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128 S.: mit 5 Abbildungen und 1 Karte. Broschiert ISBN: 978-3-406-69848-4 Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/16567022 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Karola Fings Sinti und Roma Geschichte einer Minderheit

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Page 1: Leseprobe Sinti und Roma · Sinti und Roma sind die größte Minderheit in Europa und seit mehr als sechshundert Jahren an der Entstehung der euro-päischen Kultur beteiligt. Nach

128 S.: mit 5 Abbildungen und 1 Karte. Broschiert ISBN: 978-3-406-69848-4

Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/16567022

Unverkäufliche Leseprobe

 

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Karola Fings Sinti und Roma Geschichte einer Minderheit

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Karola Fings

SINTI UND ROMA

Geschichte einer Minderheit

Verlag C.H.Beck

Page 3: Leseprobe Sinti und Roma · Sinti und Roma sind die größte Minderheit in Europa und seit mehr als sechshundert Jahren an der Entstehung der euro-päischen Kultur beteiligt. Nach

Mit 5 Abbildungen und 1 KarteKarte: © Peter Palm, Berlin

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2016

Satz, Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenUmschlaggestaltung: Verlag C.H.Beck

nach einem Reihenkonzept von Uwe Göbel, MünchenUmschlagabbildung: August Sander, «Zigeunerprimas» (Ausschnitt),

1929 oder 1931, Silbergelatineabzug, 28,1 × 20,6 cm,The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, © J. Paul Getty Trust

Printed in Germanyisbn 978 3 406 69848 4

www.chbeck.de

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Inhalt

Vorwort 9

1. Mehrheit und Minderheit

Selbst- und Fremdverortungen 11Roma, Sinti und «Gadje» . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Heterogenität der Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . 12Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft . . . . . . . . 14

Sprache 15Romanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Sprachenerhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Wissensdiskurse 18Literarische «Zigeunerbilder» . . . . . . . . . . . . . . . 18Tsiganologen und «Zigeunerfreunde» . . . . . . . . . . . 20Popularisierung des «Wissens» . . . . . . . . . . . . . . 22Inszenierungen von Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . 23

Antiziganismuskritik 25Neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Alltagsdimensionen von Antiziganismus . . . . . . . . . 26Antiziganistische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Fakten statt Fantasien 28Statistik als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Der Mythos vom «wandernden Zigeuner» . . . . . . . . 29«Zigeunermusik» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31Die Sichtbaren und die Unsichtbaren . . . . . . . . . . . 33

2. GeschichteMittelalter 34

Migration nach Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Ansiedlung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35Schutzbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Der Blick der Chronisten . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

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Frühe Neuzeit 40Leibeigenschaft und «Vogelfreiheit» . . . . . . . . . . . 40Eine Gesellschaft der Armut und Gewalt . . . . . . . . . 41«Zigeunerstöcke», Leib- und Lebensstrafen . . . . . . . 43Soziale Beziehungen und Erwerbsweisen . . . . . . . . . 45

Monarchie und Zarentum 47Eine konzertierte Aktion von Kirche und König . . . . . 47Zwangsassimilation im Zeichen der Aufklärung . . . . . 49Integration ins zaristische Staatswesen . . . . . . . . . . 52

Nation und Revolution 53Aufbruch in und aus Europa . . . . . . . . . . . . . . . 53Entstehung des ethnisch-rassistischen Bildesvon «Zigeunern» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Kontrollregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Eine kurze Blüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Kaiserreich und Weimarer Republik . . . . . . . . . . . 59

3. Völkermord

Nationalsozialistische Rassenpolitik 62Stigmatisierung als «Fremdrasse» . . . . . . . . . . . . . 62Erfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Rassistische Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Berufsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Kommunale Zwangslager . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Vernichtung 69Deportation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69«Zigeunerlager» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Verschleppungen in Konzentrationslager . . . . . . . . . 72Ghetto Litzmannstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Massaker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Konzentrations- und VernichtungslagerAuschwitz-Birkenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76Menschenversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Zwangssterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Dimension des Völkermords . . . . . . . . . . . . . . . 80

