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Andreas Boldt Leopold von Ranke und Irland historische mitteilungen – beihefte 8 3 Franz Steiner Verlag Geschichte

Leopold von Ranke und Irland - ciando ebooksLeopold von Ranke war einer der einflußreichsten Historiker des neunzehnten Jahrhunderts. Er entspross am 21.12.1795 in Wiehe, einer kleinen

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Andreas Boldt

Leopold von Ranke und Irland

histor ische mit te i lungen – be ihef te 83Franz Steiner Verlag

Geschichte

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Andreas BoldtLeopold von Ranke und Irland

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historische mit te i lungen – be ihefte

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte

im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert

Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Heinz Duchhardt,

Michael Epkenhans, Beatrice Heuser, Michael Kißener,

Ulrich Lappenküper, Bea Lundt, Christoph Marx, Wolfram Pyta,

Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner

Band 83

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Andreas Boldt

Leopold von Ranke und Irland

Franz Steiner Verlag

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig und strafbar.

© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Druck: Laupp & Göbel, Nehren

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-515-10198-1

Umschlagabbildung: Leopold Ranke

Aus: Eine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft, in: Die Gartenlaube (1867),

Heft 7, S. 101.

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort .................................................................................................................. 7 Einleitung .. ............................................................................................................ 9 I. Die Familiengeschichte von Leopold von Ranke und Clarissa Graves vor 1843 ............................................................................ 21 1. Die Familie Ranke .................................................................................... 21 2. Die Familie Graves ................................................................................... 31 II. Die Familie Ranke (1843-86) ....................................................................... 43 1. Hochzeit und die frühen Ehejahre in Berlin 1843-47 ................................ 43 2. Revolution und Schicksalsschläge 1848-53 .............................................. 62 3. Etablierung des Salons Ranke 1854-64 .................................................... 81 4. Rankes Reise nach England und Irland 1865 ............................................ 94 5. Familienleben bis zum Tode Clarissas 1866-71 ..................................... 111 6. Die Verbindungen der Rankes und Graveses nach 1871 ........................ 125 III. Die Entstehungsgeschichte von Rankes Englische Geschichte .............. 133 IV. Die Darstellung irischer Geschichte in Rankes Englische Geschichte .................................................................................. 149 1. Rankes Englische Geschichte ................................................................. 149 2. Die Darstellung der irischen im Vergleich zur englischen Geschichte ............................................................................................... 149 3. Darstellung irischer Geschichte in zwei anderen Werken von Ranke: Geschichte der Päpste und Weltgeschichte ............................................ 159 V. Rankes Benutzung der Sprache und Quellen ......................................... 161

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6 INHALTSVERZEICHNIS

VI. Rankes irische Geschichte im Vergleich zu Macaulay, Froude und Lecky ................................................................................................... 181 1. Macaulay: History of England ................................................................. 181 2. Froude: The English in Ireland ................................................................ 183 3. Lecky: History of Ireland ........................................................................ 185 4. Das Schreiben irischer Geschichte .......................................................... 187 VII. Schluss ........................................................................................................ 197 Anhang ............................................................................................................... 203 Anhang I: Zwei ausgewählte unveröffentlichte Dokumente aus dem Ranke-Nachlass, Staatsbibliothek Berlin ..................................................... 203 Anhang II: Randbemerkungen in den Büchern aus Rankes Bibliothek ...... 213 Anhang III: Quellen im Bezug zur irischen Geschichte zitiert von Ranke .................................................................................................... 231 Anhang IV: Bücher in Rankes Bibliothek zur englisch-irischen Geschichte .................................................................................................... 235 Bibliographie ..................................................................................................... 249 Personenregister ................................................................................................ 267 Ortsregister ........................................................................................................ 275

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VORWORT

„Was ist Geschichte?“ Schon bei Prof. Imanuel Geiss, meinem ehemaligen Pro-fessor an der Universität Bremen, faszinierte mich diese Frage. Später beflügelte mich ein Kurs gleichen Titels bei Prof. John Bradley an der National University of Ireland, Maynooth. Auf beider Rat hin konkretisierte ich die Frage „Was ist Ge-schichte?“ mit Bezug auf ein spezielleres, bislang übersehenes Teilgebiet: Ich beschloss, die Verbindungen zwischen Leopold von Ranke und Irland näher zu untersuchen.

An dieser Stelle möchte ich meinem Doktorvater Bradley für seine Hilfe, Ge-duld und Ratschläge, sowie Dr. Micheal Potterton für die Hilfe bei Übersetzungen danken. Ebenfalls war der Studiengang Geschichte an der Universität Maynooth sehr hilfreich, der mir in verschiedensten Bereichen unterstützend zur Seite stand; besonders möchte ich hier Prof. R.V. Comerford, Prof. Raymond Gillespie, Frau Prof. Jacqueline Hill, Dr. Thomas O’Connor und Frau Dr. Jacinta Prunty erwäh-nen. Mit Prof. Thomas Kelly, Studiengang Philosophie, Universität Maynooth, der tragischerweise im Februar 2008 bei einem Unfall ums Leben kam und dem unter anderem diese Schrift gewidmet ist, führte ich mehrere Diskussionen über Rankes Geschichtsphilosophie.

Diese Arbeit wurde durch ein Stipendium des Irish Research Council for the Humanities and the Social Sciences finanziell unterstützt, dem ich mit großen Dank verbunden bin, da ohne diese finanzielle Unterstützung die vorliegende Ar-beit nicht möglich gewesen wäre.

Mit Ratschlägen halfen auch viele Nachfahren von Ranke: Gräfin von Deym, Prof. von Blanckenburg, Dr. Hardnak Graf von der Schulenburg und Dr. Gisbert Bäcker-von Ranke, sowie Frau Anneliese Petzoldt aus Wiehe.

Während meiner Arbeit erhielt ich viel Hilfe von Dr. Siegfried Baur, Staats-bibliothek zu Berlin, dem Ranke-Verein in Wiehe, hier vor allem von Pastor Gottfried Braasch und Familie Beate und Frank Bigeschke, sowie von der Syracu-se University Library, USA, wo vor allem David Jensen und Dr. Christian Dupont von den Special Collections sehr behilflich waren. Ich bin auch der Staatsbiblio-thek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, zu Dank verpflichtet, besonders Prof. Overgaauw und Frau Dr. Weber von der Handschriften-Abteilung, sowie dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Ferner danke ich den Bibliothekaren folgender Einrichtungen in Dublin: Trinity College Dublin, Natio-nal Archives, National Library of Ireland, Royal Irish Academy, Library of Royal College of Physicians, Marsh’s Library, Representative Church Body Library; ferner in London: National Archives, Wellcome Library, British Museum, British Library; sowie der Russell Library, Universität Maynooth. Dr. Thomas Byrne war vor allem mit Ratschlägen und Korrekturen behillich. Weiterhin gilt mein Dank auch Prof. Dr. Jürgen Elvert von der Ranke-Gesellschaft, der diese Veröffentli-chung dieser Arbeit ermöglichte, sowie der Lektorin Frau Carolina Möbis-Berends und Frau Dr. Ingrid Hecht für ihre Korrekturen dieser Schrift.

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8 VORWORT

An dieser Stelle möchte ich diese Schrift, die die erweiterte deutsche Überset-

zung meiner auf Englisch geschriebenen Dissertation im Jahre 2004 darstellt, fol-genden Personen widmen, denen ich meine historische Laufbahn bis zur Disserta-tion zu verdanken habe: Frau Ursula Jordan (Lehrerin am Gymnasium Lilienthal) für ihren Geschichtsunterricht in der Schule, Prof. Dr. Imanuel Geiss (Universität Bremen) für das Erlernen der kritischen Forschungsmethode in der Neueren Ge-schichte, Prof. John Bradley (National University of Ireland, Maynooth, Irland) für den Unterricht in Archäologie und Historiographie, sowie Herrn Wilhelm Dehlwes (1910-2006) und Frau Käthe. Herr Dehlwes, der die Fertigstellung dieser Schrift leider nicht mehr erleben konnte, führte mich in seiner Funktion als Chro-nist von Bremen und Lilienthal in die Methodik der Archivforschungen im Hei-matmuseum Lilienthal ein. Prof. Dr. Geiss (1931-2012) sei diese Schrift im Be-sonderen gewidmet. Seine Forschungsmethodik und Persönlichkeit haben mich wohl am meisten geprägt; auch nachdem ich die Universität Bremen verließ, blie-ben wir bis zu seinem Lebensende in Kontakt. Mir werden vor allem seine Unter-richtsstunden, aber auch die Stunden bei Tee und Kaffee – die mit Diskussionen zu Ranke, der irischen Geschichte, der Geschichte zum Antisemitismus sowie den „Historischen Mechanismen“ gefüllt waren –, in steter Erinnerung bleiben.

Ich erhielt von Frau Níamh McGee sehr viel Unterstützung zur Vollendung dieser Arbeit. Meinen Eltern Liesbeth und Dieter Boldt sei die Schrift ebenfalls gewidmet. Ich danke ihnen für ihre Geduld und Unterstützung während meiner universitären Laufbahn.

