesellschaftsbild beginnt dieempirische Suche dort, wo das Dienstleistungsproletariat seinemNamen nach seinen Ausgangspunkt nimmt: in der Arbeit. Währendder zweite Teil zwischen der Materialität der Arbeit und der an sieannoncierten Orientierungen die Verbindungslinien zu einer prole-tarischen Lebensweise auslotet, geht es im dritten Teil um die Rele-vanz von Zukunft als einem Horizont gestaltbarer Zeit. Der vierteTeil kann schließlich als Resümee gelesen werden. Unter der Maß-gabe der Frage nach einem Dienstleistungsproletariat wird er diepolitischen Orientierungen der Beschäftigten »einfacher«9 Dienst-leistungsarbeit auf Chancen kollektiver Assoziierung und Agency

9 Eines sei zur Begriffswahl vorangestellt: Der Begriff »einfach« ist hier wie imFolgenden keineswegs despektierlich gemeint. Vielmehr adressiert er, wie sichzeigen wird, zum einen den Anschluss an den englischen Begriff der »routineservices«, wie ihn die Debatte um das Dienstleistungsproletariat prägt. Zumanderen adressiert er die Haltung, die die Mehrheit der Beschäftigten selbstgegenüber ihrer Arbeit hat.

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erkunden. Im Bilanzieren der vorangegangenen Überlegungen wirddieser abschließende Teil eine Antwort auf die Frage geben, obin den Arbeitsmärkten »einfacher« Dienstleistungen tatsächlich dieRückkehr eines Dienstleistungsproletariats zu konstatieren ist.

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I Das Konzept eines Dienstleistungs-proletariats oder von der Reformulierungeines verbrauchten Begriffs?

Noch bevor man nach Lebensmodellen fragen kann, muss man et-was Spezifisches benennen können: den Begriff Dienstleistungspro-letariat und mit ihm die Historie der Debatte um Tertiarisierungsowie ihre Schwierigkeiten, den Bereich »einfacher« Dienste zu se-hen. Mit dem viel diskutierten Wandel der Industrie- zur Dienstleis-tungsgesellschaft und der damit einhergehenden Pluralisierung derArbeitswelt ist der Industriebetrieb nicht mehr der einzige maß-gebliche Verdichtungspunkt gesellschaftlichen Wandels. Neben ihntritt in modernen Ökonomien zunehmend der Bereich der tertiärenDienste. Management und Ingenieurwesen ebenso wie Wissenschaftund Administration werden zu tragenden Säulen nicht nur bundes-republikanischer Ökonomien. Die Grundzüge der Debatte sind bisheute von einer Chancenrhetorik geprägt. Mit der empirischenFrage nach einem Dienstleistungsproletariat wird allerdings eine alteEntität der Arbeitswelt revitalisiert, die mit dem Aufbruch in dieDienstleistungsgesellschaft ihr vermeintliches Ende hätte finden sol-len: die Gruppe der Arbeiter.

Die Ernüchterung einer VisionDie Ernüchterung einer Vision

Die theoretische Debatte zur Entwicklungsdynamik der Dienstleis-tungsgesellschaft beginnt mit einer optimistischen Phase.1 Ob Jean

1 Häußermann/Siebel, Dienstleistungsgesellschaften. Siehe auch: Baethge,»Kompetenzentwicklung und Beruflichkeit«; ders., »Kompetenzentwick-lung und Professionalisierung im Dienstleistungssektor«.

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Fourastié,2 Daniel Bell,3 Alan Gartner oder Frank Riessman4 – dieFrage nach einem Dienstleistungsproletariat hätte den Klassikerneher ein konsensuelles Kopfschütteln abgerungen.

Ihre Prognosen eines tertiären Strukturwandels der Arbeitsweltversprechen die alte Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit auf-zulösen. Begründer der Debatte ist Jean Fourastié. In seiner Ana-lyse avanciert der Weg von der Industrie- zur Dienstleistungsge-sellschaft 1949 regelrecht zur »großen Hoffnung des zwanzigstenJahrhunderts«.5 Der Drei-Sektoren-Theorie Colin Clarks6 folgendging Fourastié von einer sukzessiven Schwerpunktverschiebungder wirtschaftlichen Struktur und Erwerbstätigkeit vom primärenAgrarsektor, über den sekundären Industriesektor hin zum tertiärenDienstleistungssektor aus. Mit diesem Prozess wird Tertiarisierungfür ihn einerseits zum quantitativen Versprechen eines weitreichen-den Beschäftigungsmotors, der die verlorenen Arbeitsplätze einerrationalisierten Industrie auszugleichen verspricht. Die Besonder-heit dieses tertiären Beschäftigungsmotors beginnt mit einem erstaun-lichen Defizit. Dienstleistungsarbeit ist rationalisierungsresistent.Die Ursache ihres Widerstands gegen die Steigerungslogik einer Pro-duktivitätsnorm liegt im Prinzip einer »Uno-actu«-Produktion.7Dienstleistungen entstehen in der »Ko-Produktion« mit dem Kun-den. Produktion und Konsumtion finden mit ihr also nicht nurorts-, sondern auch zeitgleich statt, und hier beginnt die Rationali-sierungsresistenz anzuheben: Wenn die Anwesenheit des Kundenzur notwendigen Bedingung wird, dann werden Steigerungen derArbeitsproduktivität über die Einsparung von Arbeitskräften er-heblich begrenzt. Wer dennoch die Produktionsrate zu erhöhensucht, muss dann stattdessen mehr Dienstleister einsetzen.8 DiesesBeschäftigungswachstum wird umso mehr forciert, wenn Fourastiéin einem ungebremsten »Hunger nach Tertiärem« eine systemati-

2 Fourastié, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts.3 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft.4 Gartner/Riessman, Der aktive Konsument in der Dienstleistungsgesellschaft.5 Fourastié, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts.6 Clark, The Conditions of Economic Progress.7 Herder-Dorneich/Kötz, Zur Dienstleistungsökonomik.8 Fuchs, The Service Economy, S. 194f.; Dunkel/Weihrich, »Interaktive Ar-

beit«, S. 68; Rieder/Voß, »Interaktive Kontrolle und Interaktionskultur imCall-Center«; Bahl/Staab, »Das Dienstleistungsproletariat«.

