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278 Seiten, In Leinen ISBN: 978-3-406-58142-7
Unverkäufliche Leseprobe
© Verlag C.H.Beck oHG, München
Christoph Luitpold Frommel Die Architektur der Renaissance in Italien
Unser Bild der Renaissance hat sich seit dem bei Pelican erschiene-
nen Handbuch von Wolfgang Lotz und Ludwig H. Heydenreich
grundlegend verändert, und über die meisten Zuschreibungen und
Datierungen besteht nach Jahrzehnten intensiver Forschung in-
zwischen weitgehende Einigkeit. Die Ergebnisse der neueren For-
schung sind in drei Bänden zur italienischen Architekturgeschichte
des 15. und 16. Jahrhunderts zusammengefaßt, die der Mailänder
Verlag Electa in den Jahren 1998 bis 2002 herausgebracht hat. Sie
sind so informativ, so reich bebildert und mit so ausführlichen
bibliographischen Hinweisen versehen, daß hier auf Fußnoten
verzichtet und der bibliographische Anhang zu den einzelnen Kapi-
teln auf die wichtigste seither erschienene Literatur beschränkt
werden konnte. Dort sind auch alle hier nicht berücksichtigten
Regionen, Architekten und Bauten behandelt.
Der Rahmen des Buches verlangte die Konzentration auf die
bedeutendsten Meister. Nur sie sind mit einiger Vollständigkeit
behandelt und einige weitere mit einer repräsentativen Auswahl
ihres Œuvres vertreten. Die Betrachtung beginnt mit Brunelleschi
und endet um 1580 mit Palladio: Erst Brunelleschi bekannte sich
uneingeschränkt zur Antike, und erst die Klassizisten des 18. Jahr-
hunderts gingen darin über Palladio hinaus. Die einzige größere
Zäsur stellt das Jahr 1500 dar, an dessen Vorabend Bramante in
Rom eintraf, um im Laufe weniger Jahre einen weitgehenden
Wechsel der Parameter einzuleiten.
Bei der Betrachtung der einzelnen Bauten ging es vor allem um
das Wechselverhältnis von Funktion, Konstruktion und Form, in
denen schon Vitruv und Alberti die Grundpfeiler der Architektur
erblickten. Seit Brunelleschi versuchten die Architekten, die Funk-
tionen und die Konstruktionsmethoden des Spätmittelalters mit
jenen der Antike zu verbinden. Als Kinder einer anderen Tradition
übernahmen sie selbst das Vokabular und die Syntax der antiken
Säulenordnungen selten wortwörtlich, so daß auch im Bereich der
Formen und Proportionen die mittelalterliche Tradition meist prä-
sent blieb. Deren Verschmelzung mit dem antiken Erbe trug dann
entscheidend zum innovativen Reichtum der Renaissancearchi-
tektur bei.
Wenn Architektur auch nicht erzählt wie Malerei oder Skulptur,
so hat doch auch sie einen Inhalt, der über reine Formen und Funk-
tionen weit hinausgeht. Nicht jeder Florentiner Bürger verstand
den Sinn der aus dem Norden importierten Spitzbögen, Fialen und
Dienste oder dachte beim Anblick des Doms seiner Vaterstadt
(Abb. 3) noch an das Himmlische Jerusalem. Doch bereits Dante
hatte das Baptisterium, die damalige Kathedrale, als Tempel des
Mars und als Symbol des antiken Ursprungs von Florenz geprie-
sen, und der Humanist Collucio Salutati erkannte sogar, daß es
«nicht griechisch oder etruskisch, sondern zweifellos römisch»
sei (Abb. 1, 2). Selbst vorgotische Basiliken wie Santi Apostoli in
Florenz hielt man noch für nachahmenswert. Humanisten und ge-
bildete Bürger strömten zur Loggia des Findelhauses und zur Alten
Sakristei, in denen Brunelleschi die lateinische Identität der Stadt
erneuerte: «Neue und ungewöhnliche Bauten erweckten Bewunde-
rung in allen Menschen von Bildung und Geschmack», wie Bru-
nelleschis Biograph Antonio Manetti berichtet. Sie konnten die
Säulenordnungen und die Logik ihres tektonischen Aufbaus mit
jenen des Baptisteriums vergleichen, und schon damals mag ihnen
mancher Kenner Vitruvs erklärt haben, daß sich der Tempel von
der primitiven Urhütte und die Säulenordnungen von den Bäumen
herleiteten. Auch in Ciceros De oratore konnte man lesen, daß die
Architektur ihren Glanz und ihre Würde der Übersetzung des
urtümlichen Holzbaus in Stein verdankte. Vitruv erläuterte auch
die verschiedenen Charaktere der Säulenordnungen: die dorische,
die der Kraft und Anmut des männlichen Körpers, die ionische,
die der weiblichen Schlankheit, und die korinthische, die den zar-
teren Verhältnissen eines Mädchens entsprach. Außerdem gab es
die tuskanische Ordnung, die die etruskischen Vorfahren der
Florentiner erfunden hatten, und die erst von Alberti als «italisch»
beschriebene composita, die auf der Halbinsel entstanden war und
sich aus der ionica und corinthia zusammensetzte. Wie die Anato-
mie für die fi gürlichen Künste so wurde die Ordnung bald zum
wichtigsten Kriterium für die Beurteilung von Architektur.