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EINLEITUNG

Leopold von Ranke war einer der einflußreichsten Historiker des neunzehnten Jahrhunderts. Er entspross am 21.12.1795 in Wiehe, einer kleinen thüringischen, seit 1815 preußischen Stadt, einer Familie, die traditionell lutherische Pastoren hervorbrachte und recht religiös war.1 Rankes frühe Erziehung zu Hause und der Besuch der berühmten Landesschule Schulpforta etablierten seine Liebe zu klassi-schen Sprachen. Nach dem Schulabschluß im Jahre 1814 schrieb er sich an der Universität Leipzig für Theologie und Klassische Philologie ein und wandte sich mit Vorliebe der Philologie und der Übersetzung von antiken Texten zu. Während seines Studiums setzte sich Ranke mit den Ideen von Fichte, Schlegel, Goethe, Schelling, Kant, Thucydides, Livius, Herder und Niebuhr auseinander. Schließlich verfasste er seine Dissertation über die politischen Ideen von Thucydides und es war eher seine Liebe zur klassischen Philologie als zur Geschichte, die ihn veran-lasste, dieses Thema zu bearbeiten. Doch die folgenden sieben Jahre, die Ranke als Lehrer zunächst für Klasische Philologie am Gymnasium Frankfurt an der Oder verbrachte, förderten sein Interesse an der Geschichte. Hier verfasste Ranke

1 Adams, ‚Leopold von Ranke‘, in Papers of the American Historical Association, vol. iii (New

York 1889), S. 101-33; J.H. Arnold, History, a very short introduction (Oxford 2000), S. 34-7; Siegfried Baur, Versuch über die Historik des jungen Ranke (Berlin 1998); Siegfried Baur, ‚Die Freiräume der Historie. Anmerkungen zu Aufstieg und Fall der Historisch-Politischen Zeitschrift Rankes‘, in Ulrich Muhlack (Hrsg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert (Berlin 2003), S. 61-85; Jeremy Black, und D.D. MacRaild, Studying History (London 2000), S. 40-2; Andreas Boldt, ‚Leopold von Ranke and the Graves family in Ireland‘, in T.A.F. Kelly, Marie Murphy, und Louise McHugh, NUI Maynooth Postgraduate Research Record: Proceedings of the Colloquium (Maynooth 2002), S. 173-7; Gottfried Braasch, ‚Die Ranke-Familie‘, in Stadtverwaltung Wiehe (Hrsg.), Wiehe (Artern 1999), S. 35; Alexander Demandt, Ranke unter den Weltweisen (Berlin 1980), S. 7-26; Volker Dotterweich, ‚Ranke‘, in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, vol. vii (Herzberg 1999), S. 1324-55; Felix Escher, ‚Leopold Ranke‘, in Michael Erbe (Hrsg.), Berli-nische Lebensbilder, Geisteswissenschaften (Berlin 1989), S. 109-25; Gerhard Frick, Der handelnde Mensch in Rankes Geschichtsbild (Zürich 1953); Mary Fulbrock, German history since 1800 (London 1997), S. 477-91; Peter Gay, Style in history (New York 1988), S. 57-94; Felix Gilbert, History: politics or culture? Reflexions on Ranke and Burckhardt (New York 1990), S. 11-45; H.F. Helmolt, Leopold Rankes Leben und Wirken (Leipzig 1921); G.J. Henz, Leopold Ranke. Leben, Denken, Wort, 1795-1814. Darstellende Untersuchungen und Edition (Köln 1968); Marnie Hughes-Warrington, Fifty key thinkers on history (New York 2001), S. 256-63; James Joll, National histories and national historians: some German and English views from the past (London 1984); Leonard Krieger, Ranke: the meaning of history (Chicago 1977); Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (München 1965), S. 585-602; Wilhelm Mommsen, Stein, Ranke, Bismarck (München 1954), S. 95-111; Ferdinand Schevill, Six historians (Chicago 1956), S. 125-56; Rainald Stromeyer, Ranke und sein Werk im Spie-gel der Kritik (Heidelberg 1950), S. 69-74, 202; J.W. Thompson, A history of historical writ-ing, vol. ii (New York 1962), S. 168-91; Rudolf Vierhaus, Ranke und die soziale Welt (Münster 1957); John Warren, The past and its presenters (London 1998), S. 104-17; John Warren, History and the historians (London 2000), S. 59-79; D.R. Woolf, A global encyclo-paedia of historical writing, vol. ii (New York 1998), S. 761-2.

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10 EINLEITUNG

dann auch sein erstes Hauptwerk, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494-1535, welches im Jahre 1824 veröffentlicht wurde und in dem er bereits seine Methoden und Konzepte festsetzte, die seine späteren Werke be-stimmen sollten. Ranke ging von der Konzeption einer europäischen Gemein-schaft aus, der die Einheit der germanischen und lateinischen Kultur zugrunde liegt, aber die griechische und russisch-orthodoxe Welt ausgrenzte. Für ihn waren das Emporkommen des absolutistischen Staates und des Protestantismus bestim-mend in der Gestaltung der modernen Welt. Entscheidender als der Text an sich war jedoch der Anhang, in welchem er frühere historische Literatur auf der Basis der kritischen Quellenforschung untersuchte. In seiner Vorrede findet man sein später so häufig zitiertes Dictum, dass er Geschichte schreiben wolle, ‚wie es ei-gentlich gewesen‘. Aufgrund des Erfolges seines Werkes wurde Ranke als außer-ordentlicher Professor an die Universität Berlin gerufen.

Im Spätjahr 1827 ging er auf Reisen und forschte in den folgenden vier Jahren in verschiedenen Archiven in Wien, Venedig, Florenz, Rom und Neapel, ständig auf der Suche nach neuen Dokumenten. Durch seine verschiedenen persönlichen Kontakte verstand Ranke es, sich Zugang zu Archiven zu ermöglichen, die vorher kaum zugänglich waren oder bis dato wenig Beachtung gefunden hatten. Nach-dem Ranke 1831 nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb er sein wohl berühmtes-tes Werk, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten (1834-6). Als Musterbeispiel für Objektivität und Kunst der Geschichtsschreibung wurde das Werk im neunzehnten Jahrhundert in mehrere Sprachen übersetzt (englisch, fran-zösisch, ungarisch, italienisch, polnisch) und wurde mehrfach nachgedruckt. Al-lein in England erschien das Werk zwischen 1840 und 1848 in vier verschiedenen Übersetzungen. In den Päpsten behandelte Ranke das Papsttum als eine universel-le Monarchie und präsentierte prägnante biographische Skizzen der Päpste. Seine lange Forschungsreise nach Italien legte die Grundlage für spätere Forschungsrei-sen beispielsweise nach London, Paris, Brüssel und Wien, welche Ranke zwi-schen seinen Semestern einplante und die häufig mehrere Monate dauerten. Zwi-schen 1832 und 1836 gab Ranke die Historisch-Politische Zeitschrift heraus, in welcher er mehrere bedeutende, doch seinerzeit kaum beachtete, historische Auf-sätze veröffentlichte, und im Jahre 1834 wurde er schließlich zum ordentlichen Professor an der Universität Berlin ernannt, eine Stellung, die er bis zur Pensio-nierung im Jahre 1871 innehatte. Seit 1841 war Ranke der Historiograph des preußischen Staates. Seine Forschungen in den 1840ern konzentrierten sich auf die Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839-43) und die Neun Bücher preußische Geschichte (1847-8). In Berlin wurden die ersten ‚wissen-schaftlichen’ Historiker durch Ranke ausgebildet, unter ihnen Georg Waitz und Jakob Burckhardt. König Maximilian II. von Bayern wurde durch Ranke dazu bewogen, innerhalb der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eine Histori-sche Kommission zu schaffen, zu welcher Ranke als erster Vorsitzender im Jahre 1858 berufen wurde. In seinen späteren Jahren schrieb Ranke europäische natio-nale Geschichten, hervorzuheben sind die Französische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (1852-61), die Englische Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (1859-68) und Die

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EINLEITUNG 11

deutschen Mächte und der Fürstenbund (1871). Ranke wurde mit verschiedenen Ehrungen ausgezeichnet. So wurde er im Jahre 1865 in den Adelsstand erhoben, wurde 1882 zum Geheimen Rat in Preußen ernannt und erhielt die Ehrenbürger-schaft von Berlin im Jahre 1885. Trotz seiner Pensionierung im Jahre 1871 führte Ranke seine Forschungen weiter und schrieb noch sechs Bände seiner Weltge-schichte, bevor er am 23.5.1886 in Berlin verstarb.

Leopold von Ranke bemühte sich unter anderem, die politische Struktur in-nerhalb einer jeweiligen historischen Epoche zu verstehen. Um die Natur eines historischen Phänomens zu durchdringen, müsse man dessen historischen Hinter-grund und zeitlichen Wandel berücksichtigen. Ranke argumentierte, dass histori-sche Epochen nicht nach vorgefassten Urteilen oder Ideen der Gegenwart, son-dern aus sich selbst heraus verstanden werden müssten, indem man empirische Geschichte etabliere und schreiben müsse, ‚wie es eigentlich gewesen‘. Ranke un-terstrich die ‚Individualität‘ und ‚Entwicklung‘ in der Geschichte. Jedes histori-sche Phänomen, jede Epoche und jedes Ereignis habe eine eigene Individualität, und es sei das Ziel des Historikers, eben dies hervorzuheben und zu respektieren.2 Deshalb müssten Historiker in die entsprechende Epoche eintauchen und sie in ei-ner Art und Weise untersuchen, wie Dinge zu ihrer Zeit verstanden würden. Sie müssten, um Rankes eigene Worte zu benutzen, „ihr eigenes Ich auslöschen“.3 Diese individual-bezogene Methode der Geschichtsschreibung umfasste auch eine Wahrnehmung historischer Entwicklung, die, so Ranke, durch Gottes Willen ge-tragen würde. Dieses sogenannte ‚protestantische‘ Element innerhalb Rankes his-torischem Denken und Schreiben war zudem recht wichtig.4 Trotz des religiösen Einflusses blieb Ranke stets ein weltlicher Historiker und bestrebt, die großen Kräfte der Geschichte zu verstehen. Er lehrte die Notwendigkeit, wichtige univer-sale Trends anhand konkreter Details zu vergleichen. Ranke betrachtete jede Na-tion und deren Menschen als einzigartige Einheiten, die Kräfte des Nationalismus entfalteten, welche nicht mehr länger ignoriert werden könnten. In seiner Arbeit war er davon überzeugt, dass die etablierten politischen Institutionen moralische Kräfte verkörperten. Andererseits verweigerte er vehement die Reduzierung der Geschichte auf ein bloßes Schema. Nach Rankes Auffassung müsse der Historiker vom Individuellen zum Allgemeinen arbeiten, nicht umgekehrt, und es sei das De-tail, welches den Pfad zur Erfassung der großen moralischen Kräfte, die sich in der Geschichte manifestierten, freigeben würde. Während Ranke dem Fort-schrittsgedanken mit einiger Skepsis begegnete, sah er in dem protestantischen

2 „Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Werth beruht gar nicht auf

dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigenthümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“ In: Leopold von Ranke, Weltgeschichte, Bd. IX, Teil 2 (Leipzig 1888), S. 5.