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sche Ausweitung des Dienstleistungsbedarfs prognostiziert. Nichtnur sichern Restaurant und Wäscherei die individuelle Zeitersparnis.Die fortschreitende Rationalisierung der industriellen Produktionerhöht aus seiner Sicht auch den kollektiven Bedarf nach produkti-onsorientierten Dienstleistungen für die technologische Optimie-rung und administrative Organisation von Produktionsabläufen.9

Spätestens mit den produktionsorientierten Diensten der Planungund Organisation wird deutlich, dass die Prognose zur Dienstleis-tungsarbeit über einen quantitativen Beschäftigungsmotor hinausandererseits auch die Neubestimmung der Qualität von Arbeitüberhaupt verheißt, die noch Jahrzehnte nach dem diagnostischenAuftakt Fourastiés Gültigkeit beanspruchen kann. Daniel Bell istein zweiter wichtiger Kronzeuge, der das Aufkommen einer post-industriellen Gesellschaft, auch knapp 30 Jahre nach FourastiésUntersuchung, noch mit Freude erwartet.10 Er hat die Vision einerWissensgesellschaft, die nicht nur dem Wort gemäß eine nach-indus-trielle Gesellschaft ist. Gerade vor der Kontrastfolie einer industriel-len Schmiede der Produktion ist Dienstleistungsarbeit nicht längerkörperlich fordernde, schmutzige Arbeit am Material. Auf drei For-meln gebracht sei sie vielmehr interaktiv, wissensbasiert und sauber.Sie ist mit Bell ein »Spiel zwischen Personen«, das mehr den Kopf alsdie Hand braucht.11 In der Betonung von Wissen und Qualifikationsteht Dienstleistungsarbeit nach Bell auch nicht länger unter demstrengen Diktat direkter Kontrolle und der Bedrohung einer schnel-len Ersetzbarkeit, denen noch die Routinetätigkeiten industriellerProduktion unterliegen. Das eigene Wissen bringt stattdessen Ex-

9 Fourastié, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 274f.10 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft.11 Ebenda, S. 131. Wenn in der Ko-Produktion die Arbeitskraft der Dienstleister

zum immanenten Bestandteil des Produktes wird, dann erzeugt Dienstleis-tungsarbeit einerseits eine bis dahin ungekannte Interaktivität im Produk-tionsprozess. Körperliche Last und Monotonie industrieller Produktion wer-den gegen das getauscht, was Bell ein »Spiel zwischen Personen« nennt.Andererseits erfordert dieses zwischenmenschliche Spiel, indem es auf diePlanung, Organisation und die Effizienzsteigerung immer elaborierterer Ma-schinen konzentriert ist, geistige Aufgaben. Mit ihnen tritt an die Stelle derUnterscheidung zwischen abhängiger und unabhängiger Arbeit der indus-triellen Produktion die Differenz zwischen Hand- und Kopfarbeit.

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pertise, die sich nicht mehr einfach kontrollieren lässt, sondern imSinne funktionaler Spezialisierung Freiraum fordert.

Im eigenen Wissensfundus einer spezialisierten Dienstklasse ent-stehen so Chancen individueller Autonomiespielräume und Ver-handlungsmacht über die eigene Stellung im Betrieb. Denn wer spe-zielle Kenntnisse der eigenen Profession beherrscht, ist auf einemMarkt des Wissens begehrt. Sozialstrukturell nimmt die Wissensge-sellschaft damit Abschied von einer industriellen Achse des Eigen-tums. Anstelle des Besitzes an Produktionsmitteln ensteht mit demAufstieg der Wissensindustrien eine Vorstellung neuer sozialer Ord-nung, die Wissen zum axialen Prinzip postindustrieller Sozialstruk-tur erklärt. Dieses Wissen betont Pluralisierungs- und Individuali-sierungserwartungen und setzt die Kopfarbeiter der Dienstklasse alsIngenieure, Produktmanager und Juristen in das obere Drittel derBell’schen Sozialordnung.

Professionslogische Ungleichheitsforschung

Während die Klassiker einer aufkommenden tertiären Ökonomievor diesem Hintergrund allein der Möglichkeit der Rückkehr einesProletariats noch eine Absage erteilt hätten, setzen mit der Sozial-strukturanalyse wichtige Ernüchterungen ein. Stand den Prognosti-kern Fourastié und Bell eine positive Vision vor Augen, finden sichin der Ungleichheitsforschung erste Autoren einer kritisch-pessi-mistischen Wende. Den Weg ebneten ihr William J. Baumol, HarryBraverman und Jonathan I. Gershuny.12

Ihre Kritik ist zunächst quantitativer Natur. Hatten die Klassikervor allem die Arbeiterfrage zurückgewiesen, ist in der Ungleich-heitsforschung die ungebremste Ausweitung der Dienstleistungs-beschäftigung überhaupt infrage gestellt. Während nach Gershunyweniger eine Dienstleistungsgesellschaft, sondern eher eine »Selbst-bedienungsgesellschaft« entsteht, sieht Baumol den »unbändigenHunger nach Tertiärem« vor allem an seiner Kostenkrankheit erlah-men, wenn er nicht durch staatliche Investitionen finanziert wird

12 Baumol, »Macroeconomics of Unbalanced Growth«; Braverman, Die Arbeitim modernen Produktionsprozess; Gershuny, Die Ökonomie der nachindus-triellen Gesellschaft.

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oder eine Entkopplung des Dienstleistungseinkommens vom Indus-triearbeitslohn stattfindet. Ist es also bei Gershuny das Zusammen-spiel von Mensch und Maschine, das in Waschmaschine, Fön undMikrowelle dienstleistende Tätigkeiten ersetzt, dann ist es bei Bau-mol vor allem das Finanzierungsproblem, das er so lange entstehensieht, wie sich die Lohnentwicklung in den Arbeitsmarktbereichender Dienstleistungsarbeit an denen der Industriesektoren orientiert:Während die Industriezweige Lohnzuwächse durch Produktivitäts-steigerungen erwirtschaften, verdienen dienstleistende Tätigkeitenzunehmend mehr, als sie nach Produktivitätsgesichtspunkten tat-sächlich einbringen können.13 Die wachsende Schere zwischen gleich-bleibender Produktionsleistung und steigenden Lohnausgaben wirdnach Baumol zunächst über Preisbildung reguliert. Anders gesagt:Die Dienstleistung wird teurer. Dieser Angleichungsprozess hataus seiner Sicht aber ein Ablaufdatum. Er funktioniert so lange, bisdie Dienstleistung aus Kostengründen keine Abnehmer mehr findetund sich daher selbst abschafft.

Mit Blick auf gegenwärtige Beschäftigungszahlen scheint diequantitative Skepsis allerdings unbegründet. Dienstleistungsarbeitdominiert die Beschäftigungszahlen. Gut 70 Prozent der Erwerbs-tätigen arbeiten gegenwärtig im tertiären Sektor.14 Immer wenigerMenschen sind dagegen noch mit manueller Produktionsarbeit be-schäftigt. Die Bundesrepublik ist in der Dienstleistungsgesellschaftangekommen.