Die Täterinnen und Täter 81Ideologen, Schreibtischtäter und Mörder . . . . . . . . . 81Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Hilfswillige und Profiteure . . . . . . . . . . . . . . . . 85

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Die Opfer 87Strategien der Selbstbehauptung . . . . . . . . . . . . . 87Hilfe durch Gadje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Widerstand und Partisanenkampf . . . . . . . . . . . . 90Bürde des Überlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

4. Europäische Perspektiven

Lebenssituation seit 1945 92Last der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92NS-Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94Diskriminierende Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . 96Hinter dem «Eisernen Vorhang» . . . . . . . . . . . . . 98

Bürgerrechtsbewegungen 100Nationale und internationale Initiativen bis 1990 . . . . . 100Bürgerrechtsbewegungen in der BundesrepublikDeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102Kampf gegen Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Anerkennung des Völkermords . . . . . . . . . . . . . . 105Opferkonkurrenz und Memorialisierung . . . . . . . . . 107

Politik in Europa 109Zeitenwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Widersprüche europäischer Politik . . . . . . . . . . . . 112Ethnisierung von Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Historische Verantwortung? . . . . . . . . . . . . . . . 114

Am Beginn des neuen Jahrtausends 117Institutioneller Wandel und Generationenwechsel . . . . 117Politische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Die eigene Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Dank 120Literaturhinweise 121Bildnachweis 126Tabelle: Anzahl von Roma und verwandten Gruppenin Europa 127

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Abkürzungen

BGH BundesgerichtshofECRI Europäische Kommission gegen Rassismus und

IntoleranzERI European Roma InstituteERTF European Roma and Travellers ForumEU Europäische UnionGfbV Gesellschaft für bedrohte VölkerGzVeN Gesetz zur Verhütung erbkranken NachwuchsesIRU International Romani UnionKFOR Kosovo ForceKZ KonzentrationslagerNATO North Atlantic Treaty OrganizationNSDAP Nationalsozialistische Deutsche ArbeiterparteiOSF Open Society FoundationsOSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit

in EuropaRCU Rom und Cinti UnionRHF Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische

ForschungsstelleRKPA ReichskriminalpolizeiamtRNC Roma National CongressRSHA ReichssicherheitshauptamtSA Sturmabteilung (der NSDAP)SS Schutzstaffel (der NSDAP)UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural

OrganizationUNICEF United Nations Children’s Emergency FundUSHMM United States Holocaust Memorial MuseumVdS Verband der Sinti Deutschlands

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Vorwort

Sinti und Roma sind die größte Minderheit in Europa und seitmehr als sechshundert Jahren an der Entstehung der euro-päischen Kultur beteiligt. Nach Schätzungen des Europaratesleben rund elf Millionen Angehörige in den 47 Staaten Europas,etwas mehr als die Hälfte von ihnen in den Staaten der Euro-päischen Union. Doch das Wissen über die Geschichte der Sintiund Roma ist gering. Stattdessen bestimmen jahrhundertealterassistische Stereotype nicht nur den Blick, sondern auch diePolitik gegenüber der Minderheit in Europa.

Grundlegend ist die Tatsache, dass es die Roma und Sintinicht gibt. Angehörige dieser Minderheit gehören unterschied-lichen regionalen, nationalen und sprachlichen Gruppen an,ihre individuellen Lebensentwürfe sind so unterschiedlich wiedie der Mehrheitsgesellschaft.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte derRoma und Sinti nahezu ausschließlich aus der Perspektive derDominanzgesellschaften überliefert. Die Quellen stammen inder Regel aus dem polizeilich-politischen oder ethnologisch-rassistischen Diskurs und geben daher kaum Auskunft überLebenssituationen und Perspektiven der Betroffenen. Hinzukommt: Das über Jahrhunderte tradierte «Wissen», breit über-liefert in Literatur und Lexika, repräsentiert in Malerei, Foto-grafie oder Oper, ist höchst spekulativ. Es floss in ein weitge-hend unhinterfragtes Bild von «Zigeunern» ein, mit dem Romaund Sinti – in romantisierender, kriminalisierender Weise oderrassenanthropologischer Absicht – so wie Juden als «Fremde»in Europa markiert wurden. Ein großer Teil der Literatur überSinti und Roma ist daher unbrauchbar, wenn man etwas zurGeschichte der Minderheit erfahren will.