Die Architektur-Ikonographie im engeren Sinne sollte erst im
16. Jahrhundert aufblühen. Im Quattrocento beschränkte sie sich
noch auf wenige symbolische Grundformen wie das griechische
und lateinische Kreuz, wie Kreis und Kugel oder auf punktuelle
Zitate wie den Laternenhelm der Alten Sakristei und der Cappella
Rucellai, die auf das Heilige Grab in Jerusalem anspielen. Der
Bedeutungsgehalt der Architektur ging aber über solche Symbole
oder die Beziehung der Säulenordungen zu bestimmten Göttern
und Heiligen weit hinaus und umfaßte auch Anspielungen auf
bedeutsame Prototypen wie Tempel, Mausoleum, Triumphbogen
und Theater, wie das Florentiner Baptisterium oder den Palazzo
Vecchio.
EINLEITUNG 11
EINLEITUNG
3 (Seite 13)Brunelleschi präsentiert 1418 sein Modell für die Kuppel des Florentiner Doms, deren Wölbung noch über die technischen Möglichkeiten seiner Vorgänger hinausgegangen war. Die zylindrischen «tribune» und die Laterne wurden erst nach seinem Tod in leicht veränderter Form vollendet
Schon Brunelleschi hatte versucht, den antiken Tempel mit
pronaos und cella zu rekonstruieren, und Albertis Traktat ‹De re
aedifi catoria› trug dann entscheidend dazu bei, daß man sich in
Palästen und Villen auch dem antiken Haus annäherte. Schließlich
betrachtete man auch die von der Musik übernommenen und in
kleinen ganzen Zahlen darstellbaren Gesetze architektonischer
Harmonie mit platonisch geschultem Wissen als weit über das
rein Formale hinausgehend.
In den Traktaten, Briefen oder Beschreibungen der Epoche wird
man vergeblich nach den Kriterien einer heutigen Formalanalyse
suchen. Raffael vermittelt in seinem Brief über die Villa Madama in
Rom, der eindringlichsten Architektur-Beschreibung der Epoche,
kein anschauliches Bild seines Projektes, sondern ahmt die Briefe
Plinius d. J. und Ciceros nach und spricht vor allem über Lage,
Klima, Funktionen und über die Nähe zu antiken Prototypen.
Nur in den seltensten Fällen gewähren die Quellen wirklichen
Einblick in den für die Genese eines Baus so entscheidenden Dia-
log zwischen Architekt und Bauherrn. Wie konkret waren die Vor-
stellungen der Päpste, der Medici, Gonzaga, Montefeltro oder
Chigi, als sie ihre Aufträge erteilten? Wo fügten sie sich den Vor-
stellungen des Architekten, wo setzten sie ihren Willen durch?
Nicht einmal die zahlreichen erhaltenen Projekte für Sankt Peter
vermitteln ein klares Bild von den Intentionen der Bauherren, und
so muß sich der Historiker meist auf Vermutungen beschränken.
