34
Leseprobe aus: ISBN: 978-3-8052-0334-0 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Leseprobe aus:

ISBN: 978-3-8052-0334-0Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.rowohlt.de.

Page 2: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Brigitte Riebe

Die Schwestern vom Ku’dammWunderbare Zeiten

Roman

Wunderlich

Page 3: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Verse auf S. 84 aus: Joseph von Eichendorff: Aussicht. München 1970Verse auf S. 144 aus: Rainer Maria Rilke: Liebeslied. Leipzig 1923

Liedtext auf S. 276 und 277: Abwandlung von:Du bist nicht die Erste, Comedian Harmonists,

Text Rudolf Bernauer, Rudolf OesterreicherLiedtext auf S. 283 aus: Mr. Sandman,

The Chordettes, Text: Pat BallardLiedtext auf S. 284 aus: Fly Me to the Moon (ursprünglich:

In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart HowardLiedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek,

Ella Fitzgerald, Text: Irving BerlinGedicht auf S. 356: Rainer Maria Rilke: Du musst

das Leben nicht verstehen. Frankfurt am Main 2016Verse auf S. 438/439 aus: Ingeborg Bachmann:Die gestundete Zeit. Frankfurt am Main 1953

OriginalausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, HamburgRedaktion Susann Rehlein

Satz aus der Adobe GaramondGesamtherstellung CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978 3 8052 0334 0

Page 4: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

PROLOGBerlin, Frühling 1952

Den Ku’damm von der Bleibtreustraße aus in Richtung Kai-ser-Wilhelm-Gedächtniskirche entlangzuschlendern, ist fürSilvie Thalheim jedes Mal eine Art Zeitreise. Heute sind al-le Schaukästen längst wieder intakt und mit Werbemittelnbestückt, und von den Litfaßsäulen locken bunte Plakate,die für Damenmode, Nylonstrümpfe oder Zahnpasta wer-ben. Doch sie kann sich noch bestens an zerborstenes Pflas-ter, Scherben, Häuserfassaden wie aufgerissene Wundenund Menschen in Lumpen erinnern, die hier entlanggehas-tet sind. Damals war das Modekaufhaus Thalheim, vor demsie inzwischen angekommen ist, ebenso eine Ruine wie dieKirche gegenüber, die noch immer auf ihren Abriss oderWiederaufbau wartet, weil der Senat und die westlichen Al-liierten keinen Konsens erzielen können.

Dass sie nun das Modekaufhaus betreten und denCharme seiner licht gebauten Stockwerke auf sich wirkenlassen kann, ist das Verdienst ihrer älteren Schwester Ri-ke. Klug und vorausschauend hat diese das großväterli-che Erbe geschützt und in der Schweiz vor der Abwertungdurch die bundesdeutsche Währungsreform bewahrt. Nurso konnte der Neubau finanziert, nur so ein Modeangebotfür die Frau von heute bereitgestellt werden, das in West-Berlin seinesgleichen sucht. Friedrich Thalheim, der Seniorder Firma, hatte den Glauben daran niemals aufgegeben,ebenso wenig wie an die Rückkehr seines einzigen SohnesOskar, Silvies Zwillingsbruder, der seit einem Dreiviertel-jahr zurück in Berlin ist.

Seitdem sind die Karten bei den Thalheims neu ge-mischt.

5

Page 5: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Wer Sieger sein wird und wer Verlierer, muss erst dieZukunft zeigen …

Manchmal stellt Silvie sich vor, sie sei eine ganz normaleKundin, die sich durch die Abteilungen treiben lässt. Sie be-sitzt nicht die Materialkenntnisse ihrer Schwester Rike, siehat sicherlich nicht den Sinn für Schnitte und Formen wieMiriam Sternberg, die der Familie Thalheim seit Kinderta-gen nahesteht. Und ganz sicherlich kann sie nicht so spiele-risch zeichnen wie ihre Halbschwester Flori, das Nesthäk-chen der Familie.

Aber Silvie sieht. Sie spürt, darin ist sie einzigartig.Und sie ahnt  – was die Menschen sich wirklich wün-

schen, auch wenn sie nach außen hin so tun, als sei es ganzanders.

Materialien braucht sie nicht zu berühren, um zu wis-sen, wie sie sich auf der Haut anfühlen, und so erfasst sieden Unterschied zwischen Seide, Wolle, Georgette, Crêpede Chine, Taft und vielen anderen Stoffen schon beim Hin-sehen intuitiv. Ganz selten überrascht sie, was scheinbarüber Nacht «modern» wird, Diors «New Look» ebenso we-nig wie der Wunsch der Frauen, wieder mehr Bein zu zei-gen, etwas später. Silvie hat den Wandel im Blut, von derFamilie bisweilen als «Unstetigkeit» abgetan, dabei hat siedoch lediglich begriffen, dass nichts so bleibt, wie es ist,und alles immer wieder anders werden muss.

Dabei geht es ihr nicht um die Männer.Wie man denen gefällt, das weiß sie, seitdem ihre Brüste

gewachsen sind und die Hüften sich zu runden begannen.Keine große Kunst bei blonden Haaren, blauen Augen undguten Beinen, wie sie manchmal selbstkritisch denkt.

Männer sind so leicht zufriedenzustellen.Nein, die Frauen sollen mit Thalheim-Mode glücklich

werden, auch jene, die vom Schicksal eher stiefmütterlichbehandelt wurden. Ein neues Kleid, ein schwingender Rock,

6

Page 6: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Samt, über den die Hand versonnen gleitet, raschelnde Sei-de, das sind die Träume, die Silvie dabei im Sinn hat.

Im Modekaufhaus Thalheim können sie alle wahr werden.So nimmt sie manchmal ein paar Stücke in die Kabine,

probiert sie durch und lässt sich dabei von den Geräuschenaus den Nachbarkabinen inspirieren. Dieses Ächzen undStöhnen, wenn eine Enttäuschung droht, dieses kurzatmi-ge Schnappen, wenn der Reißverschluss nicht zugeht, undschließlich der Moment andächtiger Stille, wenn die Fraunebenan sich zufrieden vor dem Spiegel dreht, das ist ihreMusik.

Silvie liebt es, dass ihre Familie Frauen in die Lage ver-setzt, so zu empfinden.

Noch mehr allerdings liebt sie ihre eigene Freiheit.Bereits der Gedanke an die kleinste Fessel, die diese be-

schneiden könnte, ist Silvie unerträglich. Und so verlässtsie nach ihren Ausflügen das Modekaufhaus Thalheim wieder,zutiefst erleichtert, dass ihre Vespa, die draußen parkt, siezu ganz anderen Ufern tragen wird …

7

Page 7: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

1Berlin, Mai 1952

Die Höhle war seit jeher ein Geheimnis, das nur sie bei-de teilten. Im Schutz des kuschligen Federbetts schrumpf-ten kindliche Nöte und Ängste auf Miniaturformat, bis siesich schließlich ganz auflösten, denn die vertraute Nähedes anderen schenkte Trost und Mut. Zusammen fühltensie sich stark genug, um der ganzen Welt die Stirn zu bie-ten. Irgendwann konnte man dann wieder gemeinsam auf-tauchen – verschwitzt, aber gelöst.

Heute, in der Dämmerung, als im Hof bereits die Vö-gel zu zwitschern begannen, war es beinahe wie früher:Oskars Kopf ruhte in Silvies Armbeuge; seine Lider wa-ren geschlossen, die Wimpern bewegten sich leicht. Die al-te Narbe auf der Stirn vom Rolltreppensturz im KaufhausThalheim war kaum noch sichtbar. Sein Gesicht wirkte ent-spannt; für den Moment schienen alle Albträume besiegt,auch wenn er kein kleiner Junge mehr war, der Schutz beiseiner Zwillingsschwester suchte.

Er war ihr Alter Ego, ihr Herzensmensch, der Nächstevor allen anderen. Nicht einen Augenblick hatte sie darangeglaubt, dass er tot sein könnte. Silvie hatte in den Jahrennach dem Krieg auch dann noch auf den Suchdienst desRoten Kreuzes gehofft, als die anderen Thalheims längst dieHoffnung aufgegeben hatten, weil jede Nachricht ausblieb.Oskar lebt, das hatte sie die ganze Zeit über gespürt. Alsgrünen Jungen hatten die Nazis ihn nach dem Notabitur ander Ostfront verheizt, als erwachsener Mann, versehrt anKörper und Seele, war er vor einem knappen Jahr endlichnach Berlin zurückgekehrt.

