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KELLY JONES Das siebte Pergament

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KELLY JONES

Das siebte Pergament

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Buch

In einem alten Kloster entdeckt die Pariser Kunsthistorikerin Alexan-dra Pellier eine Skizze für einen Wandteppich aus der Renaissance-Zeit.Die Zeichnung weist eine frappierende Ähnlichkeit mit der sechstei-ligen Tapisserieserie »Die Dame mit dem Einhorn« auf, dem bekanntes-ten Kunstschatz des Museums, in dem Alex arbeitet. Gibt es also einensiebten Teppich? Als Alex mit ihren Nachforschungen beginnt, kommtihr plötzlich Dr. Martinson in die Quere. Der Kollege aus New Yorkscheint ihr stets eine Spur voraus zu sein – und ausgerechnet von Alex’Che�n Madame Demy unterstützt zu werden. Gemeinsam mit dem Ma-ler Jake, einem Studienkollegen aus alten Tagen, für den Alex mehr alsnur Freundschaft emp�ndet, versucht sie, die Geschichte des siebtenWandteppichs zu ergründen. Und dabei kommt sie einem alten Ge-heimnis auf die Spur – einem Geheimnis um heimliche Kunst und ver-

botene Liebe …

Autor

Kelly Jones studierte englische Literatur und Kunstgeschichte inWashington und Florenz. »Das siebte Pergament« ist ihr erster Ro-man. Die Autorin, die gerne reist und die Schauplätze dieses Buchs sel-ber gut kennt, arbeitet zurzeit an ihrem zweiten Roman, der in Florenz

spielen wird. Kelly Jones lebt mit ihrer Familie in Idaho.

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Kelly JonesDas

siebte Pergament

Roman

Deutschvon Judith Schwaab

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»The Seventh Unicorn« bei Berkley Books,

a member of Penguin Putnam Inc., New York.

Die deutsche Erstausgabe erschienunter dem Titel »Das siebte Einhorn«

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zerti�zierte Papier München Super für Taschenbücheraus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier

1. Au�ageTaschenbuchausgabe September 2007Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHCopyright © der Originalausgabe 2005 by Kelly Jones

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabeby Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Getty ImagesKS · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-46434-0

www.goldmann-verlag.de

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P R O L O G

Der Schmerz kam in der Nacht, so wie es die alte Nonnevorausgesagt hatte. Adèle richtete sich auf und legte die

Hand auf die Wölbung ihres Leibes. Sie war verängstigt undunsicher, obwohl der Schmerz selbst kaum schlimmer war alsdie Krämpfe, die ihre monatliche Blutung begleiteten. Dannebbte er wieder ab. Sie legte sich aufs Bett zurück, und nurdas gleichmäßige Atmen der jungen Novizin, mit der sie sichdie winzige Zelle teilte, war zu hören. »Noch nicht«, flüster-te sich Adèle zu. »Warte noch.«

Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber es wollte ihr nichtgelingen. Sie hatte geträumt. Es war der Traum gewesen, densie seit ihrer Ankunft jede Nacht gehabt hatte, Bilder, die ihrmittlerweile so vertraut waren, dass sie sie jederzeit heraufbe-schwören konnte; es war ein Traum, für den Schlaf nicht nö-tig war. Jede Einzelheit stand ihr so klar und deutlich vor Au-gen wie die Zeichnungen, die sie an jenem Tag, in ihrem Ge-betbuch verborgen, in den Garten mitgenommen hatte.

Die Luft ist erfüllt von dem Duft nach Nelken, nach denBlüten der Orangenbäume, nach feuchter Erde. Adèle ist inden Garten gekommen, um zu zeichnen. Das tut sie oft un-ter dem Vorwand, zu beten und Zwiesprache mit Gott zu hal-ten. Sie zieht eine der Zeichnungen, die sie bei ihrem letztenBesuch begonnen hat, aus dem Gebetbuch. Es ist ein Bild ih-rer Schwester Claude an einer Hausorgel, unterstützt von ei-ner Zofe, die die Blasebälge bedient. Mit Feder und Tinte hatAdèle die feine Beschaffenheit ihrer Kleidung, den seidigenStoff, die Bordüren aus Samt dargestellt. Zur Rechten der

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Dame hat sie ein Einhorn gezeichnet, Symbol ihrer jungfräu-lichen Reinheit, denn es ist ein Geschöpf, das nur eine Jung-frau zu zähmen vermag. Links von ihr ist ein Löwe abgebil-det, Sinnbild der Kraft. Das Familienwappen, rot, mit drei sil-bernen Monden auf einem schrägen blauen Band, ist auf die Ban-ner appliziert und wird von den beiden Tieren gehalten.