Historikerinnen und Historiker haben sich erst spät auf wis-senschaftlich fundierte Weise mit der Geschichte der Minderheit

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Vorwort10

befasst. Es überwiegen ethnologische Studien, die sie als einenvormodernen Restbestand menschlicher Zivilisation exotisie-ren, indem sie vermeintlich fremdartige kulturelle Praktiken alseine überzeitliche «Zigeuneridentität» herausstellen. DiesemPfad folgt der vorliegende Band bewusst nicht.

Dennoch birgt jedes Schreiben über Sinti und Roma die Ge-fahr einer Homogenisierung und Exotisierung und damit auchdie Gefahr, Stereotype zu reproduzieren. Ob sie als verhassteFremde oder als bemitleidenswerte Opfer von Diskriminierungdargestellt werden, stets wird ihnen dabei als Gruppe ein Ob-jektstatus zugewiesen, werden sie als Subjekte der Geschichtenegiert. Dieses Dilemma lässt sich selbst bei kritischer Reflexionnicht auflösen: Das Schreiben bleibt ein Akt von Diskursmacht,mit dem aus privilegierter Position Deutungen und Zuschrei-bungen vorgenommen werden.

Die Darstellung hat weder den Raum noch den Anspruch, dieganze europäische Geschichte und alle europäischen Staatenabzudecken, sondern beschränkt sich auf wesentliche oder ex-emplarische Prozesse und Ereignisse. Der Band will zu einerdifferenzierten Sicht auf die Geschichte und Gegenwart derMinderheit beitragen. Voraussetzung dafür ist ein Blick aufdie gesellschaftlichen Prozesse, die Zuschreibungen und Exklu-sionspraktiken seitens der Mehrheitsgesellschaft hervorbringen,und damit auch eine Auseinandersetzung mit der Entwicklungder Nationalstaaten und des bürgerlichen Subjekts in Europa.

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1. Mehrheit und Minderheit

Selbst- und Fremdverortungen

Roma, Sinti und «Gadje» In den Institutionen der Europäi-schen Union wird «Roma» mehrheitlich als Sammelbegriff fürdie Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma verwendet.«Rom» heißt in der Sprache Romanes «Mann» oder «Ehe-mann». Im deutschsprachigen Raum sind die Selbstbezeichnun-gen «Sinti» und «Roma» gebräuchlich. Während das Wort«Rom» in allen Dialekten des Romanes bekannt ist und daherzum alten Bestand der Sprache zählt, ist «Sinti» als Selbst-bezeichnung der deutschsprachigen Minderheit erstmals Endedes 18. Jahrhunderts belegt. Das Wort ist also nicht voreuro-päischen Ursprungs, womit die These, es lasse sich von derheute zu Pakistan gehörenden Provinz Sindh ableiten, widerlegtist. Die Gruppenidentität von Sinti hat sich aufgrund ihrerlangen Zugehörigkeit zum deutschen Sprachraum herausge-bildet.

Das Wortpaar «Sinti und Roma» dient in Deutschland alsSammelbezeichnung für verschiedene Romanes sprechendeGruppen, von denen die Gruppen der Sinti und der Roma diegrößten sind. In Österreich wird dagegen von «Roma und Sinti»gesprochen, da dort mehr Roma als Sinti beheimatet sind.«Sinti» beziehungsweise «Roma» sind Gruppenbezeichnungenund zugleich männliche Pluralformen. Die männliche Singular-form ist «Sinto» beziehungsweise «Rom», die weibliche Sin-gularform ist «Sintez(z)a» oder «Sintiz(z)a» beziehungsweise«Romni». Die weiblichen Pluralformen sind «Sintez(z)e/Sin-tiz(z)e» und «Romnja».