Sie strengte sich an, bloß nicht zum Bettende zu schau-en. Ihr Bruder hatte immer die schönsten Füße der gan-

8

Page 8: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

zen Familie gehabt: schmal, perfekt geformt, mit einem ele-ganten Spann, der jedem Balletttänzer Ehre gemacht hät-te. Jetzt fehlten ihm links vier Zehen, erfroren in den eisi-gen Wintern Russlands, und später im Lagerlazarett wüstabgesäbelt, ohne Narkose, wie er einmal scheinbar neben-bei erwähnt hatte.

Immerhin hatte Oskar Thalheim drei Jahre Krieg undfast sieben endlose Jahre russische Gefangenenlager über-lebt. Andere hatte es schlimmer getroffen, viel, viel schlim-mer.

Was bedeuteten da schon vier verlorene Zehen?Er wiederholte diesen Satz ständig, offenbar in der Hoff-

nung, irgendwann selbst daran zu glauben. Dass es besten-falls ein Teil der Wahrheit war, wussten sie beide. Silviespätestens seit seiner ersten Nacht in Oma Fridas einsti-ger Wohnung in der Bleibtreustraße, in der sie bis vor kur-zem zusammen mit ihrer Schwester Rike gelebt hatte. Os-kars gellende Schreie aus dem Nachbarzimmer hatten sieim Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen; für ein paarAugenblicke war sie wie gelähmt gewesen. Dann stand erschon im Türrahmen, die blonden Haare zerrauft, das Ge-sicht angstvoll verzerrt.

«Sie kommen, Silvie, all die Toten sind auf dem Weg!»Unwillkürlich schlug sie die Decke zurück, so wie sie es

immer getan hatte, und er kroch zu ihr ins Bett, am ganzenKörper zitternd, bis ihre Wärme ihn schließlich beruhigte.

«Niemand kommt, Brüderchen», flüsterte sie, die Armefest um ihn geschlungen. «Und wenn doch, dann könnensie was erleben, das versprech ich dir! Immerhin bin ich jaacht Minuten älter als du …»

Sie mussten lachen, alle beide, danach begann er zu wei-nen, und sie hielt ihn fest, bis seine Tränen versiegt wa-ren. Irgendwann schlief Oskar ein, doch sie blieb noch lan-ge wach. So viele Jahre Leben hatte man ihm gestohlen.

Wie sollte er sich jemals davon erholen?

9

Page 9: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Genauso hatte es sich auch vor ein paar Stunden wiederabgespielt, und Silvie war froh, dass Oskar endlich einge-schlafen war. Keiner würde je von seinen Albträumen er-fahren, das hatte sie sich geschworen.

Tagsüber war er zwar übermüdet, aber charmant undschlagfertig wie eh und je. Seine Rolle im ModekaufhausThalheim nahm er allerdings leider noch immer nicht soernst, wie ihr Vater es von ihm erwartete. Sein einzigerSohn, auf dessen Rückkehr Friedrich Thalheim all seineHoffnungen gesetzt hatte, spielte den Juniorchef nach au-ßen hin famos. Schaute man allerdings genauer hin, sahes anders aus. Oskar vergaß Termine, hielt sich nicht anVereinbarungen, und auf seinem Schreibtisch türmte sichUnerledigtes. Gäbe es nicht «Hildi», wie er ihre SekretärinHildegard Stutzke liebevoll nannte, die ständig rettend ein-griff, um das Schlimmste zu verhindern, wäre die Liste derkleinen und größeren Pannen sicherlich noch länger.

Silvie machte sich Sorgen um ihren Zwillingsbruder.Er fuhr Auto wie ein Verrückter, aß unregelmäßig und

verbrachte zu viele Nächte in Etablissements wie der Char-lottenburger Ciro-Bar, dem Nachtclub Vagabund oder demberüchtigten Schöneberger Jazzlokal Badewanne, als wür-de er regelrecht vor dem Schlaf fliehen, der ihm so böseTräume brachte. «Pandabär», zog sie ihn auf, weil seine Au-genschatten immer tiefer wurden. Oskar jedoch wollte kei-ne guten Ratschläge oder gar Ermahnungen hören, nichteinmal, wenn sie von seiner Zwillingsschwester kamen.

«Früher warst du irgendwie anders, lustiger, nicht aufden Mund gefallen und vor allem nicht so grässlich ange-passt», hatte er einmal prompt gekontert, als sie es schließ-lich doch nicht lassen konnte und ihn zur Rede stellte. «Da-mals ließ sich köstlicher Unsinn mit dir anstellen – und dasfand ich wunderbar.»

«Früher war ich auch ein verwöhntes Gör, das vom Le-ben keine Ahnung hatte», gab Silvie zurück.

10

Page 10: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Dass sie ihre einstige Leichtigkeit manchmal selbstschmerzlich vermisste, würde sie ihm nicht auf die Nasebinden. Oskar hatte Entsetzliches durchgemacht, aber dieersten Nachkriegsjahre in Berlin waren auch kein Zucker-schlecken gewesen. Silvie hatte gehungert, gefroren, fürdie Familie illegale Geschäfte auf dem Schwarzmarkt ge-tätigt, dreimal ihr Herz verschwenderisch verschenkt unddreimal eine bittere Enttäuschung kassiert – das hatte siegeprägt.

«Heute bin ich die Radiostimme Berlins und schon langekein Kind mehr», fügte sie hinzu.

«Papperlapapp, verehrtes Fräulein Neunmalklug! Allesein wenig spielerisch anzugehen, hat noch keinem gescha-det. Lieber interessant verlebt, als öde verspießert. Außer-dem habe ich, wie du weißt, so einiges nachzuholen …»

Jetzt betrachtete sie Oskar, der noch immer tief undfest schlief. Er sah aus, als könne er kein Wässerchentrüben, und Silvie konnte ihm ohnehin nicht lange bösesein. Ganz im Gegensatz zu Rike, der Erstgeborenen in derThalheim-Familie. Zwischen ihr und Oskar herrschte dickeLuft, seitdem Friedrich Thalheim den Sohn im vergangenenHerbst ohne langes Federlesen zum Mitgeschäftsführer er-nannt und damit ihre Befugnisse drastisch beschnitten hat-te. Jahrelang hatte Rike für die Wiedererrichtung des Mode-kaufhaus Thalheim am Ku’damm gekämpft, das alliierte Bom-ber 1943 in Schutt und Asche gelegt hatten. Sie hatte denVater aus russischer Haft freigekauft und schließlich sogarihre Erbschaft von Opa Schubert in das Familienunterneh-men investiert, um nun erleben zu müssen, wie der Bruderihr vorgezogen wurde, obwohl ihm Fachkenntnisse, Erfah-rung und offenbar auch Motivation fehlten. Silvie hatte sichimmer wieder aufs heftigste mit Rike gestritten und Oskarverteidigt, doch inzwischen kam Silvie die drei Jahre ältereSchwester oft so bedrückt vor, dass sie ihr richtig leidtat.

11

Page 11: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Silvie hatte sich nie besonders für das Kaufhaus interes-siert und war froh über ihren Job beim RIAS – fernab allerberuflichen Familienzwistigkeiten. Sie hatte sich eine be-geisterte, ständig wachsende Hörerschaft in West und Ostherangezogen, egal, ob sie Musik auflegte oder mit eigenenReportagen aus dem Berliner Alltag auf Sendung war. Ihrneustes «Baby», an dem sie schon lange tüftelte, existiertebislang nur in ihrem Kopf, aber es würde bei ihren Vorge-setzten und den anderen Kollegen in der Redaktion Begeis-terung auslösen, das wusste sie. Wie eine Bombe könnte eseinschlagen und die bereits mehr als erfreulichen Quotennoch weiter in die Höhe schnellen lassen …

Ihr Blick glitt zum Schrank. Dort hing es, das Kleid, dassie zu Rikes kirchlicher Trauung anziehen würde. Wenn ih-re Schwester in wenigen Stunden mit Alessandro Lombardivor den Altar trat, dürfte Silvie darin für Aufsehen sorgen,möglicherweise sogar einen kleinen Skandal auslösen.