Wie die Bauten anderer Epochen wollen auch jene der Renais-
sance gelesen und, soweit es die Quellen erlauben, mit den Augen
der Zeitgenossen betrachtet werden. Man wird den Vertretern einer
normativen Architektur nur gerecht, wenn man auch die Fort-
schritte würdigt, die sie gegenüber ihren Vorgängern erzielten,
und den Rebellen, wenn man sich durch ihre Verstöße gegen die
Norm provozieren läßt. Dies hat zunächst noch nichts mit der
Form analyse der Kunstgeschichte zu tun, die seit Goethe und
Burckhardt zu einem unverzichtbaren Instrument ausgebildet
wurde. Ihr sind zahlreiche für die Datierung und Zuschreibung
eines Baus oder für die Charakterisierung eines Meisters unent-
behrliche Kriterien zu danken, und nur sie hilft weiter, wo die
Quellen schweigen, und ermöglicht es, strittige Zuschreibungen
oder Datierungen zu überprüfen. Nur wer die Geduld aufbringt,
nach dem Verhältnis von Form und Konstruktion, von innen und
außen, nach dem Wechselspiel horizontaler und vertikaler Kräfte,
nach der Abstrahierung einer antiken Form oder der Komplizie-
rung eines Rhythmus zu fragen, vermag in die Geheimnisse eines
Bauwerks einzudringen.
In der Abfolge der einzelnen Bauanalysen soll der langwierige,
keineswegs geradlinige und nicht immer gleichermaßen erfolg-
reiche Weg nachgezeichnet werden, der von Brunelleschi zu Palla-
dio führt. So wie sich Brunelleschi stets auf das Baptisterium seiner
Vaterstadt Florenz besann, so verloren auch die folgenden Archi-
tekten niemals ihre Ursprünge aus den Augen. Sie ahmten die
Antike nach, um sie zu erreichen und zu übertreffen, und sie
maßen sich nicht nur mit ihren Lehrern, sondern auch mit den
Gründervätern und Wegbereitern der Renaissance. Noch Bernini
und Borromini orientierten sich an Alberti und Bramante und des-
sen Schülern, als sie die römische Architektur wieder auf einen
neuen Höhepunkt führten.
Um in diesen ständigen und immer komplexeren Dialog ein-
zudringen, war es unumgänglich, auch die formalen und typo-
logischen Wurzeln der bedeutendsten Bauten zu erörtern, und so
häufen sich mit dem Fortschreiten des Textes auch die Vergleiche.
Ohne eine solche dauernde Suche nach dem roten Faden der
Tradition ist das Verständnis der Motive, der Entstehung und Ent-
wicklung dieser neuen Bewegung kaum möglich.
Wie die Musikgeschichte ist auch die Architekturgeschichte
auf eine Terminologie angewiesen, die einst zur Allgemeinbildung
gehörte, heute jedoch manchen abschrecken mag. Im vorliegen-
den Text konzentriert sie sich auf ein paar Dutzend Begriffe, die
zum größeren Teil schon seit der Antike und der Renaissance ver-
wendet wurden und in einem Glossar erläutert sind. Die Möglich-
keiten des Wortes, visuelle Phänomene zu erfassen, sind natur-
gemäß allerdings beschränkt, und so kann der Interpret allenfalls
hoffen, eine Tür des Verständnisses aufzustoßen, die schon halb
geöffnet war.
12 EINLEITUNG
DAS QUATTROCENTO
14 DAS QUATTROCENTO
Filippo Brunelleschi (1377–1464)
Die Architektur der Renaissance kündigt sich bereits seit dem
13. Jahrhundert in der Toskana, im Süditalien Friedrichs II. und
andernorts an, doch ihre Geburtsstätte war das Florenz des frühen
15. Jahrhunderts und Brunelleschi ihr eigentlicher Begründer.
Schon seinen Zeitgenossen galt er als Wiedererwecker der antiken,
der «wahren» und «vernünftigen» Architektur. Er spürte die Ver-
antwortung des Nachfahren und Erben, zu den Ursprüngen der
heimischen Kunst zurückzukehren, und war für seine Vaterstadt
so bedeutend, daß man ihm die erste ausführliche Vita der Kunst-
geschichte widmete. Sein Biograph Antonio Manetti (1423–1497),
als Beamter, Schriftsteller und Architekt mit den Florentiner Bege-
benheiten aufs beste vertraut, hatte Brunelleschi noch persönlich
gekannt.
