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HOWARD PHILLIPS LOVECRAFT HERBERT WEST - DER WIEDERERWECKER

Lovecraft, H. P. - Herbert West - Der Wiedererweckerhuygenz/docs/Lovecraft/Lovecraft, H. P... · I Aus dem Dunkel Von Herbert West, der im College und auch im übrigen Leben mein

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HOWARD PHILLIPS LOVECRAFT

HERBERT WEST -DER WIEDERERWECKER

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:HERBERT WEST – REANIMATOR

Erstmals erschienen inHome Brew, 1922

Der vorliegende Scan stammt aus dem SammelbandH. P. LOVECRAFT – STADT OHNE NAMEN

Suhrkamp, 1981

Deutsche Übersetzung:Charlotte Gräfin von Klinckowstroem

ISBN: 3-453-13967-4

Dieses eBook ist Freeware und nicht zum Verkauf bestimmt!

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IAus dem Dunkel

Von Herbert West, der im College und auch im übrigen Lebenmein Freund war, kann ich nur mit äußerstem Widerwillen sprechen.Dieser Widerwille ist nicht nur der rätselhaften Art seines kürzlichenVerschwindens zuzuschreiben, sondern er resultierte aus der ganzenArt seiner Lebensarbeit und nahm das erste Mal vor mehr als sieb-zehn Jahren ausgeprägte Gestalt an, als wir im dritten Jahr unseresStudiums an der Medizinischen Fakultät der Miskatonic-Universitätin Arkham waren. Während wir zusammen waren, fesselte mich dasWunderbare und Teuflische seiner Experimente völlig, und ich warsein engster Kamerad. Erinnerungen und Möglichkeiten sind vielschrecklicher als Realitäten.

Der erste gräßliche Zwischenfall unserer Bekanntschaft war dergrößte Schock, den ich je erlebte, und ich gebe ihn nur ungernwieder. Wie ich bereits sagte, geschah es, als wir Medizin studierten.West hatte sich wegen seiner unmöglichen Theorien über die Naturdes Todes und die Möglichkeit, ihn künstlich zu besiegen, unmöglichgemacht. Seine Ansichten, die von der Fakultät und seinen Mitstu-dierenden weitgehend lächerlich gemacht wurden, drehten sich umdie in der Hauptsache mechanisch ablaufende Natur der Lebensvor-gänge und erstreckten sich auf die Mittel, den menschlichen Organis-mus durch genau berechnete chemische Vorgänge anzuregen, wennder natürliche Prozeß aussetzte. Er hatte während seiner Experimentemit verschiedenen belebenden Lösungen ungeheuere Mengen vonKaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunden und Affen behandeltund getötet, bis er für die Universität zur größten Belastung wurde.Es war ihm wirklich ein paarmal gelungen, bei scheinbar toten TierenLebensregungen hervorzurufen, in vielen Fällen sogar sehr heftige,aber er sah bald ein, daß die Vervollkommnung dieses Prozesses,falls er wirklich durchführbar war, notwendigerweise lebenslänglicheForschungsarbeit erfordern würde.

Es wurde gleichermaßen klar, daß die gleiche Lösung bei verschie-denen lebenden Arten nie dieselbe Wirkung haben könne, er würdefür den weiteren, spezialisierten Arbeitsprozeß menschliche Ver-suchsobjekte benötigen. Hier geriet er das erste Mal mit den Univer-sitätsbehörden in Konflikt und wurde aus weiteren Experimenten vonkeinem geringeren Würdenträger als dem Dekan der Medizinischen

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Fakultät in Person, dem gelehrten und wohlwollenden Dr. AllanHalsey, ausgeschlossen, dessen Arbeit im Interesse der Leidenden je-der alte Einwohner von Arkham in Erinnerung hat.

Ich war Wests Studien gegenüber stets ausnehmend tolerant ge-wesen, und wir erörterten häufig seine Theorien, deren Verzwei-gungen und Zusätze schier endlos waren.

Mit Haeckel einer Meinung, daß alles Leben ein chemischer undphysikalischer Prozeß sei und daß die sogenannte »Seele« eine My-the ist, glaubte mein Freund, daß die künstliche Wiedererweckungeines Toten vom Zustand seines Körpergewebes abhinge und daß,solange die tatsächliche Verwesung noch nicht eingesetzt habe, einKörper, der im Besitz all seiner Organe ist, mit entsprechenden Maß-nahmen wieder funktionsfähig gemacht werden könne, in der ihmeigentümlichen Art, die wir Leben nennen. Daß das Seelen- oderGeistesleben durch einen geringfügigen Verfall der empfindlichenHirnzellen, den selbst ein kurzfristiger Tod verursachen könnte, be-einträchtigt würde, war West völlig klar. Es war zunächst seine Hoff-nung gewesen, ein Reagens zu finden, das die Lebensfähigkeit vordem Eintritt des eigentlichen Todes wiederherstellen würde, und nurwiederholte Fehlschläge mit Tieren hatten ihm gezeigt, daß natürli-che und künstliche Lebensregungen unvereinbar seien.

Dann trachtete er nach äußerst frischem Erhaltungszustand seinerVersuchsobjekte, indem er seine Lösungen unmittelbar nach demErlöschen des Lebens ins Blut injizierte. Es war dieser Umstand, derseine Professoren so unbedacht skeptisch machte, denn sie hatten dasGefühl, daß der Tod noch in keinem Fall wirklich eingetreten war.Sie nahmen sich nicht die Zeit, sich mit der Sache näher und ver-nunftgemäßer zu befassen.