Rike schien in dem italienischen Stoffhändler die großeLiebe gefunden zu haben, während sie selbst die ihre vorsechs Monaten verloren hatte. Mit jeder Faser fühlte Sil-vie sich als Ralf Heigers legitime Witwe, auch wenn er of-fiziell mit einer anderen Frau verheiratet gewesen war. Sil-vie träumte oft von ihm, nicht von dem herzkranken Gefan-genen, den sie kein einziges Mal besuchen durfte und derdie Torturen in der JVA Weißensee am Ende nicht überlebthatte, sondern von dem klugen, wortgewandten Journalis-ten, der ihr kurz nach dem Krieg die Liebe zum Rundfunkeingepflanzt hatte. Durch ihn war sie auch zur begeister-ten Leserin geworden, für Silvie zu Schulzeiten noch unvor-stellbar. Inzwischen jedoch wusste sie, welch Wunderwel-ten sich zwischen gedruckten Seiten auftaten, und ihr Hun-ger nach Büchern war schier unersättlich. Ralfs Bassbari-ton, der schnell ins Spöttische umschlagen konnte, hatte siebis heute im Ohr, und sie sehnte sich nach dem erfahrenen,zärtlichen Geliebten, der so aufregend küssen konnte.

12

Page 12: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Manchmal hatte Silvie Angst, dass sie nun für immer al-lein bleiben würde, denn welcher Mann könnte schon aneinen wie Ralf heranreichen? Unwillkürlich schüttelte siesich, um diese negativen Gedanken wieder loszuwerden –und dabei wurde Oskar wach.

«Geht es dir besser?», fragte sie, noch immer besorgt.«Bist du so weit wieder in Ordnung?»

«Und ob!», versicherte er strahlend. «Was würde ich oh-ne dich nur tun?»

Sie versetzte ihm einen liebevollen Stups. «Hör auf, sol-chen Unsinn auch nur zu denken, seinen Zwilling wird mannicht los. Soll ich mich mal um Kaffee kümmern? Rike hatmich tausendmal beschworen, auf keinen Fall zu spät zukommen. Allerdings wäre es einfacher, wenn ich zum Ein-kleiden der Braut nicht bis ins Westend müsste. Aber siewollte die Nacht vor der Trauung ja partout keusch im El-ternhaus verbringen.»

«Dabei haben die beiden doch eine tolle Wohnung. Undaußerdem ist sie mit Lombardi schon verheiratet», wendeteOskar gähnend ein. «Was soll der ganze Zirkus also?»

«Standesamtlich zählt nicht in Italien, das weißt dudoch.» Silvie war froh, dass die Trauung überhaupt statt-fand. Es hatte endlos gedauert, bis sie einen Pfarrer auf-getan hatten, der bereit war, ein evangelisch-katholischesPaar zu trauen – als ob es nicht vollkommen egal war, wel-cher Glaubensrichtung der Mensch angehörte, den manliebte! Sie drohte Oskar spielerisch mit erhobenem Zeige-finger. «Außerdem heißt dein Schwager Sandro und ist einausgesprochen netter Kerl. Versprich mir also bitte, dassdu dich ihm gegenüber ordentlich aufführst – wenigstensheute! Das gilt übrigens auch für den Rest seiner Familie.»

«Den Kaffee mache ich. Und wenn die versammeltenLombardis nicht zu stark auf die Pauke hauen, sehe ich dakein Problem.» Oskar reckte und streckte sich ausgiebig,dann stand er auf. Der gestreifte Schlafanzug, der um seine

13

Page 13: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

langen Glieder schlackerte, verriet, wie dünn er noch im-mer war. «Weißt du eigentlich, wen Rike sonst noch alleseingeladen hat?», fuhr er fort. «Mir gegenüber hat sie ei-sern geschwiegen.»

«Unsere Schwester hat eben einen Hang zu Geheimnis-sen.» Silvie stand ebenfalls auf, um ins Bad zu gehen. ImVorbeigehen strich sie zärtlich über das Kleid.

«Das ist nicht dein Ernst, oder?» Feixend blieb Oskarstehen.

«Hast du nicht gesagt, man soll bloß nicht zu spießigsein? Übrigens ein Modell von Heinz Oestergaard, in dasich mich auf Anhieb verguckt habe», antwortete Silvie.

Sie hatte den angesagten Couturier in seinem Atelierfür den RIAS interviewt, was ihm offenbar großen Spaß ge-macht hatte. Deshalb war er auch so freundlich gewesen,ihr dieses Schmuckstück als Dankeschön auszuleihen. Sieverriet Oskar nicht, dass die helle, leicht singende Stimmedes Modeschöpfers, der man einen Hauch Dänemark an-hörte, Auslöser für ihr geplantes Sendungsformat gewesenwar. Oskar würde ohnehin in Kürze zu hören bekommen,was seine Zwillingsschwester sich da ausgedacht hatte.

«Oestergaard?», wiederholte er nun verblüfft.«Der Modeschöpfer, charmanter Typ, bisschen crazy. Er

hat Nutten eingekleidet und will, dass alle Frauen schönsind. Ganz Berlin redet über ihn. Und bald werden sie auchüber mich reden.»

«Unser Vater kriegt die Krise, wenn du modisch fremd-gehst – und dann gleich auch noch so», sagte Oskar.

«Ich ziehe an, worauf ich Lust habe. Papa wird schondamit klarkommen, und wenn nicht, dann ist es mir auchegal.»

Als sie mit Duschen und Eincremen fertig war, musterte siesich im Badezimmerspiegel. Sie mochte, was sie sah: diestrahlend blauen Augen, die gerade Nase, den vollen Mund.

14

Page 14: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Ihre Haut war rosig und klar, doch wenn sie lachte, gab esda ein paar fiese Fältchen um die Augen, die vor zwei, dreiJahren noch nicht da gewesen waren.

In einem Jahr würde sie dreißig werden.Bislang hatte Silvie Frauen immer ausgelacht, die mit

dieser angeblich magischen Zahl haderten, aber jetzt fühl-te es sich plötzlich merkwürdig an, selbst so kurz davorzu-stehen. Trotz kriegsbedingtem Frauenüberschuss hatte siesich noch nie über einen Mangel an Verehrern beklagenmüssen. Und trotzdem war sie allein.

Kein Mann. Kein Haus. Kein Kind.Die Worte einer Kollegin, die ihr auf einmal nicht mehr

aus dem Kopf gingen.«Dafür habe ich meinen Beruf und meine Fans.»Hatte sie das jetzt tatsächlich laut gesagt?Oskar, der ihr eine Tasse Kaffee ins Bad brachte,

schwarz und stark, so wie sie ihn liebte, schaute sie fragendan.

«Selbstgespräche können durchaus hilfreich sein», sag-te er, schon wieder halb im Gehen. «Allerdings gäbe es daauch noch deinen Bruder, der ziemlich gut im Zuhören ist.Nur für den Fall, dass du das vergessen haben solltest.»

Silvie wurde rot, was ihr schon eine halbe Ewigkeit nichtmehr passiert war. Wie kein anderer konnte er bis auf denGrund ihrer Seele schauen. Manchmal dachte sie sogar,dass Oskar in der Lage war, ihre Gedanken zu lesen, wasihr nicht immer gefiel.

Wieder in ihrem Zimmer, setzte sie sich an den klei-nen Schminktisch vor dem Fenster, dessen geschwunge-nen Spiegel sie so sehr mochte. Alle Möbel bekamen zur-zeit bewegte Formen, als ob sie tanzen wollten, das fandsie ganz wunderbar. Silvie trug Puder auf, danach folgtenMascara und roter Lippenstift. Die schulterlangen blondenHaare bürstete sie nur durch; aufstecken würde sie sie erstganz zum Schluss. Danach zog sie die schwarze Spitzenun-

15

Page 15: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

terwäsche an, in der sie sich so herrlich sündig fühlte, undschlüpfte in ein blaues Sommerkleid. Als Abschluss folgteder dreireihige Perlenchoker ihrer verstorbenen Mutter, ei-ne perfekte Ergänzung zu den weißen Perlohrringen, diesie niemals ablegte. Zuletzt verstaute sie das Kleid für dieHochzeit in einem Leinenüberzug und packte ein zweitesPaar Pumps in eine Tragetasche.

Sie war gerade mit allem fertig, da kam Oskar hereinge-schlendert, piekfein in Smoking, weißem Hemd und dunk-ler Seidenfliege, die schwarzen Schuhe gewienert. Seineblonden Haare waren mit Brillantine frisiert, was seinenKopf noch schmaler erscheinen ließ.

«Und?», wollte er wissen. «Was sagst du?»«Dufte», versicherte Silvie. «Nein, warte, ich muss mich

korrigieren: Du siehst einfach umwerfend aus. Die Italienerwerden Augen machen!»

