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Stuttgarter Landtag
13. Oktober 2009
Widerstand und Hoffnung
Zum Sinn der „Fünf Kreuze“ auf dem Signet des Volks bunds im
Licht von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“
Karl-Josef Kuschel
Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel lehrt Theologie der Kultur und der interreligiösen Dialogs an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Zugleich ist er Vizeprä-sident der Stiftung Weltethos
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Neunzig Jahre Volksbund. Eine Respekt erheischende Geschichte allein
von den Zahlen her. Gegenwärtig sind es mehr als 800 Kriegsgräberstät-
ten, die in 45 Ländern betreut werden. Auf ihnen liegen mehr als 2 Milli-
onen deutscher Kriegstoter. Seit mehr als fünf Jahrzehnten werden nati-
onale und internationale Jugendlager durchgeführt zur Arbeit am Frieden
über den Gräbern. Was in einer Grundsatzrede all dem noch hinzufügen,
was bei vielen Anlässen schon gesagt und von Historikern, Politikern,
Kirchenvertretern, Schriftstellern vielfach gut gesagt wurde: zum Verhält-
nis von Vergangenheitserinnerung und Zukunftsorientierung; zu Ursa-
chen und Folgen von Kriegen; zum Umgang mit Toten und Totenfeiern,
zu Bedingungen von Friedensarbeit und Friedenserziehung gerade mit
Blick auf die Nachgeborenen; zum Auftrag zur Versöhnung zwischen
den einst verfeindeten Völkern über den Massengräbern? Was dem
noch hinzufügen?
Vor dieser Frage stand ich, als man die Bitte an mich herantrug, zu Be-
ginn dieser Erinnerungsstunde einige grundsätzliche Ausführungen zu
machen. Ich entschloss mich, zu dem zu stehen, was ich bin: ein Theo-
loge und Literaturwissenschaftler und von dieser Herkunft her meinen
eigenen Beitrag einzubringen. Als Theologe fiel mir seit jeher das Signet
des Volksbunds in die Augen. „Fünf Kreuze“. Sie fordern mich heraus,
über Genese und Sinn nachzudenken. Als Literaturwissenschaftler ha-
ben mich wenige Romane der deutschen Literatur des 20.J. so beein-
druckt wie der von Anna Seghers „Das Siebte Kreuz“. Das Kreuzsymbol
im Roman einer marxistischen Autorin jüdischer Provenienz? Warum
wählt gerade sie dieses Zeichen? Mir ging auf, dass ich aus Anlass die-
ser Erinnerungsstunde beide Stränge miteinander verknüpfen könnte,
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um so etwas Eigenes in den Diskurs über Erinnerung und Frieden ein-
zubringen.
Zunächst ist die Mitteilung einer Erfahrung am Platz. Die empirische Be-
obachtung ist unabweisbar, dass unser Land wie nie zuvor in seiner
Geschichte weltanschauliche Pluralisierungsschübe durchgemacht hat.
Das ist keine flüchtige Modeerscheinung, sondern Ergebnis eines lang-
fristigen inneren Differenzierungsprozesses, der Generationen zurück-
reicht. Weltanschaulich gesehen, haben wir es gegenwärtig mit einem
doppelten Pluralisierungsschub zu tun. Zum einen mit einem Nebenein-
ander religiös-kirchlich gebundener und säkular-humanistisch geprägter
Lebensformen. Zum anderen mit einem inneren Differenzierungspro-
zess im Raum des Religiösen selbst.
So erleben wir seit den 80er Jahren ein wieder erstarktes Judentum
nach der Schoa in Deutschland. Heute geht man von ca. 100.000 Mit-
gliedern in mehr als 80 jüdischen Gemeinden aus, die sich ihrerseits
nach innen zu differenzieren begonnen haben: in ein orthodoxes, kon-
servatives, liberales Judentum, womit Deutschland nur einen Prozess
nachholt, der das Judentum in anderen westlichen Gesellschaften seit
langem prägt. Der Islam umfasst nominell gegenwärtig rund 3,2 Mio.