3 Leopold von Ranke, Englische Geschichte, vornehmlich im 17. Jahrhundert (Berlin 1860), Bd. II, S. 1.

4 Warren, History and the historians, S. 58-9, hebt den religiösen Einfluß in Rankes Leben hervor.

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12 EINLEITUNG

Europa bereits einen Höhepunkt der Geschichte, gleichzeitig stand er den libera-len und demokratischen Bewegungen durchaus kritisch gegenüber, welche sich seit der Französischen Revolution entwickelt hatten. Trotz seiner Empfehlung zur Objektivität und Unparteilichkeit blieb er vom etablierten System überzeugt, da es historisch gewachsen sei, und so zeigte sich seine konservative Neigung in seiner Auffassung zur Vergangenheit. Neue Theorien der Evolution verneinte er nicht völlig, aber er zog es vor, die Fragen zur menschlichen Ur- und Vorgeschichte aus seiner historischen Geschichtsschreibung auszublenden. Mit seinem Historischen Seminar baute Ranke ein Modell auf, das zur akademischen Ausbildung von His-torikern in jenen systematisch-kritischen Forschungsmethoden beitrug, die sich im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt durchsetzten und das Fach Geschichte zur ei-ner wissenschaftlichen Disziplin emporhoben. Ranke leistete einen wichtigen Bei-trag zur Entwicklung der modernen Geschichtsschreibung und ist heute als Vater der wissenschaftlich-historischen Schule des neunzehnten und zwanzigsten Jahr-hunderts anerkannt. Seine methodischen Prinzipien wie Archivforschung und Quellenkritik wurden in akademischen Institutionen übernommen. Häufig wurde Ranke dadurch gewürdigt, dass durch seine Etablierung der philologisch-kritischen Methode als der historischen Methode überhaupt, die Historie zur Wis-senschaft gemacht worden sei.5

5 Adams, ‚Leopold von Ranke‘, S. 101-33; Arnold, History, S. 34-7; Baur, Historik des jungen

Ranke; Michael Bentley, Modern historiography – an introduction (London 2000), S. 36-42; Michael Bentley, Companion to historiography (New York 2002); Stefan Berger, ‚The Ger-man tradition of historiography, 1800-1995‘, in Fulbrock, German history since 1800, S. 477-92; Black, MacRaild, Studying history, S. 40-2; Andreas Boldt, ‘Ranke and the Graves fami-ly’, S. 173-7; Andreas Boldt, ‚Leopold von Ranke and Ireland‘ (unpublished M.A. thesis, NUI Maynooth, Maynooth 2000); Kelly Boyd (Hrsg.), Encyclopedia of historians and histor-ical writing (London 1999), S. 981-2; H.O. Brogan, Antonio Pace, und Adolph Weinberger (Hrsg.), The Leopold von Ranke manuscripts of Syracuse University (Syracuse 1951), S. 6-30; Peter Burke, ‚Ranke the reactionary‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1, (Syracuse 1988), S. 25-30; Stephen Davies, Empiricism and history (Bristol 2003), S. 27-31; Demandt, Ranke unter den Weltweisen, S. 7, 24-5; Dotterweich, ‚Ranke‘, S. 1327-35; R.J. Evans, In defence of history (London 2000), S. 16-26; Gay, Style in history; Niall Ferguson, Virtual history (Lon-don 2003), S. 42-3; Frick, Der handelnde Mensch in Rankes Geschichtsbild; Gilbert, History: politics or culture?, S. 14, 31; Felix Gilbert, ‚Ranke as the teacher of Jacob Burckhardt‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 19-24; Helmolt, Leopold Rankes Leben und Wirken; G.G. Iggers, und Konrad von Moltke (eds.), The theory and practice of history (New York 1973); G.G. Iggers, ‚The crisis of the Rankean paradigm in the nineteenth centu-ry‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 43-50; G.G. Iggers, ‚Leopold von Ranke‘, in D.R. Woolf, A global encyclopedia of historical writing (New York 1998), S. 761-2; Todd Kontje, A companion to German realism 1848-1900 (New York 2002), S. 54-83; T.H. Laue, Leopold Ranke, the formative years (Princeton 1950), S. 109-38; Arthur Marwick, The new nature of history (Hampshire 2003), S. 61-70; C.E. McCelland, The German histori-ans and England (Cambridge 1971); Friedrich Meinecke, Aphorismen und Skizzen zur Ges-chichte (Leipzig 1942), S. 72-91, 127-162; Mommsen, Stein, Ranke, Bismarck; Alun Munslow, The new history (Harlow 2003), S. 50, spricht von Ranke als einen „international model for the master historian“; J.M. Powell, ‚The confusing and ambiguous legacy of Leo-pold von Ranke‘, in Syracuse Scholar, vol ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 5-10; Leopold von Ranke, Das Briefwerk (Hamburg 1949); Dorothy Ross, ‚On the misunderstanding of Ranke

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EINLEITUNG 13 Als Ranke im Jahre 1886 verstarb, galt seine Privatbibliothek, welche im Lau-

fe von 60 Jahren gesammelt wurde, als eine der wichtigsten und größten intellek-tuellen Bibliotheken der Welt. Es war in dieser Bibliothek, in der Ranke sein His-torisches Seminar entwickelte und für über 40 Jahre auch praktisch durchführte. Historiker wie Jacob Burckhardt, Heinrich von Sybel und Georg Waitz wurden hier von Ranke gelehrt. Dennoch war das Interesse in Deutschland nur gering, diese Sammlung aus wichtigen Quellen zur Geschichte der Historiographie zu er-werben. So wurde die Bibliothek, die aus etwa 24.000 Büchern, Flugblättern und bedeutenden Original-Quellen bestand, im Jahre 1887 von Rankes Kindern an die Universität Syracuse, Staat New York, USA, verkauft.6 Unter Prof. J.M. Powell, der das ‚1 Millionen Dollar-Projekt’ initiierte und leitete, wurden die Rankeschen Bücher zwischen 1975 und 1985 weitgehend katalogisiert und restauriert. In den Jahren 1951 und 1984 wurden Verzeichnisse in Syracuse veröffentlicht. Einige Jahre später waren Prof. Powell und das Special-Collections Team in der Lage, für etwa 95% des Bestandes eine vollständige Bibliographie im Internet zugänglich zu machen. In der Ranke-Bibliothek findet man wichtige Sammlungen, wie zum Beispiel 430 venezianische Relazioni, über 1000 Chroniken, Annalen und Reichs-tagsberichte, sowie eine große Sammlung von mehr als 2500 Flugblättern aus den sechszehnten bis neunzehnten Jahrhunderten.7 Syracuse betrachtet Rankes Sammlung als „a cornerstone of our rare book collection and [as] a primary source for the investigation of Ranke’s own development as a historian“.8

Der Ranke-Nachlass, der in Deutschland verblieb, fand den Weg in drei ver-schiedene Archive. Die größte Handschriften-Sammlung mit etwa 50.000 Blatt befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Dennoch kann nicht gesagt werden, dass die deutsche Forschung den Wert dieser Sammlung erkannt hat. Auch 120 Jahre nach Rankes

and the origins of the historical profession in America‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 31-42; Ernst Schulin, ‚Neuzeitliche Universalgeschichte und Nationalgeschichte bei Ranke. Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag‘ (Paper, Berlin 1986), S. 2; Ernst Schulin, ‚Ranke’s universal history and national history‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 11-18; Thomson, A history of historical writing, S. 168-191; J.E. Toews, Becoming historical (New York 2004), S. 372-418; Warren, History and the historian, S. 57, spricht von einem „new-revolutionary impact on historiography“; Warren, Past and its presenters, S. 104-17; G.L. Weinberg, ‚The end of Ranke’s history?‘, in Syracuse Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 51-60; Hayden White, Metahistory (Bal-timore 1975), S. 163-90.

6 Für weitere Details siehe auch Hubert Kiesewetter, ‚Das Schicksal der Ranke-Bibliothek‘, in Historische Mitteilungen, Bd. II (Stuttgart 1991), S. 307-14; und Siegfried Baur, ‚Franz Leo-pold Ranke, the Ranke Library at Syracuse and the open future of scientific history‘, in Syra-cuse University Library Associates, Courier, vol. xxxiii (1998-2001) S. 7.

7 Siegfried Baur, ‚Die Ranke-Collection in Syracuse University Library‘ (Berlin 2004), S. 1-5, zugänglich unter: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabtei-lung, www.kalliope-portal.de [1.12.2006]. Die Manuskripte der venezianischen relazioni so-wie der Briefsammlung veröffentlichte Edward Muir, The Ranke Manuscript Collection of Syracuse University (Syracuse 1983).

8 Christian Dupont, ‚Research libraries and the Syracuse commitment to special collections‘, in The library connection (Syracuse 2003), S. 7.

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14 EINLEITUNG

Tod wurde diese Sammlung noch nicht vollständig geöffnet, durchforscht, katalo-gisiert oder für jegliche bedeutende Forschungen zu Ranke genutzt. Paul Joachimsen versuchte bereits in Verbindung mit seinem Projekt einer vollständi-gen Ranke-Edition, diese Sammlung von München in den 1920er Jahren zu sortie-ren, während dies W.P. Fuchs und sein Team ein zweites Mal von Erlangen aus in den 1960er Jahren versuchten. Beide Projekte waren nicht erfolgreich. Joachimsen und seine Mitarbeiter hinterließen neun anstatt der geplanten ein hun-dert Bände und einen 24seitigen, mit Maschinenschrift geschriebenen, provisori-schen Nachlasskatalog; Fuchs hingegen schaffte nur drei der sechs geplanten Bände für die Handschriftenabteilung und 150 anstatt der geplanten 10.000 Kar-teikarten. Beide Forschungsgruppen von Joachimsen und Fuchs haben viel Arbeit geleistet, doch blieb die erhoffte Hilfe seitens der Historiker und historischen Ver-einigungen aus.9 Zur Zeit sortiert und katalogisiert Dr. Siegfried Baur diesen wis-senschaftlichen Nachlass, welcher hoffentlich vollständig im Jahre 2008 zugäng-lich ist. Dieses Projekt würde den Ranke-Nachlass den Historikern endlich wis-senschaftlich zugänglich machen. Die ersten Schritte wurden bereits durch das In-ternet-Projekt ‚Kalliope‘ durchgeführt, in welchem alle vorhandenen Dokumente registriert, katalogisiert und zusammenfassend online dargestellt werden. Baur hat auch eine im Internet zugängliche Datei geschaffen, die die Sammlungen in Syra-cuse und Berlin erstmals wieder in ihrer ursprünglichen Einheit beinhaltet.10

Die zweitgrößte, sich in Deutschland befindende Sammlung, mit etwa 20.000 Dokumenten, befindet sich heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kultur-besitz in Berlin und umfasst im wesentlichen die privaten Familienpapiere der Ranke-Familien. Während die meisten Sammlungen der Ranke-Geschwister voll-ständig sind, wurde ein großer Teil der Originalbriefe von Leopold von Ranke im Zweiten Weltkriege zerstört. Rankes Briefe haben teils nur als Kopie überlebt, welche durch Bernhard Hoeft für seine Briefedition angefertigt und die schließlich postum 1949 veröffentlicht wurden.