«Sollen sie. Wir Thalheims müssen ihnen doch zeigen,wer in Sachen Mode die Nase vorn hat.» Sein Blick wurdekritisch. «Und du – auf einmal ganz bieder? Hat dich jetztdoch im letzten Moment der Schneid verlassen?»

«Keineswegs», erwiderte Silvie und griff nach ihrer Lei-ca, die ihr so viel Freude bereitete. «Aber ein perfekter Auf-tritt will auch perfekt inszeniert sein. Und jetzt nichts wielos! Aufgeregte Bräute darf man nicht warten lassen.»

***

«Dio mio – das kann doch nicht wahr sein! Jetzt geht meinKleid nicht mehr zu. Aber bei der letzten Anprobe vor zweiWochen hat es noch einwandfrei gepasst …»

«Du bist schwanger, Schwesterherz», konterte Silvie.«Rike mit Busen, das ist doch eine gelungene Abwechs-lung. Aber keine Sorge. Miri hat wie immer alles raffiniertdurchdacht: Ich nehme einfach die zweite Knopfleiste, dann

16

Page 16: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

kannst du ungestört atmen. So, und nun lass dich mal an-schauen!» Silvie trat einen Schritt zurück und betrachte-te ihre Schwester. Das ärmellose Kleid bestand aus creme-weißer Shantungseide, war im Empirestil gearbeitet undreichte bis zu den Knöcheln. Vorn unter dem zarten Brust-band leicht in Falten gelegt, wurde es im Rücken von einerDoppelreihe weißer Perlknöpfe geschlossen. Während derTrauung würde ein glockig geschnittener Bolero, den dieBraut später ablegen konnte, die bloßen Arme züchtig ver-hüllen – eine perfekte Mischung aus Eleganz, Unschuld undRaffinesse.

Der Entwurf für Rikes Brautkleid stammte von ihrerFreundin Miriam Sternberg, die seit anderthalb Jahren ineinem Kibbuz am See Genezareth lebte. Anfangs war siefür alles in Israel Feuer und Flamme gewesen: die Men-schen, die aus so vielen verschiedenen Ländern stammten,die neue Form des Zusammenlebens, die Kinder, die sie imNähen unterrichtete – und natürlich für Ben Green, der denAusschlag für ihren Umzug gegeben hatte. Doch offenbarhatte es sich mit Ben nicht so entwickelt wie erhofft, dennder Tonfall ihrer Briefe hatte sich verändert. Inzwischenschrieb Miri abgeklärter, teilweise sogar kritisch, und eswar ganz offensichtlich, wie sehr sie Berlin und ihre Freun-de dort vermisste.

Umso begeisterter hatte sie reagiert, als der Vorschlagkam, sich Rikes Brautkleids anzunehmen. Maß wurde inBerlin genommen, Miris Skizzen folgten aus Israel, und ge-näht wurde dann wiederum in der Modellabteilung des Mo-dekaufhaus Thalheim – entstanden war dieses Ergebnis, dasenorm viel hermachte.

«Du siehst toll aus. Miri wäre bestimmt überglücklich,wenn sie dich jetzt so sehen könnte», sagte Silvie. «Weißtdu, was? Ich werde massenhaft Fotos schießen, und wirschicken ihr dann die Abzüge. Die junge Schneiderin, dieihren Entwurf so brillant umgesetzt hat, solltet ihr übrigens

17

Page 17: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

im Auge behalten. Die kann echt was. Sag das mal der Kuk-schinski vom Maß-Atelier, damit sie sie auch gut behan-delt!»

«Ich vermisse Miri jeden Tag», murmelte Rike, pressteplötzlich die Hand vor den Mund und rannte in RichtungToilette.

Als sie wiederkam, wirkte ihr Teint grünlich.«Jetzt bin ich schon im vierten Monat – und diese elen-

de Spuckerei hört noch immer nicht auf. Ich hoffe nur, dasKleid hat nichts abbekommen!» Ängstlich lugte sie an sichherab. «Wie kann man überhaupt zulegen, wenn man so gutwie nichts bei sich behält?»

«Alles tippitoppi», versicherte Silvie. «Die Natur weißschon, wie sie es richtig anstellt, dass ein gesundes Kindentsteht. Jetzt isst du erst einmal ein Stück Zwieback undtrinkst einen Schluck Tee, das wird dir guttun.»

Rike gehorchte.«Man sieht doch noch nichts?» Rike drehte sich vor dem

großen Standspiegel hin und her.«Man ahnt es allenfalls – und freut sich mit dir», sagte

Silvie. «Sei froh, dass deine Schwiegermutter die Hochzeitnicht noch einmal hat platzen lassen.»

Sie waren in Silvies altem Jugendzimmer, in dem Ri-ke auch die Nacht verbracht hatte. Die elegante Villa amBranitzer Platz, in der sie alle zusammen aufgewachsenwaren, hatte sich geleert, seitdem die erwachsenen Thal-heim-Sprösslinge eigene Wege gingen. Jetzt gehörte siewieder ganz Friedrich und seiner zweiten Frau Claire. De-ren gemeinsame Tochter, die achtzehnjährige Florentine,beanspruchte mittlerweile das Dachgeschoss für sich, dasursprünglich für Rike ausgebaut worden war und später ei-nige Zeit ihren Cousin Gregor und dessen Freund Hotte be-herbergt hatte.

«Viel hat nicht gefehlt! Als Sandros Bruder Valentino vorfünf Tagen aus Mailand anrief, klang er vollkommen ver-

18

Page 18: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

zweifelt: ein erneuter Schwächeanfall der Mutter, mit star-ken Leibschmerzen. Ich habe ihm dann mit fester Stimmegeantwortet, dass wir die Hochzeit dieses Mal unter kei-nen Umständen verschieben werden, und urplötzlich ginges Antonia wieder besser.»

Die kleine Stärkung hatte offenbar gewirkt. Rike sahnicht mehr ganz so elend aus.

«Sie hadert noch immer mit mir», fuhr sie fort, währendSilvie sie mit einem Hauch Rouge und rosenholzfarbenemLippenstift weiter verschönerte. «Antonia findet mich zu altfür Sandro, zu intellektuell, zu wenig anschmiegsam. Evan-gelisch bin ich ja auch noch und nicht einmal willig zu kon-vertieren. Dass wir nicht im Mailänder Dom heiraten, son-dern in einer schlichten Berliner Kirche, die nicht sonder-lich schön aussieht, ist für sie das Allerletzte. Überhaupt:Deutschland! Sie führt sich so italienisch auf, als habe ihreWiege niemals in Luzern gestanden. Eins jedenfalls stehtfür mich fest: Mamma werde ich sie niemals nennen.»

«Musst du doch auch nicht.» Silvie beäugte ihr Werk kri-tisch, dann nickte sie. «Vermutlich könnte keine Frau ihrenAnsprüchen genügen. Antonia Lombardi würde ihren Sohnam liebsten höchstpersönlich ehelichen, wenn das irgend-wie möglich wäre. Aber wer weiß, vielleicht wird aus ihrja zumindest eine brauchbare Großmutter. Wunder gibt esschließlich immer wieder …»

Rikes Blick blieb skeptisch. «Meinst du wirklich?», mur-melte sie und zupfte ein unsichtbares Fädchen von ihremKleid. «Ich weiß ja nicht einmal, ob ich als Mutter etwas tau-ge. Da konzentrierst du dich die ganze Zeit darauf, schwan-ger zu werden, und wenn es dann endlich klappt, hören dieSorgen nicht auf. Ganz im Gegenteil!»

Unwillkürlich hatte Silvie sich abgewandt.Rike nahm ihre Hand. «Wie unsensibel von mir – bitte

verzeih! Ich rede die ganze Zeit nur von mir, ohne daran zudenken, dass du …»

19

Page 19: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Silvie griff nach dem Schleier, der auf dem Tisch lag.«Sollte dazu nicht eigentlich noch ein fesches Myrtenkränz-chen gehören?», fragte sie betont fröhlich.

«Du willst nicht darüber reden …» Rike stockte.Gut erkannt. Silvies Schwangerschaftsabbruch lag nun

schon einige Jahre zurück. Damals war sie sich nicht sichergewesen, ob das Kind, das sie erwartete, von Ralf oder vonBen Green war, der insgeheim bereits seine Auswanderungnach Israel vorantrieb. Rike hatte sie beschworen, es zubehalten und gemeinschaftlich mit ihr großzuziehen. Dafürjedoch hatte Silvie zu jener Zeit der Mut gefehlt. Sie steck-te mitten zwischen zwei Liebschaften, hatte sich überfor-dert gefühlt und viel zu unreif für ein Kind. Inzwischen je-doch bereute sie ihre Entscheidung. Dass die Schwesternun schwanger war, hatte ihr damaliges Gefühlschaos er-neut aufgewirbelt. Aber Silvie hatte gelernt, Probleme mitsich allein auszumachen, und so würde sie es heute, an Ri-kes Hochzeitfest, erst recht halten.