Als Sohn eines einfl ußreichen Notars habe Brunelleschi die
Anfangsgründe des Lateinischen und der Mathematik erlernt, be-
richtet Manetti, sich dann aber für das Goldschmiedehandwerk
entschieden und bald auch als fi guraler Zeichner und Maler her-
vorgetan. An einer spektakulären Darstellung des Baptisteriums
habe er erstmals die Prinzipien der Zentralperspektive exemplifi -
ziert. Nach seiner Niederlage beim Wettbewerb für die Bronzetür
des Baptisteriums im Jahr 1401 sei er mit Donatello nach Rom ge-
reist, um durch das Studium der antiken Skulptur seine Chancen
zu verbessern, und erst in Rom hätten ihm die antiken Monumente
die Augen für die Architektur geöffnet. Dort habe er von seinen
Goldschmiedearbeiten gelebt und auch den größeren Teil der fol-
genden 16 Jahre verbracht, um alle wichtigen Bauten inner- und
außerhalb der Stadt maßstäblich zu vermessen und gelegentlich
sogar zu ergraben. Dabei habe er die antike Wölbetechnik, die
musikalischen Proportionen und die Syntax der antiken Ordnun-
gen entdeckt und sich jene unvergleichliche Meisterschaft ange-
eignet, der er dann seine erstaunliche Karriere verdankte: «Er fand
zahlreiche Unterschiede … in den Typen der Säulen, Basen, Kapi-
telle, Architrave, Friese, Gesimse und Giebel; auch Unterschiede
zwischen den Tempeln und dem Durchmesser ihrer Säulen. Durch
genaue Beobachtung erkannte er die Eigenschaften des ionischen,
dorischen, toskanischen, korinthischen und attischen Typus.»
Seine Antikenstudien, die zweifellos neben perspektivischen An-
sichten auch die orthogonale Trias von Grundriß, Aufriß und
Schnitt sowie Detailzeichnungen umfaßten, müssen ihm während
der folgenden Jahrzehnte als ständige Inspirationsquelle gedient
haben.
Möglicherweise kehrte Brunelleschi gegen 1432 bis 1434 noch
einmal kurz nach Rom zurück, und er scheint auch antike Monu-
mente Norditaliens, Dalmatiens und der Provence gekannt zu
haben. Auch müssen Reisende in andere Regionen wie Ciriaco de
Ancona, der von seinen Fahrten in die östliche Ägäis Zeichnungen
griechischer Bauten zurückbrachte, Brunelleschis Neugier befrie-
digt haben. Schon Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio war
es ja gelungen, sich antike Texte aus fernen Zentren wie Byzanz zu
beschaffen. Bei der Identifi zierung der einzelnen Säulenordnun-
gen, ihrer Vokabeln und ihrer Syntax wie auch bei der Wiederent-
deckung der «musikalischen» Proportionen war Brunelleschi auf
Vitruv angewiesen. Um 1415, als er wohl in Rom weilte, entdeckte
der päpstliche Scriptor Poggio Bracciolini in Montecassino eine
besonders wertvolle Kopie des Vitruv-Traktats, und Poggio selbst
oder andere befreundete Humanisten mögen ihm bei der Interpre-
tation unentbehrlicher Passagen beigestanden haben.