Menschen in unserem Land. Geschichtlich ist dies beispiellos. Noch nie
hat es in Deutschland eine religiöse Minderheit dieser Größenordnung
gegeben, und noch nie war diese Religion der Islam. Das stellt unsere
Gesellschaft vor nie gekannte Herausforderungen. Geschichtliche Erfah-
rungen gibt es dafür nicht. Sie reichen von vielfachen Integrations- und
Dialogbemühungen bis hin zu sozialen und ideologischen Konflikten in
den Ballungszentren unserer Städte.
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Dass das „Christliche“, „Kirchliche“ sich angesichts dieser Pluralisie-
rungsschübe herausgefordert sieht, ist als Folge dieser Prozesse nur
konsequent. Man mag das bedauern oder nicht, unleugbar ist die Tatsa-
che, dass die christlichen Kirchen ihre geschichtlich über Jahrhunderte
gewachsene doppelte Monopolstellung verloren haben. Sie besitzen
zum einen kein Monopol mehr auf die kulturell-religiöse Prägung der ge-
samten Gesellschaft; nur eine Minderheit identifiziert sich noch aktiv mit
den Angeboten der Kirchen. Und sie haben zum zweiten kein Monopol
mehr auf die Deutung des Religiösen. Folglich genießen christliche
Symbole im öffentlichen Raum keine selbstverständliche Akzeptanz
mehr, stehen vielmehr zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Der
Streit um Kreuze in bayerischen Klassenzimmern war ein erstes Wetter-
leuchten.
Wer diese Entwicklung nicht nur kulturpessimistisch bejammert oder
trotzig verdrängt, sieht sich wie ich als christlicher Theologe zu einer
Neubegründung herausgefordert. Die Frage lautet unnachsichtig: Wel-
chen Sinn haben christliche Symbole im öffentlichen Raum einer Gesell-
schaft wie der unsrigen, in denen das Christliche keine Monopolstellung
mehr hat? Überzeugen wird hier nur Argumentieren, nicht Moralisieren.
Eine trotzige Beschwörung des „christlichen Abendlandes“ muss ange-
sichts der neuen gesamtgesellschaftlichen Situation hohl klingen. Geistig
muss die Auseinandersetzung gesucht werden, wer als Christ nicht im
kulturellen und gesellschaftlichen Ghetto landen will.
Immer wieder ist mir das Signet des Volksbunds Deutscher Kriegsgrä-
berfürsorge ein Anstoß zum Nachdenken gewesen. Fünf weiße Kreuze:
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ein unverwechselbares Zeichen. Man könnte den Volksbund für eine
kirchliche Organisation halten, wüsste man nicht genau, dass er explizit
ein nichtreligiöser Verband ist, weder von Parteien noch von Kirchen ab-
hängig. Schon im ersten Aufruf bei der Gründung des Volksbunds im
September 1919 hatte es im Pathos der damaligen Zeit geheißen:
„Der Volksbund erwartet, dass alle Volksgenossen, ohne Unter-schiede des Bekenntnisses und der Partei, sich zusammenschlie-ßen und einig dahin streben, dass die vaterländischen und ethi-schen Ziele erreicht werden.“
In der Präambel einer späteren Satzung liest man entsprechend:
„Grundlage der Arbeit des Volksbundes ist die Achtung vor der Würde des Menschen. Achtung vor den Menschen bedeutet – ausgehend von den Erfah-rungen aus Krieg und Gewaltherrschaft – das Bekenntnis zu unver-letzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Fundament des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Achtung vor den Menschen reicht über den Tod hinaus.“
„Ohne Unterschiede des Bekenntnisses und der Partei“, „Bekenntnis zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“: von Religion,
gar christlichem Bekenntnis, kann in der Tat beim Selbstverständnis des
Volksbundes keine Rede sein. Warum aber dann fünf Kreuze auf dem
Signet? Wie rechtfertigt sich das angesichts des humanitären und ethi-
schen Selbstverständnisses dieser Organisation? Die Frage ließ mich
nicht los, ließ mich auf Spurensuche gehen: Wie kam es überhaupt zur
Wahl dieses Signets? Was ist seine Geschichte, sein von Anfang an in-
tendierter Sinn?
Sieben Jahre ist der Volksbund alt, als das heutige Signet eingeführt
wird: 1926. Es ist ein wichtiges Jahr. Große Hoffnungen auf endgültigen
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Völkerfrieden in Europa sind mit ihm verbunden. Der französische Präsi-
dent Aristide Briand und der deutsche Außenminister Gustav Strese-
mann erhalten für ihr französisch-deutsches Verständigungswerk den
Friedens-Nobelpreis. Deutschland und die Sowjetunion schließen einen
Freundschafts- und Neutralitätsvertrag. Deutschland wird in den Völker-
bund aufgenommen und erhält einen ständigen Ratssitz.