«Eigentlich wäre es ja Mamas Aufgabe gewesen, dichmit dem Brautkränzchen zu krönen», fuhr sie fort, währendsie das zarte grüne Gebinde mit den weißen Blümchen mit-tig auf Rikes Scheitel feststeckte. Anschließend befestigtesie den Schleier daran, der bis zur Taille reichte. «Ich weiß,wie viel sie dir bedeutet hat. Mir übrigens auch.»

Silvie berührte den einstigen Ehering ihrer Mutter Al-ma, der ihr auf dem Mittelfinger passte, während Rike fastimmer Almas alten Schlangenring als Talisman trug. «Aberdas kann sie ja leider nicht mehr, und so musst du eben mitmir vorliebnehmen», fuhr Silvie fort.

Die zweite Frau ihres Vaters kam nicht in Frage für die-sen Anlass. Claire, nur ein gutes Jahrzehnt älter als Rike,hatte niemals versucht, ihnen gegenüber die Mutterrollezu beanspruchen. Anfangs kritisch von den Schwestern be-äugt, weil übernervös, stets Friedrichs Meinung und raschaus der Fassung zu bringen, hatte sie sich in den harten

20

Page 20: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Nachkriegsjahren bewährt. Sie hatte mit angepackt, dabeian Kontur und Selbstvertrauen gewonnen und war für siezur Freundin geworden, was Silvie wie Rike gleichermaßenschätzten.

«Du machst das ganz wunderbar.» Rike klang zutiefstgerührt. «Und immerhin führt Papa mich zum Altar – auchwenn er das in einer katholischen Kirche tun muss. Der Al-lerärmste! Auf Weihrauch reagiert er angeblich allergisch.Ob er überall Pusteln kriegt oder in Schnappatmung ver-fällt?»

Beide lachten.«Kann ich so heiraten?» Rikes Stimme zitterte leicht.«Das will ich meinen!», versicherte Silvie. «Dein San-

dro bekommt eine hinreißende Braut. Allerdings solltestdu jetzt allmählich aufbrechen, sonst denkt er womöglichnoch, du hättest es dir im letzten Moment anders über-legt …»

Als wären ihre Worte nach draußen gedrungen, klopftees ungeduldig an der Tür, und Friedrich Thalheim trat ein.

«Wir müssen dann.» Das Familienoberhaupt trug zu sei-nem dunklen Anzug eine Seidenkrawatte mit Silberstreifen.Hinter ihm wuselte Claire aufgeregt in einem mitternachts-blauen Jackenkleid, zu dem sie ein farblich passendes Hüt-chen kombiniert hatte. «Seid ihr endlich fertig?»

«Die Braut – ja», erwiderte Silvie und schob die Schwes-ter ein Stück nach vorn. «Was mich betrifft, so brauche ichnoch einen winzigen Moment.»

«Aber dass du ja nicht zu spät kommst …» Friedrich run-zelte die Stirn, weil ihm ihre Aufmachung sichtlich missfiel.«Du willst das zur Hochzeit anlassen? Immerhin sind wirein führendes Berliner Modehaus – das verpflichtet!»

«Lass dich überraschen», erwiderte Silvie lächelnd.«Und natürlich werden wir pünktlich sein. Oskar wartet un-ten im Auto, und der ist selbst in einem gebrauchten DKWschneller als der Schall. Fahrt ruhig schon mal vor.»

21

Page 21: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Als der Rest der Familie endlich verschwunden war, öff-nete Silvie den mitgebrachten Leinensack und breitete dasCouturekleid auf dem Bett aus. Danach holte sie die Haar-klammern aus der Handtasche. Sie hatte die Banane, dieihren Hals grazil und lang wirken ließ, in letzter Zeit so oftgetragen, dass sie die Frisur selbst ohne Spiegel perfekthinbekam.

Die Lippen nachgezogen, ein Hauch Chanel Nº 5.Die Nylons, die sie vorsichtig über ihre schlanken Beine

streifte, waren hauchdünn und halterlos, die Absätze dermitgebrachten Pumps aufregend hoch. Das Sommerkleidflatterte auf einen Stuhl. Dann schlüpfte Silvie in Oester-gaards Kreation: körpernah geschnitten, am Rücken atem-beraubend in einem tiefen V dekolletiert  – und aus pech-schwarzem Satin.

***

Das Auto war den Zwillingen im gleichen Moment aufge-fallen, ein roter Zweisitzer, chromblitzend und absolut ver-kehrswidrig vor der Heilig-Geist-Kirche auf dem Bürger-steig geparkt.

«Ein Rometsch, ich glaub, ich werd verrückt», murmelteOskar verzückt neben ihr, während er seinen ungeliebtenDKW in die enge Parklücke manövrierte. «Brandneu mussder sein, gerade frisch vom Band gerollt. Dafür lass ich je-den Porsche stehen.»

Silvie sparte sich die Antwort, denn das Aussteigen indem engen Kleid und den hohen Pumps erforderte ihre gan-ze Konzentration. Von ihrer Schulter baumelte die alte Lei-ca, die noch immer gute Dienste tat. Natürlich waren siedoch ziemlich spät dran. Familie und Freunde saßen offen-bar schon in der Kirche. Nur ein paar Schaulustige standennoch auf den steil ansteigenden Stufen vor dem gedrunge-

22

Page 22: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

nen Bau. Die Heilig-Geist-Kirche war im unteren Bereichverklinkert. 1932 war sie als Notkirche errichtet, im Kriegzerstört und 1948 zur Palmweihe festlich wiedereröffnetworden – kein sonderlich schönes Gotteshaus, aber eines,das von der Gemeinde geliebt wurde und in dem vor allemein toleranter Pfarrer amtierte.

Ihr Auftritt erfolgte punktgenau.Den meisten Hochzeitsgästen blieben die Ahs und Ohs

im Hals stecken, als sie an Oskars Arm den Mittelgang ent-langschritt, um schließlich in der ersten Bankreihe Platzzu nehmen, die den engsten Angehörigen vorbehalten war.Claire schüttelte indigniert den Kopf, während Flori, dieman mit viel Geduld schließlich doch zu einem grünen Trä-gerkleid überredet hatte, begeistert den Daumen hochhielt.Auch Sandros jüngerer Bruder Valentino, in edlem dunkel-blauen Zwirn, schien durchaus angetan von dem unerwar-teten Anblick, während Antonia Lombardis schmale Lippennoch mehr zum strengen Strich gerieten.

Armes Rikelein, dachte Silvie voller Mitgefühl. Mit dei-nem Sandro hast du zwar einen Hauptgewinn gezogen, dei-ne Schwiegermutter jedoch wird dafür sorgen, dass es dirbloß nicht zu gemütlich in eurer Ehe wird, darauf könnteich wetten.

Vor den Stufen zum Altar wartete der Bräutigam, eineAugenweide im Cut, mit silberner Weste und gleichfarbi-gem Binder, die dunklen Locken so frisch getrimmt, dasssein Nacken noch immer gerötet war. Dass er vor Aufre-gung leicht zitterte, fiel wahrscheinlich nur Silvie auf; dasser Tränen in den Augen hatte, als das Orgelpräludium ein-setzte und Rike am Arm ihres Vaters gemessenen Schrittsauf ihn zukam, sahen auch die anderen.

Silvie schoss die ersten Fotos.«Amore mio», flüsterte Sandro zutiefst gerührt, nach-

dem Friedrich ihm die Braut feierlich übergeben hatte.«Endlich werden all meine Träume wahr, carissima Rica.»

23

Page 23: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Der Rest der Zeremonie erschien Silvie wie eine unendlicheAbfolge von Latein, Hinknien, Aufstehen und sich wiederHinsetzen. Die Hochzeitspredigt klang in ihren Ohren eherwie eine Mahnung, wie ungemein katholisch das Ehelebenund die Erziehung der Kinder künftig zu sein hätten. Mehr-faches Räuspern in ihrem Rücken, das wahrscheinlich vonOnkel Carl rührte, der zwischen seinen Söhnen Gregor undPaul saß und noch nie viel von Religion gehalten hatte. Er-neut dramatisches Orgelspiel, jede Menge Weihrauch undschließlich ein vollkommen verpatztes Ave Maria.