Nach seiner endgültigen Rückkehr erschien ihm der «deutsche»
Dekor so vieler Florentiner Bauten gewiß als Verrat an der lateini-
schen Identität seiner Vaterstadt. Erst relativ spät hatten sich die
Florentiner der spätgotischen Mode angeschlossen, und bezeich-
nenderweise mehr in den Gewölbekonstruktionen und im Dekor
als in den Typen und Proportionen. So unterscheiden sich der
Dom, der Or San Michele oder die Loggia dei Lanzi durch ihre
ruhenderen Verhältnisse und ihre weiten, oft halbrunden Bögen
grundsätzlich von gleichzeitigen Bauten in Nordeuropa, und so
inspirierte man sich noch um 1278 beim Bau von Santa Maria
Novella an Kleeblattpfeilern von San Miniato, einer Kirche des mitt-
leren 11. Jahrhunderts. Ja schon gegen Ende des Trecento kehrte
man in der Inkrustration des Domchors zu den mehrgeschossigen
1. Brunelleschi, Donatello und Michelozzo
BRUNELLESCHI, DONATELLO UND MICHELOZZO 15
4 Kein Bau war wichtiger für die Renaissancearchitektur als das Pantheon in Rom. In dieser Zeichnung kopiert Raffael eine Vorlage des späten 15. Jahrhunderts, auf der ein Joch fehlt, jedoch die ursprüngliche Gliederung des Obergeschosses zu sehen ist
Blendarkaden und den hochrechteckigen Feldern des Baptisteri-
ums zurück und bereicherte sie sogar um das Motiv des Thermen-
fensters. Wenn auch noch in der Überlängung spätantiker Wand-
dekorationen hatte die Säule bereits in den Bildhintergründen
Giottos wieder wachsende Bedeutung gewonnen. Brunelleschi
war jedoch der erste und für Jahrzehnte auch der einzige, der das
gotische Vokabular rigoros und konsequent aus seinen Bauten
verbannte. Wie viel langsamer selbst Donatello dies tat und wie
unmittelbar er dabei unter Brunelleschis Einfl uß stand, zeigen
seine Tabernakel an Or San Michele.
Auch zwischen 1402 und 1416 soll Brunelleschi immer wieder
nach Florenz zurückgekehrt sein, um kleinere Bauaufträge auszu-
führen. Sein Ansehen als Architekt erwarb er sich allerdings erst
durch die Wölbung der Domkuppel, welche die ehrgeizigen Flo-
rentiner um 1367 größer geplant hatten als jede andere Kuppel seit
dem Pantheon (Abb. 4), ohne noch über die technischen Voraus-
setzungen zu verfügen. Indem Brunelleschi in seinem Modell von
1418 die römische Wölbetechnik mit jener der Gotik verband und
auf Lehrgerüste verzichtete, bahnte er dem nachmittelalterlichen
Kuppelbau den Weg. Die Florentiner sahen in der Kuppel den Be-
weis ihrer Überlegenheit und ehrten Brunelleschi neben Cosimo
de’ Medici und Palla Strozzi als einen ihrer drei Größten. Nach
Giorgio Vasari forderte die Kuppel den Himmel selbst heraus, und
noch heute ist unser Bild der Stadt von ihr geprägt.
16 DAS QUATTROCENTO
5 Schon der Grundriß des Florentiner Findelhauses (1419) verrät Brunelleschis Tendenz, auch Profanbauten axialsymmetrisch zu gestalten
DAS FINDELHAUS IN FLORENZ
Gegen 1419 wurde Brunelleschi von der mächtigen Zunft der Sei-
denweber, der er als Goldschmied selbst angehörte, mit einem
Findelhaus beauftragt. Diese Zunft hatte bereits andere Hospitä-
ler eines vergleichbaren Typus errichtet, den Brunelleschi nun in
die Sprache der Vitruvianischen Säulenordnungen übersetzte
(Abb. 5–7). Um den Platz vor der Kirche der Santissima Annun-
ziata einem antiken Forum anzunähern, hob er die lange, für den
Publikumsverkehr bestimmte Eingangshalle auf einen Sockel von
neun Stufen und ließ in deren Arkaden erstmals wieder die Säule
dominieren. In den Ordnungen und ihrem Detail folgte er vor
allem dem Baptisterium. Wie im Obergeschoß von dessen Inneren
werden auch im Findelhaus die Säulenarkaden von Pilastern einer
Kolossalordnung fl ankiert, und mit einem Verhältnis von etwa 2:3
sind die neun Arkaden ähnlich untersetzt wie der Chorbogen des
Baptisteriums. Die Arkaden waren von Wandblöcken fl ankiert,
durch deren Türen die beiden Geschlechter getrennt eintreten
konnten. Bei einer späteren Erweiterung wurden die Wandblöcke
jedoch durch Arkaden ersetzt, so daß der horizontalen Bewegung
der Arkaden das vertikale Gegengewicht genommen ist. Die Unter-
ordnung einer Reihe von Säulenarkaden unter eine Kolossalord-
nung war im Peristyl des antiken Kaiserpalastes von Split (Spalato)
vorgebildet, und von dort scheinen auch die über den Säulen um-
knickenden Archivolten inspiriert.