Das dritte Archiv befindet sich im Ranke-Museum, welches vom Ranke-Verein in Wiehe, Thüringen, unterhalten wird und das mittlerweile eine große Sammlung von Rankes eigenen Arbeiten, aber auch Sekundärliteratur und Hun-derte von Manuskripten beherbergt (etwa 5.000 Blatt). Das Herzstück der Manu-skriptsammlung bilden etwa 600 unveröffentlichte Briefe von Rankes Ehefrau Clarissa, welche vor zehn Jahren dem Museum von einem Ranke-Nachfahren, Dr. Gisbert Bäcker-von Ranke, übergeben worden sind.

Alle vier Archive bilden eine Sammlung von etwa 26.000 Büchern und schät-zungsweise 80.000 Blatt an Manuskripten, Lebensdokumenten, Briefen bzw.

9 Siegfried Baur, ‚Die Ranke-Sammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin‘ (Berlin 2004), S. 1-

5, erhältlich unter: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabtei-lung, www.kalliope-portal.de [1.12.2006]. Siehe auch: Siegfried Baur, ‚Oh Nachlaß laß nach. Bemerkungen über den Ranke-Nachlaß.‘ (Vortrag vor der Grimm-Sozietät zu Berlin, 10.10.2005).

10 Erhältlich unter: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabtei-lung, www.kalliope.de und www.kalliope-portal.de [1.12. 2006].

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EINLEITUNG 15

Briefabschriften, die eine Forschungsbasis bilden, um Ranke als Wissenschaftler und Privatmann zu erkunden.

Obwohl Ranke einen erheblichen Einfluss auf die Geschichtsschreibung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ausübte, was bereits Friedrich Meine-cke in seiner Erinnerungsansprache von 1936 hervorhob,11 und viele seiner Bü-cher als Standardwerke gelten, gibt es unterschiedliche Bewertungen zu Rankes Methoden und Theorien.

Manfred Asendorf zum Beispiel untersuchte die Unparteilichkeit als eine Schlüsselfrage innerhalb der Geschichtsschreibung.12 Er analysierte Rankes Ver-ständnis von Objektivität und kommt zu dem Schluss, dass Ranke darunter eine Kraft verstünde, „die Richtung und Verlauf der Geschichte bestimmte, der Welt- oder Universalgeschichte.“13 Nach der Auffassung von Asendorf habe sich Ran-kes Geschichtsbild aus der Opposition zu den liberalen und radikal-demokratischen Ideen der Mittelklasse entwickelt, und er habe ein eigenes Kon-zept zur objektiven Weltgeschichte formuliert.14 A.G. Dickens untersuchte Ranke als einen Historiker der Reformation.15 Zunächst analysierte er Rankes persönli-che Verbindung zur Religion, bevor er dessen Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation und die Bauernrevolten von 1524/25 diskutiert. Dickens ver-gleicht Ranke mit einer Reihe weiterer Historiker und stellt heraus, dass Ranke schlicht frühere Werke zur Reformation kopiert habe. Zum Lebenslauf von Ranke schreibt Dickens, dass „the general direction of his early progress was from the airy-fairy to the nitty-gritty. This vulgarism has a certain pragmatic truth, yet it remains superficial“. Dickens kommt zu dem Schluß, daß „a good deal has been written concerning Ranke’s philosophy of history, but personally I cannot see that he possessed any mental contraption which deserved so grandiose a title“.16 M.-J. Zemlin kommt zu dem Ergebnis, dass Ranke zwischen anschaulicher und abstrak-ter Geschichtsschreibung unterscheide: während die erste sich als vollständig, ob-jektiv und repräsentativ für die Geschichte bewährt habe, käme die letzte den Ideen der Philosophie nahe.17 Im Vergleich zu Hegel und Kant, bezeichnet Zemlin Rankes historisches Verständnis als eine anschauliche, verständliche und analyti-sche Herangehensweise zur Geschichte verbunden mit dem Drang, Universalge-schichte zu schaffen.18 In der Auffassung von Johannes Süßmann wollte Ranke in seinem Erstlingswerk gar keine historischen Tatsachen darstellen, sondern er

11 Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 385-602. 12 Manfred Asendorf, ‚„Objektivität“ der Geschichte: L. v. Ranke und die deutsche Geschichts-

wissenschaft‘, in Manfred Hahn, und H.J. Sandkühler (Hrsg.), Gesellschaftliche Bewegung und Naturprozeß (Köln 1981), S. 49-60.

13 Ebd., S. 50. 14 Ebd., S. 49-52. 15 A.G. Dickens, Ranke as Reformation Historian (Reading 1980). 16 Ibid, S. 3. 17 M.-J. Zemlin, ‚Die historische Theoria im Geschichtsdenken Rankes‘, in Saeculum, vol.

xxxvii (1986), S. 352-65; M.-J. Zemlin, ‚„Zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Zur Deutung eines berühmten Rankewortes‘, in K.D. Erdmann, und J. Rohlfes (Hrsg.), Geschichte in Wis-senschaft und Unterricht, vol xxxvii (1986), S. 333-50.

18 Zemlin., ‚Die historische Theoria im Geschichtsdenken Rankes‘, S. 352-65.

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16 EINLEITUNG

wollte schlicht nur neue historische Ideen präsentieren.19 Im erklärten Anschluss an Hayden White betont Süßmann vor allem Schillers angeblichen Einfluss auf Rankes Geschichtsschreibung. Einerseits erkennt Süßmann die Bedeutung der Geschichten der romanischen und germanischen Völker für Rankes weiteren aka-demischen Lebenslauf, andererseits vertritt er die Auffassung, dass die Einleitung bereits in der damaligen Zeit nicht als revolutionierend angesehen worden sei.20 Er unterstreicht Rankes Interesse an einer einseitigen monarchistischen Ge-schichtsschreibung und seine religiöse Interpretation mit dem zentralen Konzept des „Gottesfingers“.21

Eine kürzlich erschienene Veröffentlichung beinhaltet mehrere Artikel zum Thema Ranke.22 Drei Autoren, Volker Dotterweich,23 Thomas Brechenmacher24 und Ulrich Muhlack,25 befassen sich mit der bibliographischen Situation zur Ran-ke-Forschung und der vorgeschlagenen neuen Ranke-Brief-Edition. Dotterweich bietet in einem anderen Artikel eine Bibliographie, welche alles zu erfassen sucht, was zu Ranke zwischen 1886 und 1993 veröffentlicht wurde,26 während Muhlack den derzeitigen Wissensstand in einem Artikel zu Ranke im Jahre 2003 schlicht zusammenfaßt.27 Weitere Autoren sind Eckart Conze,28 H.-C. Kraus29 und Jürgen Grosse,30 die das Geschichtsverständnis von Ranke und Burckhardt vergleichen und Ranke als einen zeitgenössischen Historiker und politischen Ratgeber disku-tieren.

19 Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? (Stuttgart 2000), S. 248. 20 Ebd., S. 216-20. 21 Ebd., S. 234, 243. 22 Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg.), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leo-

pold von Ranke (Stuttgart 2001). 23 Volker Dotterweich, ‚Die gegenwärtige bibliographische Situation des Rankeschen Werkes‘,

in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg..), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 3-9.

24 Thomas Brechenmacher, ‚Zum Stand der am historiographischen Werk orientierten Ranke-Forschung‘, in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg.), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 10-16.

25 Ulrich Muhlack, ‚Desiderate der Ranke-Forschung‘, in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg.), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 17-23.

26 Volker Dotterweich, ‚Ranke‘, in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VII (Herzberg 1999), S. 1324-55.

27 Ulrich Muhlack, ‚Leopold von Ranke und die Begründung der quellenkritischen Geschichts-forschung‘, in Jürgen Elvert, und Susanne Krauß (Hrsg.), Historische Debatten und Kontro-versen im 19. und 20. Jahrhundert (Stuttgart 2003), S. 22-33.

28 Eckart Conze, ‚Der Historiker als Politikberater‘, in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg.), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 24-37.

29 H.-C. Krauss, ‚Ranke als Zeitgenosse‘, in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (Hrsg.), His-torische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 28-50.

30 Jürgen Grosse, ‚Über Systemdenken bei Ranke – mit einem Blick auf Burckhardt‘, in Jürgen Elvert, und Michael Salewski (eds.), Historische Mitteilungen, Schwerpunkt: Leopold von Ranke (Stuttgart 2001), S. 78-115.

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EINLEITUNG 17 Bereits im Jahre 1949 gaben Hoeft31 und Fuchs32 eine Reihe von Ranke-

Briefe heraus, und diese Veröffentlichungen öffneten unbekannte Einblicke auch in Rankes Leben als Privatmann.33 Allerdings sind viele Briefe gekürzt und Fuchs versuchte zudem den Eindruck eines religiösen Ranke zu geben, was recht häufig in Veröffentlichungen im Nachkriegs-Deutschland geschah. Ein Beispiel solch ei-ner Darstellung eines ‚religiösen Ranke’ gibt auch Hans Liebeschütz, der nicht versucht, „to defend nor to attack Ranke but to explain him“, hauptsächlich aus einer religiösen Sichtweise heraus, die Rankes politische Gedanken und seine Ge-schichtsschreibung beeinflusst habe.34 Andererseits hatte Emil Michael35 schon 60 Jahre früher in einem Artikel über Rankes Weltgeschichte bewiesen, dass Ranke überhaupt nicht religiös war, dennoch hält sich der Mythos eines religiösen Ranke bis heute. Ingrid Hecht36 veröffentlichte eine Biographie zu Ranke, die jedoch eher romantisch geschrieben ist, und sie fügt selbst hinzu, dass ihre Biographie keine „ausschließlich wissenschaftliche Betrachtung“ sei, sondern schlicht eine ‚Lebensbeschreibung‘ von Ranke darstelle.37

Neue Forschungsergebnisse werden durch Baur präsentiert, der die Entwick-lung von Rankes historischer Methode in seinen frühen Jahren bis in die 1830er Jahre untersuchte.38 In einem Vortrag analysierte Baur den Umgang mit Ranke von Kritikern aus dem linken und rechten Wissenschaftsspektrum und kommt zu dem Schluss, dass „whoever misuses history to satisfy ideological needs can never accept Ranke’s histories, critical source-based science, and its autonomous movements.“39 Baur rüttelt auch an dem Mythos eines ‚geborenen Historikers‘: Ranke musste die Methoden – genauso wie jeder andere auch – erlernen, was sich erst aus den Quellen erkennen lässt.40 Weitere einschlägige Veröffentlichungen über Ranke wurden in Amerika geschrieben, hier vor allem von G.G. Iggers41 und Powell.42 Beide kommen zu neuen Erkenntnissen zu Rankes Methodik und Ver-ständnis. Einen großen Beitrag leisteten Iggers und Powell mit ihrem Buch Ranke