Selbstentwürfe von Angehörigen der Minderheit sind, wie beijedem Individuum, vielfältig. Beruf und Sozialstellung, Alterund Geschlecht, Heimat und Nation, Religion, Werte und Über-zeugungen prägen das Selbstbild ebenso wie die Zugehörigkeit

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1. Mehrheit und Minderheit12

zur Minderheit. Für die Identität als Roma oder Romnja ist dieAbgrenzung gegenüber Nicht-Roma konstitutiv. Menschen, dienicht als der Minderheit zugehörig angesehen werden, werdenals «Gadje» (Plural) bezeichnet. Auf Romanes bedeutet «Gadjo»(Singular, männlich; «Gadji» = Singular, weiblich) Bauer, Mannoder auch Mensch und wird für Angehörige der Mehrheits-gesellschaft verwendet. Allerdings ist dieser Begriff bei vielenRoma nur für Gadje in der näheren Umgebung gebräuchlich,während Gadje aus anderen Ländern mit ihrer Nationalität be-zeichnet werden, also etwa als Franzosen, Deutsche oder Ser-ben. Die begriffliche Unterscheidung zwischen den Menschenaus der Ferne und den Menschen in der Nähe belegt die starkeVerbundenheit mit der Heimat.

Heterogenität der Minderheit Die in Europa beheimateten An-gehörigen der Sinti und Roma werden nach sprachlichen Merk-malen verschiedenen Gruppen zugeordnet. Vereinfacht sprichtman von Roma in Ost- und Südosteuropa, von Sinti im deutsch-sprachigen Raum (auch in Teilen von Norditalien, Belgien, denNiederlanden sowie mit der Untergruppe der Manusch inFrankreich), von den Kalé in Spanien und Südfrankreich, denCiganos in Portugal sowie von den Romanichals in Großbritan-nien. Tatsächlich ist die Minderheit viel diversifizierter. VonPortugal bis Russland und von Italien bis Norwegen lassen sichrund fünfzig Gruppen mit weiteren Untergruppen benennen.Diese Unterscheidungen gehen, wie beispielsweise die Abgren-zung zwischen Bayern, Rheinländern und Sachsen, auf regionaleHerkunft, berufliche Traditionen, sprachliche Besonderheitensowie Gebräuche zurück.

In Deutschland leben heute schätzungsweise 80000 bis120000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit. Zudieser autochthonen, also alteingesessenen deutschen Gruppezählen vor allem die seit dem 15. Jahrhundert in den deutschenLanden ansässigen Sinti. Als «deutsche Roma» wird in Abgren-zung dazu eine kleinere Gruppe bezeichnet, deren VorfahrenEnde des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das Deut-sche Reich einwanderten und die Staatsangehörigkeit eines

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Selbst- und Fremdverortungen 13

der deutschen Staaten erwarben. Zu erwähnen sind in diesemZusammenhang außerdem die Kalderasch und Lowara, die inden 1950er-Jahren aus Polen, der Tschechoslowakei undÖsterreich in die Bundesrepublik kamen. In ihren Herkunfts-familien wurde oftmals neben dem Romanes auch Deutsch ge-sprochen.

Außerdem lebt in der Bundesrepublik die schwer zu quanti-fizierende Gruppe der «Gastarbeiter»-Roma, die seit Ende der1960er-Jahre aus dem damaligen Jugoslawien in die Bundes-republik migrierte. Viele von ihnen, insbesondere die Angehö-rigen der dritten Generation, sind inzwischen auch deutscheStaatsbürger. Schließlich sind noch die Roma zu nennen, die amkürzesten in Deutschland beheimatet sind. Als Asylsuchendeund Bürgerkriegsflüchtlinge kamen sie seit den 1980er-Jahrenaus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten oder seit 2000 alsZuwandernde aus der erweiterten Europäischen Union. IhreAnzahl wird auf mehrere Zehntausend geschätzt.

Die Verwendung des Wortpaares «Sinti und Roma» für allein der Bundesrepublik lebenden Angehörigen der Minderheiterweist sich in der Praxis als problematisch, weil der Begriffinkonsistent ist: «Sinti» als Bezeichnung für eine Teilgruppesteht gleichrangig neben der Gesamtbezeichnung «Roma», diein dem Wortpaar wiederum auf die osteuropäischen Roma be-zogen ist. So ist nicht selten von «Sinti- und Romaflüchtlingen»die Rede, auch wenn sich in der angesprochenen Gruppe keineSinti befinden. Einige Angehörige der Minderheit lehnen denBegriff ab, weil er die Heterogenität nicht hinreichend reprä-sentiere. Sie favorisieren als Selbstbezeichnung den eigenenGruppennamen, also «Lowara», «Kalderasch», «Lalleri» oderÄhnliches, und als Fremdbezeichnung je nach politischemStandort entweder «Zigeuner» (das bevorzugen nur wenige)oder je nach Kontext eine Reihung verschiedener Gruppenbe-zeichnungen.