Dieses System war durch antike oder vermeintlich antike Proto-
typen wie das Baptisterium gerechtfertigt, nicht jedoch durch Vitruv,
der weder von Bögen und Kuppeln noch von Halbsäulen, Pilastern
oder Kolossalordnungen handelt. Erst Leon Battista Alberti recht-
fertigt in seinem 1452 vorgelegten Architekturtraktat das System
seines Lehrers Brunelleschi auch theoretisch: Nach Alberti ist die
Säule zum einen Fragment der Wand und damit Stütze des lasten-
den Gebälks und zum andern das anthropomorphe «primum orna-
mentum» jeder Architektur (Buch I, 10; VI, 13). Wie die Halbsäule
als sichtbarer Teil einer in der Wand verborgenen Rundsäule zu
lesen ist, so der Pilaster als Oberfl äche einer «columna quadrangula»,
also einer Säule mit quadratischem Querschnitt (Abb. 2). Alberti
nennt die Pilaster daher «columnae quadrangulae affi ctae» (Buch VI,
4). Er rechtfertigt auch die Säulenarkade und defi niert ihren Bo-
gen, dessen Archivolten nicht umsonst mit den Faszienen des
Architravs versehen sind, als gebogenen Architrav – «columnatio
arcuata» (Buch VII, 4, 5, 14, 15). Albertis hierarchische Typologie
erlaubt Säulenarkaden jedoch nur für untergeordnete Funktionen
und fordert für den Tempel ein gerades Gebälk und gesetztere Ver-
hältnisse. Für ihn ist es nicht entscheidend, ob die Säulen das Ge-
bälk tatsächlich tragen oder dies nur vortäuschen wie die Kolossal-
ordnung des Findelhauses. Entscheidend ist vielmehr das visuelle
Wechselverhältnis von Stütze und Last, wie schon im römischen
tabularium oder im Kolosseum, wo das Gewicht auf Pfeilerarkaden
ruht und die Säulenordnung das Tragen und Lasten nurmehr vor-
täuscht. Im Gegensatz zu Alberti hält Brunelleschi auch in seinen
späteren Bauten an der tektonischen Fiktion stets fest und verwen-
det Pilaster und Halbsäulen, als handele es sich um die partiell in
der Wand versteckten Stützen des Gebälks.
Für Alberti ist die Säule als «primum ornamentum» der wich tigste
architektonische Dekor und wie bei Vitruv (Buch III, 1) den Ver-
hältnissen des menschlichen Körpers nachgebildet. Mit ihrem
Verhältnis von etwa 1:12 sind die Kolossalpilaster und mit einem
Verhältnis von etwa 1:11 auch die Säulen des Findelhauses aller-
dings wesentlich schlanker proportioniert, als Vitruv und Alberti
dies für die korinthische Ordnung empfehlen, und so behaupten
sich die Säulen noch nicht in gleicher Weise gegenüber den weit-
offenen Arkaden wie in Brunelleschis späteren Bauten. Wie im
Florentiner Dom (Abb. 3) oder in Santa Maria Novella liegen die
BRUNELLESCHI, DONATELLO UND MICHELOZZO 17
6 Durch den Portikus des Findelhauses versucht Brunelleschi, den Platz der Santissima Annunziata einem antiken Forum anzunähern
7Rekonstruktion (Saalman) von Brunelleschis Projekt für das Findelhaus
18 DAS QUATTROCENTO
8 Rekonstruktion (Saalman) von Brunelleschis Barbadori-Kapelle in Santa Felicità in Florenz
aktiven Glieder in graugrüner pietra serena linear vor den hellge-
tünchten Wänden. An der Innenwand, welche die tragende Funk-
tion der Säulen übernimmt, wachsen Kapitelle aus kannelierten
Säulenstümpfen hervor, und über den vier Bögen jedes Jochs stei-
gen Hängekuppeln auf, wie sie Brunelleschi in Rom und im Veneto
gesehen hatte. Auch im Detail nähert er sich nur allmählich dem
antiken Kanon an. Die inneren Voluten der korinthischen Säulen-
kapitelle sind größer ausgebildet als bei ihren antiken Prototypen
und von einem für Kompositkapitelle typischen Eierstab bekrönt.