31 Leopold von Ranke, Neue Briefe (Hamburg, 1949), bearbeitet von Bernhardt Hoeft, postum

herausgegeben von Hans Herzfeld. 32 Leopold von Ranke, Das Briefwerk (Hamburg, 1949), herausgegeben von W.P. Fuchs. 33 Klemens von Klemperer, ‚Das Briefwerk von Leopold von Ranke; Neue Briefe von Leopold

von Ranke‘, in The American Historical Review, vol. lv, issue 4 (1950), S. 871-3. 34 Hans Liebeschütz,, Ranke (London 1954), S. 2. 35 Emil Michael, Rankes Weltgeschichte (Paderborn 1890). 36 Ingrid Hecht, Leopold von Ranke: Und ich darf es nicht verschweigen (Berlin 2003). 37 Ebd., Einleitung. 38 Baur, Historik des jungen Ranke. 39 Siegfried Baur, ‚Franz Leopold Ranke, the Ranke Library at Syracuse, and the open future of

scientific history‘, in M.B. Hinton (Hrsg.), Syracuse University Library Associates Courier, vol. xxxiii (Syracuse 2001), S. 14, Baur bezieht sich hier auf nicht die Erfassung einer „gan-zen“ Geschichte, sondern auf „Geschichten“ und muß als eine Art „zerbrochene Geschichten“ bzw. reflektierte Geschichte verstanden werden; siehe auch für Details in Baur, ‚Die Freiräu-me der Historie‘, S. 61-85.

40 Baur, ‚Ranke, the Ranke Library at Syracuse‘, S. 16-7. 41 G.G. Iggers, The German conception of history (Hannover 1988). 42 J.M. Powell, ‚The confusing and ambiguous legacy of Leopold von Ranke‘, in Syracuse

Scholar, vol. ix, no. 1 (Syracuse 1988), S. 5-10.

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18 EINLEITUNG

and the shaping of the historical discipline.43 Das Buch, welches 14 Artikel von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Aspekten über Ranke enthält, ist in drei Hauptteile unterteilt: zuerst zum Kontext des historischen Denkens zur Zeit Ran-kes, dann zu Ranke als Historiker und Lehrer und schließlich zum Problem des Rankischen Vermächtnisses heute.44 Iggers bringt Ranke in den Zusammenhang der deutschen Tradition der Geschichtsschreibung und kann wichtige Neuer-kenntnisse gewinnen, indem er Rankes empirischen Ansatz neu erschließt und sein idealistisches Geschichtsverständnis analysiert.45

Hayden White untersuchte Rankes Geschichtsschreibung und vertritt die Auffassung, dass sich romantische Impulse finden: „They are present in his inter-est in the individual event in its uniqueness and concreteness, in his conception of historical explanation as narration, and in his concern to enter into the interior of the consciousness of the actors of the historical drama.“46 White vertritt vor allem die Auffassung, dass alle Geschichtswissenschaft in Wahrheit Dichtung sei. Er fand in Deutschland eine Reihe Anhänger, die deshalb den Dichter Schiller als ersten modernen deutschen Historiker stilisieren wollen.47 Auf der anderen Seite analysierte Felix Gilbert Rankes historische Forschungen und platzierte diese in-nerhalb der wissenschaftlichen Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts. Er kommt zu dem Schluss, dass Rankes „demand for a critical historical method was intended to achieve more than a technical improvement in the writing of history; it reflected the impact of new ideas about the nature and value of historical scholar-ship.“48 Iggers stellt in diesem Band heraus, dass Wahrheit praktisch ein Kon-strukt ist, welches von der ‚wissenschaftlichen Gemeinschaft‘ akzeptiert wurde, und argumentiert, dass objektive Geschichte als eine „history free of its political aims“ verstanden werden müsse. Er hebt auch hervor, dass Rankes Ruf zur Objektivität „rested on the highly metaphysical assumptions of German idealistic philosophy.“49 Eine ganz andere Herangehensweise praktizierte Wilhelm Momm-sen. Er untersuchte die Häufigkeit der Benutzung bestimmter Wörter, so zum Bei-spiel sei das Wort ‚Nation‘ insgesamt 190 Mal im Werk Französische Geschichte benutzt worden.50 Mommsen versucht auf diese Weise, die Behandlung sozialer Klassen in Rankes Geschichtsschreibung zu erklären.

43 G.G. Iggers, und J.M. Powell, (Hrsg.), Leopold von Ranke and the shaping of the historical

discipline (Syracuse 1990). 44 Ebd., Teil 1 siehe S. 1-58, Teil 2 siehe S. 59-108, Teil 3 siehe S. 109-80. 45 Iggers, The German conception of history, S. 63-89; Iggers, von Moltke (Hrsg.), The theory

and practice of history (New York 1973), S. xv-lxxi. 46 White, Metahistory, S. 187-8. 47 Z.B.Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman?; Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst.

Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860 (Berlin 1996); Ul-rich Muhlack, ‚Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Histo-rismus‘, in: Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp (Hrsg.), Schiller als Historiker (Stuttgart 1995), S. 5-28; Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. (Köln 2002).

48 Gilbert, History: politics or culture?, S. 20. 49 Iggers, Ranke and the shaping of the historical discipline, S. 173, 175. 50 Mommsen, Stein, Ranke, Bismarck, S. 95.

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EINLEITUNG 19 Diese Beispiele zeigen auf, wie schwierig es ist, Rankes Konzept der Objekti-

vität zu erklären. Um feststellen zu können, inwiefern Ranke wirklich so ‚objek-tiv‘ war, wie er immer angab, müsste man all die Bücher in seiner Bibliothek, so-wie alle anderen Quellen, die er benutzte, durchlesen. Dieses wäre jedoch eine le-benslange Aufgabe, und das Ergebnis muss nicht unbedingt ‚objektiv‘ sein, es könnte auch in einer weiteren ‚subjektiven‘ Untersuchung enden. Ein anderer An-satz wäre, Ranke als einen Privatmann zu untersuchen. So schreibt bereits E.H. Carr, dass „before you study the historian, study his historical and social environ-ment. The historian, being an individual, is also a product of history and of socie-ty.“51 So stellt sich die Frage, bis zu welchem Maße Rankes persönliches und fa-miliäres Leben sich gestaltete, wie es seine Arbeit beeinflusste und inwiefern er seine Gedanken und Ideen z.B. in den Briefen gestaltete.

Nur sehr wenige Historiker haben bis jetzt das private Leben Rankes unter-sucht. Einer der ersten war T.H. von Laue,52 der sich auf Rankes akademische Ka-riere konzentrierte, oder „the formative years“, wie seine Arbeit betitelt ist. Er präsentiert eine Analyse von Rankes frühen Jahren und gibt einen guten Einblick zur Entwicklung der historischen Geschichtsschreibung Rankes. Bäcker-von Ran-ke untersucht die Familie Ranke von einem kulturellen Blickpunkt und benutzte hierzu die Briefe seiner Urgroßmutter Clarissa von Ranke als Quellen.53 Leider wurde seine Dissertation nie veröffentlicht und ist dementsprechend unter akade-mischen Forschern so gut wie unbekannt. Eine weitere herangezogene Arbeit Bä-cker-von Rankes ist ein Artikel über Clarissa von Ranke, welche im Jahre 1967 veröffentlicht wurde.54

Rankes akademische Kariere wurde häufig untersucht, doch findet man kaum Veröffentlichungen zu seinem privaten Leben. Dieses Problem zeigt sich u.a., wenn man Rankes Ehe näher betrachtet.55 Viele Autoren erwähnen schon seine Hochzeit erst gar nicht, andere haben ihr Wissen vom Hörensagen: So wird etwa die Herkunft der Gattin Rankes wechselseitig als irisch, englisch, anglo-irisch oder britisch angegeben.

Diese Untersuchung basiert hauptsächlich auf Primärquellen aus mehreren Archiven und Bibliotheken in Europa und Amerika, die bereits im Vorwort ge-nannt wurden, aber auch aus privaten Archiven direkter Ranke-Nachfahren in Bad Salzuflen, Berlin, Denkendorf, Stolberg und Wiehe. Die meisten Archive und Bibliotheken in Amerika, England und Irland haben exzellente Kataloge, einige von ihnen sind auch vollständig über das Internet erreichbar, während die drei großen Archive in Deutschland, vor allem die Nachlässe in Berlin, nur provisori-sche Not-Kataloge haben und den Forscher vor die unwillkommene Aufgabe stel-len, sich gleichsam planlos durch Kisten mit unsortierten Dokumenten durchzuar-

51 E.H. Carr, What is history? (London 1990), S. 44. 52 Laue, Leopold Ranke, the formative years. 53 Gisbert Bäcker-von Ranke, ‚Leopold von Ranke und seine Familie: Kulturgeschichtliches

Bild einer deutschen Gelehrtenfamilie im neunzehnten Jahrhundert‘, Diss. (Bonn 1955). 54 Gisbert Bäcker-von Ranke, Rankes Ehefrau Clarissa geb. Graves Perceval (Göttingen 1967). 55 Adams, ‚Leopold von Ranke‘, S. 118, datiert fälschlicherweise die Hochzeit auf das Jahr

1845.

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20 EINLEITUNG

beiten. In der Folge verfügen eine Reihe von Manuskripten aus deutschen Archi-ven, die für diese Bearbeitung genutzt wurden, nur über vage Referenzen – teil-weise ist es nur eine Kistennummer, da die einzelnen Dokumente nicht katalogi-siert sind; Dokumente aus Syracuse oder Trinity College Dublin sind jedoch mit einem sehr exakten Referenzsystem versehen. Vor allem die Manuskripte aus Wiehe, Thüringen, sind sehr wichtig zum Verständnis des privaten Lebens von Ranke. Während Ranke viele seiner Briefe diktierte und anschließend redigierte, schrieb seine Frau Clarissa ohne spätere Korrekturen, d.h. ihre Briefe enthalten wesentlich mehr spontane Meinungen und Beschreibungen. Die Sammlung in Wiehe enthält mehrere Kopien und Originale von Rankebriefen, die den For-schern bisher entgangen sind. Für diese Arbeit habe ich vor allem Manuskripte in Form von Tagebüchern und Briefen, die Erinnerungen der Ranke-Kinder und die Arbeit von Bäcker-von Ranke, welche sich hauptsächlich auf Originalbriefe stützt, benutzt.