Es bleibt festzuhalten: Roma sind kein homogenes «Volk».Die Gemeinschaften sind stark ausdifferenziert und haben mitden europäischen Mehrheitsgesellschaften in den vergangenenJahrhunderten vielschichtige Wandlungsprozesse erfahren.

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1. Mehrheit und Minderheit14

Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft Der lange vorherr-schende Begriff für Sinti und Roma war «Zigeuner». In derBundesrepublik konnte der in Heidelberg ansässige ZentralratDeutscher Sinti und Roma die Ächtung des Begriffs so weitdurchsetzen, dass er zumindest aus dem offiziellen und media-len Sprachgebrauch zum größten Teil verschwunden ist. Auchin anderen Ländern war das Ringen um die Durchsetzung von«Roma» statt «Gypsy» oder ähnlichen Bezeichnungen Teil ei-ner Emanzipationsstrategie, mit der die gesellschaftlichen Be-nachteiligungen überwunden werden sollten. Es gibt aber auchheute noch Angehörige der Minderheit, die «Zigeuner» alsEigenbezeichnung verwenden; manche, weil sie den Begriff alsTeil ihrer Identität verstehen, andere, weil das Label «Zigeu-ner» eine Ressource sein kann («Zigeunermusik»).

«Zigeuner» ist eine Fremdbezeichnung, deren etymologischeHerkunft nicht eindeutig geklärt ist. Der Begriff wird auf dasAltgriechische «Athinganoi» (eine agnostische Gruppe inWestanatolien), auf das Persische «Cinganch» (Musiker, Tän-zer) beziehungsweise «Asinkan» (Schmiede), auf das Alttürki-sche «čïgāń» (arm) oder auf die falsche Zuschreibung als ausÄgypten stammend zurückgeführt. Im deutschen Sprachraumwurde «Zigeuner» im Volksmund fälschlich von «ziehenderGauner» abgeleitet, was den Begriff zusätzlich negativ auflud.Daneben gab es andere Bezeichnungen, die die Angst vor demFremden und Bedrohungsgefühle betonten. In zahlreichen spät-mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen werden Romain Abgrenzung zur christlichen Gemeinschaft als «Heiden» be-zeichnet. In Frankreich nannte man Roma in Anlehnung anSchutzbriefe, die der ungarische, deutsche und böhmische Kö-nig und spätere Kaiser Sigismund ausgestellt hatte, «Bohémi-ens», ein Begriff, der sich bis heute erhalten hat. Vor allem inNorddeutschland und im Baltikum war in Erinnerung an dieMongolenherrschaft von «Tateren», also Tartaren, die Rede.

«Zigeuner» und ihre europäischen Varianten wie «Gypsies»(engl.), «Tsiganes» (franz.), «Gitanos» (span.) entwickelten sichim Laufe der Jahrhunderte zu einer ausgrenzenden Beschrei-bung von Gruppen, denen eine von der Mehrheitsgesellschaft

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Sprache 15

abweichende Lebensweise zugeschrieben wurde. Der Begriff be-inhaltet soziologische und biologistisch-rassistische Elemente.Soziografisch markiert er unterschiedliche soziale und ethnischeGruppen, deren Verhalten als unstet, deviant und delinquentangesehen wird. Dazu werden neben «Zigeunern» verschiedenemigrierende, nicht Romanes sprechende Gruppen gezählt, etwadie irischen «Travellers», die vor allem in der Schweiz ansässi-gen «Jenischen», die niederländischen «Woonwagenbewoners»oder die französischen «Gens du Voyage». Als ethnisierende,genetisch-biologistische Kategorie wird «Zigeuner» ausschließ-lich auf Sinti und Roma bezogen.