Adèle nimmt Feder und Tinte und lässt rund um die abge-bildeten Figuren mit geübten Strichen einen Garten entste-hen, der an eine Insel erinnert. Sie bevölkert das Eiland mitHasen und einem Hund und fügt schließlich im Hintergrundnoch einige andere kleine Geschöpfe hinzu, auch einenFuchs und ein Schaf. Sie sehen aus, als schwebten sie in derLuft. Einen Moment lang betrachtet sie, recht zufrieden, ihrWerk, dann legt sie die Zeichnung auf die sonnenwarmeBank zum Trocknen, um ein paar Blumen zu pflücken, mitdenen sie ihr Bild vollenden wird.

Als sie zurückkehrt, steht ein Mann neben der Bank. Er hatdie Zeichnung in die Hand genommen und schaut sie sichmit großem Interesse an.

Sie weiß, dass er der Teppichwirker ist. An diesem Morgenist er zusammen mit einem älteren Mann eingetroffen. Obdie Besprechungen mit ihrem Vater wohl beendet sind?

Plötzlich fühlt sie sich sehr kühn. »Ihr seid der tapissier ausBrüssel?«

Sie hat ihn überrascht, denn er fährt erschrocken herum.»Ja, der bin ich.«

»Bitte«, sagt sie und streckt die Hand nach der Zeichnungaus. Er gibt das Bild zurück, und ein paar Momente lang ste-hen sie schweigend da.

»Ihr seid eine Künstlerin von erstaunlicher Begabung«,sagt der Mann. Sie lächelt, erwidert aber nichts, obwohl siesehen kann, wie beeindruckt er ist.

»Die Frau auf dem Bild«, fährt er fort, »ist sie ein Wesenaus Eurer Vorstellungskraft?«

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»Es ist meine älteste Schwester Claude.«»Eure Schwester ist sehr schön.«»Ja.«»Und sie musiziert?«»Mein Vater hat ihr musikalisches Talent gefördert, damit

sie dereinst einen jungen Ritter, einen Edelmann oder viel-leicht sogar einen Fürsten mit ihrem Spiel unterhalten undfür sich gewinnen kann. Unsere Familie ist von bescheidenerHerkunft. Kaufleute, Tuchhändler aus Lyon.«

Der Teppichwirker nickt, als hätte er diese Geschichteschon vernommen, doch es scheint ihn auch zu überraschen,dass Adèle über solch private Belange mit ihm spricht. Ist esnicht wohlbekannt, dass die Familie Le Viste in Lyon großenReichtum und Besitz erlangt hat, dass sie ihre gute Stellungin Paris ausgebaut und durch günstige Heirat noch verbesserthat? Und weiß nicht fast jeder, dass Jean Le Viste zwar einschneller Aufstieg in der Verwaltung und sogar bis in dieDienste des Königs gelungen ist, ihm jedoch der Status einesEdelmannes und ein königlicher Titel, die er so sehr begehr-te, versagt blieben? Denn ihr Vater, denkt Adèle, ist letztlichebenso wenig ein Edelmann oder Ritter wie ein einfacher ta-pissier aus Brüssel. Dennoch weiß sie, dass ihr Vater die Innig-keit, mit der die beiden miteinander plaudern, nicht guthei-ßen würde.

»Wird denn mein Vater«, fragt sie, »einen Künstler ausParis kommen lassen, damit er das Bild für den Wandteppichentwirft?«

»Das ist sein Wunsch, ja. Es gibt zahlreiche ausgezeichne-te Maler in Paris.«

Sie zupft ein Maßliebchen aus ihrem Strauß und schnup-pert einen Moment lang daran, um es dann genau zu betrach-ten. »Aber gibt es nicht in Brüssel die besten Werkstätten, diebesten Teppichwirker?«

»Ja«, antwortet er. »Die besten tapissiers gibt es in Brüssel.«

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»Wurde denn schon ein Motiv gewählt?«»Darüber wurde viel gesprochen, ja. Euer Vater ist ein

Mann, der es gewöhnt ist, in großen Zusammenhängen zudenken. Er möchte den Leistungen der Familie Rechnungtragen und seine Ernennung zum Präsidenten des Finanzge-richtshofes feiern, doch auch der Jahrestag seiner Vermäh-lung mit Eurer Mutter soll gewürdigt werden.«

»Politik«, sagt sie und schüttelt langsam den Kopf, wäh-rend sie die Blumen, die sie gepflückt hat, ringsum auf demBoden verstreut. Sie nimmt Platz, zieht unter der Bank eingroßes Buch hervor und legt es sich als Unterlage für das Per-gament, auf dem sie zeichnet, auf den Schoß. Dann beginntsie die Blüten abzuzeichnen und fügt sie in den Hintergrunddes Bildes, zwischen die Tiere, ein. »Und wie viele Teppichewird mein Vater in Auftrag geben?«, fragt sie. »Möchte eralle Wände des Schlosses damit bedecken? Oder wird es nurein einziges chambre?«

»Es war von sieben Wandbildern die Rede.«»Sieben ist eine gute Zahl.« Sie wirft ihr langes Haar in

den Nacken, von dem ihr eine Strähne über die Wange gefal-len ist.

Der tapissier sieht ihr dabei zu, wie sie den Bildhintergrundmit Blumen ausfüllt. »Mille-fleurs«, sagt er, und sie lächelt,denn sie weiß, dass dieser Malstil bei der Gestaltung vonWandteppichen zur Zeit sehr beliebt ist. Als sie fertig ist,beugt sie sich hinab, zieht eine hölzerne Schachtel unter derBank hervor und nimmt ein weiches Tuch heraus. Damitwischt sie die Tinte von der Spitze ihrer Zeichenfeder. Als siedie Feder, das Tintenfass und das Tuch zurück in die Schach-tel legt, fragt der tapissier: »Darf ich?« Er hat das Gebetbuchzu ihren Füßen und die anderen Zeichnungen bemerkt, diesie zwischen die Seiten geschoben hat.

»Ihr dürft.« Sie hebt das Gebetbuch hoch, reicht es ihm.Und dann fegt sie, mit einer schamlosen Geste, die sie beide

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überrascht, die Blumen auf den Boden und fordert ihn auf,neben ihr Platz zu nehmen. Er zögert einen Moment undsetzt sich.

Es sind vier weitere Zeichnungen, insgesamt also fünf, undjede von ihnen zeigt eine Frau auf einem Garten-Eiland miteinem Einhorn und einem Löwen. Er betrachtet die Bildermit großem Interesse.

Schließlich hält er die Zeichnung einer Frau hoch, die sicheinen Kranz aus Blüten flicht.

»Meine Schwester Jeanne«, sagt sie.»Auch Eure Schwester Jeanne ist sehr schön.«»Ja.«Er betrachtet das Bild, auf dem ein Jagdvogel auf der be-

handschuhten Hand der jungen Frau sitzt.»Meine Schwester Geneviève«, sagt sie. »Und ja, auch sie

ist sehr schön. Und eine ausgezeichnete Jägerin noch dazu.«Er sieht die Zeichnung an, auf der eine Frau einen Spiegel

in der Hand hält; darin ist das Bild eines Einhorns zu sehen,das sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hat. Der Löwezur Rechten der Frau hält ein Banner, das mit dem Wappender Familie Le Viste geschmückt ist.

»Meine Mutter«, sagt das Mädchen.»In ihren Augen ist große Traurigkeit«, erwidert der tapis-

sier nachdenklich.»O ja, aber gibt es denn anderes als Traurigkeit im Leben

einer Frau, die keine Söhne zur Welt bringt?«»Einer Frau, die vier Töchtern das Leben geschenkt hat?«,

sagt er mit einem Lächeln. »Vier schönen Töchtern.« Undselbst in diesem Moment spürt sie noch, wie sie lächelt, wieWärme in ihr aufsteigt, und dann … einen großen Schmerz,während das Bild langsam verblasst.

Sie ist wieder in ihrer winzigen Zelle, der trockene Geruchnach Stein ist an die Stelle der Gartendüfte getreten. DieKrämpfe haben wieder eingesetzt, dieses Mal stärker, hefti-

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ger. Und doch, denkt sie, ist es noch nicht an der Zeit. Nocheinmal beschwört sie die Erinnerung herauf, jenes letzte Bild,das der Teppichwirker so sorgsam betrachtet.

Die Frau auf diesem Bild besitzt nicht die zarte Anmut deranderen; ihr Gesicht ist hager und von Kummer gezeichnet.Sie steht aufrecht und hält eine Lanze in ihrer rechten Hand.Mit der Linken berührt sie zärtlich das Horn des Einhorns,das, aus der Nähe betrachtet, mehr einer Ziege ähnelt als deneleganten Wesen auf den anderen Bildern. Die kleinen Tiereim Hintergrund tragen Halsbänder oder sind angekettet.

»Und die junge Frau auf dieser Zeichnung hier?«, fragt er,und seine Augen wandern von dem Pergament zu Adèles Ge-sicht. Er zieht die Brauen hoch und kneift die Augen zusam-men, zeigt Verwirrung, als hätte er zwar erkannt, dass sie sichselbst abgebildet hat, könnte aber keine Ähnlichkeit entde-cken. Vielleicht fragt er sich, warum sie ausgerechnet diesesMotiv gewählt hat, um sich selbst darzustellen.

Und dann wieder der Schmerz. Sie spürt, wie das Wasserihr die Beine hinabläuft, wie ihr Laken feucht wird. Es riechtnach Blut. Sie ruft den Namen der jungen Nonne, die auf-wacht. »Jetzt«, flüstert Adèle.

Die alte Nonne ist rasch bei ihr. Nun kommen die Wehenin kürzeren Abständen, und sie sind heftiger. Adèle sieht dasEntsetzen in den Augen der jungen Nonne. Und das Blut,tiefrot. Dann schreit Adèle auf.

Sie sieht die Wandteppiche, wie sie aus der Werkstatt inBrüssel geliefert werden. Es sind bereits sechs an der Zahl,und ihr ungeduldiger Vater kann es kaum erwarten, die Seriein Vollendung zu sehen. Auch Adèle hat den siebten nochnicht zu Gesicht bekommen.

Sie kann die Bilder nicht länger in sich am Leben erhalten.Der Schmerz hat sie jetzt fest im Griff und ist so stark, dassihr ganzer Körper und ihre ganze Seele gefordert sind.

Sowohl die alte Frau als auch die junge Nonne bleiben bei

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ihr, obwohl schon bald die morgendlichen Gebete aus derKapelle herüberdringen, und auch am Mittag und Abendweichen sie ihr nicht von der Seite. Adèle sieht die Erschöp-fung in den Augen der alten Frau. Nur wenige Zoll von ih-rem Gesicht entfernt bewegen sich die Lippen der Kloster-frau in stillem Gebet, doch in Adèle ist nur ein einziges Fle-hen: dass sie die Kraft haben wird, dieses unschuldige Kindzur Welt zu bringen. Der Schmerz setzt ihr so sehr zu, dasssie nicht mehr richtig beten kann. Die Worte kommen ihreinfach nicht in den Sinn. Wieder ist es Nacht geworden, unddas einzige Licht ist das Flackern der Kerzen in der Zelle.Adèle verspürt den Drang zu pressen, mit aller Kraft, die sienoch hat.

»Noch nicht, meine Tochter«, sagt die alte Frau, undselbst das klingt aus ihrem Mund wie ein Gebet. Sie benetztAdèles Gesicht mit einem feuchten Tuch, massiert ihr dieBeine, die Arme, den Leib mit warmem Öl und spricht dabeimit leiser, steter Stimme auf sie ein. Sie hält einen Becher anihre Lippen. Es ist Wein mit Kräutern, die den Schmerz stil-len sollen.

Schließlich ruft die Frau gebieterisch: »Jetzt, Adèle, jetztpressen.« Es sind andere Frauen im Zimmer, die ihre Armeund Beine festhalten und sie hochziehen, als wäre dieses Kindeine reife Frucht, die jeden Moment zur Erde herabfallenwird. »Pressen«, flüstert die alte Nonne, und Adèle tut es,wieder und wieder, bis die Frau ruft: »Deo gratias, Deo grati-as!«

Mit einer Kraft, die aus dem tiefsten Inneren ihres Leibeszu kommen scheint, schaut Adèle auf das Kind hinab. DerKnabe ist so winzig, doch als er einen herzhaften Schrei vonsich gibt, macht ihr Herz einen Satz, und sie flüstert einDankgebet.

Die alte Nonne badet ihn. Das Licht des frühen Morgens,das in die Zelle strömt, fällt auf Blut. Es ist überall – auf dem

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Kind, den Bettlaken, dem Binsenteppich, der auf dem Bodenliegt, an Adèles Beinen, auf ihren Füßen. Die Frau hüllt ihnin eine warme Decke, und als sie ihn der jungen Nonnereicht, die ihn aus dem Zimmer trägt, schreit Adèle noch ein-mal auf.

»Ruh dich aus, meine Tochter, ruh dich aus«, sagt die alteNonne, und Adèle schließt die Augen. Wieder erblickt sie dasPurpurrot. Zuerst ist es Blut, aber dann … sieht sie, wie er-freut ihr Vater ist, als er den ersten Blick auf die Wandteppi-che wirft, auf die dicken Stränge in Rot, in Blau, in Gold.Dann seine Entdeckung, seine Wut. Doch jetzt ist das allesnicht mehr da. Sie spürt keinen Zorn und auch keinenSchmerz mehr. Nur eine friedliche Ruhe ist in ihr, und nocheinmal wandelt sie durch einen Garten.

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E I N S

Das Kloster Sainte Blandine, ein zweigeschossiges Gebäu-de aus grobem Stein, wirkte verlassen. Unkraut und wil-

de Sträucher wuchsen auf beiden Seiten eines schmalen, un-befestigten Weges, der bis ans Eingangstor reichte, und er-streckten sich zu einem kleinen Garten mit unbeschnittenenObstbäumen. Reihen von verwitterten Spalieren lagen, über-wuchert von Weinreben, neben ausrangierten Holzkisten aufder anderen Seite des Pfades. Die Nordseite des Gebäudeswar mit Efeu bewachsen, der sich bis an den Ziegelschorn-stein hinaufgewunden hatte; dieser war offensichtlich eineneuere Errungenschaft, weil er nicht zum Baustil des übrigenGebäudes passte. Mehrere Ziegelsteine hatten sich gelöstund lagen in einem Haufen am Boden. Auch die Luft, die bisauf eine leichte Brise, die durch die Bäume strich, ganz stillwar, gab keinen Hinweis darauf, ob das Gebäude in letzterZeit bewohnt oder auch nur von Menschen betreten wordenwar.

Alex Pellier stand am Wegrand und studierte noch einmaldie Karte. Sie war den Anweisungen genau gefolgt: von Lyonaus nach Süden, an dem Dorf Vienne vorbei. Die Autobahn-strecke von Lyon her war exakt beschrieben gewesen, ein-schließlich der Abzweigungen und der unwegsamen oderholprigen Abschnitte auf Schotterpisten und Feldwegen. DieKarte selbst war zusammen mit dem Brief der Mutter Obe-rin gekommen.

Überrascht von der scheinbaren Verlassenheit sowohl desGebäudes als auch des Grundstücks, ging Alex auf das große

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Holztor zu. Sie klopfte und wartete. Keine Reaktion. Sieklopfte noch einmal.

Ganz bestimmt würde jemand kommen; sie hatte einenTermin.

Der Brief der Mutter Oberin, in einer etwas unsicheren,aber doch anmutigen Handschrift mit einem altmodischenFüllfederhalter verfasst, war an das Cluny geschickt worden,adressiert an Madame Demy, die Direktorin des Museums.Die Sprache des Briefes war ebenso geziert und verschnörkeltwie die Schrift selbst: »Wunderschöne bestickte Altarleinenmit wertvollen Einfassungen aus feinster handgeklöppelterSpitze, kostbare Wandteppiche bester Qualität aus den Grün-derjahren des Klosters im dreizehnten Jahrhundert, eine weit-räumige Bibliothek, bestückt mit zahlreichen mittelalterli-chen Handschriften von größtem Wert.« Laut der Ehrwürdi-gen Mutter Alvère wünsche das Kloster, sich vor seinem Um-zug nach Lyon seiner weltlichen Besitztümer zu entledigen.Alle Objekte seien am letzten Maiwochenende zu besichtigen.

Alex klopfte noch einmal, aber niemand kam zur Tür. Hat-ten sich die Nonnen bereits nach Lyon begeben, um dort ineinem klösterlichen Pflegeheim ihren Lebensabend zu ver-bringen? Es war erst zwei Tage her, dass Alex einen zweitenBrief von der Mutter Oberin erhalten hatte, eine Antwort aufAlex’ Bitte um einen Besuchstermin. Darin hatte sie für heu-te ein Treffen um fünf Uhr vorgeschlagen. Mittlerweile wares zehn nach fünf.

Sie klopfte wieder. War sie den ganzen Weg von Paris hier-her umsonst gefahren?

Sie wartete noch ein paar Minuten, ging dann um dasGebäude herum und drückte das Gesicht an ein Fenster, dasvon innen mit Brettern vernagelt war, um zwischen den Rit-zen der Balken hindurchzuschauen. Außer einem schwachensilbrigen Lichtschein auf einer dunklen Wand war nichts zuerkennen.

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Sie kehrte zum Haupteingang zurück und klopfte nocheinmal, jetzt etwas energischer. Immer noch nichts. Geradewollte sie es noch einmal an der Tür versuchen, als in derenoberer Hälfte ein Fensterchen aufging. Das Gesicht einer al-ten Frau tauchte auf, klein und verhutzelt, eingerahmt von ei-ner steifen weißen Haube und einem Brusttuch.

Ein paar Momente lang schaute die Frau sie nur an, dannsagte sie mit heiserer, verärgerter Stimme: »Bonjour.«

»Bonjour«, erwiderte Alex. Sie stellte sich vor, erklärte, dasssie vom Musée National du Moyen Age, dem Cluny in Paris,komme und einen Termin mit der Mutter Oberin habe.

»Elle est malade«, gab die alte Frau knapp zur Antwort.Nichts deutete darauf hin, dass die Nonne Alex hereinbittenwürde. Es war deutlich zu verstehen gewesen, dass sie nichtmit der Mutter Oberin sprechen konnte, da diese krank sei.

Alex klappte ihre Aktentasche auf und zog den ersten Briefvon Mutter Alvère heraus. Sie reichte der Nonne den Briefdurch das kleine Fenster. Während die Frau las, die Augenli-der vor Anstrengung zu schmalen Schlitzen zusammenge-presst, erklärte Alex, sie würde die Nacht in Lyon verbringen,und das sei hin und zurück jeweils eine Fahrt von über zweiStunden. Ob sie nicht hineinkommen und einen kurzen Blickauf die angebotenen Kunstschätze werfen könne?

Die alte Nonne erwiderte nichts, während ihre Augenlangsam über die Seite wanderten. Ihre dünnen Lippen wa-ren verkniffen. Einmal schaute sie zu Alex hoch, dann richte-te sie den Blick wieder auf den Brief, als enthielte er einen ge-heimen Kode oder eine verborgene Bedeutung, die es zu ent-schlüsseln galt.

»Madame Demy?«, fragte die Frau.»Madame Pellier«, korrigierte Alex. Vielleicht wäre es ja

besser gewesen, ihr gleich den zweiten Brief zu zeigen, der anAlexandra Pellier gerichtet war.

Sie zog auch dieses Schreiben aus der Aktentasche. Die alte

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Frau nahm den zweiten Brief entgegen, ohne den ersten zu-rückzugeben. Noch immer zeigten ihre Mundwinkel nachunten.

Alex stand da und wartete. Sie spürte, wie ihr vor Ärgerlangsam die Hitze ins Gesicht stieg, während die alte Klos-terfrau den zweiten Brief genauso sorgfältig las wie den ers-ten.

Schließlich reichte die Nonne Alex die Briefe, schaute sieeinen Moment lang an, sagte dann leise: »Madame Pellier«und winkte ihr mit einer gichtigen Hand.

Die Tür öffnete sich, Alex trat ein und folgte der buckli-gen kleinen Gestalt, die sich überraschend schnell bewegte,durch ein Vestibül und einen dunklen Gang entlang. Mitihrem altmodischen Habit, der aus vielen Metern rauen,schwarzen Stoffes, einer Haube und einem Brusttuch be-stand, hatte sie in Alex’ Augen keinerlei Ähnlichkeit mit denmodernen Nonnen in ihren knielangen Röcken und mit dau-ergewellten Haaren, die sie in Paris oft sah.

Das Gebäude roch nach altem Stein und nach noch etwasanderem … nach Pflegeheim, dachte Alex, während sie deralten Nonne den schmalen Flur entlang folgte. Es war einGeruch nach alten Menschen, der in ihr die Erinnerung anihre Urgroßmutter heraufbeschwor, die sie vor Jahren ein-mal in einem Altersheim besucht hatte. Dennoch gab es kei-nerlei Hinweise darauf, dass noch jemand hier lebte. Alexwusste, dass der Orden im Aussterben begriffen und nurnoch ein knappes Dutzend Nonnen übrig war, die alle zwi-schen neunundsechzig und zweiundneunzig Jahre alt waren.Sie alle sollten in ein Pflegeheim für Klosterfrauen verlegtwerden, das einem anderen Orden in Lyon gehörte und vonPhilippe Bonnisseau, dem Erzbischof von Lyon, geleitetwurde. Saint Blandine würde renoviert und in ein Hotel um-gewandelt.

Sie bogen in einen zweiten Gang, in dem die gleiche un-

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heimliche Stille herrschte wie im ersten, eine Stille, die nurdurch das gedämpfte Hallen ihrer Schritte auf dem Steinbo-den und das leise Klicken der Rosenkranzperlen durchbro-chen wurde, die die Nonne an ihrem Gürtel trug. Unvermit-telt blieb die Frau stehen und bedeutete Alex, ein kleinesZimmer zu betreten.

Alex’ Augen bewegten sich schnell und nahmen so viel insich auf, wie es das schwache Licht erlaubte. Die Wände wa-ren voller Regale, einige von ihnen so schwer mit Hundertenvon Büchern beladen, dass sie sich in der Mitte durchbogen.Ein Tisch und ein Stuhl standen mitten im Zimmer, ein höl-zerner Schreibtisch war an die gegenüberliegende Wand vorein Bücherregal gerückt. Die Luft war schlecht und rochnach Staub. Winzige Motten flatterten in einem schmalenLichtkeil, der durch ein einziges kleines Fenster hereinfiel.Die Nonne zündete zwei Wandleuchter sowie eine Lampeauf dem Schreibtisch und eine weitere auf dem Tisch in derMitte an. Als Alex die Buchrücken auf den Regalen überflog,stieg ein Gefühl der Vorahnung in ihr auf. Konnte es wirklichsein, dass der Orden der heiligen Blandine Originalhand-schriften aus dem Mittelalter besaß, so wie es Mutter Alvèreangedeutet hatte? Sie wollte sich gerade an die Nonne wen-den und ihr erklären, dass sie besonders an den frühen Wer-ken interessiert sei, die auf die Gründerjahre des Klosters zu-rückgingen, aber irgendwie war es der alten Frau gelungen,unbemerkt aus dem Zimmer zu schlüpfen.

Alex ging auf das erste Regal zu. Es war mit Büchern vollgestopft; teilweise lagen die Bände übereinander. Sie zog ei-nen davon heraus und pustete vorsichtig den Staub weg.Theologie de la Trinité, veröffentlicht Anfang 1930 und, wie essich gehörte, direkt auf der zweiten Seite mit dem Nihil obs-tat versehen, dem Unbedenklichkeitszeichen der katholi-schen Kirche. Ein Buch, das wohl für einen Sammler, nichtaber für ein Mittelalter-Museum von Bedeutung sein moch-

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te. Während sie ihren Blick über die Bücherreihen schwei-fen ließ, fragte sie sich, ob hier überhaupt etwas stehenmochte, das alt genug war, um für das Cluny von Interesse zusein. Auf den ersten Blick schien nichts aus dem Rahmen zufallen, aber alte Handschriften wurden oft neu gebundenund verloren so ihr ursprüngliches Aussehen. Jedenfalls wür-de es fast unmöglich sein, hier ohne eine Art Führer oderKatalog irgendetwas zu finden. Wie eine Nadel im Heuhaufen.Sie schaute zur Tür, aber die Nonne war noch nicht zurück-gekehrt.

Alex zog noch ein paar Bücher aus dem Regal und sah, dassdahinter weitere Bände in zweiter Reihe standen. Sie hobmehrere davon heraus, wobei sie nur diejenigen nahm, dieam ältesten aussahen, und trug sie zum Schreibtisch. Raschüberflog sie Titel und Inhalt, ohne etwas von Interesse zu fin-den. Dann ging sie zur zweiten Wand hinüber. Sie schauteauf die Uhr. Ihr war schleierhaft, wie lange man ihr gestattenwürde, sich in der Bibliothek aufzuhalten, und sie wollte auchunbedingt noch die Wandteppiche besichtigen, von denenim Brief der Mutter Oberin die Rede gewesen war.

Ihre Gedanken wandten sich ihrer sechsjährigen TochterSoleil zu. Soleil war das französische Wort für Sonne, und inder Tat war sie der große, leuchtende Mittelpunkt in Alex’Leben. Alex hatte die Kleine bei Simone und Pierre Pellier,Thierrys Eltern in Lyon, abgegeben. Sie hatte Simone ge-sagt, sie sollten mit dem Abendessen nicht auf sie warten,wenn sie bis sieben noch nicht zurück sei, und Soleil um achtzu Bett bringen. Doch Alex wusste, dass Simone Soleil wahr-scheinlich erlauben würde, länger aufzubleiben, einfach weiles ihr so viel Freude machte, mit dem kleinen Mädchen zu-sammen zu sein. Simone war völlig vernarrt in ihre Enkelin –das einzige Kind ihres einzigen Sohnes.

Alex setzte sich und ließ den Blick weiter über die Regaleschweifen. Ihr gefiel der Gedanke, hier einen echten mittel-

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alterlichen Schatz zu entdecken. Einladungen zu Besichti-gungen, die ihr aus irgendwelchen Gründen dubios erschie-nen, gab Madame Demy grundsätzlich an ihre Kuratorinweiter. Oft genug hatte Alex Häuser in Paris und überall inder französischen Provinz besucht, wo sich Gegenstände vonangeblich mittelalterlicher Herkunft als bloße Nachahmun-gen viel späteren Datums herausgestellt hatten. Dennoch be-stand stets die Möglichkeit, etwas wirklich Altes zu finden.Zu Zeiten politischer Unruhen in Frankreich war immerwieder Besitz entweder beschlagnahmt worden oder Plünde-rungen zum Opfer gefallen, und so kam es, dass manche Din-ge an den unmöglichsten Stellen wieder auftauchten. Mehre-re Wandteppiche zum Beispiel, die heute in einem Museumin New York ausgestellt wurden, waren in einer Scheune ent-deckt worden, wo man sie dazu benutzte, Feldfrüchte einzu-wickeln. Und wer wusste schon, welche Schätze man in ei-nem entlegenen Kloster oder einer Abtei zu heben vermoch-te, die einer Renovierung unterzogen wurden? Vielleichteine Handschrift oder ein Altarbild, das in den Augen derMönche oder Nonnen immer nur ein Objekt ihrer religiösenVersenkung gewesen war, bei dem es sich in Wirklichkeitaber um ein Kunstwerk handelte, das über Jahrhunderte hin-weg verschollen gewesen war? Allein die Möglichkeit, solcheEntdeckungen zu machen, fand Alex aufregend, währendMadame Demy es vorzog, auf Nummer Sicher zu gehen –etwa einen gedruckten Katalog mit einer Inventarliste vorzu-finden, in der jeder Gegenstand adäquat beschrieben und sei-ne Herkunft genau datiert war. Beide wussten, dass es nureine begrenzte Anzahl von authentischen mittelalterlichenGegenständen gab, deren Qualität sie für ein Museum taug-lich machten, und es herrschte ein harter Kampf darum, ih-rer habhaft zu werden. Wurde ein Stück erst einmal in dieSammlung eines Museums aufgenommen, war es im Grundefür immer vom Markt verschwunden. Schon allein das war

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Grund genug für Alex, jeder Spur und jeder Möglichkeitnachzugehen, so unwahrscheinlich sie auch sein mochte.

Während Alex’ Blick über die Regale schweifte, fiel er aufeine Reihe von Bänden mit abgewetzten Lederrücken, dieauf dem oberen Bord etwa in der Mitte standen. Sie ging hi-nüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, einendavon herauszuziehen. Die Bücher standen so eng beieinan-der, dass dies ein schwieriges Unterfangen war. Schließlichgelang es ihr. Nach einem letzten kräftigen Ziehen fiel dasBuch vom Regal, landete zuerst bei Alex auf dem Kopf unddann auf dem Boden, wo sich einige Blätter daraus lösten undes inmitten einer dicken Staubwolke liegen blieb.