Silvie blickte sich um. Waren katholische Gotteshäusernicht voller Gemälde, Engel- und vergoldeter Heiligensta-tuen? Der schlichte Kirchenraum wirkte eher wie ein belie-biger Saal, dessen Nüchternheit nicht einmal die weißenRosengebinde an den Holzbänken zu mindern vermochten.Silvie konzentrierte sich lieber wieder auf die Menschen.Wie goldig Elsas kleine Isabella mit ihrem Brüderchen Lu-ca nach vorne lief! Um ein Haar wäre die fünfjährige Toch-ter von Rikes Freundin dabei über ihr langes rosa Kleid ge-stolpert, fing sich aber gerade noch. Der Dreijährige nebenihr, in kurzen Hosen, mit blauer Mini-Fliege, hielt das wei-ße Seidenkissen, auf das die Trauringe aufgesteckt waren,souverän in seiner Patschhand.

Rike weinte, als Sandro ihr den Ring überstreifte, da-nach bekam er seinen, und ihr anschließender Kuss fiel soinnig aus, dass der beleibte Pfarrer dezent zu hüsteln be-gann.

Noch einmal Orgelbrausen, dann war auch das glücklichüberstanden. Isi und Luca, die Blumenkinder, verstreutenverschwenderisch bunte Blüten, ihnen folgte das frisch ge-traute Ehepaar und strahlte um die Wette, während Silvieeinen ganzen Film verschoss.

«Und wer ist nun diese heiße Witwe?», hörte sie eineMännerstimme hinter sich, die sie aufhorchen ließ. Melo-

24

Page 24: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

disch klang sie, besaß aber gleichzeitig in der Tiefe etwasRaues und Widerspenstiges, das sie sofort anzog.

«Silvie Thalheim, die Schwester der Braut», flüsterteMarkus Weisgerber, der frühere Teilhaber des Kaufhau-ses. «Aber verheiratet war sie meines Wissens bislang nochnie.»

Der Unbekannte lachte. «Umso besser. Und wie kommeich an sie ran?»

«Gar nicht.» Silvie drehte sich abrupt um. «Jedenfallsgarantiert nicht auf diese Weise.»

Der Mann sah so gut aus, dass sie unwillkürlich schnelleratmete. Er war einen Kopf größer als sie und sehr schlank,fast knochig. Sein Anzug aus feinem englischen Tuch warlässig zerknittert und sollte vermutlich den Eindruck erwe-cken, Äußerlichkeiten seien ihm gleichgültig – eine Lüge,wie sie sofort erkannte, denn vor ihr stand ein durch unddurch eitler Kerl. Dunkles, glattes Haar fiel ihm in die Stirn,um einiges länger, als die herrschende Mode es erlaubte. Erhatte ein schmales Gesicht mit einem markanten Kinn. DasAuffallendste an ihm waren die Augen: eisgrün wie Glet-scherwasser, mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz,um den ihn jede Frau beneidet hätte.

«Wanja Krahl», sagte er mit einer Verneigung, die eineSpur zu übertrieben ausfiel, um ehrlich gemeint zu sein.«Bitte untertänigst um eine zweite Chance!»

«Sei klug und gewähr sie ihm, Silvie», sagte Markus la-chend. «Wanja spielt den jungen Schiller in meinem aktu-ellen Film – was ihn zweifellos über Nacht berühmt machenwird.»

Als kleines Mädchen hatte Silvie heimlich für den da-maligen Kompagnon ihres Vaters geschwärmt, der immernur Augen für ihre Mutter Alma gehabt hatte. Als sie dannspäter durch Almas Tagebuch von der heftigen Affäre er-fuhr, die die beiden heimlich verbunden hatte, war sie nichteinen Moment lang überrascht gewesen. Rike war ent-

25

Page 25: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

rüstet und dermaßen entsetzt, dass sie die Lektüre jahre-lang aufgeschoben hatte – Silvie keineswegs. Kaum war sieauf die Aufzeichnungen der Mutter gestoßen, hatte sie sieauch sofort gelesen. Im aufregenden Spiel zwischen Frauund Mann konnten seltsame Dinge vorgehen, das hatte sieschon als Kind gespürt und später mehr als einmal am ei-genen Leib erfahren. Zwar gab es einen gewaltigen Unter-schied zwischen Liebe und Begehren, doch beides warenimmense Kräfte, die zum Himmel führen oder direkt in dieHölle münden konnten.

Sie zog eine Braue hoch. «Korrigieren Sie mich, wennich falschliege: War Friedrich Schiller nicht eher rotblondund durch und durch anämisch?», erwiderte sie langsam.

«Da kennt eine aber ihre Klassiker!» Krahls Blick wurdenoch eine Spur intensiver. «Nur keine Bange, schöne Frau:Wir haben in Schwarzweiß gedreht, und vom Hungern habich mich noch immer nicht ganz erholt, denn dieser hunds-gemeine Schinder» – er versetzte Markus einen Stoß – «hatmich wochenlang darben lassen, damit es möglichst realis-tisch wirkt. Außerdem spielt man Rebellen und Genies oh-nehin am besten ganz von hier aus!» Er legte eine Hand aufsein Herz.

«Wenn Sie das sagen», entgegnete Silvie, ohne dabei ei-ne Miene zu verziehen. Wanja Krahl löste etwas in ihr aus,das sie viel zu lange vermisst hatte. Doch der Typ sollte sichbloß nichts einbilden! Jetzt schaute sie nur noch MarkusWeisgerber an. «Ich hab da im Sender was Neues vor. So-bald die Sache spruchreif ist, melde ich mich, okay?»

Mit einer eleganten Drehung wandte sie sich um und stö-ckelte ein paar Schritte weiter.

«Moment!» Wanja Krahl war ihr nachgestürzt. «Sie hät-ten nicht zufällig Lust, sich von mir zur Feier kutschierenzu lassen? Mein Wagen ist brandneu und wird Ihnen gefal-len …»

26

Page 26: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Der knallrote Rometsch! Er konnte keinem anderen alsihm gehören.

«Wissen Sie was?» Silvies Lächeln wurde schmelzend.«Nehmen Sie doch meinen Zwillingsbruder mit, der hat einFaible für ausgefallene Schlitten. Oskar, kommst du mal bit-te?»

«Und Sie?» Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht ge-schrieben. «Mit diesen Schuhen werden Sie doch kaum lau-fen wollen …»

«Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen, HerrKrahl», erwiderte Silvie. «Gehen wir, Markus?»

«Gefällt er dir tatsächlich so gut?», fragte ihr Begleiteramüsiert, als sie kurz danach Seite an Seite im DKW saßen.«Wenn Frauen so kratzbürstig sind, wird es immer gefähr-lich.»

Den Blick auf die Straße gerichtet, sagte Silvie: «Dumusst es ja wissen. Aber mich würde viel mehr interes-sieren, weshalb du diesen Mann zu Rikes Hochzeit ange-schleppt hast.»

«Lilo ging es heute Morgen nicht besonders», sagte Mar-kus, «wieder Migräne, ihr altes Leiden. Und so ganz al-lein wollte ich bei den versammelten Thalheims nicht auf-schlagen. Außerdem ist Wanja ein amüsanter Kerl  – vor-ausgesetzt, er bockt nicht gerade. Vor der Kamera spielter zum Niederknien. Aus dem könnte ein ganz Großer wer-den, wenn er ernsthaft an der Schauspielerei dranbleibt.»Er begann seine Finger zu kneten. «Du musst wissen, mirliegt unendlich viel an diesem Projekt», fuhr er fort. «Ist jaschließlich mein Entree als Produzent. Ich wollte partoutkeine gezuckerte Schnulze wie die von Holt. Wen die Götterlieben stellt Mozart so deutsch dar, dass es richtig weh tut.Unser Lied der Freiheit soll den Zuschauern zeigen, dass indiesem Land ein Geist steckt, den viele nach zwölf JahrenNazizeit fast vergessen haben. Mal sehen, wie das Berlina-le-Publikum den Film aufnimmt!»

27

Page 27: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

«Lied der Freiheit», murmelte Silvie beifällig. «SchönerTitel!»