Bei zitierten Briefen sind die Datierungen, sofern vorhanden, immer in der Fußnote angegeben. Da Clarissa von Ranke nach 1862 nicht mehr Briefe mit ihrer eigenen Hand schreiben konnte, wurden ihre Briefe diktiert und von Familienmit-gliedern oder Freunden niedergeschrieben. Viele ihrer deutschen Freunde hatten jedoch nur ein begrenztes Wissen der englischen Sprache, so lassen sich viele Rechtschreibfehler, Wiederholungen oder sogar sprachliche Vermischungen fin-den. Zum Zweck der Lesbarkeit wurden grammatische Korrekturen vorgenom-men, Stil und Inhalt der Briefe wurde dabei nicht verändert.

Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, Leopold von Ranke, seine Familie und seine Verbindungen nach Irland zu untersuchen. Sie soll einen Ein-blick in das Privatleben von Ranke geben, welches recht gut in den Briefen von Clarissa von Ranke in den Jahren 1843 bis 1871 dargestellt ist. Sie bezieht auch seine Familie und Freunde mit ein sowie die Stellung von Rankes Ehefrau Claris-sa in der Berliner Gesellschaft. In seiner Arbeit zur Geschichte Irlands wurde Ranke zudem wesentlich von Clarissa’s Brüdern unterstützt. Eben am Beispiel all dieser persönlichen Verbindungen soll die Beziehung zwischen dem öffentlichen Historiker und dem privatem Leben Rankes untersucht werden.

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I. DIE FAMILIENGESCHICHTE VON LEOPOLD RANKE UND

CLARISSA GRAVES VOR 1843

1. Die Familie Ranke Die Wurzeln der Familie Ranke liegen in der Stadt Wettin. Dort hatte Andreas Ranke (†1659) das Amt eines Stadtkämmerers inne. Burg und Stadt von Wettin datieren zurück auf das zehnte Jahrhundert, als Wettin das Zentrum eines der mächtigsten Fürstenhäuser Europas war. Conrad der Große (1098-1157) sicherte dem Hause Wettin die Vormachtstellung, und das Fürstentum regierte die Region rund 800 Jahre lang. Durch Vermählungen mit anderen europäischen Kaisern und Königen wuchs der Einfluss des Hauses stetig. Heute ist das Sächsische Haus ein direkter Nachfahre der Dynastie Wettin, ebenso wie die königlichen Familien Englands, Belgiens und Griechenlands.

Weitere Details über Andreas Ranke sind nicht bekannt, aber es wird vermu-tet, dass er Jura studiert hatte. Beide Kinder, Andreas (†1717) und Israel Ranke (1659-94), erwarben ebenfalls höhere Bildung. So wurde Israel Ranke Pastor in Bornstedt in der Nähe von Eisleben. Zwei Generationen lang studierten die Söhne Theologie und ergriffen ebenfalls den Beruf des Pastors in der gleichen Region. Erst Gottlob Israel Ranke (1762-1835) brach mit der geistlichen Tradition. Gott-lob Ranke studierte zunächst Theologie in Leipzig, wechselte jedoch nach weni-gen Jahren zu Jura. Nach Abschluss des Studiums ließ er sich in Wiehe nieder und heiratete Friederike Lehmicke.1

Auch wenn die Familie Ranke der akademischen Bildung verpflichtet war, verließ sie doch niemals das Gebiet der „Goldenen Aue“, das zur damaligen Zeit dem Fürstentum Sachsen angeschlossen war. Die Familie heiratete dennoch nur innerhalb ihres eigenen Standes. Dieser Lebensstil folgte der zeitgenössischen Sozialstruktur Sachsens, wo das mittelalterliche Feudalsystem bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts andauerte. Die strikte Trennung der Stände in Adel, Stadtbürger und Bauern galt als Gott gegeben und bedingte die soziale Hierarchie der Region. Die Stellung der Fürsten fußte auf diesem Weltbild. Jene wiederum wachten über den Erhalt der traditionellen Struktur. Erst im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts begann dieses soziale Gefüge zu wanken. Die Entwick-lung eines Standes von Akademikern und Künstlern begleitete diesen Wandel ebenso wie die Ereignisse der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und schließlich das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na-tion. Die inneren Reformen Preußens durch Reichsfreiherr von und zum Stein und Graf von Hardenberg zielten auf die Schaffung einer Gesellschaft, in der persönli-cher Einsatz, Fleiß und Bildung das alte Ständesystem überwogen. Die Fürsten-

1 Weitere Details siehe Adams, „Leopold von Ranke“, S. 101-2; Gottfried Braasch, „Leopold

von Ranke und seine Familie in Wiehe“, in: Ranke-Verein (ed.), Leopold von Ranke (Wiehe 1995), S. 13-4; sowie allgemein Bäcker-von Ranke, „Ranke und seine Familie“; Hermann Ranke, Zur Geschichte der Familie Ranke.

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22 DIE FAMILIENGESCHICHTE

häuser öffneten sich selbst dem neuen Bildungsadel, nicht etwa zur Unterhaltung sondern zur eigenen Weiterbildung. Die Gründungen zahlreicher Gymnasien und die Einrichtung der Universität zu Berlin im Jahre 1810 markierten den vorläufi-gen Höhepunkt des sozialen Wandels.2

Während der Traditionalist Gottlob Ranke noch der alten Struktur verhaftet war, verließen Leopold Ranke und seine Brüder den ursprünglichen engen Rah-men. Jeder von ihnen erhielt zwar eine klassische Schulausbildung, doch sollten die Brüder später zusammen mit dem überholten Feudalsystem die Region verlas-sen.

Ihr Vater Gottlob Ranke arbeitete zunächst in verschiedenen Orten im Harz, siedelte aber nach seiner Heirat mit Friederike Lehmicke in Querfurt am 17. Feb-ruar 1795 nach Wiehe über, wo die Familie Ranke für die kommenden 40 Jahre an der Hauptstraße wohnte. Im gleichen Jahr zog Gottlobs Vater Heinrich Israel Ranke (1719-99) nach seiner Pensionierung als Pastor in das Haus des Sohnes ein. Er brachte verschiedene Bücher mit, viele von ihnen in den klassischen Bildungs-sprachen Latein und Griechisch geschrieben.

Nur wenige Wochen später kam Franz Leopold am 21. Dezember 1795 als erster Sohn der jungen Familie zur Welt. Das Datum seiner Geburtsstunde ist ge-neigt, den Forscher in Verwirrung zu stürzen, weil im Kirchenbuch die Geburt unter dem 20. Dezember eingetragen ist, Ranke aber den 21. Dezember als seinen Geburtstag ansah. Eine Notiz von Ernst Ranke, einem jüngeren Bruder Leopolds, bringt Licht in diese Angelegenheit: „Leopold hat mir gesagt, daß er nach Anga-ben der Mutter nicht vor, sondern nach Mitternacht geboren wurde, d.h. nicht in den letzten Stunden des 20ten, sondern den ersten des 21ten Dec, 1795.“3

In den folgenden Jahren erblickten weitere Geschwister das Licht der Welt: Johanna im Jahre 1797, Heinrich Friedrich 1798, Emilie Charlotte 1799 (das Kind starb allerdings im Alter von sechs Monaten), Karl Ferdinand 1802, Friedrich Wilhelm 1804, Rudolf Theodor 1806 (er verstarb mit zwei Jahren), Rosalie 1808 und Ernst Konstantin im Jahre 1814.4

Die Familie Ranke war Selbstversorger, wie es auch bei ähnlichen Berufen wie Rechtsanwalt, Doktor oder Lehrer üblich war. Wenn Leopolds Vater nicht gerade Geschäftsreisen unternahm oder etwa im Büro arbeitete, dann kontrollierte er den Fortgang der Arbeiten auf den Feldern und in den Ställen, die von Magda-lene Eberhardt an Ranke vererbt in den Familienbesitz gekommen waren. Seine Spezialität war Garten- und Fruchtanbau. Vor allem die Kirschen erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit. Gottlob Ranke lebte sparsam, ein Charakterzug, der auch Sohn Leopold schon sehr früh prägte. Denn nur penible Sparsamkeit erlaubte es dem Vater, all seinen Söhnen eine gute Bildung zu verschaffen: zunächst in der bekannten Landesschule Schulpforta und später auf verschiedenen Universitäten.

2 Bäcker-von Ranke, „Ranke und seine Familie“, S. 1-3. 3 Notiz von Ernst Ranke, Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Familien-

archiv Geschwister Ranke, No. 1. Von nun an benutze ich die Kurzform: GStA PK, FA Ge-schwister Ranke, No. 1.

4 Weitere Details über Ranke’s Geschwister siehe Braasch, „Ranke und seine Familie in Wiehe“, S. 14-5.

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Als Wiehe 1815 in preußischen Besitz überging, wurden die alten bürokratischen Richtlinien in das preußische Rechtssystem überführt. Dies bedeutete viel Arbeit für Gottlob Ranke, aber auch ein zusätzliches Einkommen, das sehr gelegen kam.5

In seiner Knabenzeit war Leopold häufig krank. Wahrscheinlich begann das Kind deshalb schon früh mit dem Lesen. Der aufgeweckte Junge studierte vor-wiegend die Bibliothek seines Großvaters, der bereits im Jahre 1799 in Wiehe verstarb. Im Jahre 1807 ging Leopold Ranke auf die Klosterschule in Donndorf. Zwei Jahre später wechselte er auf die Landesschule Schulpforta. Während dieser Zeit entwickelte Ranke eine enge Beziehung zur Natur und zu seiner Heimatregi-on, die wahrscheinlich auch sein späteres Verständnis von Geschichte beeinfluss-te. Neben Wettin, der Heimat des ältesten bekannten Ranke-Vorfahren, gab es noch weitere wichtige historische Stätten in der Region. Ranke besuchte viele dieser Orte in seiner Jugendzeit, aber auch im späteren Leben, wie beispielsweise die Kaiserpfalz zu Memleben, deren Grundmauern in das zehnte Jahrhundert zu-rückdatieren. Dort verbrachte Kaiser Otto I. (912-73) seinen Lebensabend. Nicht weit davon entfernt befindet sich Wendelstein, eine mittlerweile zerstörte Burg aus dem sechzehnten Jahrhundert. Eher religiöser Natur ist die Bedeutung der Orte Heldrungen und Allstedt, vor allem im Bezug auf Thomas Müntzer. Querfurt beeindruckte Ranke, weil dort die größte und älteste Steinfestung Mitteleuropas steht, die auf das neunte Jahrhundert zurückdatiert. Die Kaiserburg zu „Kyffhusen bei Bad Frankenhausen“ datiert auf das elfte Jahrhundert. Sie war genauso wichtig wie die alte und berühmte Landesschule Schulpforta, auf der alle Ranke-Brüder ihre Schulausbildung erhielten. Ein weiterer geschichtlich relevanter Ort ist Eisle-ben, wo Martin Luther geboren wurde und starb.