Neben der quantitativen Kritik leisten die Autoren der kritisch-pessimistischen Wende aber auch eine sozialstrukturelle Differen-zierung. Harry Bravermans These einer Polarisierung qualifizierterund unqualifizierter Tätigkeiten im Prozess der Tertiarisierungmacht früh auf mögliche Spaltungslinien einer postindustriellenSozialstruktur aufmerksam.15 Entlang der Unterscheidung von

13 Schon an dieser Stelle wird einsichtig, dass die Voraussetzung für BaumolsKostenkrankheit die in der Debatte um Tertiarisierung vielfach protegierteAnnahme ist, dass Dienstleistungsarbeit ihrem Profil nach rationalisierungs-resistent ist und Produktivitätszuwächse daher systematisch verunmöglicht.

14 Statistisches Bundesamt: Arbeitsmarkt; Bosch/Weinkopf, »Arbeitsverhält-nisse im Dienstleistungssektor«, S. 439.

15 Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozess.

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»white collar« und »blue collar«, wie sie auch die Industriesoziolo-gie bereits mit C. Wright Mills16 entworfen hat, beobachtet er eineTrennlinie, die die blauen Overalls der Industriearbeiter von denweißen Kragen in der Dienstleistungsarbeit trennt. Spätestens mitRobert Erikson und John H. Goldthorpe kommt eine explizit klas-sentheoretische Perspektive in das Feld dienstleistender Tätigkeitenzurück.17 Was ihre Analysen zeigen, ist nicht nur eine interne Diffe-renzierung tertiärer Sozialstruktur, sondern die Fortexistenz vonKlassenstrukturen und mit ihr die Persistenz objektiver Kollektiv-kategorien in der Dienstleistungsgesellschaft. Inspiriert von diesenAnalysen zeigt etwa Walter Müller für die Bundesrepublik, wie dieeinst gehegten Individualisierungserwartungen regelrecht verdamp-fen, sobald die »Dienstklasse« nicht länger als soziale Einheit be-griffen bleibt, sondern als Konglomerat aller Dienstleistungsberufeerkannt wird.18 Entlang der Unterscheidung verschiedener Tätig-keitslogiken zeigt Müllers dreigliedrige Professionsdifferenzierungder Dienstklasse, dass hinter der augenscheinlichen Heterogenitätdurchaus Aggregate mit analogen Handlungstendenzen und geteil-ten politischen Präferenzen in Erscheinung treten.19

Sosehr die Analysen notwendige sozialstrukturelle Schneisenin die optimistischen Prognosen der theoretischen Klassiker einertertiären Ökonomie geschlagen haben, orientieren die verschiede-nen Perspektiven der Ungleichheitsforschung ihre Studien aller-dings an zwei unterschiedlichen Begriffen, die es auseinanderzuhal-ten gilt. Während der Begriff der »Dienstklasse« den Dienst an derHerrschaft adressiert, der bis heute gut bezahlt wird, bedarf die Er-fassung des Bereichs »einfacher« Dienste den hiervon zu trennendenBegriff der »Dienstleistung« am Kunden. Anders gesagt leis-ten gerade etwa die sozialstrukturellen Befunde von Goldthorpeund Erikson vor allem eine professionslogische Differenzierung derDienstleistungsberufe einer Dienstklasse, die mit Administration,technischer Intelligenz und Kulturarbeitern in erster Linie das obereDrittel eines sozialstrukturellen Modells von Tertiarisierung diffe-

16 Mills, White Collar.17 Erikson/Goldthorpe, Constant Flux.18 Müller, »Klassenstruktur und Parteiensystem«.19 Müller, »Klassenstruktur und Parteiensystem«; Müller, »Sozialstruktur und

Wahlverhalten«.

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renziert. Am Phänomen »einfacher« Dienste gehen sie daher not-wendig vorbei.

Einen ersten wichtigen Hinweis auf eine solche Perspektivver-schiebung liefern im Übrigen die eingangs erwähnten Überlegungenvon Baumol.20 Auf der Suche nach Auswegen aus der Kostenkrank-heit stößt Baumol auf zwei Lösungswege, die für die Debatte umTertiarisierung bis heute von Bedeutung sind. Während im erstenAusweg die entstehenden Preissteigerungen durch staatliche In-vestitionen finanziert werden, ist vor allem der zweite unter derPerspektive sozialstruktureller Differenzierung von besonderem In-teresse. Er liegt in einer Entkoppelung des Dienstleistungseinkom-mens vom Industriearbeitslohn entlang seiner je eigenen Produk-tivität. Was zunächst vor allem einen gangbaren Ausweg aus derprognostizierten Kostenkrankheit weist, formuliert bei genaueremHinsehen zugleich das konzeptionelle Rüstzeug einer sozialstruktu-rellen Spaltung, da Baumol für die so entstehende Einkommensent-wicklung schließlich folgendenden Ausgang prognostiziert: Währenddie produktiven Sektoren der Industrie entlang ihrer Produktivitäts-steigerungen weiterhin Lohngewinne für sich verzeichnen können,gehören die Dienstleistungssektoren in dieser Differenzierung zuden unproduktiven Sektoren, die durch ihre Rationalisierungsresis-tenz keine Produktivitätsgewinne und damit keine Lohnsteigerun-gen für sich erwirtschaften und rechtfertigen können.21 Die Folge isteine Lohnspreizung und damit ein erster Hinweis auf die Entste-hung der Niedriglohnsektoren »einfacher« Dienste.

Im toten Winkel industriesoziologischer Analyse

Auch die Arbeits- und Industriesoziologie hat sich lange Zeit schwergetan mit der theoretischen Erschließung des Arbeitsmarktbereichs»einfacher« Dienstleistungen.22 Als eine der Leitdisziplinen bundes-

20 Baumol, »Macroeconomics of Unbalanced Growth«.21 Ebenda.22 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie; Brose, »Proletarisierung,

Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit?«; Esping-Andersen (Hg.),Changing Classes; Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale

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republikanischer Nachkriegssoziologie galten ihre Befunde als seis-mografischer Hinweis auf die Entwicklung der Arbeitsgesellschaftin ihrer Gesamtheit.