«Deshalb hab ich ja auch alles darangesetzt, Gustav vonWangenheim als Regisseur zu gewinnen. Seine Inszenie-rungen von Nathan der Weise und Hamlet am DeutschenTheater Berlin sind legendär. Leider wurde er Opfer einerIntrige und daraufhin als Intendant abgesetzt. Danach hater einige Filme für die DEFA gedreht, was ihn nur umso ge-eigneter macht. Ich wollte für den Schiller-Stoff unbedingteinen Regisseur, der den Osten kennt.»

Silvie hatte von dem Regisseur gehört: jüdisch, einst-mals Stummfilmstar unter cineastischen Größen wieMurnau, Lang und Lubitsch, später dann Arbeiterdichterund überzeugter Kommunist, der bereits 1933 in die So-wjetunion emigriert war und von den Nazis in Abwesenheitzum Tode verurteilt wurde. In Moskau hatte er über Jah-re beim Sender Freies Deutschland gearbeitet, bis er 1945wieder nach Deutschland zurückkehrte. Der Mann hattezweifellos eine beeindruckende Biographie.

«Eine ungewöhnliche Wahl», sagte Silvie. «Werden sichdaraus nicht Probleme ergeben?»

Sie hatten die Villa am Branitzer Platz erreicht. Hin-ter ihnen näherte sich mit lautem Hupen der blumenge-schmückte Alpha Romeo der Brautleute.

«Meinst du die Presse oder das Publikum?», hakte Mar-kus nach.

«Beides», erwiderte Silvie. «Viele wollen nach den har-ten Jahren, die hinter uns liegen, im Kino nur noch seicht-beschwingte Stoffe sehen. Und auf alles aus dem Osten re-agiert die Westpresse ganz schön allergisch.»

«Wer gegen den Strom schwimmen will, der muss vielWasser schlucken können», sagte Markus. «Daran bin ichgewöhnt. Mittlerweile macht es mir sogar Spaß.»

«Geht mir ähnlich.» Silvie stieg aus. «Und du hast schonrecht: Irgendwann will man es dann gar nicht mehr an-

28

Page 28: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

ders.» Sie zögerte, weil es ja eigentlich noch ein Geheim-nis war, dann jedoch überwand sie sich. «Ich habe ja vor-hin schon angedeutet, dass ich beim RIAS ein neues Formatplane», sagte sie, «eine einstündige Sendung, auf Tuchfüh-lung mit berühmten Menschen oder solchen, die etwas Au-ßerordentliches getan haben. Kein klassisches Interview,ich möchte nur ein paar ausgesuchte Fragen stellen undsie dann erzählen lassen. Sozusagen eine Art Seelenstrip-tease vor dem Mikrophon, ganz privat. Du als Filmprodu-zent kennst doch so viele Leute, auch aus deinen Jahrenin den USA. Meinst du, du könntest mir bei den Kontaktenvielleicht ein wenig Hilfestellung geben?»

«Die schöne Silvie wird endgültig flügge.» Er begann zuschmunzeln. «Gefällt mir. Gefällt mir sogar sehr. Ja, ich den-ke, da ließe sich durchaus etwas machen …»

Das offene Küchenzelt, ein großes weißes Oktogon, warim Garten der Thalheim-Villa aufgebaut. Drinnen wurdeman an einer Theke mit Warmhalteplatten von zwei feschenjungen Köchen mit hohen weißen Mützen bedient, derenGerichte die Herkunft des Restaurantbesitzers nicht ver-leugnen konnten. Draußen waren unter weißen Sonnen-schirmen Gartentische und bequeme Stühle aufgestellt. EinStück des Rasens hatte man mit Holzplanken belegt und so-mit einen provisorischen Tanzboden geschaffen. Flori ver-speiste mit ungebremstem Appetit bereits das zweite Wie-ner Schnitzel, während andere Hochzeitsgäste sich lieberan Zwiebelrostbraten, Tafelspitz, Fiakerhendl oder gefüllteKalbsbrust hielten. Zufrieden schienen sie alle; die jüngs-te Thalheim hatte definitiv einen guten Riecher gehabt.Mit seiner schmackhaften gutbürgerlichen Küche hatte derWiener Schani Feldmann sich binnen kurzer Zeit mittenin die Herzen der Berliner gekocht, und sein Schanigartenin der Reichsstraße, gelegen im noblen Wohnviertel Wes-tend, war stets gut besucht. Das Beste stand den Hoch-

29

Page 29: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

zeitsgästen noch bevor: ein ausladendes Süßspeisenbuffet,mit Sachertorte, Kaiserschmarrn, Apfelstrudel, Topfenknö-deln und unterschiedlich gefüllten Palatschinken, das keineWünsche offenließ.

Angesichts von so viel Fülle hätte man fast vergessenkönnen, dass der Krieg erst seit sieben Jahren vorbei war.Ja, im Westen hatten alle wieder ausreichend zu essen, undes gab keine Lebensmittelmarken mehr, doch man befandsich noch immer in einer Stadt, die in vier Sektoren unter-teilt war und von alliierten Besatzungsmächten kontrolliertwurde.

Auch die italienischen Gäste schlemmten begeistert: Ri-kes alte Freundin Elsa, die mit der ganzen Familie aus Mai-land zur Hochzeit angereist war, inzwischen mit ihrem drit-ten Kind schwanger, ihr charmanter Mann, der Chirurg Dr. Michele Morelli, sowie die beiden Kleinen Isi und Luca.Aber auch Valentino und Grazia, Sandros Patentante, lang-ten kräftig zu, während seine Mutter Antonia an den dar-gebotenen Köstlichkeiten lediglich mäkelig herumpickte.

Silvie, die das Hochzeitspaar zunächst in allen nur denk-baren Posen abgelichtet hatte, verspürte mittlerweile eben-falls Hunger. Eigentlich war sie fast ein bisschen ent-täuscht. Rike hatte ihr Kleid lediglich durch hochgezoge-ne Brauen kommentiert; Papa war erwartungsgemäß ex-plodiert, hatte sich aber schnell beruhigt. Die anderen runddreißig Hochzeitsgäste riskierten höchstens verstohleneBlicke, direkt sprach keiner sie auf ihr Schwarz an.

Und wennschon. Sie selbst fühlte sich unwiderstehlichin diesem Modell – und darauf kam es schließlich an.

Sie war gerade dabei, sich Schnitzel und «Erdäpfelsa-lat» auftun zu lassen, wie der junge Koch aus Österreichdie Kartoffelbeilage so drollig nannte, als es hinter ihr lautwurde.

«Wie Verbrecher haben sie uns kontrolliert, sonst wäreich doch niemals zu spät zur Hochzeit meiner Nichte ge-

30

Page 30: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

kommen! Eines Tages werden sie uns vielleicht gar nichtmehr zu euch rüberlassen – und was dann?» Tante LydiasTonfall klang empört wie eh und je, dabei war sie in letzterZeit auf erstaunliche Weise verwandelt. Endlich von Carlgeschieden, hatte sie nur ein paar Monate später den ver-witweten Pastor Jürgen Grothe geehelicht, der die Insel-gemeinde in Hermannswerder bei Potsdam seelsorgerischbetreute. Oma Frida, Friedrichs und Carls alte Mutter, dieinzwischen ganz in ihrer eigenen Welt lebte, hatte sie oh-ne Murren mit ins Pfarrhaus übersiedelt. Dort lebten eben-falls Jürgens halbwüchsige Töchter Luisa und Amelie, diedie neue Frau des Vaters erfreulich rasch akzeptiert hatten.

Silvie trat an den Tisch unter dem weißen Sonnen-schirm, an dem ihre Tante gerade Platz genommen hat-te, und setzte sich ebenfalls. «Die Sektorenübergänge zwi-schen Ost- und West-Berlin sind nach wie vor frei passier-bar», sagte sie. «Daran hat sich nichts geändert. Die Zonen-grenze dagegen ist zu. Wenigstens lassen sie uns nun dochnoch zu euch in die DDR, zumindest mit Passierschein. Abereine Schweinerei ist es trotzdem.»

«Frei passierbar? Dass ich nicht lache», kommentierteFriedrich säuerlich, der soeben dazugestoßen war. «MeineVerkäuferinnen aus den Ostbezirken der Stadt bekommendiese ‹Freiheit› jeden Morgen und jeden Abend zu spüren.Wir müssen im Modekaufhaus bereits eine Art morgendli-ches Notprogramm fahren, so schwach sind wir da perso-nalmäßig aufgestellt.»