Der Volksbund umfasst in diesem Jahr immerhin schon mehr als 80.000
Mitglieder. Bis zum Jahresende 1926 hat er 133 Friedhöfe in 14 Ländern
instand gesetzt. Für 200 Friedhöfe bestehen Partnerschaften. Ein „Volks-
trauertag“ wird eingeführt und in Absprache mit den Religionsgemein-
schaften auf den 5. Sonntag vor Ostern gelegt. Dieser Erfolg erklärt die
Notwendigkeit einer stärkeren und wirksameren öffentlichen Präsentie-
rung durch ein identifikatorisches Zeichen, zum Zwecke der Plakatierung
beispielsweise. Ein „Logo“ wird gesucht. Aus Kostengründen wird ein
deutschlandweiter künstlerischer Wettbewerb ausgeschlossen, wohl a-
ber werden von fünf namhaften Künstlern Entwürfe eingekauft. Nur der
Landesverband Baden plädiert für die Annahme eines schon vorhande-
nen und von ihm schon öffentlich benutzen Entwurfs (Abb. 1). Zu sehen
ist auf wappenartigem Feld ein kleiner Grabhügel, über dem sich ein
das ganze Feld ausfüllendes schwarzes Kreuz erhebt, geschmückt von
Balken zu Balken mit einem Trauertuch, umgeben von einer Trauerwei-
de mit einem Vöglein im Gezweig. Auf dem Kreuz ein Stahlhelm. Dann
eine Inschrift über dem Feld, bogenartig alles umspannend. Sie lautet:
„Vergiss die treuen Toten nicht!“ Offensichtlich ein Zitat, denn die Quelle
ist noch angegeben. Es ist nicht zufällig Theodor Körner, der Dichter der
preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon schlechthin, der 1813 im
Kampf gefallen war. ´Vorher hatte er in Heldengedichten („Lützows wilde
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verwegene Jagd“) den Opfertod fürs Vaterland derart verklärt, dass sei-
ne posthum veröffentlichte Sammlung „Leyer und Schwerdt“ (Berlin
1814) zu einem gewaltigen Publikumserfolg wird.
Im Mai 1926 stehen das badische Signet und ein Entwurf des Berliner
Künstlers Professor Ernst Böhm zur Wahl. Die Verantwortlichen ent-
scheiden sich gegen das „badische Zeichen“, wie es im Protokoll der
entsprechenden Sitzung heißt und für den Böhmschen Entwurf (Abb. 3).
Der Grund? Er drücke „am schlichtesten und einfachsten“ das aus, was
der Volksbund sei und wolle. Er habe eine „starke, feierliche Wirkung“,
gerade recht für ein Plakat, das weithin wahrgenommen werden müsse.
Die Alternative war damit klar: Hier – so wörtlich im Protokoll – „das ba-
dische Zeichen, eine etwas lyrische Ausführung, ein großes Eingehen
auf die Details, auf das einzelne Grab, auf die schmückende Trauerwei-
de, das Vögelein, das auf der Weide sitzt, die Begrenzung der Grabzei-
chens usw.“ – dort, bei Böhm, „das einfache, schlichte Zeichen unter
Verwendung des Vier-Grenadier-Grabes“.
In der Tat hatte sich Böhm, geboren 1890 in Berlin, damals ein bekann-
ter deutscher Gebrauchsgrafiker und Maler, Professor an den Vereinig-
ten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin-
Charlottenburg, an einem Vorbild orientiert: dem so genannten „Vier-
Grenadier-Grab“ aus Grabowiec in Polen (Abb. 2) Es steht auf einem
Soldatenfriedhof, auf dem deutsche und russische Gefallene des Ersten
Weltkriegs bestattet sind. Es verfügt bereits über ein in der Mittelachse
hoch aufragendes schlankes Kreuz, umstellt von sechs anderen, kleine-
ren Kreuzen.