Zwischen Kapitell und Bogen vermittelt noch kein Gebälk, son-
dern wie im Baptisterium und in byzantinischen Bauten lediglich
eine Kämpferplatte, und so hatte Brunelleschi noch einen langen
Weg zurückzulegen, bevor er in Santo Spirito eine makellose
Vollkommenheit der Ordnung erreichte (Abb. 18).
Manetti berichtet, Brunelleschi habe auf ein Holzmodell ver-
zichtet und die Handwerker nur durch maßstäbliche Zeichnungen
und mündliche Anweisungen angeleitet. Auch für das Obergeschoß
habe er eine Ordnung vorgesehen, doch während seiner Abwesen-
heit sei die Zone oberhalb der Arkaden weitgehend verdorben und
schon von den Zeitgenossen kritisiert worden, so daß er sich vom
Bau zurückgezogen habe. In der Tat sind Fries und Gesims des
Gebälks noch nicht eindeutig ausgebildet und knickt der Architrav
wie im Obergeschoß des Baptisterium und an der Fassade von San
Miniato an den Seiten ab (Abb. 1, 41). Vielleicht hatte Brunelleschi
keine ausreichenden Informationen hinterlassen, so daß sich der
mit dem Prinzip des Tragens und Lastens noch nicht wirklich ver-
traute Baumeister an diesen vermeintlich antiken Prototypen ori-
entieren mußte.
Indem Brunelleschi den Grundriß des Findelhauses den Prin-
zipien der Symmetrie und der Axialität unterwarf, folgte er den
Kaiserthermen und wohl auch trecentesken Profanbauten wie
dem Visconti-Kastell bei Pavia und Kreuzgängen, in denen sein
humanistischer Zeitgenosse Flavio Biondo Relikte des antiken
Hauses erblickte. Wie die tektonische Logik der Ordnungen ent-
sprachen Symmetrie und Axialität Brunelleschis rationalem Puris-
mus, und so unternahm er alles, um das Findelhaus im System
wie in den Formen der Antike anzunähern und damit die huma-
nistische Utopie einer Wiedergeburt der Antike in Architektur
umzusetzen.
DIE BARBADORI-KAPELLE IN SANTA FELICITA IN FLORENZ
In der Grabkapelle, die Brunelleschi in die rechte vordere Ecke von
Santa Felicità einbaut (Abb. 8), übersetzt er einen spätmittelalter-
lichen Baldachin in die Sprache des Baptisteriums. Sie reicht gerade
für den Altar und die Grabplatte aus und wirkt wie die Kernzelle der
Vorhalle des Findelhauses. Die unmittelbar vom Baptisterium über-
nommenen ionischen Kapitelle, das Profi l der Archivolten und der
Architrav, dessen untere Faszie mit einem wenig kanonischen Astra-
gal beginnt, deuten in der Tat auf eine wenig frühere Entstehung.
Die Arkaden sind ähnlich untersetzt wie im Ospedale, doch ruhen
ihre Bögen auf Halbsäulen, die noch enger mit der Kolossalord-
nung verbunden sind. Deren Kanten kommen an den Innenecken
zwischen den Halbsäulen zum Vorschein und weisen sie wiederum
als partiell in der Wand verborgene quadratische Säulen aus.
DIE ALTE SAKRISTEI VON SAN LORENZO IN FLORENZ
1417 wurde Giovanni di Averardo de’ Medici in die für den Neubau
von San Lorenzo verantwortliche Kommission gewählt. Er gehörte
derselben Gemeinde an, und sein alter Palast war der Kirche un-
mittelbar benachbart. Er war bereits einer der reichsten Bankiers
der Stadt, hatte sich jedoch mit den weniger prominenten Zünften
des popolo minuto verbündet, die damals die Republik regierten.