Die Themensetzungen der Nachkriegszeit geben aber auch einenHinweis auf negative Konsequenzen dieser einflussreichen Debat-ten für die Teildisziplin selbst. Beginnt die Ungleichheitsforschungdie diagnostischen Versprechen einer tertiären Ökonomie vor allementlang der Analyse einer Dienstklasse zu ernüchtern, hatte die Ar-beits- und Industriesoziologie ihrem disziplinären Zuschnitt gemäßDienstleistungsarbeit lange Zeit gar nicht auf ihrem Radar. Es warder Industriebetrieb, der bis in die 1990er Jahre hinein als emblema-tisch für die Entwicklung der Arbeit in der Bundesrepublik geltensollte. Die Perspektivverengung auf betriebliche Rationalisierungs-dynamiken und die Folgen des technischen Wandels für die Ent-wicklung der Qualifikationen ist nach Hanns-Georg Brose Teil derErfolgsgeschichte der wissenschaftlichen Institutionalisierung derArbeits- und Industriesoziologie.23 Sie hat nach ihm aber auch An-teil an ihrer schon häufig konstatierten Krise.24 Die Disziplin habeso systematisch den Anschluss an thematisch immer wichtiger wer-dende Fragen eines arbeitsgesellschaftlichen Strukturwandels verlo-ren.25 In ihrer Konzentration auf die Figur des Industriearbeitersübersieht sie Desiderate eines Prozesses zunehmender Tertiarisie-rung, bei denen das empirisch feingliedrige Instrumentarium undMethodenwerk industriesoziologischer Studien von großem Wertsein kann.

Dies gilt umso mehr, als gerade die industriesoziologische Ange-stelltenforschung schon früh entscheidende Differenzierungsachsen

Ungleichheit«; Oesch, Redrawing the Class Map; Bahl/Staab, »Das Dienst-leistungsproletariat«.

23 Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit?«,S. 131.

24 Zuletzt: Deutschmann, »Die Gesellschaftskritik der Industriesoziologie«;Hirsch-Kreinsen, »Renaissance der Industriesoziologie?«; Lohr, »Subjekti-vierung von Arbeit«; Maurer, »Elend und Ende der Arbeits- und Industrieso-ziologie?«; Kühl: »Von der Krise, dem Elend und dem Ende der Arbeits- undIndustriesoziologie«; Jürgens, »Perspektiverweiterung statt Kriseninszenie-rung«.

25 Brose, »Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit?«,S. 133.

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in die Tertiarisierungsdebatte eingezogen hat. Angefangen von denStudien Emil Lederers und Siegfried Kracauers über Analysen wiedie von C. Wright Mills, William H. Whythe und Theo Pirker26 bishin zu den Untersuchungen von Ralf Dahrendorf, Rainer Geißlerund Martin Baethge27 macht die Angestelltenforschung nicht nurkonzeptionell auf den folgenreichen Strukturwandel von Arbeitaufmerksam. Sie liefert detaillierte arbeitssoziologische Befunde ausRationalisierungs- und Bewusstseinsforschungen.28 Ihre Ergebnisseresümieren zunächst in der Ernüchterung einhelliger Autonomie-und Individualisierungshoffnungen. Ein maßgebliches Beispiel lie-fert etwa die erwähnte Studie »White Collar« von Mills. Die Un-tersuchung basiert auf Felduntersuchungen in amerikanischen Ver-waltungen und Unternehmen. Vom Manager über technische undadministrative Experten bis hin zum Verkaufspersonal macht Millsmit Fragen nach Bürokratisierung und Hierarchisierung der Ar-beitsumgebung, nach technisch-organisatorischer Rationalisierung,emotionaler Kontrolliertheit der Tätigkeit und Formalisierung derArbeitsinhalte vor allem kritisch auf die Arbeitssituation von Ange-stellten aufmerksam. Die von Mills diagnostizierte Kommerzialisie-rung der Subjektivität der Angestellten ist noch Jahrzehnte danachwegweisend.29 Am Beispiel des Verkaufspersonals im »great sales-room« zeigt Mills, dass die Verkaufskräfte sämtliche Handlungs-

26 Lederer, Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung;Kracauer, Die Angestellten; Mills, White Collar; Whythe, The OrganizationMan; Pirker, Bürotechnik. Siehe auch: Bahrdt: Industriebürokratie; Braun,Zur Soziologie der Angestellten; Kadritzke, Angestellte; Mallet, Die neue Ar-beiterklasse.

27 Ralf Dahrendorf mit der Begriffsbildung des »falschen Mittelstands« in:ders., Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 105; Rainer Geißler mitder »industriellen Dienstleistungsgesellschaft« in: ders., Die SozialstrukturDeutschlands; Baethge, »Qualifikation, Kompetenzentwicklung und Profes-sionalisierung im Dienstleistungssektor«; Baethge/Oberbeck, Zukunft derAngestellten.

28 Für einen Überblick zur industriesoziologischen Angestelltenforschung siehe:Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie; Beckenbach, Industrieso-ziologie. Es sind gerade Bewusstseinsforschungen, die die Angestellten alssoziale Gruppe zu begreifen suchen, die im Zentrum einer Angestelltensozio-logie stehen.

29 Riesman/Denney/Glazer, The Lonely Crowd; Whythe, The OrganizationMan; Hochschild, The Managed Heart.

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spielräume bei der Auswahl und Auslage des Sortiments ebenso wiebei der Preisgestaltung eingebüßt haben. Die Hauptaufgabe der An-gestellten begrenzt sich stattdessen auf den Verkauf ihrer Persön-lichkeit und damit auf das, was Mills »the art of ›handling‹, sellingand servicing of people« nennt.30 Für Arlie R. Hochschild31 wird diedamit verbundene Überlegung, dass die Subjektivität gerade in derKundenbezogenheit von Dienstleistungsarbeit ein kommerzialisier-barer Faktor ist, in ihrer Untersuchung der Arbeit von Stewar-dessen unter dem Stichwort der »Gefühlsarbeit« maßgeblich. So-sehr Mills damit zum Vorbild wird, ist die Studie nach ChristophDeutschmann gleichzeitig eine der umstrittensten soziologischenUntersuchungen der Angestellten der Nachkriegszeit.32 Nicht nurformiert sich alsbald Kritik an mangelnder empirischer Präzision,sondern gerade auch die Darstellung der Taylorisierung und Techni-sierung der Büroarbeit fordern anschließende Untersuchungen zurDifferenzierung auf.33 So belegt die Studie von Siegfried Braun undJochen Fuhrmann zur Arbeitssituation von männlichen, kaufmän-nischen und technischen Angestellten in verschiedenen Industriebe-trieben nur eine sehr begrenzte Gültigkeit von Standardisierung undRoutinisierung der Arbeit nach dem Vorbild des Taylorismus.34 Da-mit stehen die Befunde von Braun und Fuhrmann denen von Millskritisch gegenüber.

Ein Dienstleistungsproletariat

Sosehr die drei Traditionslinien erkenntnisleitende Achsen der Dif-ferenzierung in die Heterogenität tertiärer Arbeitswelten einziehen,haben sie doch blinde Flecken für die Analyse einer gegenwärtigenArbeitsgesellschaft hinterlassen. Wie die einstigen prognostischenVisionen zielen auch die sozialstrukturellen und industriesoziologi-schen Differenzierungen vor allem auf professionsgebundene sowie

30 Mills, White Collar, S. 182.31 Hochschild, The Managed Heart.32 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 224.33 Siehe dazu etwa: Pirker, Bürotechnik; Deutschmann, Postindustrielle Indus-

triesoziologie.34 Braun/Fuhrmann, Angestelltenmentalität.

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Büro- und Shopfloorzentrierte Dienstleistungstätigkeiten ab undsetzen die qualifizierten Dienstleistungsberufe mit männlicher Per-sonalbesetzung ins Zentrum ihrer Forschungen.35

Demgegenüber entwickelt Esping-Andersen am Begriff des »Ser-vice-Proletariats« ein klassentheoretisches Modell der tertiären So-zialstruktur, das die Aufmerksamkeit soziologischer Analyse geradesystematisch auf das weibliche Gesicht »einfacher« Dienstleistungenlenkt.36

Dienstleistungsarbeit erschöpft sich nicht in den Milieus der »wei-ßen Kragen«.37 Die tertiären Ökonomien sind auch der Ort teilweiseunregulierter und ökonomisch prekärer Service- und Dienstleis-tungsarbeit. Das entscheidende Stichwort dafür ist die Entstehungder Global Cities, wie sie Saskia Sassen untersucht.38 Zeitgleich mitden spezialisierten hochproduktiven Wissensökonomien in den glo-balen Zentren gewinnt – so ihre These – auch ein Segment »einfa-cher« Dienstleistungen Raum. Die Büros der IT-Industrien müssengereinigt, die Sicherheit firmenintern sensibler Informationsberei-che muss gegenüber dem Zutritt Unbefugter gewährleistet und dieFirmenpost über private Postzusteller und Paketservices sowiemobile Fahrradkuriere just in time zugestellt werden. So entstehtein Bataillon an »einfachen« Dienstleistern, die den hochprodukti-ven »weißen Kragen« einer Wissensökonomie als Gebäudereiniger,Wach- und Schließdienste sowie Postboten zur Seite stehen. DasPrimat der Wissensproduktion produziert also auch eine Gruppewissensökonomisch entkoppelter Dienstleistungsarbeiter.

Mit dieser Überlegung im Hintergrund unterstützt Esping-Andersen dann nicht nur die sozialstrukturelle Einsicht, dass die»Dienstklasse«39 keine geschlossene soziale Einheit ist, dass sich,anders gesagt, Verwaltungsbereiche schnell von den technisch orien-tierten Diensten der Ingenieure und ebenso von den sozial-kulturel-

35 Siehe: ebenda. Zum Überblick siehe: Deutschmann, Postindustrielle Indus-triesoziologie, S. 220.

36 Esping-Andersen (Hg.), Changing Classes.37 Mills, White Collar.38 Sassen, The Global City; Sassen, »Dienstleistungsökonomien und die Be-

schäftigung von MigrantInnen in Städten«.39 Erikson/Goldthorpe, Constant Flux.

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len Diensten eines Sozialpädagogen unterscheiden lassen und derIngenieur oft nicht die politischen Präferenzen des Sozialpädagogenteilt.40

Was Esping-Andersen zeigt, ist mehr. Es ist die Einsicht, dass eineprofessionsgebundene Analyse von Dienstleistungstätigkeiten nichtausreicht, will man die Realität postindustrieller Arbeitswelten an-gemessen fassen. Mit dem Dienstleistungsproletariat wird auf eineSpaltung moderner Arbeitsgesellschaften aufmerksam gemacht, in-nerhalb derer der Arbeitswelt einer Dienstklasse ein Bereich »einfa-cher« Dienstleistungen gegenübersteht.

Kennzeichnen die Tätigkeitsfelder von Administration, techni-schen ebenso wie sozio-kulturellen Diensten in der Regel spezifischestandardisierte Ausbildungsgänge und Professionalisierungsmuster,gelten im Bereich »einfacher« Dienste unklare Zertifikationsanfor-derungen und qualifikatorische Durchmischungen.41 ErfolgreicheProfessionalisierungsprozesse sind hier kaum zu beobachten. VieleTätigkeiten sind zwar formal Ausbildungsberufe. Faktisch wirdaber in Gebäudereinigung und anderen Arbeitsfeldern von den Un-ternehmen kein Vorweis einer zertifizierten Ausbildung gefordert.Ganz im Gegenteil sind zertifikationsindifferente Jedermannsar-beitsmärkte entstanden, in denen das Lohn- und Anspruchsniveaufür die Beschäftigten niedrig bleibt. Vorhandene Bildungszertifikatewerden entwertet, einerseits durch unklare und flexible Tätigkeits-profile42 ebenso wie durch spezifische strukturelle Faktoren, dassetwa Tätigkeiten als Nebenerwerb ausgeübt werden oder in denArbeitsmarktbereichen »einfacher« Dienste zwangsrekrutierte Ar-beitskräfte43 zum Einsatz kommen. Andererseits spielt die infla-tionäre Präsenz44 von Zertifikationen am Arbeitsmarkt eine Rolle.Drittens ist für die Entwertung die fehlende Anerkennung bezie-hungsweise Verwertbarkeit der Bildungsabschlüsse von Migranten

40 Müller, »Klassenstruktur und Parteiensystem«; Müller, »Sozialstruktur undWahlverhalten«.

41 Holtgrewe, »Geschlechtergrenzen in der Dienstleistungsarbeit«, S. 149.42 Oswald, Migrationssoziologie, S. 155; Sennett, Der flexible Mensch.43 Hierzu zählen die nach Aussetzung der Wehrpflicht rar gewordenen Zivil-

dienstleistenden und die sogenannten Ein-Euro-Jobber.44 Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 216; Vester/Teiwes-

Kügler/Lange-Vester, Die neuen Arbeitnehmer.

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entscheidend.45 Bedenkt man, dass zertifizierte Qualifikation ge-rade im bundesrepublikanischen Kontext eine wichtige Funktionals »Türöffner« zu Arbeitsmärkten besitzt, dann zeigt sich der Be-reich »einfacher« Dienstleistungsarbeit im Querschnitt als extremheterogener Ort, in dem alte Statusordnungen unter Druck geratensind. Wie begegnen die Betroffenen dieser zunehmenden Unbe-stimmtheit?

In jüngerer Zeit hat gerade die Debatte über »Prekarisierung«diesem Wandel der Arbeit Rechnung getragen und ihren analy-tischen Blick etwa unter dem Stichwort »prekärer Dienstleistungen«auch auf die Arbeitsmärkte »einfacher« Dienste ausgeweitet.46 DieNotwendigkeit der konzeptionellen Unterscheidung von Preka-risierung gegenüber einem Dienstleistungsproletariat bleibt aberunvermeidlich, besteht doch das Verdienst der Prekarisierungs-debatte vor allem darin, eine Brücke vom unteren Bereich der So-zialstruktur in die Mitte der Gesellschaft zu schlagen, etwa in derAusdeutung einer »Zwischenzone«.47 Gøsta Esping-Andersen hatdagegen den Strukturwandel zunehmender Tertiarisierung in mo-dernen Arbeitsgesellschaften um die Komponente einer Spaltungs-linie erweitert.48

Das Dienstleistungsproletariat besetzt in der Ökonomie tertiärerArbeitswelten einen sozialstrukturell distinkten Ort. Gegenüberden Wissensarbeitern einer hochproduktiven Dienstleistungsöko-nomie gehen die Beschäftigten in Supermärkten, Gebäudereinigung,Postdiensten und Altenpflege ihrem Erwerb nach, ohne dass dieserihre Existenz ausreichend sichern würde. In den Tabellen des Statis-

45 Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt; Alt, Leben in der Schattenwelt.46 Siehe dazu etwa: Castel/Dörre, Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung; Dörre/

Krämer/Speidel, Prekarität; Vogel, »Das Prekariat«; Vogel, »Prekarität undPrekariat«; Vogel, »Biographische Brüche, soziale Ungleichheiten und politi-sche Gestaltung, Bestände und Perspektiven soziologischer Arbeitslosigkeits-forschung«; Artus, »Prekäre Vergemeinschaftung und verrückte Kämpfe«;Artus, Interessenhandeln jenseits der Norm; Artus, »Prekäre Interessenver-tretung«; Bosch/Weinkopf (Hg.), Arbeiten für wenig Geld.

47 Vogel/Grimm, »Prekarität der Arbeitswelt«. In kritischer Auseinanderset-zung mit dem Exklusionsbegriff betont die Prekaritätsdebatte, den Dualismuseines Drinnen und Draußen ja gerade durch Verbindungslinien zu überwin-den, die das gesellschaftliche Zentrum mit seinen Rändern verbinden.

48 Esping-Andersen, Changing Classes.

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tischen Bundesamtes rangieren sie in den Sparten des Niedriglohn-sektors. Das Auskommen mit dem Einkommen fällt ihnen schwer,und ihre Anrechtschancen im sozialen Sicherungsnetz eines Wohl-fahrtsstaates sind meist gering. Nicht nur beschleunigt sich für sieder Wechsel zwischen drinnen und draußen, auch die Befristungvon Arbeitsverträgen ist neue Normalität, ebenso wie die Tatsacheder »Mehrfachbeschäftigung«. Stetig steigt zudem die Zahl derer, diesowohl vom Staat leben, als auch im Rahmen ihrer Möglichkeiteneiner beruflichen Tätigkeit nachgehen. So zählt die Bundesagenturfür Arbeit im Jahr 2012 rund 1,3 Millionen Aufstocker und zeigt,dass der Anteil derjenigen, die erwerbstätig sind und zugleich Trans-ferleistungen beziehen, von einem knappen Viertel im Jahr 2007, alsoim Jahr vor dem Ausbruch der Weltfinanzkrise, auf fast ein Drittelangestiegen ist.49 Unter ihnen findet sich auch das Personal »einfa-cher« Dienste, angefangen von der alleinerziehenden Krankenpfle-gehelferin, die ihren Lebensstandard zwischen Erwerbsarbeit undAufstocken zu halten versucht, bis hin zu der Mittsechzigerin, dieihren Lebensunterhalt zwischen Gebäudereinigungsschichten undTransfereinkommen bestreitet.

Die Distinktheit des damit skizzierten sozialen Ortes gilt umsomehr, wenn sich das Dienstleistungsproletariat nicht nur von denArbeitnehmern postindustrieller Wissensökonomien unterschei-det, sondern die Unterscheidbarkeit weiterreicht. Die Schlüsselfragenach »Proletarisierung« schlägt die Brücke zwischen der klassischenIndustriearbeiterschaft und der Figur des Arbeiters der Dienstleis-tungsgesellschaft. Im Dienstleistungsproletariat tritt einer männlichdominierten Industriearbeiterschaft nun ein vornehmlich weiblichesGesicht des Dienstleistungsproletariats gegenüber. Tertiarisierunglässt sich fast synonym mit dem Begriff der Feminisierung verwen-den.50 Gerade in den Bereichen von Sorge, Säubern und Service und

49 Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Analyse der Grundsicherung für Ar-beitsuchende.

50 Nicht jede Ausweitung von Dienstleistungstätigkeiten bedeutet die Auswei-tung weiblicher Arbeitskräfte, aber mit der Expansion des Dienstleistungssek-tors geht parallel die Expansion weiblicher Erwerbsbeteiligung einher. Siehedazu etwa: Betzelt/Kuhlmann (Hg.), Geschlechterverhältnisse im Dienstleis-tungssektor.

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der Reformierung von Unternehmensstrukturen führt der Weg derFrauen auf die Bühne der Erwerbsbeteiligung.51

Die Rolle zertifizierter Qualifikation und weiblicher Erwerbsbe-teiligung zusammengenommen markiert das Dienstleistungsproleta-riat nicht nur einen sozialstrukturell distinkten Ort gegenüber Wis-sensarbeitern ebenso wie gegenüber der Industriearbeiterschaft. DasPersonal »einfacher« Dienstleistungsarbeit verweist auf einen gesell-schaftsdiagnostisch relevanten Ausschnitt der Arbeitswelt und derSozialstruktur der Gegenwart, da Gender und Zertifikation nach Da-niel B. Cornfield und Randy Hodson zu den zentralen Achsen einerzeitgemäßen und internationalen »sociology of work« gehören.52

Die gegenwartsdiagnostische Relevanz wächst, da beide durcheine dritte Entwicklungsdynamik ergänzt werden müssen, die fürden Bereich »einfacher« Dienstleistungsarbeit kennzeichnend ist undnach Cornfield und Hodson ein weiteres Signum moderner Arbeits-

51 Nicht nur klassisch als feminin erachtete Tätigkeiten sind für den Bereich per-sonenbezogener Dienstleistungen prägend (Betzelt/Kuhlmann, Geschlech-terverhältnisse im Dienstleistungssektor). Es gibt Hinweise darauf, dass auchneue Tätigkeitsfelder zunehmend »gegendert« werden. Siehe dazu etwa:Kutzner, »Arbeitsbeziehungen in Call Centern«. Hieraus entstehen ambiva-lente Anforderungen an die Arbeitnehmerinnen: »Weibliches Arbeitsvermö-gen« (Beck-Gernsheim/Ostner, »Frauen verändern – Berufe nicht?«) wird imZuge des Profils der Dienstleistungsarbeit als »Emotionsarbeit« beziehungs-weise »Gefühlsarbeit« gefordert (Hochschild, The Managed Heart; Hacker,»Interaktive/dialogische Erwerbsarbeit«; Böhle/Glaser (Hg.), Arbeit in derInteraktion – Interaktion als Arbeit). Beide Begriffe spielen auf das an, wasMills früh eine »Kommerzialisierung der Gefühle« genannt hat und heutevielfach unter der Rubrik der sogenannten »soft skills« firmiert. Gleichzeitigdisqualifizieren vorherrschende Genderstereotype unter dem ökonomischenParadigma der Flexibilisierung (Sennett, Der flexible Mensch; Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus) Frauen für diese Tätigkeiten,ohne dabei zwangsläufig die klassischen Muster der Benachteiligung in totozu reproduzieren (Kutzner/Kock, »Arbeitsbeziehungen in Call Centern«;Holtgrewe, »Geschlechtergrenzen in der Dienstleistungsarbeit«). Zusätzlichführen Analogsetzungen spezifischer Tätigkeiten mit dem Geschlecht derAusführenden zu weiteren spezifischen Benachteiligungslagen (Lutz, VomWeltmarkt in den Privathaushalt; Hofbauer/Pastner, »Der diskrete Charmeder Diskriminierung«).

52 Cornfield/Hodson (Hg.), World of Works.

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welten darstellt: die Ethnisierung der Arbeitsmärkte.53 Aus einerweitreichenden Globalisierung der Arbeit erwachsen nach Cornfieldund Hodson Fragen nach transnationalen und ethnisierten Arbeits-formen und -märkten.54 In urbanen Ökonomien lässt sich nichtnur eine strukturelle Kopplung konstatieren, in der sich die Nach-frage nach Niedriglohndienstleistern an die Expansion qualifizierterDienstleistungen bindet. Dazu kommen Eigendynamiken migranti-scher Netzwerke,55 mit denen sich Fragen von Transnationalität undMobilität kreuzen, die nach Differenzierung verlangen. Der gut er-forschte Bereich haushaltsbezogener Dienstleistungen etwa gilt alsklassisches Terrain mobiler Arbeitskräfte mit häufig begrenztem oderirregulärem Aufenthaltsstatus.56 In der Gruppe der weniger mobilenMigranten sinkt hingegen das Ausmaß irregulärer Organisationsfor-men der Arbeit. Gleichzeitig werden hier durch Deregulierungs- undInformalisierungsprozesse ökonomische Prekarisierungsdynamikenin Gang gesetzt.57 Dazwischen liegen funktionale Kopplungen zwi-schen spezifischen Aufenthaltsstatus, kleingewerblichem Handel58

und verschiedenen Formen der Rekrutierung.59

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Dienstleistungsproletariatals Brennglas verstehen, in dem sich die Trends, Entwicklungen undHerausforderungen eines modernen Arbeitsmarktes gebündelt be-obachten lassen. Feminisierungs-, Ethnisierungs- und Zertifikati-

53 Hillmann/Scholz, Positionierung und Bedeutung ethnischer Arbeitsmärkte;Hillmann, »Ethnisierung oder Internationalisierung?«

54 Sassen, »Dienstleistungsökonomien und die Beschäftigung von MigrantInnenin Städten«, S. 89. Auch Konzepte dualer Arbeitsmärkte tragen diesen Dyna-miken Rechnung. Siehe dazu etwa: Doeringer/Piore, Internal Labor Marketsand Manpower Analysis; Wilson/Portes, »Immigrant Enclaves«; Piore, »In-ternationale Arbeitskräftemigration und dualer Arbeitsmarkt«.

55 Sassen, »Dienstleistungsökonomien und die Beschäftigung von MigrantInnenin Städten«; Hillmann, »Ethnisierung oder Internationalisierung?«

56 Lutz, Migration and Domestic Work; Rerrich, Die ganze Welt zu Hause; An-derson, Doing the Dirty Work; Momsen, Gender, Migration and DomesticService; Cyrus, »Managing a Mobile Life«; Alt, Leben in der Schattenwelt;Hess/Lenz, »Das Comeback der Dienstmädchen«; Heubach, »Migrantinnenin der Haushaltsarbeit«.

57 Frings, »Rechtspositionen und Regelungsdefizite für Migrantinnen im prekä-ren Sektor des Arbeitsmarktes«; Erel, »Soziales Kapital und Migration«.

58 Gemende, MigrantInnen in Dresden.59 Pijpers, »Circumventing Restrictions on Free Movement of Labour«, S. 242.

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onsfragen sind keinesfalls so klar voneinander geschieden, wie diekonzeptionelle Differenzierung suggeriert. Die Dimensionen erwei-sen sich als transversal verknüpfbare Merkmale. Nicht nur ist derDienstleitungssektor selbst durch Migration geprägt, sondern daszunehmend dominante Gesicht der Migration ist weiblich,60 und –feminisierte – Migration geht teilweise wiederum systematisch mitDequalifizierung einher.61 Alle drei Tendenzen bündeln sich damithäufig nicht nur in einer betrieblichen Einheit, sondern in einer ein-zelnen Arbeitnehmerin und potenzieren sich als Dynamiken gegen-seitig.

Mit diesen drei Dynamiken wird auch klar, dass es in der Fragenach einem Dienstleistungsproletariat nicht einfach um die Rück-kehr einer altbekannten Gruppe geht. Das Dienstleistungsprole-tariat bindet die klassische Frage industriegesellschaftlicher Kon-fliktlinien zwischen Kapital und Arbeit vielmehr mit einer neuenFragestellung bezüglich Gender, Ethnizität und Zertifizierung zu-sammen.

Die Überlegungen Esping-Andersens sind nicht ohne Gehör ge-blieben. Angestoßen durch seine theoretischen Erwägungen liefernHans-Peter Blossfeld und Karl Ulrich Mayer noch im selben Jahreine erste empirische Analyse auf bundesrepublikanischem Boden.62

Was Blossfeld und Mayer interessiert, ist vor allem die Frage sozialerMobilität. Mit ihr ergänzen sie die Suche nach einem spezifischensozialstrukturellen Ort um seine zeitliche Dimension in der sozialen

60 Metz-Göckel/Morokvasic/Münst, Migration and Mobility in an EnlargedEurope, S. 9; Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt.