Auch die napoleonischen Kriege prägten den jungen Leopold Ranke. So hörte er das Donnern der französischen Kanonen während der Schlacht bei Jena und Auerstädt im Jahre 1806 und sah die französischen Truppen an seiner Schule vor-beimarschieren. In den Jahren der Besetzung musste er französisch lernen. Wäh-rend Ranke Tacitus Agricola lernte, entfachte der Rückzug Napoleons aus Mos-kau die Flamme der National-Bewegung Deutschlands, die die Befreiung der deutschen Staaten erst ermöglichte.

Inspiriert las Ranke die idealistischen Philosophen, allen voran Johann Gott-lieb Fichte. In Schulpforta, Bildungsstätte für viele spätere Größen der Zeit, er-warb er eine fundierte Ausbildung in evangelischer Religion und griechischer und römischer Klassik. Nach Abschluss der Schule im Jahre 1814 schrieb er sich an der Universität zu Leipzig für die Fächer Theologie und Klassik ein; aber er be-

5 Eine detaillierte Beschreibung zu Rankes Eltern und Wiehe gibt Ermentrude von Ranke,

„Leopold von Rankes Elternhaus“, in Herbert Grundmann (Hrsg.), ARCHIV FÜR KULTUR-GESCHICHTE, Bd. XLVIII (Köln 1966), S. 114-32. Nach 1863 diktierte Ranke mehrere Berichte über seine Kindheit und der frühen akademischen Jahre bis in die 1830er Jahre. Da die vier Berichte sich im Detail und Inhalt unterscheiden, entschied ich mich, seine eigenen Berichte nicht für seine Jugendbeschreibung und sein Leben vor 1843 zu benutzen, da sie durch seine Erinnerungen zwischen 50 und 80 Jahren nach seiner Kindheit romantisch eingefärbt sind. Seine eigenen Berichte finden sich unter Leopold von Ranke, Leopold von Ranke; Aufsätze zur eigenen Lebensbeschreibung (Wiehe 1993), S. 1-66.

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vorzugte das Studium der Klassiker, vor allem in den Bereichen Philologie und Übersetzung. Während seiner Studienjahre in Leipzig befasste sich Ranke auch mit den Ideen und Konzepten Karl Wilhelm Friedrich Schlegels, Johann Wolf-gang von Goethes, Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings, Immanuel Kants, Thucydides, Livys, Dionysius, Johann Gottfried Jakob Hermanns und Barthold Georg Niebuhrs. Rankes späteren Erinnerungen zufolge, las er nicht viele Bücher zur neueren Geschichte, deren trockene Auflistungen von Fakten ihn abgeschreckt hätten. Auch wenn sich Ranke vor allem den klassischen Studien widmete, blieb er geistig den neueren Epochen treu. Ranke bewunderte Goethe, der zur gleichen Zeit den „modernen Klassizismus“ in das deutsche Leben einbrachte. In diesen Jahren und während seiner frühen Zeit in Frankfurt an der Oder war Ranke ein begeisterter Anhänger von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, dessen Stehpult er 1820 kaufte und das ihm bis zum Ende seines Lebens treue Dienste leistete. Im Jahre 1817 schloss Ranke mit einer Dissertation zu Thucydides sein Studium ab, um danach sein Interessensfeld nach eigenem Gutdünken zu erweitern. Aus der Idee zu einer neuen Biographie über Luther entsprang sein Gedanke zur Rekon-struktion der neueren europäischen Geschichte, beginnend mit der Zeit der Deut-schen Reformation. Aber Ranke folgte mehr den Konzepten und Idealen Thucy-dides und Niebuhrs. Der erstere diente als Vorbild im Schreibstil, der andere in-spirierte mit seiner kritischen Methode. Die Kenntnisse, die Ranke durch das de-taillierte Studium der Klassiker gewann, setzte er auch erfolgreich im Bereich der neueren Geschichte um. Ranke schrieb später, dass Niebuhrs Römische Geschich-te seine eigenen Studien wesentlich beeinflusst habe. Ranke entwickelte jedoch Niebuhrs kritischen Ansatz weiter und korrigierte dabei die Schwächen der Me-thoden. Obwohl Niebuhrs kritischer Umgang mit den Quellen bahnbrechend war, projizierte er doch in seine Darstellung römischer Geschichte persönliche morali-sche und philosophische Ansichten, die er als Lehrbeispiele für Deutschland zur Lösung zeitgenössischer Fragen aufstellte – eine Vorgehensweise, der die meisten deutschen Historiker des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts folgten. Während er alte Traditionen untergrub, baute Niebuhr neue Strukturen auf unsi-cherem Grunde. Aus Fragmenten einer zuvor definierten historischen Wahrheit unternahm er den Versuch, die vollständige Korrektheit herauszufiltern – ein abenteuerliches und fantasievolles Unterfangen. Andererseits suchte er stets, den geschichtlichen Fakten gerecht zu werden, keine Predigten zu halten, keine mora-lische Wertung zu ziehen und keine Märchen zu erzählen, sondern schlicht die objektiven Abläufe und Zusammenhänge wiederzugeben. Wahrheit und ein Höchstmaß an Objektivität waren Rankes angestrebte Ziele. Nach seiner Meinung diente Geschichte nicht etwa zur Unterhaltung oder Bildung, sondern zur Unter-weisung: ohne sich selbst als moralischen Zensor anzusehen, wollte Ranke der Welt die historische Wahrheit in ihrer Reinheit offenbaren. Er entwickelte eine ästhetische Qualität, immer bemüht, einen ausdrucksvollen Stil zu finden, der über triviale Allgemeinplätze hinausging. In dieser Hinsicht ließ sich Ranke je-doch weniger von klassischen Vorbildern beeinflussen, sondern eher vom Stil Johannes von Müllers. Doch versuchte er in seiner Geschichtsdarstellung stets, inkorrekte Färbungen zu vermeiden, wie es etwa Sir Walter Scott und viele andere

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Romantiker praktizierten. Der junge Ranke lernte eifrig aus den Stärken und Schwächen seiner Vorbilder.

Im April 1818 wurde Ranke als Lehrer der klassischen Studien an das Fried-richs-Gymnasium in der preußischen Stadt Frankfurt an der Oder berufen. In den Folgejahren (1818-25) wuchs Rankes Interesse an der Geschichte weiter. Es wa-ren vor allem die Unzufriedenheit mit den bestehenden Arbeitsmethoden und die romantisch geprägte Art der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, die Ranke zur Produktion seines eigenen Werks antrieben, und nicht etwa wie bisher ange-nommen, sein allgemeines Interesse an der neueren Geschichte. Im Jahre 1824 erschien sein erstes Werk Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535. In der Einleitung stellte Ranke die Einheit der sechs Nationen, die aus dem Karolingischen Großreich hervorgegangen waren (die lateinischen Nationen Frankreich, Italien und Spanien sowie die germanischen Nationen Eng-land, Deutschland und Skandinavien), als Folge der Völkerwanderung, der Kreuz-züge und der Kolonisationen dar. Diese Entwicklungen erschien Ranke wie ein einzigartiges, geschlossenes Ereignis, das eine gemeinsame Geschichte bedingte und die Nationen zu einer Einheit mit gemeinsamen Wurzeln verband. Im Haupt-text behandelte Ranke dennoch die Entwicklung aller sechs Nationen im fünf-zehnten und sechzehnten Jahrhundert als separate Staaten.

Nicht nur in seinem Erstlingswerk, sondern auch in späteren Werken, unter-suchte Ranke die Wurzeln der europäischen Nationen und die Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches, sah er es doch als ein Ideal der Einheit Europas. So lehnte Ranke in späteren Jahren auch konsequent die Idee eines zentralistischen deutschen Staates ab.6 Auch in den Folgejahren bewahrte Ranke sein Interesse an europäischer Geschichte; dem entsprachen sowohl seine „europäischen“ Verbin-dungen mit Gelehrten und Königen, als auch sein offenes, „europäisch“ gesinntes Haus, im Freundeskreis bekannt als „Salon Ranke“ unter der Leitung seiner Frau Clarissa im Berlin der 1840er bis 1860er Jahre.

Rankes Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 enthalten folgendes, essenzielles Bekenntnis: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“7 Die Bedeutung von Rankes Ziel, Geschichte studieren zu wollen, „wie es eigentlich gewesen“, war und ist ein zentraler Punkt im Diskurs um die Geschichtsschreibung der Gegenwart. Viele Historiker sehen diese Haltung als Aufruf zur „farblosen“ Geschichtsdarstellung an. Ranke postuliere, dass der Historiker den Fakten folgen solle und dass es kei-nen Hinweis auf die Meinung des Verfassers geben dürfe. Es sei nur möglich, die Vergangenheit in all ihrer Form zu entdecken, wenn man alle Spuren des eigenen Selbst verwische. Nach der Auffassung Rankes bestehe die Aufgabe des Histori-kers darin, die „heiligen Hieroglyphen“, die Gottes Gegenwart auf der Welt reprä-

6 Ein vor kurzem erschienener Artikel zum Thema „das Ideal der Einheit“ ist Russell Chamber-

lin, „The ideal of unity“, in: HISTORY TODAY, vol. liii (11) (London 2003), S. 56-63. 7 Leopold Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535

(1824), S. v-vi.