Sprache

Romanes Die Sprache Romanes – auch Romani Chib (chib =Sprache, Zunge) genannt – ist für die Identität der Roma zen-tral. Sie ist ein bedeutendes Kulturgut, das mündlich über Gene-rationen bewahrt wurde. Romanes wird in der Regel nur inner-halb der Familie oder in der Kommunikation mit anderen Romaverwendet. Wie bei allen anderen Sprachen werden mit demGebrauch des Romanes Denkkonventionen und Traditionenüberliefert und gelebt. Es ist die bedeutendste kulturelle Res-source der Minderheit. Wie andere Sprachen unterliegt Roma-nes einem stetigen Wandel und zerfällt in zahlreiche Dialekte,die von dem Kultur- und Sprachgebiet geprägt sind, in dem dieMenschen leben.

Doch anders als in anderen Sprachen wird Romanes weder ineiner Region noch in einem Land als Amtssprache verwendet.Auch gibt es für Romanes keine vereinheitlichte Schriftsprache.Romanes wurde fast fünfhundert Jahre lang ausschließlichvon Gadje verschriftlicht. Die früheste bislang bekannte Do-kumentation stammt von dem Engländer Andrew Borde, der1542 dreizehn Sätze auf Romanes mit englischer Übersetzungpublizierte. Niederländer, Italiener, Türken, Deutsche und Spa-nier veröffentlichten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert weitereWortlisten. Aber erst Johann Rüdiger, Professor an der Uni-versität Halle, fand heraus, dass Romanes mit dem indischen

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1. Mehrheit und Minderheit16

Sanskrit verwandt ist, und veröffentlichte 1782 die erste Gram-matik.

Der Durchbruch zu einer von der Minderheit selbst verwen-deten Schriftsprache erfolgte in der frühen Sowjetunion, woRomanes 1927 als eine der Nationalsprachen anerkannt wurde.Roma-Aktivisten und russische Linguisten erarbeiteten Lehr-material für Schulen und übersetzten politische und literarischeTexte, darunter auch Gedichte von Alexander Puschkin. Diesekurze Blüte wurde durch den Kurswechsel in der Nationali-tätenpolitik 1938 beendet. Erst in den 1970er-Jahren setztenRoma-Intellektuelle in mehreren Ländern, vor allem in Eng-land, den USA und Jugoslawien, linguistische Forschungen undBemühungen um eine Standardisierung der Sprache sowie dieErstellung von Grammatiken fort.

Sprachenvielfalt Die Entwicklung des Romanes wird anhandvon Vergleichen mit dem Sanskrit sowie mit den Sprachen derLänder, die auf dem Migrationsweg nach Europa lagen, vondem Linguisten Yaron Matras in drei Epochen unterteilt. DasUr-Romanes entstand vermutlich zu Beginn des ersten Jahrtau-sends in Zentralindien. Ab dem 8. oder 9. Jahrhundert gab esKontakte mit iranischen Sprachen, dem Armenischen und mög-licherweise kaukasischen Sprachen. Um das 10. und 11. Jahr-hundert herum entwickelte sich im Kontakt mit dem Griechi-schen das Früh-Romanes, das als Grundlage für die späterausdifferenzierten Dialekte gilt. Spätestens seit dem 14. Jahr-hundert wurde diese Sprachengemeinschaft durch Auswande-rungen aus dem südlichen Balkangebiet nach Norden und Wes-ten diversifiziert, und es entstanden die vielfältigen europäischenDialekte.

Anhand dieser Dialekte wurde festgestellt, dass ab der zwei-ten Hälfte des 16. Jahrhunderts sprachliche Merkmale entstan-den, die für bestimmte Regionen Europas typisch sind und diedarauf schließen lassen, dass sich Roma dort zu dieser Zeit dau-erhaft angesiedelt hatten. Davon ausgehend werden mehreregroße Sprachräume unterschieden: die Balkan-Dialekte; dieVlax-Dialekte des rumänischsprachigen Gebietes; die zentralen

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Sprache 17

Dialekte im historischen Gebiet Österreich-Ungarns; die Dia-lekte im Nordosten (polnische, baltische und nordrussische);die Dialekte im Nordwesten mit den Sinti-Dialekten in Deutsch-land und angrenzenden Gebieten sowie den Dialekten Skandi-naviens, die nur noch in Finnland erhalten sind. Als bereitsausgestorben gelten die englischen und walisischen sowie dieiberischen Dialekte.