61 Metz-Göckel/Morokvasic/Münst, Migration and Mobility in an EnlargedEurope, S. 17; Lutz, Vom Weltmarkt in den Privathaushalt, S. 70; Castro Varela/Clayton (Hg.), Migration, Gender, Arbeitsmarkt, S. 13; Haritaworn, »Derethnisierte Arbeitsplatz als paradoxer Ort der Identifikation«; Friese, »Dieosteuropäische Akademikerin, die im westeuropäischen Haushalt dient«. Vordem Hintergrund einer jeweils national spezifischen Form post-korporatisti-scher Organisation der Erwerbssphäre ist mit einer zunehmenden Feminisie-rung der Arbeitswelt die Zunahme nicht-standardisierter Arbeit verbunden.Im Zusammenhang mit einem wohlfahrtsstaatlichen »service gap« sowie Di-vergenzen zwischen nationalen Arbeitsmärkten kann sie ursächlich am Zu-wachs dequalifizierter Dienstleisterinnnen beteiligt sein.

62 Blossfeld/Mayer, »Berufsstruktureller Wandel und soziale Ungleichheit«.

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Dauer. Inwieweit stellt das Dienstleistungsproletariat eine sozialeGruppe dar, die in sich geschlossen ist?63

Auf Basis von Daten der frühen 1980er Jahre können sie zunächstEntwarnung geben. Ihre Analysen verneinen die statistische Exis-tenz eines Dienstleistungsproletariats, weil die Daten eine gewisseQuer-Mobilität zwischen der industriellen Arbeiterschaft und demServiceproletariat zeigen. Verfolgt man ihre Analysen weiter, ist dieseQuer-Mobilität allerdings einseitig gerichtet. Das heißt, die zu beob-achtende Bewegung entspricht weniger einer horizontalen Fluktua-tion im Sinne von: Wer heute im Einzelhandel die Regale einräumt,kann morgen auch bei einem Automobilkonzern am Band stehen.Vielmehr wird »einfache« Dienstleistungsarbeit häufig zum Auf-fangbecken gestrandeter (Industriearbeiter-)Biografien in Zeiten derDeindustrialisierung. Oder in den Worten von Blossfeld und Mayer:»Unskilled service jobs in Germany constitute a dumping groundfor middle-aged workers coming from other – frequently declining –occupations«.64

Aktuelle Befunde bestärken die statistische Evidenz. Konzeptio-nell auf den genannten Autoren aufbauend bemisst etwa DanielOesch in einem Vier-Länder-Vergleich die statistische Größe dieserGruppe für die bundesrepublikanische Arbeitsgesellschaft im Jahr2006 auf 11 % des Arbeitnehmeranteils und damit fast gleichauf mitder Größe der Arbeiterschaft in routinisierten industriellen Tätigkei-ten.65 Dazu bestärkt Oesch die Distinkheit der Gruppe gegenüber ih-rem industriellen Pendant. Er kann nicht nur die deutlichen Unter-schiede in den Genderanteilen belegen, beide Gruppen unterscheidensich auch signifikant in Bezug auf politische Orientierungen und Par-tizipation, gewerkschaftliche Organisation, ökonomische Sicherheitund Arbeitsbedingungen. In der Mehrzahl der Bereiche nehmenbeide Gruppen geradezu antipodische Positionen ein.66

63 Vor dem Hintergrund einer deutlich beobachtbaren Fluktuation der Beleg-schaft im Bereich »einfacher« Dienstleistungsarbeit bleibt die Frage nach dersozialen Geschlossenheit dieses sozialstrukturellen und arbeitsweltlichen Aus-schnitts bis in die Gegenwart eine besondere Herausforderung. Siehe etwa:Artus, »Prekäre Vergemeinschaftung und verrückte Kämpfe«.

64 Blossfeld/Giannelli/Mayer, »Is There a New Service Proletariat?«, S. 134.65 Oesch, Redrawing the Class Map, S. 220.66 Ebenda.

Page 30: Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft › img › books › extract › 3868546251_lp.pdf · 2018-01-16 · Jahren ein Konzept eingebracht, das für Zündstoff sorgt. Mit

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Die Rückkehr einer Trias – Arbeit, Herrschaft, Bewusstsein

Werden die Überlegungen von Esping-Andersen, Mayer und Bloss-feld sowie Oesch zusammengefasst gedacht, dann fallen zunächstzwei zentrale Dimensionen in den Blick, auf die das Konzept bislangaufmerksam macht. Eine erste ist Arbeit selbst:

In der von Esping-Andersen formulierten Heuristik zur Analysepostindustrieller Gesellschaften entsteht die Konzeptualisierung ei-nes Dienstleistungsproletariats entlang der jeweils vorherrschenden»work logics«, der Tätigkeitsprofile,67, die die Arbeit eines Dienst-leistungsproletariats von der seines industriellen Pendants in »twodistinct worlds of work«68 trennen. Ist die Tätigkeit des Industrie-arbeiters am paradigmatischen Fließband noch vornehmlich routi-nierte Arbeit am Ding, folgt die Arbeit des Dienstleistungsproleta-riats aus seiner Sicht einem interpersonellen Arbeitsprofil. Sei esdie Kassiererin im Supermarkt oder der Altenpfleger im Senioren-stift, die Arbeit funktioniert interaktiv. Man könnte auch sagen: DasKonzept des Dienstleistungsproletariats betont die Logik des Ge-genstandsbezugs der Arbeit.69

Der von Esping-Andersen vorgeschlagene Gegenstandsbezugforciert nun das Konzept interaktiver Arbeit.70 Sein Vorteil bestehtdarin, dass es eine definitorische Klärung des Begriffs von Dienst-leistungsarbeit anbietet. Einerseits vermag Interaktivität das breiteund heterogene Feld des tertiären Sektors in logisch und funktio-nal konsistentere Gruppen zu gliedern.71 Vor allem aber befreit sie

67 Esping-Andersen, »Post-industrial Class Structures«.68 Ebenda.69 Die Logik der Tätigkeit ist damit mehr als die Beobachtung von Beschäfti-

gungsverhältnissen, die etwa Prekaritätsstudien zum Ausgangspunkt ihrerAnalysen machen. Während diesen Studien ein Denkansatz der Formalisier-barkeit entspricht, fordert ein Konzept des Dienstleistungsproletariats dazuauf, diese Überlegungen um eine Untersuchung der Materialität der Arbeits-praxis zu erweitern.

70 Siehe: Böhle, »Typologie und strukturelle Probleme von Interaktionsarbeit«;Voswinkel, Welche Kundenorientierung?; Dunkel/Weihrich, »Interaktive Ar-beit«; Gross, Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft.

71 Gross, Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft, S. 14. Sie erlaubt dieUnterscheidung zwischen direkten versus indirekten Dienstleistungen ebensowie zwischen personenbezogenen und sachbezogenen. Ein Großteil der Ver-