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sentierten, zu enthüllen. Demnach kann man sagen, dass Geschichte nach Ranke nicht nur die Auflistung von Fakten sei, vielmehr müsse der Historiker das Detail ebenso betrachten wie das Universelle. Iggers argumentiert, dass Rankes Formel „wie es eigentlich gewesen“ bisher missverstanden wurde, und man Rankes Kon-zept zur Geschichte eher von einem idealistischen Standpunkt betrachten müsse. Demnach soll der Historiker auf der Basis gesicherter Fakten argumentieren – unter Vermeidung der Einbringung eigener Überzeugungen. Dennoch muss er auch über die Fakten hinaus sehen, um Wandelprozesse in der gesellschaftlichen Entwicklung und Leitbilder zu erkennen, die Individuen oder Institutionen ihren entsprechenden Charakter gaben.8

Untersuchungen von Baur haben gezeigt, dass Ranke eher durch seine Er-nüchterung und Unzufriedenheit über die Tatsache, wie Geschichte geschrieben wurde, zur Geschichtsforschung gelangte. Da Ranke von einem philologischen Hintergrund aus startete, befasste sich sein Werk auch mehr damit, wie Geschich-te geschrieben werden sollte, als mit dem Schreiben einer Geschichte an sich. So erscheine sein erstes Buch auch stellenweise konfus und unorganisiert und leide unter dem Mangel an fundiertem historischen Hintergrundwissen. Doch, so betont Baur, sei der philologische Aspekt, nämlich der kritische Umgang mit den Quel-len und die Ausführungen, wie Geschichte geschrieben werden sollte, sehr gut strukturiert.9

In seiner Beilage Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber untersuchte Ranke die literarischen Quellen und die Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit. Mit großer Sorgfalt wertete er die Werke von Machiavelli und Guicciardini, sowie mehreren europäischen Historikern aus Italien, Deutschland, Spanien und Frank-reich aus. Ranke strebte danach, jedes Fallbeispiel einer genauen Untersuchung zu unterziehen und zu prüfen, inwiefern die Aussagen der Autoren der Wahrheit ent-sprachen und den Originalen folgten. So war Ranke einer der ersten Gelehrten, der die Authentizität Machiavellis bestätigte. Ebenso zeigte er jedoch auch die Ungenauigkeit Guicciardinis auf: seine Geschichtsschreibung fuße nicht auf soli-den Fakten, sondern huldige einer romantischen Verklärung.

Rankes erstes Buch war auf Anhieb erfolgreich. Dank des preußischen Bil-dungsministers Altenstein berief die Universität zu Berlin Ranke im Frühjahr 1825 als außerordentlichen Professor. Da seit den militärischen Niederlagen Preu-ßens gegen Napoleon im Jahre 1806 alle deutschen Universitäten unter französi-scher Kontrolle standen, versuchte man nun, eine deutsche Universität in einem unabhängigen Deutschen Staat zu gründen – oder, wie es Humboldt ausdrückte: „der Staat müsse den Verlust der militärischen Stärke durch intellektuelle Stärke ersetzen.“10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel unterrichtete Philosophie, Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher lehrte Theologie, Friedrich Karl von Savigny hinge-gen Rechtswissenschaften. In den Geisteswissenschaften herrschten zwei konträre Lehrmeinungen. Zum einen das hegelsche Postulat, dass Geschichte stets die Ge-

8 Iggers, The German conception of history, S. 63-89. 9 Für weitere Details siehe Baur, Historik des jungen Ranke. 10 Weitere Details siehe Thompson, A history of historical writing, S. 150-3.

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schichte der universellen Freiheit sei, und Savignys Konzept von der Individuali-tät und der Verschiedenheit der Erfahrungen in der Geschichte. Ranke bezog seine eigene Position: er stimmte mit Savigny dahingehend überein, dass Hegels Inter-pretation der Geschichte über und unabhängig von konkreten Fakten und Ereig-nissen nicht haltbar war. Stattdessen bedurfte es der konkreten Erfahrungen von Menschen zur Realisierung universeller und geistiger Ideen. Dennoch blieb die Natur und Funktion des Universellen in Rankes Werk ohne Frage Hegelianisch. Nichtsdestotrotz sollte sich der Historiker darum bemühen, Geschichte zu schrei-ben, „wie es eigentlich gewesen“, und jegliche Andeutung einer „Was-wäre-wenn“-Geschichte sollte herausgelassen werden.

Als Ranke im Jahre 1825 in Berlin eintraf, war nicht nur die königliche Bibli-othek von Interesse, sondern er nahm auch Anteil am Gesellschaftsleben und traf einflussreiche Menschen, die ihm helfen konnten. Vor allem der Salon der Rahel von Varnhagen zog ihn an. Ihr Salon stellte den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Mittelpunkt der Berliner Intelligenzia dar, und Berühmtheiten wie Goethe und Hegel, die Gebrüder Humboldt und Heinrich Heine unterhielten enge Kontakte zu Varnhagen. Dort erwarb Ranke den prägenden literarischen Stil, der seine Werke in späteren Jahren auszeichnete. Hier traf Ranke auch Bettina von Arnim, mit der er über lange Jahre Kontakt hielt, bis er sich in späteren Jahren mit ihr zerstritt. Andere Persönlichkeiten, die Ranke in dieser Gesellschaft antraf, wa-ren Clemens von Brentano, Adalbert von Chamisso, Ludwig Devrient, Hermann Fürst von Pückler, Schelling und Schleiermacher.

Am wichtigsten für Ranke war der Zugang zur königlichen Bibliothek mit ih-ren bisher kaum gelesenen 48 Bänden von Dokumenten und Materialien zur itali-enischen, spanischen und päpstlichen Geschichte. Das Ergebnis, Fürsten und Völker von Süd-Europa (1827), das vom Osmanischen Reich und der spanischen Monarchie handelt, veranlasste die preußische Regierung, Ranke eine längere Forschungsreise zu finanzieren, damit er die relazioni der venezianischen Bot-schafter studieren konnte. Diese geheimen Berichte, die den Regierungen über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten eingereicht wurden, enthalten individuell gefärbte Berichte verschiedenster gut informierter Spione, die man ihrer Tätigkei-ten entsprechend heute eher als „Botschafter“ einstufen würde. Auch wenn Jo-hann von Müller die Quellen schon zuvor herangezogen hatte, so war es erst Ran-ke, der sie berühmt machte. Seine Benutzung dieser Quellen stellte nicht nur die Auswertung bisher unbekannten historischen Materials dar – sie brachte auch neues Licht in die Erklärung historischer Ereignisse in Europa.

Ranke begann die Forschungsreise am 1. September 1827. Für mehr als drei Jahre blieb er im Ausland, um in Dokumenten in Wien, Florenz, Rom und Vene-dig zu recherchieren. Gute Verbindungen ermöglichten ihm auch Einsicht in pri-vate oder für die Öffentlichkeit geschlossene Archive. Hier zahlten sich Rankes Geduld und Diplomatie aus. Die Briefe an seine Brüder, an Heinrich August Rit-ter, der Rankes Finanzen verwaltete, oder an den preußischen Bildungsminister Altenstein lesen sich wie die Tagebücher eines Entdeckers, der mit Freude und Stolz bisher Verborgenes ans Tageslicht bringt. Vom frühen Morgen an verbrach-

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te er die besten Stunden des Tages in den Archiven, um Kopieraufträge zu verge-ben, und dann weiterzuforschen, zu lesen und neue Schätze zu finden.

Seine langen und erfolgreichen Forschungsreisen in Italien setzten den Maß-stab für spätere Forschungsreisen; immer wieder unterbrach er seine Lehrtätigkeit an der Universität für – manchmal monatelange – Forschungsreisen nach London, Paris, Prag, Wien, Venedig, Brüssel oder Den Haag.

Kurz nach seiner Rückkehr nach Berlin im Jahre 1831 betraute der preußische Außenminister Graf Bernstorff den Vielgereisten mit der Edition einer neuen Zeitschrift: der Historisch-Politischen Zeitschrift. Man erhoffte sich, dass diese Schriftenreihe den liberal-politischen Ideen, die sich seit den französischen und belgischen Revolutionen von 1830 in Deutschland verbreiteten, entgegenwirken könnte. Jedoch gelang es Ranke nicht, eine große Anzahl von Autoren zu gewin-nen oder ein breites Publikum zu erreichen, so musste er in den erschienenen acht Ausgaben (1832-6) eine Reihe von Artikeln selbst schreiben. Heute ermöglichen sie tiefere Einsicht in den Rankeschen „Idealismus“, der auch in den „Großen Mächten“ (1833) und „Politischen Gesprächen“ (1836) hervortritt. Dort argumen-tierte Ranke, dass die Entwicklung eines realen Staates durch besondere, von Gott gegebene geistliche und moralische Ideen, bedingt werde. Der Einzelne sollte daran arbeiten, die Idee, die das Herz seines Staates bilde, zu erfassen. Deshalb seien die revolutionären Gedanken und Aktivitäten aus Frankreich, nicht ohne weiteres auf Deutschland zu übertragen. Zwar hatte Ranke durchaus erkannt, dass die Restauration ein Kind der Französischen Revolution war, er wollte schlicht die terreur der Revolution vermeiden. Allgemein betrachtet, vertrat Ranke weder eine konservative, noch eine reaktionäre oder gar revolutionäre Auffassung, doch was er schrieb, zeigt deutlich, dass Ranke – historisch und politisch betrachtet – den Reformen zustimmte.

Es war die Zeit der politischen Reaktion, besser bekannt unter den Begriffen „Biedermeier“ oder „Vormärz“ (1830-48). Vorsichtige Staatsmänner in Berlin distanzierten sich vom revolutionären Frankreich. Stattdessen beauftragte man verstärkt Gelehrte, die Grundsteine der bestehenden Gesellschaft durch die Wie-derbelebung einer glorreichen Vergangenheit zu stärken. Historische Forschung, die dem Zeitgeist entsprach, hatte jetzt gute Chancen. Durch die Anwendung kon-servativer Rekonstruktionsmethoden erhofften sich Gelehrte und Staatsmänner, Deutschland neu aufbauen zu können. Johann Albrecht Friedrich Eichhorn lehrte frühes deutsches Recht und dessen Institutionen, die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm erforschten deutsche Märchen und die deutsche Sprache. Savigny unter-suchte die Entwicklung des römischen Rechts im Mittelalter und Niebuhr schrieb seine römische Geschichte. Der Patriot Baron von Stein gründete eine historische Gesellschaft in Frankfurt am Main im Jahre 1818, die die deutsche Geschichte von den Anfängen her rekonstruieren sollte. Auf Steins Empfehlung hin wurde Georg Pertz, mit dem Ranke eine enge Freundschaft unterhielt, beauftragt, die Originalquellen zur deutschen Geschichte zu editieren, eine Arbeit, die zu den voluminösen Bänden der Monumenta Germaniae Historica führte.

Während Ranke an der Historisch-Politischen Zeitschrift arbeitete, schrieb er Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten