24
Stuttgarter Landtag 13. Oktober 2009 Widerstand und Hoffnung Zum Sinn der „Fünf Kreuze“ auf dem Signet des Volksbunds im Licht von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ Karl-Josef Kuschel Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel lehrt Theologie der Kultur und der interreligiösen Dialogs an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Zugleich ist er Vizeprä- sident der Stiftung Weltethos

Licht von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ · Licht von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ Karl-Josef Kuschel Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel lehrt Theologie

  • Upload
    others

  • View
    6

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Stuttgarter Landtag

13. Oktober 2009

Widerstand und Hoffnung

Zum Sinn der „Fünf Kreuze“ auf dem Signet des Volks bunds im

Licht von Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“

Karl-Josef Kuschel

Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel lehrt Theologie der Kultur und der interreligiösen Dialogs an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Zugleich ist er Vizeprä-sident der Stiftung Weltethos

1

Neunzig Jahre Volksbund. Eine Respekt erheischende Geschichte allein

von den Zahlen her. Gegenwärtig sind es mehr als 800 Kriegsgräberstät-

ten, die in 45 Ländern betreut werden. Auf ihnen liegen mehr als 2 Milli-

onen deutscher Kriegstoter. Seit mehr als fünf Jahrzehnten werden nati-

onale und internationale Jugendlager durchgeführt zur Arbeit am Frieden

über den Gräbern. Was in einer Grundsatzrede all dem noch hinzufügen,

was bei vielen Anlässen schon gesagt und von Historikern, Politikern,

Kirchenvertretern, Schriftstellern vielfach gut gesagt wurde: zum Verhält-

nis von Vergangenheitserinnerung und Zukunftsorientierung; zu Ursa-

chen und Folgen von Kriegen; zum Umgang mit Toten und Totenfeiern,

zu Bedingungen von Friedensarbeit und Friedenserziehung gerade mit

Blick auf die Nachgeborenen; zum Auftrag zur Versöhnung zwischen

den einst verfeindeten Völkern über den Massengräbern? Was dem

noch hinzufügen?

Vor dieser Frage stand ich, als man die Bitte an mich herantrug, zu Be-

ginn dieser Erinnerungsstunde einige grundsätzliche Ausführungen zu

machen. Ich entschloss mich, zu dem zu stehen, was ich bin: ein Theo-

loge und Literaturwissenschaftler und von dieser Herkunft her meinen

eigenen Beitrag einzubringen. Als Theologe fiel mir seit jeher das Signet

des Volksbunds in die Augen. „Fünf Kreuze“. Sie fordern mich heraus,

über Genese und Sinn nachzudenken. Als Literaturwissenschaftler ha-

ben mich wenige Romane der deutschen Literatur des 20.J. so beein-

druckt wie der von Anna Seghers „Das Siebte Kreuz“. Das Kreuzsymbol

im Roman einer marxistischen Autorin jüdischer Provenienz? Warum

wählt gerade sie dieses Zeichen? Mir ging auf, dass ich aus Anlass die-

ser Erinnerungsstunde beide Stränge miteinander verknüpfen könnte,

2

um so etwas Eigenes in den Diskurs über Erinnerung und Frieden ein-

zubringen.

Zunächst ist die Mitteilung einer Erfahrung am Platz. Die empirische Be-

obachtung ist unabweisbar, dass unser Land wie nie zuvor in seiner

Geschichte weltanschauliche Pluralisierungsschübe durchgemacht hat.

Das ist keine flüchtige Modeerscheinung, sondern Ergebnis eines lang-

fristigen inneren Differenzierungsprozesses, der Generationen zurück-

reicht. Weltanschaulich gesehen, haben wir es gegenwärtig mit einem

doppelten Pluralisierungsschub zu tun. Zum einen mit einem Nebenein-

ander religiös-kirchlich gebundener und säkular-humanistisch geprägter

Lebensformen. Zum anderen mit einem inneren Differenzierungspro-

zess im Raum des Religiösen selbst.

So erleben wir seit den 80er Jahren ein wieder erstarktes Judentum

nach der Schoa in Deutschland. Heute geht man von ca. 100.000 Mit-

gliedern in mehr als 80 jüdischen Gemeinden aus, die sich ihrerseits

nach innen zu differenzieren begonnen haben: in ein orthodoxes, kon-

servatives, liberales Judentum, womit Deutschland nur einen Prozess

nachholt, der das Judentum in anderen westlichen Gesellschaften seit

langem prägt. Der Islam umfasst nominell gegenwärtig rund 3,2 Mio.

Menschen in unserem Land. Geschichtlich ist dies beispiellos. Noch nie

hat es in Deutschland eine religiöse Minderheit dieser Größenordnung

gegeben, und noch nie war diese Religion der Islam. Das stellt unsere

Gesellschaft vor nie gekannte Herausforderungen. Geschichtliche Erfah-

rungen gibt es dafür nicht. Sie reichen von vielfachen Integrations- und

Dialogbemühungen bis hin zu sozialen und ideologischen Konflikten in

den Ballungszentren unserer Städte.

3

Dass das „Christliche“, „Kirchliche“ sich angesichts dieser Pluralisie-

rungsschübe herausgefordert sieht, ist als Folge dieser Prozesse nur

konsequent. Man mag das bedauern oder nicht, unleugbar ist die Tatsa-

che, dass die christlichen Kirchen ihre geschichtlich über Jahrhunderte

gewachsene doppelte Monopolstellung verloren haben. Sie besitzen

zum einen kein Monopol mehr auf die kulturell-religiöse Prägung der ge-

samten Gesellschaft; nur eine Minderheit identifiziert sich noch aktiv mit

den Angeboten der Kirchen. Und sie haben zum zweiten kein Monopol

mehr auf die Deutung des Religiösen. Folglich genießen christliche

Symbole im öffentlichen Raum keine selbstverständliche Akzeptanz

mehr, stehen vielmehr zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Der

Streit um Kreuze in bayerischen Klassenzimmern war ein erstes Wetter-

leuchten.

Wer diese Entwicklung nicht nur kulturpessimistisch bejammert oder

trotzig verdrängt, sieht sich wie ich als christlicher Theologe zu einer

Neubegründung herausgefordert. Die Frage lautet unnachsichtig: Wel-

chen Sinn haben christliche Symbole im öffentlichen Raum einer Gesell-

schaft wie der unsrigen, in denen das Christliche keine Monopolstellung

mehr hat? Überzeugen wird hier nur Argumentieren, nicht Moralisieren.

Eine trotzige Beschwörung des „christlichen Abendlandes“ muss ange-

sichts der neuen gesamtgesellschaftlichen Situation hohl klingen. Geistig

muss die Auseinandersetzung gesucht werden, wer als Christ nicht im

kulturellen und gesellschaftlichen Ghetto landen will.

Immer wieder ist mir das Signet des Volksbunds Deutscher Kriegsgrä-

berfürsorge ein Anstoß zum Nachdenken gewesen. Fünf weiße Kreuze:

4

ein unverwechselbares Zeichen. Man könnte den Volksbund für eine

kirchliche Organisation halten, wüsste man nicht genau, dass er explizit

ein nichtreligiöser Verband ist, weder von Parteien noch von Kirchen ab-

hängig. Schon im ersten Aufruf bei der Gründung des Volksbunds im

September 1919 hatte es im Pathos der damaligen Zeit geheißen:

„Der Volksbund erwartet, dass alle Volksgenossen, ohne Unter-schiede des Bekenntnisses und der Partei, sich zusammenschlie-ßen und einig dahin streben, dass die vaterländischen und ethi-schen Ziele erreicht werden.“

In der Präambel einer späteren Satzung liest man entsprechend:

„Grundlage der Arbeit des Volksbundes ist die Achtung vor der Würde des Menschen. Achtung vor den Menschen bedeutet – ausgehend von den Erfah-rungen aus Krieg und Gewaltherrschaft – das Bekenntnis zu unver-letzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Fundament des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Achtung vor den Menschen reicht über den Tod hinaus.“

„Ohne Unterschiede des Bekenntnisses und der Partei“, „Bekenntnis zu

unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“: von Religion,

gar christlichem Bekenntnis, kann in der Tat beim Selbstverständnis des

Volksbundes keine Rede sein. Warum aber dann fünf Kreuze auf dem

Signet? Wie rechtfertigt sich das angesichts des humanitären und ethi-

schen Selbstverständnisses dieser Organisation? Die Frage ließ mich

nicht los, ließ mich auf Spurensuche gehen: Wie kam es überhaupt zur

Wahl dieses Signets? Was ist seine Geschichte, sein von Anfang an in-

tendierter Sinn?

Sieben Jahre ist der Volksbund alt, als das heutige Signet eingeführt

wird: 1926. Es ist ein wichtiges Jahr. Große Hoffnungen auf endgültigen

5

Völkerfrieden in Europa sind mit ihm verbunden. Der französische Präsi-

dent Aristide Briand und der deutsche Außenminister Gustav Strese-

mann erhalten für ihr französisch-deutsches Verständigungswerk den

Friedens-Nobelpreis. Deutschland und die Sowjetunion schließen einen

Freundschafts- und Neutralitätsvertrag. Deutschland wird in den Völker-

bund aufgenommen und erhält einen ständigen Ratssitz.

Der Volksbund umfasst in diesem Jahr immerhin schon mehr als 80.000

Mitglieder. Bis zum Jahresende 1926 hat er 133 Friedhöfe in 14 Ländern

instand gesetzt. Für 200 Friedhöfe bestehen Partnerschaften. Ein „Volks-

trauertag“ wird eingeführt und in Absprache mit den Religionsgemein-

schaften auf den 5. Sonntag vor Ostern gelegt. Dieser Erfolg erklärt die

Notwendigkeit einer stärkeren und wirksameren öffentlichen Präsentie-

rung durch ein identifikatorisches Zeichen, zum Zwecke der Plakatierung

beispielsweise. Ein „Logo“ wird gesucht. Aus Kostengründen wird ein

deutschlandweiter künstlerischer Wettbewerb ausgeschlossen, wohl a-

ber werden von fünf namhaften Künstlern Entwürfe eingekauft. Nur der

Landesverband Baden plädiert für die Annahme eines schon vorhande-

nen und von ihm schon öffentlich benutzen Entwurfs (Abb. 1). Zu sehen

ist auf wappenartigem Feld ein kleiner Grabhügel, über dem sich ein

das ganze Feld ausfüllendes schwarzes Kreuz erhebt, geschmückt von

Balken zu Balken mit einem Trauertuch, umgeben von einer Trauerwei-

de mit einem Vöglein im Gezweig. Auf dem Kreuz ein Stahlhelm. Dann

eine Inschrift über dem Feld, bogenartig alles umspannend. Sie lautet:

„Vergiss die treuen Toten nicht!“ Offensichtlich ein Zitat, denn die Quelle

ist noch angegeben. Es ist nicht zufällig Theodor Körner, der Dichter der

preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon schlechthin, der 1813 im

Kampf gefallen war. ´Vorher hatte er in Heldengedichten („Lützows wilde

6

verwegene Jagd“) den Opfertod fürs Vaterland derart verklärt, dass sei-

ne posthum veröffentlichte Sammlung „Leyer und Schwerdt“ (Berlin

1814) zu einem gewaltigen Publikumserfolg wird.

Im Mai 1926 stehen das badische Signet und ein Entwurf des Berliner

Künstlers Professor Ernst Böhm zur Wahl. Die Verantwortlichen ent-

scheiden sich gegen das „badische Zeichen“, wie es im Protokoll der

entsprechenden Sitzung heißt und für den Böhmschen Entwurf (Abb. 3).

Der Grund? Er drücke „am schlichtesten und einfachsten“ das aus, was

der Volksbund sei und wolle. Er habe eine „starke, feierliche Wirkung“,

gerade recht für ein Plakat, das weithin wahrgenommen werden müsse.

Die Alternative war damit klar: Hier – so wörtlich im Protokoll – „das ba-

dische Zeichen, eine etwas lyrische Ausführung, ein großes Eingehen

auf die Details, auf das einzelne Grab, auf die schmückende Trauerwei-

de, das Vögelein, das auf der Weide sitzt, die Begrenzung der Grabzei-

chens usw.“ – dort, bei Böhm, „das einfache, schlichte Zeichen unter

Verwendung des Vier-Grenadier-Grabes“.

In der Tat hatte sich Böhm, geboren 1890 in Berlin, damals ein bekann-

ter deutscher Gebrauchsgrafiker und Maler, Professor an den Vereinig-

ten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin-

Charlottenburg, an einem Vorbild orientiert: dem so genannten „Vier-

Grenadier-Grab“ aus Grabowiec in Polen (Abb. 2) Es steht auf einem

Soldatenfriedhof, auf dem deutsche und russische Gefallene des Ersten

Weltkriegs bestattet sind. Es verfügt bereits über ein in der Mittelachse

hoch aufragendes schlankes Kreuz, umstellt von sechs anderen, kleine-

ren Kreuzen.

7

War es aber damals in Kreisen des Volksbunds unproblematisch, so ex-

klusiv auf ein christliches Symbol zu setzen? Keineswegs. Das Protokoll

enthält eine aus heutiger Sicht besonders aufschlussreiche Intervention.

Der Vorstand des Bezirksverbandes Nassau lässt wissen, er bedauere

„außerordentlich“, dass beim Böhmschen Entwurf nicht berücksichtigt

sei, „dass wir“ – so wörtlich – „auch israelische Gefallene draußen liegen

haben“. Innerhalb dieses Entwurfs sei deren „Andenken nicht genügend

zum Ausdruck gebracht worden“. In der Tat kommt diese Intervention

nicht von ungefähr. 12.000 jüdische Soldaten sind im 1. Weltkrieg für das

Deutsche Reich gestorben. Zwischen den Weltkriegen leben rund eine

halbe Million jüdische Bürger in Deutschland. Im Wissen um das prekäre

Verhältnis von Juden und Christen gilt es von daher, sensibel mit dem

Kreuz-Zeichen umgehen, das für Juden in der Vergangenheit oft mehr

ein Ausdruck gnadenloser Ausgrenzung und Machtdemonstration als ein

Zeichen von Menschlichkeit und Barmherzigkeit war. Kein heiliges, ein

„unheiliges“ Zeichen! In der entscheidenden Sitzung des Volksbunds

nimmt man den Einwand zur Kenntnis, räumt „eine gewisse Belastung“

ein, glaubt aber, da es sich um deutsche Gräber handle, dass „dieses

Signet nicht in irgendeiner Weise verletzend auf die religiösen Gefühle

unserer andersgläubigen Brüder im deutschen Volke wirken“ müsse.

In der Tat lässt das Böhmsche Signet, 1979 grafisch noch einmal über-

arbeitet und so in die heutige Gestalt gebracht (Abb. 4), in seiner symbo-

lischen Elementarität die nötige Sensibilität durchaus erkennen. Es ist

bei allem bewussten Anschluss an das christliche Ursymbol religiös un-

aufdringlich und so kirchlich gerade nicht exklusiv. Schon in der Formen-

sprache ist es von hoher Sachlichkeit, im Vergleich etwa mit dem „badi-

schen Zeichen“ und der hier sichtbaren Mischung aus Totenkult und

8

Kitsch. Welch ein Einfall denn auch: ein Vögelein im Geäst und ein

Strahlhelm auf dem Kreuz!

Die Kreuze auf dem Böhmschen Entwurf dagegen geben der Bildfläche

eine strenge Struktur. Der Schwarz-Weiß-Kontrast verweist symbolisch

auf die Dualität von Tod und Leben. Florales, Ornamentales und Tier-

symbolisches ist bewusst vermieden. Kein Schriftband drängt eine ideo-

logische Deutung auf. Strenge der Form herrscht, dem Ernst des Anlie-

gens angemessen. Ein Ernst, der auch auf dem heutigen Signet noch

sichtbar ist, das in überzeugender Weise die Kreuzgruppe verdichtet und

zugleich den Raum darüber öffnet und so symbolisch zusammen mit der

dezenten Farblichkeit mehr die Offenheit für die Zukunft betont.

Das Besondere aber an diesem Signet ist nach wie vor die Präsenz von

fünf Kreuzen. Böhm hatte damit ein Dreifaches erreicht. Zum einen ent-

steht graphisch eine innere Proportionalität auf der Fläche: ein in die Mit-

telachse gesetztes großes Kreuz überragt zwei Kreuze zur Rechten wie

zur Linken, wobei noch einmal zwei Kreuze daruntergesetzt sind. Durch

die sich verkleinernden Formen entsteht bei aller Flächigkeit fast so et-

was wie eine Raumtiefe, die durch das Schwarz noch verstärkt wird.

Zum zweiten wird durch die Hinzufügung von weiteren Kreuzen zu einer

Kreuz-Gruppe jeder Eindruck einer christlichen Exklusivität relativiert. Er

wäre unweigerlich entstanden, stünde ein Kreuz allein in der Mittelachse.

Zum dritten verweist die Serie von Fünf als optisches Zitat auf eine Viel-

zahl von Gräbern und somit auf die „Serialität“ des Todes. Schon optisch

ernst damit gemacht mit der Tatsache: Wenn es um Kriegsgräber geht,

geht es um Massen von Menschen, um eine schier endlose Reihe von

Kreuzen, Toten, Gefallenen.

9

Zugleich aber macht sich Böhm bei aller Universalität der Aussage die

spezifisch christliche Dimension des Kreuz-Zeichens zunutze, aber als

christentums-und europakritisches Signal. Wer zum Totengedenken ein

Kreuz wählt, weist über die eigene Nation hinaus. Auch in anderen Län-

dern Europas liegen Menschen unter Kreuzen, von Frankreich, Belgien

und Holland bis nach Polen und Russland, überall dort, wo die Selbstzer-

fleischung der „christlichen“ Nationen Millionen von Menschenleben kos-

tete. 2000 Jahre Christentum in Europa haben über 10 Millionen Tote im

Ersten und über 50 Millionen im Zweiten Weltkrieg nicht verhindert. Un-

ter den Toten des 1. Weltkriegs ein einfacher Fleischer aus Schlesien,

tausend Kilometer von seiner Heimat entfernt irgendwo an der Westfront,

an der Somme, in einem Massengrab anonym verscharrt: mein Großva-

ter väterlicherseits. Wer heute „das Christentum“ als Fundament einer

europäischen Werteordnung ins Spiel bringt, kann das nur glaubwürdig

tun, wenn man zugleich die Schuldgeschichte des europäischen Chris-

tentums mitthematisiert.

Das Signet des Volksbunds erinnert ein für allemal an dieses Versagen

und diese Verantwortung des europäischen Christentums. Schon des-

halb ist es unverzichtbar und unersetzbar. Jedes Kreuz auf dem Grab

eines Kriegstoten ist ein Widerruf der Bergpredigt. Und nur wer das

Kreuz in diesem Sinn als Brandzeichen begriffen hat, darf es auch als

Heilszeichen entdecken: als Zeichen der Verpflichtung zur Arbeit am

Frieden. Si vis pacem, para bellum, lautete schon zu Römerzeiten die

Devise der Kriegs-Strategen. Wenn Du den Frieden willst, bereite den

Krieg vor. Im Zeichen des Kreuzes muss es heute –angesichts atomarer

10

Massenvernichtungs-Potentiale – heißen: Wenn Du den Frieden willst,

arbeite für den Frieden.

Es hatte also seinen guten Sinn, wenn der Volksbund deutscher Kriegs-

gräberfürsorge mit diesem universalen und zugleich konkreten Signet in

die Öffentlichkeit trat. Der Bewährungstest folgt denn auch nur wenige

Jahre später. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird im

Februar 1934 der Volkstrauertag abgeschafft und durch einen „Helden-

gedenktag“ ersetzt, dessen Durchführung nur wenig später der Wehr-

macht und der NSDAP übertragen wird. Trauer um die Gefallenen? Völ-

ker- Verständigung über den Gräbern? Das alles wird jetzt als „überhol-

te pazifistische Ideen“ verhöhnt. Die Feiern sollen Heldentum, Opferbe-

reitschaft und Kampfesmut verklären und im deutschen Volk verstärken

helfen. Haus- und Straßensammlungen werden dem Volksbund unter-

sagt. Das Signet gerät gerade wegen seines christlichen Inhalts von den

Machthabern unter Kritik.

Kreuz-Zeichen können denn auch gefährlich sein. Seit den Zeiten des

Urchristentums erinnern sie die Machthaber dieser Welt penetrant an

das Schicksal Unschuldiger und an einen Friedensauftrag, der das eige-

ne Volk übersteigt. Sie entlarven Versuche, Kriegstote als heroische Op-

fer auf dem „Altar des Vaterlands“. zu verklären. Als sei -Jesus Christus

nicht ein für allemal gestorben, so dass es weiterer „Opfer“ nicht mehr

bedarf. Genau dazu aber will der neue rassistische und nationalistische

Größenwahn die Kriegstoten des 1. Weltkriegs umfälschen, um dann

umso ruchloser neue Generationen für ein Deutschland nach Hitlers Mo-

dell in den Tod zu schicken. „Vaterland“ als Gottersatz, als Götze, als

Moloch, dem man Hekatomben von Leichen vorwerfen kann. Schlimmer

11

kann der christliche Opfergedanke nicht missbraucht werden. Zwar wird

das Signet des Volksbunds nicht völlig abgeschafft, aber ein Foto vom

ersten „Heldengedenktag“ 1934 zeigt, wie man es zu domestizieren

sucht (Abb. 5). Hinter den fünf Kreuzen erscheint ein maskenhaft erstarr-

tes männliches Gesicht mit einem Stahlhelm auf dem Kopf. Riesig groß,

so dass das hoch aufragende lange Kreuz ganz und gar überschattet

wird. Ein unheimliches, schauerliches Bild: hinter dem Kreuz das erstarr-

te Gesicht mit schmallippigem Mund, der eisernen Willen und todesver-

achtenden Trotz signalisieren soll.

Ein weiteres Foto zeigt das Signet während der Reichstagung des

Volksbundes 1938 in Breslau (Abb. 6). Jetzt ist es flankiert von zwei rie-

sigen Bannern mit Hakenkreuzsymbolen. Es ist das gleiche Jahr, in dem

am 9. November im ganzen Reich von der NSDAP organisierte Pogrome

gegen die noch im Lande verbliebenen jüdischen Bürger veranstaltet

werden. „Reichskristallnacht“ hat man verharmlosend genannt, was in

Wirklichkeit eine Reichspogromnacht ist. Welche Art von Kreuz jetzt in

Deutschland herrscht, soll jedem in die Augen springen. Und dieses

Kreuz wird einmal mehr zum Todeszeichen für ungezählte jüdischen

Mitbürger, die man in KZs verschleppt und vernichtet. Schon früh hatten

denn auch die Machthaber des Dritten Reiches die Behandlung von

Gräbern jüdischer Gefallener aus dem Ersten Weltkrieg verboten. Wäh-

rend der Besatzungszeit in Frankreich werden die entsprechenden

Grabsteine entfernt. Auf den Kriegerdenkmälern werden die Namen jüdi-

scher Kriegstoter ausgemerzt. Wir erinnern uns: 12.000 Soldaten jüdi-

scher Herkunft waren im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen!

12

Doch das Signet hält stand. Die fünf Kreuze hat man durch und mit Ha-

kenkreuzen zu verzerren versucht, gebrochen hat man sie nicht. Sie

bleiben – richtig verstanden – Zeichen des Widerspruchs der Unter-

drückten gegen ihre Unterdrücker und ein Zeichen der Hoffnung, dass

die Planer und Fabrikanten des Todes nicht das letzte Wort behalten.

Wie sehr Kreuze all dies bedeuten können, zeigt gerade einer der wich-

tigsten Romane der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, geschrie-

ben von einer Autorin jüdischer Herkunft und marxistischer Überzeu-

gung: Anna Seghers. 1941 veröffentlicht sie, die vor den Nazis erst nach

Paris, dann nach Mexiko fliehen muss, ihren epochalen Roman „Das

siebte Kreuz“. An ihm lässt sich zeigen, wie gerade durch eine nicht-

christliche Autorin der Sinn des Kreuzes bleibend gedeutet werden kann,

so dass es auch für Nichtchristen ein unverwechselbares und unver-

zichtbares Zeichen sein kann. Der Roman ist gewidmet „den toten und

lebenden Antifaschisten Deutschlands“? Worum geht es?

Sieben Häftlinge fliehen aus einem Nazi-KZ namens Westhofen, sechs

werden wieder eingefangen und an „Kreuze“ auf dem Appellhof des KZ

gehängt; einer kommt durch: der Kommunist Georg Heisler. Sein Kreuz,

das siebte, bleibt leer. Das ist die Ausgangslage für diesen Roman, und

genau das ist der entscheidende literarische Kunstgriff, mit dessen Hilfe

Anna Seghers ein Kaleidoskop deutscher Wirklichkeit zu zeigen vermag.

Ein Kommunist – gejagt und verfolgt von SS-Schergen – sieben Tage

auf der Flucht durch ein Stück Deutschland, das man unschwer als die

rheinhessische Heimat der Autorin, in Mainz geboren, wiedererkennen

kann.

13

Anna Seghers schreibt einen Roman des Widerstands. Dieser Wider-

stand aber wird nicht verklärt, sondern eher scheu, zurückhaltend, indi-

rekt dargestellt. Nicht die großen politischen Aktionen werden beschrie-

ben, nicht Fluchthelfertaten von heroischen Menschen. Literarisch Ges-

talt gewinnen die Kleinen, die Stillen im Lande, die einfachen Menschen,

die von Politik nicht viel verstehen und die Zusammenhänge oft nicht

durchschauen, die aber aus einem elementaren Gefühl der Menschlich-

keit heraus dem Flüchtling ihre Hilfe nicht verweigern.

Die Pointe dieses Buches besteht darin: Sechs Häftlinge werden wieder

eingefangen und tot oder lebendig an die „Kreuze“ gebunden – sichtba-

rer Triumph der faschistischen Macht. Ein Kreuz aber bleibt leer. Und es

ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, von dem nun die Hoffnung für

die Lagerinsassen und die Bedrohung für die Lagerwächter ausgeht. Es

ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, das für die noch verbliebenen

Häftlinge zum Zeichen dafür wird, dass die totale Macht des Terrors zu

brechen ist. Es ist dieses siebte, leer gebliebene Kreuz, das den Opfern

blitzartig zeigt: Die Macht der zynischen Gewaltherrscher ist besiegbar.

„Ein kleiner Triumph, gewiss, gemessen an unserer Ohnmacht, an unse-

ren Sträflingskleidern“, so lässt die Autorin einen der Häftlinge meditie-

ren:

„Und doch ein Triumph, der einem die eigene Kraft plötzlich fühlen ließ nach wer weiß wie langer Zeit, jene Kraft, die lang genug taxiert worden war, sogar von uns selbst, als sei sie bloß eine der vielen gewöhnlichen Kräfte der Erde, die man nach Maßen und Zahlen ab-taxiert, wo sie doch die einzige Kraft ist, die plötzlich ins Maßlose wachsen kann, ins Unberechenbare.“

Es ist diese „Kraft“, diese ins Maßlose und Unberechenbare wachsende

Kraft der Menschen, der dieser Roman Respekt bezeugen will. Das leer

14

gebliebene siebte Kreuz ist dafür das Ursymbol. Konsequent daher die

Schlussszene des Romans, als der in der Häftlingskrise so schändlich

versagende KZ-Kommandant von einem neuen abgelöst wird. Unverzüg-

lich lässt dieser die sieben Kreuze abschlagen und als Kleinholz

verbrennen. Doch die Häftlinge, gepresste Zeugen dieser Verbrennung,

fühlen sich dabei „dem Leben näher als jemals später“:

„Doch an dem Abend, als man zum ersten Mal die Häftlingsbara-cken einheizte und das Kleinholz verbrannt war, das, wie wir glaub-ten, von den sieben Bäumen kam, fühlten wir uns dem Leben näher als jemals später und auch viel näher als alle anderen, die sich le-bendig vorkommen … Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äu-ßeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein In-nerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“

Darum also geht es in Anna Seghers’ Roman vom „Siebten Kreuz“: den

Menschen daran zu erinnern, dass in seinem Innersten etwas verborgen

ist, das unangreifbar und unverletzbar ist; das weder von den faschisti-

schen Machthabern noch von irgendwelchen menschenverachtenden

Potentaten dieser Welt je ganz ergriffen und völlig zerstört werden kann.

Anna Seghers hat für diesen ihren Glauben nicht zufällig das christliche

Ursymbol ins Spiel gebracht, zweifellos auch mit dem Kalkül, als marxis-

tische Autorin jüdischer Provenienz auf eine größere, umfassendere

Tradition von Menschlichkeit zu verweisen und für den Widerstands-

kampf fruchtbar machen. Und dies durchaus mit Recht. Denn auch für

Christen ist das Kreuz nicht ein Zeichen von Passivität und Ohnmacht.

Es ist – im Lichte der Auferweckung des Gekreuzigten – ein Zeichen des

Sieges Gottes über die Mächte des Unheils. Erlösung aus dem Teufels-

kreis von Sünde und Schuld , Gewalt und Tod: das ist zu-gesagt. Ohne

15

den Schrei des Gekreuzigten zu Gott zu verharmlosen oder gar zu ver-

drängen, darf das Kreuz Christi somit verstanden werden Siegeszeichen

Gottes wider die Produzenten und Vollstrecker des Todes. „Tod – wo ist

dein Stachel, Tod – wo ist dein Sieg?“ – so kann der Völkerapostel Pau-

lus ausrufen, als er das Kreuz Christi im Lichte der Auferweckung des

Gekreuzigten in einem seiner Briefe zu deuten versucht. Anders gesagt:

das Kreuz ist nicht das Triumpfzeichen der Henker, sondern das Hoff-

nungs-Zeichen der Opfer, denen durch Gott Gerechtigkeit wiederfährt.

Unter diesem Signet stellt sich der Volksbund also zu Recht seine Arbeit

unter das Leitwort: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frie-

den“. Gewiss: Auch andere Zeichen könnten diesen Auftrag symbolisie-

ren, zu ersetzen aber ist das Kreuz nicht. Es steht in Europa wie kein

anderes Zeichen für geschichtliche Kontinuität in Zeit und Raum und

zugleich für Selbstverpflichtung zur Arbeit an mehr Menschlichkeit im

Geist der Bergpredigt.

Unter dem Kreuz-Signet verpflichtet sich gerade der Volksbund ganz

entschieden seit vielen Jahren nicht allein vergangenheitsfixiert auf Erin-

nerungs-, sondern zukunftsorientiert auf völkerversöhnende Friedensar-

beit, auf Friedenserziehung. Man hat begriffen, wer in Zukunft Massen-

gräber verhindern will, beziehe die jungen Generationen mit ein. Hier ist

Eindrucksvolles geschehen: Mehr als 200.000 Jugendliche haben bisher

auf den Grabstätten im Ausland gearbeitet – von Frankreich, Belgien und

Holland angefangen bis nach Polen und Russland. „Wer an Europa

zweifelt, verzweifelt, suche die Soldatengräber auf“, wird der Luxembur-

ger Regierungschef und große Europäer Claude Juncker zitiert. Ich er-

laube mir, dieses Wort abzuwandeln: Wer am Christentum zweifelt, ver-

16

zweifelt, schaue paradigmatisch auf die Jugend-und Schularbeit des

Volksbundes und fördere sie.

Im Berliner Manifest des Volksbunds, 1969 beschlossen und bis heute

gültig, steht das, was junge Menschen lernen sollten:

„Erkennen, dass Menschen verschiedener Völker, Kulturen, Religi-onen und Generationen nur dann in Frieden miteinander leben können, wenn sie Verständnis füreinander aufbringen“

Diese Erkenntnis gerade durch Arbeit in den Schulen zu verbreiten, ist

auch Aufgabe der Tübinger Stiftung Weltethos, der ich mich zusammen

mit Hans Küng verpflichtet fühle. “Kein Frieden unter den Nationen ohne

Frieden zwischen den Religionen“. „Kein Frieden unter den Religionen

ohne einen Grundbestand gemeinsamer Werte, getragen von Menschen

mit und ohne Religion, getragen von Menschen verschiedener Religio-

nen“: das sind Leitsätze unserer Arbeit, die mit denen des Volksbunds

unschwer übereinstimmen. Leitsätze vor allem, die in der gesellschaftli-

chen Lage, in der unser Land sich befindet, von friedensethischer Be-

deutung sind.

Der Volksbund kann auf 90 Jahre Bestehen zurückblicken. Seine Aufga-

ben sind nicht erledigt. Im Gegenteil: Deutschland ist mit der Bundes-

wehr außerhalb Europas in neue militärische Auseinandersetzungen

verwickelt – in völlig veränderter weltpolitischer Lage an der Seite ande-

rer europäischer Nationen und ausgestattet mit einem UN-Mandat. Dut-

zende von Opfern sind zu bereits zu beklagen. Wenn die Zeichen nicht

trügen, werden weitere Opfer hinzukommen. Es ist hohe Zeit, dass wir in

unserem Land eine moralische und politische Debatte über diese neuen

17

Herausforderungen führen. Welche Opferzahlen ist die deutsche Bevöl-

kerung bereit mitzutragen? Sagen die politisch Verantwortlichen unse-

rem Volk die Wahrheit? Auf was müssen wir uns einstellen?

Ich wünsche den Verantwortlichen des Volksbunds, dass es ihnen ge-

lingt, immer wieder Menschen für die so dringend nötige Arbeit am Frie-

den zu gewinnen: im Interesse der Verständigung der Völker, der Religi-

onen und Generationen. Betrachten Sie meinen heutigen Vortrag als

Zeichen des Respekts und der Ermutigung.

18

Abbildungen

19

20

21

22

23