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War es aber damals in Kreisen des Volksbunds unproblematisch, so ex-
klusiv auf ein christliches Symbol zu setzen? Keineswegs. Das Protokoll
enthält eine aus heutiger Sicht besonders aufschlussreiche Intervention.
Der Vorstand des Bezirksverbandes Nassau lässt wissen, er bedauere
„außerordentlich“, dass beim Böhmschen Entwurf nicht berücksichtigt
sei, „dass wir“ – so wörtlich – „auch israelische Gefallene draußen liegen
haben“. Innerhalb dieses Entwurfs sei deren „Andenken nicht genügend
zum Ausdruck gebracht worden“. In der Tat kommt diese Intervention
nicht von ungefähr. 12.000 jüdische Soldaten sind im 1. Weltkrieg für das
Deutsche Reich gestorben. Zwischen den Weltkriegen leben rund eine
halbe Million jüdische Bürger in Deutschland. Im Wissen um das prekäre
Verhältnis von Juden und Christen gilt es von daher, sensibel mit dem
Kreuz-Zeichen umgehen, das für Juden in der Vergangenheit oft mehr
ein Ausdruck gnadenloser Ausgrenzung und Machtdemonstration als ein
Zeichen von Menschlichkeit und Barmherzigkeit war. Kein heiliges, ein
„unheiliges“ Zeichen! In der entscheidenden Sitzung des Volksbunds
nimmt man den Einwand zur Kenntnis, räumt „eine gewisse Belastung“
ein, glaubt aber, da es sich um deutsche Gräber handle, dass „dieses
Signet nicht in irgendeiner Weise verletzend auf die religiösen Gefühle
unserer andersgläubigen Brüder im deutschen Volke wirken“ müsse.
In der Tat lässt das Böhmsche Signet, 1979 grafisch noch einmal über-
arbeitet und so in die heutige Gestalt gebracht (Abb. 4), in seiner symbo-
lischen Elementarität die nötige Sensibilität durchaus erkennen. Es ist
bei allem bewussten Anschluss an das christliche Ursymbol religiös un-
aufdringlich und so kirchlich gerade nicht exklusiv. Schon in der Formen-
sprache ist es von hoher Sachlichkeit, im Vergleich etwa mit dem „badi-
schen Zeichen“ und der hier sichtbaren Mischung aus Totenkult und
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Kitsch. Welch ein Einfall denn auch: ein Vögelein im Geäst und ein
Strahlhelm auf dem Kreuz!
Die Kreuze auf dem Böhmschen Entwurf dagegen geben der Bildfläche
eine strenge Struktur. Der Schwarz-Weiß-Kontrast verweist symbolisch
auf die Dualität von Tod und Leben. Florales, Ornamentales und Tier-
symbolisches ist bewusst vermieden. Kein Schriftband drängt eine ideo-
logische Deutung auf. Strenge der Form herrscht, dem Ernst des Anlie-
gens angemessen. Ein Ernst, der auch auf dem heutigen Signet noch
sichtbar ist, das in überzeugender Weise die Kreuzgruppe verdichtet und
zugleich den Raum darüber öffnet und so symbolisch zusammen mit der
dezenten Farblichkeit mehr die Offenheit für die Zukunft betont.
Das Besondere aber an diesem Signet ist nach wie vor die Präsenz von
fünf Kreuzen. Böhm hatte damit ein Dreifaches erreicht. Zum einen ent-
steht graphisch eine innere Proportionalität auf der Fläche: ein in die Mit-
telachse gesetztes großes Kreuz überragt zwei Kreuze zur Rechten wie
zur Linken, wobei noch einmal zwei Kreuze daruntergesetzt sind. Durch
die sich verkleinernden Formen entsteht bei aller Flächigkeit fast so et-
was wie eine Raumtiefe, die durch das Schwarz noch verstärkt wird.
Zum zweiten wird durch die Hinzufügung von weiteren Kreuzen zu einer
Kreuz-Gruppe jeder Eindruck einer christlichen Exklusivität relativiert. Er
wäre unweigerlich entstanden, stünde ein Kreuz allein in der Mittelachse.
Zum dritten verweist die Serie von Fünf als optisches Zitat auf eine Viel-
zahl von Gräbern und somit auf die „Serialität“ des Todes. Schon optisch
ernst damit gemacht mit der Tatsache: Wenn es um Kriegsgräber geht,
geht es um Massen von Menschen, um eine schier endlose Reihe von
Kreuzen, Toten, Gefallenen.
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Zugleich aber macht sich Böhm bei aller Universalität der Aussage die
spezifisch christliche Dimension des Kreuz-Zeichens zunutze, aber als
christentums-und europakritisches Signal. Wer zum Totengedenken ein
Kreuz wählt, weist über die eigene Nation hinaus. Auch in anderen Län-
dern Europas liegen Menschen unter Kreuzen, von Frankreich, Belgien
und Holland bis nach Polen und Russland, überall dort, wo die Selbstzer-
fleischung der „christlichen“ Nationen Millionen von Menschenleben kos-
tete. 2000 Jahre Christentum in Europa haben über 10 Millionen Tote im
Ersten und über 50 Millionen im Zweiten Weltkrieg nicht verhindert. Un-
ter den Toten des 1. Weltkriegs ein einfacher Fleischer aus Schlesien,
tausend Kilometer von seiner Heimat entfernt irgendwo an der Westfront,
an der Somme, in einem Massengrab anonym verscharrt: mein Großva-
ter väterlicherseits. Wer heute „das Christentum“ als Fundament einer
europäischen Werteordnung ins Spiel bringt, kann das nur glaubwürdig
tun, wenn man zugleich die Schuldgeschichte des europäischen Chris-
tentums mitthematisiert.
Das Signet des Volksbunds erinnert ein für allemal an dieses Versagen
und diese Verantwortung des europäischen Christentums. Schon des-
halb ist es unverzichtbar und unersetzbar. Jedes Kreuz auf dem Grab
eines Kriegstoten ist ein Widerruf der Bergpredigt. Und nur wer das
Kreuz in diesem Sinn als Brandzeichen begriffen hat, darf es auch als
Heilszeichen entdecken: als Zeichen der Verpflichtung zur Arbeit am
Frieden. Si vis pacem, para bellum, lautete schon zu Römerzeiten die
Devise der Kriegs-Strategen. Wenn Du den Frieden willst, bereite den
Krieg vor. Im Zeichen des Kreuzes muss es heute –angesichts atomarer
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Massenvernichtungs-Potentiale – heißen: Wenn Du den Frieden willst,
arbeite für den Frieden.
Es hatte also seinen guten Sinn, wenn der Volksbund deutscher Kriegs-
gräberfürsorge mit diesem universalen und zugleich konkreten Signet in
die Öffentlichkeit trat. Der Bewährungstest folgt denn auch nur wenige
Jahre später. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird im
Februar 1934 der Volkstrauertag abgeschafft und durch einen „Helden-
gedenktag“ ersetzt, dessen Durchführung nur wenig später der Wehr-
macht und der NSDAP übertragen wird. Trauer um die Gefallenen? Völ-
ker- Verständigung über den Gräbern? Das alles wird jetzt als „überhol-
te pazifistische Ideen“ verhöhnt. Die Feiern sollen Heldentum, Opferbe-
reitschaft und Kampfesmut verklären und im deutschen Volk verstärken
helfen. Haus- und Straßensammlungen werden dem Volksbund unter-
sagt. Das Signet gerät gerade wegen seines christlichen Inhalts von den
Machthabern unter Kritik.
Kreuz-Zeichen können denn auch gefährlich sein. Seit den Zeiten des
Urchristentums erinnern sie die Machthaber dieser Welt penetrant an
das Schicksal Unschuldiger und an einen Friedensauftrag, der das eige-
ne Volk übersteigt. Sie entlarven Versuche, Kriegstote als heroische Op-
fer auf dem „Altar des Vaterlands“. zu verklären. Als sei -Jesus Christus
nicht ein für allemal gestorben, so dass es weiterer „Opfer“ nicht mehr
bedarf. Genau dazu aber will der neue rassistische und nationalistische
Größenwahn die Kriegstoten des 1. Weltkriegs umfälschen, um dann
umso ruchloser neue Generationen für ein Deutschland nach Hitlers Mo-
dell in den Tod zu schicken. „Vaterland“ als Gottersatz, als Götze, als
Moloch, dem man Hekatomben von Leichen vorwerfen kann. Schlimmer
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kann der christliche Opfergedanke nicht missbraucht werden. Zwar wird
das Signet des Volksbunds nicht völlig abgeschafft, aber ein Foto vom
ersten „Heldengedenktag“ 1934 zeigt, wie man es zu domestizieren
sucht (Abb. 5). Hinter den fünf Kreuzen erscheint ein maskenhaft erstarr-
tes männliches Gesicht mit einem Stahlhelm auf dem Kopf. Riesig groß,
so dass das hoch aufragende lange Kreuz ganz und gar überschattet
wird. Ein unheimliches, schauerliches Bild: hinter dem Kreuz das erstarr-
te Gesicht mit schmallippigem Mund, der eisernen Willen und todesver-
achtenden Trotz signalisieren soll.