Romanes-Dialekte sind heute nicht mehr nur geografisch zuverorten. Zum Beispiel ist der Vlax-Dialekt weltweit am weites-ten verbreitet. Er wird zwar vor allem in Südosteuropa, insbe-sondere in Bosnien-Herzegowina und Rumänien, gesprochen,gelangte aber durch Auswandernde aus diesen Regionen seitdem 19. Jahrhundert in viele Länder der Erde.

Romanes-Sprechende sind immer mehrsprachig, denn nebenihrer Familiensprache erlernen sie als Zweitsprache die Natio-nalsprache des Heimatlandes. Je nach Bildungsgrad kommenweitere Sprachen hinzu. Trotz dieser Sprachkompetenz müssenviele Roma immer wieder erleben, dass sie für Analphabetengehalten werden – ein althergebrachtes Klischee, das aus derNichtschriftlichkeit des Romanes abgeleitet wird.

Sprachenerhalt Wie viele Roma in Europa Romanes spre-chen, ist nicht bekannt. Geschätzt wird, dass dies ein Drittelbis Dreiviertel aller Roma sind. Der Verlust der Sprache ist aufverschiedene Ursachen zurückzuführen. In manchen Ländernwar es unter Strafandrohung verboten, sie zu verwenden, sodass im Laufe der Generationen das Romanes gänzlich verlo-ren gegangen ist. In anderen Fällen, wie bei den zwangsassimi-lierten Kalé, sind so viele Wortbestände aus der spanischenUmgebungssprache eingegangen, dass sich eine neue Sprache,das Kaló, mit nur noch wenigen Romanes-Wörtern entwickelthat. Im 20. Jahrhundert verursachte auch der NS-Völkermordeinen starken Einbruch: Da überproportional viele Ältere er-mordet wurden, fehlten zentrale Sprachträger für eine nachhal-tige Tradierung. Hinzu kommt, dass die Romanes-Sprechendenin allen Sozialkontakten außerhalb der Familie ihre Zweitspra-che verwenden, so dass die Schriftsprache des Heimatlandes

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1. Mehrheit und Minderheit18

die Familiensprache dominiert und zurückdrängt. Romanesteilt damit das Schicksal aller «kleinen» Sprachen, die ohneeine bewusste Förderung durch Dominanzsprachen verdrängtwerden.

Seit Jahrzehnten engagieren sich daher Bürgerrechtsbewegun-gen für eine Anerkennung des Romanes als Minderheitenspra-che. In Deutschland, Finnland, der Makedonischen Republik,den Niederlanden, Österreich und Schweden beispielsweise istRomanes bereits als solche anerkannt. Eine Renaissance erlebtRomanes derzeit durch das Internet, wo sich in vielen ForenRoma in ihrer Sprache verständigen. Eine der wichtigsten Ro-manes-Datenbanken, RomLex, wurde an der Universität Grazaufgebaut und enthält einen großen Wortschatz verschiedenerDialekte.

Das Fehlen von Schriftlichkeit bis zum Beginn des 20. Jahr-hunderts hat nicht nur zum Verlust der Sprache beigetragen,sondern erschwert es auch, die Geschichte der Minderheit zurekonstruieren. Mündlich erzählte Geschichte kann lediglichinnerhalb eines begrenzten Kreises tradiert werden, reicht nurüber wenige Generationen hinweg und geht verloren, sobalddie Generationenkette unterbrochen wird. Der familiäre Zu-sammenhalt und der regelmäßige Austausch mit anderen Ange-hörigen der Minderheit, zum Beispiel auf großen Festen, sinddaher elementare Strategien, um Wissen zu erhalten.

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_________________________________________ Mehr Informationen zu diesem und vielen weiteren Büchern aus dem Verlag C.H.Beck finden Sie unter: www.chbeck.de