«Du sparst noch immer genug an deinen bienenfleißi-gen Ostfrauen, lieber Bruder», kam nun von Carl, der sichmit einem Glas Wein in der Hand zu ihnen gesellte. «Dennsonst hättest du sie sicherlich längst entlassen. Und ja, die-sen neuen Aufwand habt ihr eurem Herrn Adenauer zu ver-danken, der so gar nichts von einer vernünftigen Wieder-vereinigung und Neutralisierung Deutschlands hören will,wie Stalin sie vorgeschlagen hat, Garantie demokratischer

31

Page 31: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Rechte und Parteien eingeschlossen.» Er leerte sein Wein-glas in einem Zug. «In meinen Augen läuft es schnurgeradeauf eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands hinaus – unddas, obwohl nach 1945 alle feierlich geschworen haben, niemehr eine Waffe anzufassen.»

«Der Russe lässt uns ja keine andere Wahl», polterteFriedrich los. «Du siehst doch, was er in Korea angerichtethat!»

«Daran sind die Amis aber auch nicht ganz schuldlos, lie-ber Fritz», konterte Carl. «Und was bringt das ganze sinn-lose Sterben von Millionen Menschen? Über den 38. Brei-tengrad kommen sie beide nicht – trotz massivem Kriegs-gedöns!»

«Papperlapapp», entgegnete Friedrich heftig. «Außer-dem sind wir hier mitten in Europa. Sollen wir uns vielleichteines Tages wehrlos von russischen Panzern überrollen las-sen? Der Alte am Rhein weiß schon, was er tut! Du solltestinzwischen auch klüger geworden sein. Wenigstens hast dudeinen Staatsanwaltsposten an den Nagel gehängt. Auchwenn ich nicht weiß, was du als Anwalt in Pankow willst.»

Silvie aß und hörte dabei dem Schlagabtausch amüsiertzu. Die beiden so unterschiedlichen Brüder gerieten jedesMal aneinander, wenn sie sich trafen, doch heute war esbesonders intensiv.

Carl richtete sich in seinem Stuhl auf, nun war er fastso groß wie Friedrich. «Mandanten zur Seite stehen», erwi-derte er knapp. «Menschen brauchen Rechtsvertreter, dieihnen aus der Patsche helfen, wenn sie etwas angestellt ha-ben oder dessen bezichtigt werden, hüben wie drüben. Undangeblich sagt man über mich» – ein kurzes verschmitztesGrinsen – , «ich sei einer der Besten.»

«Hier bei uns im Westen könntest du ebenso Mandantenin Bedrängnis betreuen und dabei ein Mehrfaches verdie-nen», fuhr Friedrich fort. «Aber du musst ja bei deinen ver-dammten Kommunisten bleiben …»

32

Page 32: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

«Das, Bruderherz, ist vielleicht einer der gravierends-ten Unterschiede zwischen uns.» Carl stellte sein Glas ab.«Geld hat mich noch nie sonderlich interessiert. Mir kommtes im Leben auf ganz andere Dinge an.»

Trotz seines lahmen Beins, das er einer Schusswundeaus dem Ersten Weltkrieg verdankte, stand Carl erstaunlichelegant auf und trat auf Sandro und Rike zu, die sich geradevom Nebentisch erhoben hatten.

«Der alte Onkel bittet um einen Tanz mit der bezaubern-den Braut», sagte er lächelnd. «Wird sie ihm den wohl ge-währen?»

«Mit dem allergrößten Vergnügen», erwiderte Rike.«Außerdem bist du kein bisschen alt, sondern mein Lieb-lingsonkel.»

Paul, Carls jüngerer Sohn, und seine Jungs spielten ge-rade den Foxtrott Singin’ in the Rain, mit dem Gene Kelly imgleichnamigen Musikfilm das Kinopublikum diesseits undjenseits des Atlantiks begeisterte. Der Name ihrer Bandhatte im Lauf der Jahre beinahe ebenso oft gewechselt wiedie Zusammensetzung des Quartetts. Immerhin war es denjungen Männern gelungen, eine vorübergehende Talsoh-le zu überbrücken und wieder mehr Engagements zu er-halten. Aktuell nannten sie sich The Crazy Creatures undhatten ebenso deutsche Schlager im Repertoire wie Blues,Ragtime und Boogie-Woogie.

«Und Sie? Nicht auch Lust auf Tanzen?» Beim Klang derStimme durchfuhr Silvie ein Schauer. Als sie sich umdreh-te, zog Wanja Krahl sich einen freien Stuhl heran und setz-te sich neben sie. «Ich könnte wetten, Sie haben ein tollesGespür für Rhythmus und Takt.»

«Im Moment esse ich, wie Sie sehen», sagte sie, «unddas am liebsten ungestört.»

Taps, der weiße Familien-Westie, inzwischen ein älte-rer Herr, knurrte kurz, als habe er Silvie genau verstan-den, machte gleich danach aber wieder folgsam neben dem

33

Page 33: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

Tisch Platz, weil vielleicht ja doch etwas für ihn abfallenwürde.

Silvies Hand zitterte kaum merklich beim Schneiden desSchnitzels. Sie konnte nur hoffen, dass es diesem Schau-spieler nicht auffiel, aber vielleicht sah er es, so drängend,wie er sie anstarrte.

«Sie lügen», sagte er leise. «Aber Sie lügen schlecht.Und das wiederum gefällt mir.»

Sie schaute auf. Ihre Blicke verhakten sich ineinander,dann blickte Silvie erneut auf ihren Teller.

Berühr mich, dachte sie zu ihrer eigenen Überraschung.Streichle meine Hand. Oder meinen Nacken. Löse die Klam-mern, und fahr mit den Fingern durch mein Haar. DeineHaut an meiner Haut, das genau ist es, was ich spüren will.

Er tat nichts von alldem.Sie schob den Teller beiseite und hatte plötzlich Lust auf

eine Zigarette, obwohl sie nur ganz selten rauchte.Er ließ ein silbernes Etui aufschnappen, als hätte er ihre

Gedanken erraten. «Gitanes», sagte er fast entschuldigend.«Die einzigen, die ich ertrage. Wenn man allerdings nichtdaran gewöhnt ist …»

Silvie nahm eine der Filterlosen und ließ sich von WanjaKrahl Feuer geben. Das starke schwarze Kraut versengtefast ihren Rachen, aber sie würde auf keinen Fall husten.

«Scheußlich», sagte sie nach dem zweiten Zug unddrückte die Zigarette wieder aus.

Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. «ZeigenSie mir jetzt die Villa? Ich habe gehört, sie soll ganz wun-derbar dekoriert sein!»

«Weshalb sollte ich? Ich kenne Sie doch kaum.»So aus der Nähe hatten seine Eisaugen einen irritieren-

den blauen Rand, der ins Petrol ging.«Weil ich einfach alles über Sie wissen muss.» Er stand

so abrupt auf, dass sein Stuhl umfiel. «Wo Sie schlafen.Wovon Sie träumen. Was Sie wütend macht oder verzwei-

34

Page 34: Leseprobe aus - Hugendubel · In Other Words), Frank Sinatra, Text: Bart Howard Liedtext auf S. 346/347: Cheek to Cheek, Ella Fitzgerald, Text: Irving Berlin Gedicht auf S. 356: Rainer

feln lässt, alles, verstehen Sie, einfach alles! Ich habe aufSie gewartet, vielleicht schon mein ganzes Leben lang. Undjetzt stolzieren Sie einfach so daher, in Ihrer aufregendenschwarzen Witwenkluft, die einem den Atem verschlägt.Denken Sie vielleicht, ich könnte Sie wieder vergessen?»Jetzt schrie er fast.

Ein paar Köpfe flogen zu ihnen herum, aber die Bandspielte gerade lauter, was Silvie nur recht sein konnte.

«Was für ein drolliges Schülertheater», sagte sie undstand auf. «Wenn Ihr Schiller nicht um Klassen besser ist,werden Sie allerdings Schiffbruch erleiden, fürchte ich.»Ihr Tonfall wurde mütterlich. «Wie alt waren Sie gleichnoch einmal, Wanja?»

«Vierundzwanzig», stieß er hervor. «Aber was zum Teu-fel hat das mit …»

«Dachte ich mir.» Sie ging Richtung Haus, drehte sichaber noch einmal zu ihm um. «Ich habe zwar Erfahrungmit jüngeren Brüdern, aber einer davon reicht mir vollkom-men.»

Er sah sie mit funkelnden Augen an, dann wandte er sichum und lief zum Gartentor, und sie fühlte sich beraubt, nochbevor er das Grundstück verlassen hatte.

[...]

35