Ein weiteres Foto zeigt das Signet während der Reichstagung des
Volksbundes 1938 in Breslau (Abb. 6). Jetzt ist es flankiert von zwei rie-
sigen Bannern mit Hakenkreuzsymbolen. Es ist das gleiche Jahr, in dem
am 9. November im ganzen Reich von der NSDAP organisierte Pogrome
gegen die noch im Lande verbliebenen jüdischen Bürger veranstaltet
werden. „Reichskristallnacht“ hat man verharmlosend genannt, was in
Wirklichkeit eine Reichspogromnacht ist. Welche Art von Kreuz jetzt in
Deutschland herrscht, soll jedem in die Augen springen. Und dieses
Kreuz wird einmal mehr zum Todeszeichen für ungezählte jüdischen
Mitbürger, die man in KZs verschleppt und vernichtet. Schon früh hatten
denn auch die Machthaber des Dritten Reiches die Behandlung von
Gräbern jüdischer Gefallener aus dem Ersten Weltkrieg verboten. Wäh-
rend der Besatzungszeit in Frankreich werden die entsprechenden
Grabsteine entfernt. Auf den Kriegerdenkmälern werden die Namen jüdi-
scher Kriegstoter ausgemerzt. Wir erinnern uns: 12.000 Soldaten jüdi-
scher Herkunft waren im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen!
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Doch das Signet hält stand. Die fünf Kreuze hat man durch und mit Ha-
kenkreuzen zu verzerren versucht, gebrochen hat man sie nicht. Sie
bleiben – richtig verstanden – Zeichen des Widerspruchs der Unter-
drückten gegen ihre Unterdrücker und ein Zeichen der Hoffnung, dass
die Planer und Fabrikanten des Todes nicht das letzte Wort behalten.
Wie sehr Kreuze all dies bedeuten können, zeigt gerade einer der wich-
tigsten Romane der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, geschrie-
ben von einer Autorin jüdischer Herkunft und marxistischer Überzeu-
gung: Anna Seghers. 1941 veröffentlicht sie, die vor den Nazis erst nach
Paris, dann nach Mexiko fliehen muss, ihren epochalen Roman „Das
siebte Kreuz“. An ihm lässt sich zeigen, wie gerade durch eine nicht-
christliche Autorin der Sinn des Kreuzes bleibend gedeutet werden kann,
so dass es auch für Nichtchristen ein unverwechselbares und unver-
zichtbares Zeichen sein kann. Der Roman ist gewidmet „den toten und
lebenden Antifaschisten Deutschlands“? Worum geht es?
Sieben Häftlinge fliehen aus einem Nazi-KZ namens Westhofen, sechs
werden wieder eingefangen und an „Kreuze“ auf dem Appellhof des KZ
gehängt; einer kommt durch: der Kommunist Georg Heisler. Sein Kreuz,
das siebte, bleibt leer. Das ist die Ausgangslage für diesen Roman, und
genau das ist der entscheidende literarische Kunstgriff, mit dessen Hilfe
Anna Seghers ein Kaleidoskop deutscher Wirklichkeit zu zeigen vermag.
Ein Kommunist – gejagt und verfolgt von SS-Schergen – sieben Tage
auf der Flucht durch ein Stück Deutschland, das man unschwer als die
rheinhessische Heimat der Autorin, in Mainz geboren, wiedererkennen
kann.