Alex sank auf die Knie und fing an, die Seiten wieder ein-zusammeln, an deren Lettern zu erkennen war, dass sie nichtälteren Datums waren als die anderen Bücher, die sie bereitsgesehen hatte. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Seite, die sichoffenbar von den anderen unterschied. Sie war mit der Handbeschrieben, die Tinte war verblasst und über die Jahrhun-derte braun geworden. Es war ein Blatt aus Pergament, deruntere Teil abgerissen. Alex hob es auf. Es hatte die typischeBeschaffenheit von altem Pergament und fühlte sich brüchig,fast zerbrechlich an. Vorsichtig legte sie es auf eine Stelle amBoden, auf die durch das Fenster etwas Licht hereinfiel,beugte sich darüber und begann zu lesen.

Der Text war in Altfranzösisch verfasst. Einige Wortekonnte sie entziffern, andere nicht, auch weil die Tinte anmanchen Stellen so verblasst war, dass das Geschriebenenicht mehr leserlich war. Offenbar handelte es sich um einGedicht. Übersetzt hieß es:

Sie traf ihn im GartenEine Begegnung des ZufallsDoch wie vom Schicksal gewollt …Inmitten vom Duft der …

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Der Garten war in allen Einzelheiten und mit all seinenBlumen beschrieben – Maßliebchen, Stiefmütterchen, Mai-glöckchen, Nelken, Immergrün, Rosen.

Er war nur ein einfacher tapissier,sie eine holde Maid …und von allen Blumen hatt’ sie den schönsten Duft …

Alex kicherte vor sich hin. Ziemlich blumig, das Ganze. Esfolgte eine langatmige Beschreibung der Bäume in dem Gar-ten, darunter auch, wenn sie richtig übersetzte, Eichen, Kie-fern, Holunder und Orangenbäume.

Dann stand da etwas über die junge Frau – bei dem Gedan-ken musste Alex laut lachen, denn wenn sie das richtig ver-stand, hieß es da, sie sei eine Frucht, die nur darauf wartete, ge-pflückt zu werden.

Interessant. Aber wohl kaum eine mittelalterliche Hand-schrift. Nur ein harmloses Gedichtchen, von einem Hobby-poeten auf dünnes Pergament gekritzelt, und nicht einmalmit besonders viel Talent. Trotzdem war sie neugierig gewor-den. Sie las weiter.

Keine größere Sünde gab’s,Als diese Liebe zu verleugnen …Und so kam sie in das Haus der Frauen …Die den Herrn lieben …

Das Kloster?, fragte sich Alex. Hier war der Vers zerrissen.Sie schaute die Seiten auf dem Boden durch, weil es möglichsein konnte, dass der untere, abgerissene Teil der Seite eben-falls in dem Buch versteckt gewesen war. Zwischen ein paaranderen Seiten lugte die Ecke eines weiteren Pergamentblat-tes hervor. Sie zog es heraus. Offenbar handelte es sich tat-sächlich um die zweite Seite des Gedichts.

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Das Werk ihrer Liebe …Dort begraben unter Stein …

Wieder ein paar unleserliche Wörter.

… und noch einmal sollt’ ihre Liebe erblühen …Und die Frucht, die Leidenschaft ihrer Liebe …Zu finden im nahen Dorf …

Alex saß auf dem kalten Steinboden, schaute auf das Perga-ment und fragte sich, ob es sich hier wohl um die romanti-schen Verse einer sexuell frustrierten Nonne handelte. Odersteckte doch mehr dahinter? Jedenfalls waren die Schriftstü-cke sehr alt, das erkannte man an der Sprache, am Material.

Sie hörte Geräusche auf dem Korridor und schaute auf, alsdie runzlige alte Nonne das Zimmer betrat. Missbilligendließ die alte Frau den Blick über den Boden schweifen. Sieentdeckte den Stapel Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen,schnalzte verärgert mit der Zunge und murmelte dann etwaswie: »Monsieur le Docteur Henri Martineau« – oder war esMarceau gewesen? – »est arrivé.« Alex war sich nicht ganz si-cher, was die Nonne gesagt hatte, aber als die Alte begann,die Bücher zurück ins Regal zu stellen, gab sie ihr damit klarzu verstehen, dass Alex’ Zeit um war.

Alex sammelte die Blätter vom Boden auf. Mit erstaunli-cher Behändigkeit bückte sich die Nonne und hob die zerris-sene Seite auf, als handelte es sich um eine Seite wie jede an-dere auch. Sie nahm von Alex die restlichen Seiten entgegen,schob sie alle zurück zwischen den Ledereinband, legte sieauf eines der unteren Regale und bedeutete Alex, ihr zu fol-gen.

»Könnte ich vielleicht einen Blick auf die Wandteppichewerfen?«

»Non aujourd’hui«, erwiderte die Nonne. Heute nicht.