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Anna Seghers schreibt einen Roman des Widerstands. Dieser Wider-
stand aber wird nicht verklärt, sondern eher scheu, zurückhaltend, indi-
rekt dargestellt. Nicht die großen politischen Aktionen werden beschrie-
ben, nicht Fluchthelfertaten von heroischen Menschen. Literarisch Ges-
talt gewinnen die Kleinen, die Stillen im Lande, die einfachen Menschen,
die von Politik nicht viel verstehen und die Zusammenhänge oft nicht
durchschauen, die aber aus einem elementaren Gefühl der Menschlich-
keit heraus dem Flüchtling ihre Hilfe nicht verweigern.
Die Pointe dieses Buches besteht darin: Sechs Häftlinge werden wieder
eingefangen und tot oder lebendig an die „Kreuze“ gebunden – sichtba-
rer Triumph der faschistischen Macht. Ein Kreuz aber bleibt leer. Und es
ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, von dem nun die Hoffnung für
die Lagerinsassen und die Bedrohung für die Lagerwächter ausgeht. Es
ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, das für die noch verbliebenen
Häftlinge zum Zeichen dafür wird, dass die totale Macht des Terrors zu
brechen ist. Es ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, das den Opfern
blitzartig zeigt: Die Macht der zynischen Gewaltherrscher ist besiegbar.
„Ein kleiner Triumph, gewiss, gemessen an unserer Ohnmacht, an unse-
ren Sträflingskleidern“, so lässt die Autorin einen der Häftlinge meditie-
ren:
„Und doch ein Triumph, der einem die eigene Kraft plötzlich fühlen ließ nach wer weiß wie langer Zeit, jene Kraft, die lang genug taxiert worden war, sogar von uns selbst, als sei sie bloß eine der vielen gewöhnlichen Kräfte der Erde, die man nach Maßen und Zahlen ab-taxiert, wo sie doch die einzige Kraft ist, die plötzlich ins Maßlose wachsen kann, ins Unberechenbare.“
Es ist diese „Kraft“, diese ins Maßlose und Unberechenbare wachsende
Kraft der Menschen, der dieser Roman Respekt bezeugen will. Das leer
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gebliebene siebte Kreuz ist dafür das Ursymbol. Konsequent daher die
Schlussszene des Romans, als der in der Häftlingskrise so schändlich
versagende KZ-Kommandant von einem neuen abgelöst wird. Unverzüg-
lich lässt dieser die sieben Kreuze abschlagen und als Kleinholz
verbrennen. Doch die Häftlinge, gepresste Zeugen dieser Verbrennung,
fühlen sich dabei „dem Leben näher als jemals später“:
„Doch an dem Abend, als man zum ersten Mal die Häftlingsbara-cken einheizte und das Kleinholz verbrannt war, das, wie wir glaub-ten, von den sieben Bäumen kam, fühlten wir uns dem Leben näher als jemals später und auch viel näher als alle anderen, die sich le-bendig vorkommen … Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äu-ßeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein In-nerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“
Darum also geht es in Anna Seghers’ Roman vom „Siebten Kreuz“: den
Menschen daran zu erinnern, dass in seinem Innersten etwas verborgen
ist, das unangreifbar und unverletzbar ist; das weder von den faschisti-
schen Machthabern noch von irgendwelchen menschenverachtenden
Potentaten dieser Welt je ganz ergriffen und völlig zerstört werden kann.
Anna Seghers hat für diesen ihren Glauben nicht zufällig das christliche
Ursymbol ins Spiel gebracht, zweifellos auch mit dem Kalkül, als marxis-
tische Autorin jüdischer Provenienz auf eine größere, umfassendere
Tradition von Menschlichkeit zu verweisen und für den Widerstands-
kampf fruchtbar machen. Und dies durchaus mit Recht. Denn auch für
Christen ist das Kreuz nicht ein Zeichen von Passivität und Ohnmacht.
Es ist – im Lichte der Auferweckung des Gekreuzigten – ein Zeichen des
Sieges Gottes über die Mächte des Unheils. Erlösung aus dem Teufels-
kreis von Sünde und Schuld , Gewalt und Tod: das ist zu-gesagt. Ohne
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den Schrei des Gekreuzigten zu Gott zu verharmlosen oder gar zu ver-
drängen, darf das Kreuz Christi somit verstanden werden Siegeszeichen
Gottes wider die Produzenten und Vollstrecker des Todes. „Tod – wo ist
dein Stachel, Tod – wo ist dein Sieg?“ – so kann der Völkerapostel Pau-
lus ausrufen, als er das Kreuz Christi im Lichte der Auferweckung des
Gekreuzigten in einem seiner Briefe zu deuten versucht. Anders gesagt:
das Kreuz ist nicht das Triumpfzeichen der Henker, sondern das Hoff-
nungs-Zeichen der Opfer, denen durch Gott Gerechtigkeit wiederfährt.
Unter diesem Signet stellt sich der Volksbund also zu Recht seine Arbeit
unter das Leitwort: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frie-
den“. Gewiss: Auch andere Zeichen könnten diesen Auftrag symbolisie-
ren, zu ersetzen aber ist das Kreuz nicht. Es steht in Europa wie kein
anderes Zeichen für geschichtliche Kontinuität in Zeit und Raum und
zugleich für Selbstverpflichtung zur Arbeit an mehr Menschlichkeit im
Geist der Bergpredigt.
Unter dem Kreuz-Signet verpflichtet sich gerade der Volksbund ganz
entschieden seit vielen Jahren nicht allein vergangenheitsfixiert auf Erin-
nerungs-, sondern zukunftsorientiert auf völkerversöhnende Friedensar-
beit, auf Friedenserziehung. Man hat begriffen, wer in Zukunft Massen-
gräber verhindern will, beziehe die jungen Generationen mit ein. Hier ist
Eindrucksvolles geschehen: Mehr als 200.000 Jugendliche haben bisher
auf den Grabstätten im Ausland gearbeitet – von Frankreich, Belgien und
Holland angefangen bis nach Polen und Russland. „Wer an Europa
zweifelt, verzweifelt, suche die Soldatengräber auf“, wird der Luxembur-
ger Regierungschef und große Europäer Claude Juncker zitiert. Ich er-
laube mir, dieses Wort abzuwandeln: Wer am Christentum zweifelt, ver-
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zweifelt, schaue paradigmatisch auf die Jugend-und Schularbeit des
Volksbundes und fördere sie.
Im Berliner Manifest des Volksbunds, 1969 beschlossen und bis heute
gültig, steht das, was junge Menschen lernen sollten:
„Erkennen, dass Menschen verschiedener Völker, Kulturen, Religi-onen und Generationen nur dann in Frieden miteinander leben können, wenn sie Verständnis füreinander aufbringen“
Diese Erkenntnis gerade durch Arbeit in den Schulen zu verbreiten, ist
auch Aufgabe der Tübinger Stiftung Weltethos, der ich mich zusammen
mit Hans Küng verpflichtet fühle. “Kein Frieden unter den Nationen ohne
Frieden zwischen den Religionen“. „Kein Frieden unter den Religionen
ohne einen Grundbestand gemeinsamer Werte, getragen von Menschen
mit und ohne Religion, getragen von Menschen verschiedener Religio-
nen“: das sind Leitsätze unserer Arbeit, die mit denen des Volksbunds
unschwer übereinstimmen. Leitsätze vor allem, die in der gesellschaftli-
chen Lage, in der unser Land sich befindet, von friedensethischer Be-
deutung sind.
Der Volksbund kann auf 90 Jahre Bestehen zurückblicken. Seine Aufga-
ben sind nicht erledigt. Im Gegenteil: Deutschland ist mit der Bundes-
wehr außerhalb Europas in neue militärische Auseinandersetzungen
verwickelt – in völlig veränderter weltpolitischer Lage an der Seite ande-
rer europäischer Nationen und ausgestattet mit einem UN-Mandat. Dut-
zende von Opfern sind zu bereits zu beklagen. Wenn die Zeichen nicht
trügen, werden weitere Opfer hinzukommen. Es ist hohe Zeit, dass wir in
unserem Land eine moralische und politische Debatte über diese neuen
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Herausforderungen führen. Welche Opferzahlen ist die deutsche Bevöl-
kerung bereit mitzutragen? Sagen die politisch Verantwortlichen unse-
rem Volk die Wahrheit? Auf was müssen wir uns einstellen?
Ich wünsche den Verantwortlichen des Volksbunds, dass es ihnen ge-
lingt, immer wieder Menschen für die so dringend nötige Arbeit am Frie-
den zu gewinnen: im Interesse der Verständigung der Völker, der Religi-
onen und Generationen. Betrachten Sie meinen heutigen Vortrag als
Zeichen des Respekts und der Ermutigung.