Nicht lange, nachdem ihm die Fakultät seine Arbeit untersagthatte, vertraute West mir seine Entschlossenheit an, sich auf irgend-eine Weise frische Leichen zu verschaffen und im geheimen seineVersuche fortzusetzen, die er nicht mehr öffentlich durchführen durf-te.

Ihn die Mittel und Wege erörtern zu hören, war ziemlich ab-stoßend, denn an der Universität hatten wir uns die anatomischenVersuchsobjekte nie selbst beschaffen müssen. Immer, wenn derBestand an Leichen ungenügend war, nahmen sich zwei ortsansässigeNeger der Sache an, und man stellte ihnen selten unangenehmeFragen. West war damals ein kleiner, schlanker, bebrillter Jüngling

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mit zarten Gesichtszügen, blondem Haar, blaßblauen Augen undeiner sanften Stimme, und es wirkte unheimlich, ihn bei den sehr re-lativen Vorzügen des Friedhofs der Christ Church und des PottersField verweilen zu hören, denn in der Christ Church wurde praktischjede Leiche einbalsamiert, eine Tatsache, die sich auf Wests For-schungsarbeit natürlich ruinös auswirkte. Ich war zu der Zeit sein ak-tiver und vorbehaltloser Assistent und half ihm, Entscheidungen zutreffen, nicht nur im Hinblick auf die Herkunft unserer Leichen, son-dern auch in bezug auf einen passenden Ort für unsere ekelhafteArbeit. Ich war es, der an das verlassene Chapman-Farmhaus hinterMeadow Hill dachte, wo wir im Untergeschoß einen Operationsraumund ein Labor einrichteten, jedes mit dunklen Vorhängen versehen,um unsere mitternächtliche Tätigkeit zu verbergen. Der Ort lag vonjeder Straße weit ab und außer Sichtweite anderer Häuser, dennochwaren Sicherheitsvorkehrungen notwendig, da Gerüchte, von merk-würdigen Lichtern, von zufällig nächtlicherweile Herumstreifendenin Gang gesetzt, unserem Unternehmen bald abträglich sein würden.Wir kamen überein, das Ganze als chemisches Labor zu bezeichnen,falls man uns entdecken sollte. Nach und nach statteten wir unserendüsteren Hort der Wissenschaft mit Gegenständen aus, die wir entwe-der in Boston kauften oder heimlich bei der Universität organisierten- Gegenständen, die wir, außer für das kundige Auge, unkenntlichmachten -, und beschafften uns Spaten und Hacken für die vielenGräber, die wir im Keller würden anlegen müssen. An der Universitätbenutzten wir einen Verbrennungsofen, aber die Apparatur wäre fürunser nicht genehmigtes Labor zu kostspielig gewesen. Leichenwaren stets eine Belastung - selbst die der kleinen Meerschweinchenaus den oberflächlichen, heimlichen Experimenten in WestsPensionszimmer. Wir verfolgten die örtlichen Todesanzeigen wieGhulen (leichenfressende Dämonen), denn unsere Objekte mußtenbestimmte Eigenschaften aufweisen. Was wir brauchten, waren Lei-chen, die bald nach dem Tod und ohne künstliche Konservierungs-maßnahmen beerdigt worden waren, möglichst frei vonverunstaltenden Leiden und natürlich mit allen Organen an Ort undStelle. Opfer von Unfällen waren unsere größte Hoffnung. Wirhörten wochenlang von nichts Geeignetem, obwohl wir mit Leichen-schauhaus- und Krankenhausbehörden sprachen, scheinbar im Inter-esse des College, so häufig, wie wir es tun konnten, ohne Verdachtzu erregen. Wir fanden heraus, daß das College in jedem Fall Vor-recht hatte, so daß es nötig sein mochte, den Sommer über in Arkham

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zu bleiben, als nur die wenig besuchten Sommervorlesungen gehaltenwurden. Endlich war uns indessen das Glück hold, denn eines Tageserfuhren wir von einem beinah idealen Fall aus dem Potters Field(dem ungeweihten Begräbnisplatz außerhalb der Friedhofsmauern),einem kräftigen jungen Arbeiter, der erst am vorangegangenenMorgen im Summer Pond ertrunken war und der unverzüglich undohne Einbalsamierung auf Kosten der Stadt beerdigt worden war. Andiesem Nachmittag entdeckten wir das frische Grab und entschlossenuns, kurz nach Mitternacht mit der Arbeit zu beginnen.

Es war eine abstoßende Beschäftigung, der wir uns in der Finster-nis der frühen Morgenstunden unterzogen, obwohl uns damals nochdie ausgeprägte Friedhofsangst abging, die spätere Erlebnisse uns be-scherten. Wir führten Spaten und abgedunkelte Öllampen mit, dennobwohl elektrische Taschenlampen bereits hergestellt wurden, warensie nicht so zufriedenstellend wie die heutigen Tungstenleuchten. DerAusgrabungsprozeß war langsam und unerfreulich - man könnte ihnauf grausige Weise poetisch nennen, wären wir Künstler und nichtWissenschaftler gewesen - und wir waren froh, als unsere Spaten aufHolz stießen. Als der Fichtensarg völlig freilag, kletterte West hinun-ter und hob den Deckel ab, dann zerrte er den Inhalt heraus undbrachte ihn in sitzende Stellung. Ich langte hinunter und zog denGrabinhalt heraus, dann arbeiteten wir beide angestrengt, um derStelle ihr früheres Aussehen wiederzugeben. Die Sache machte unsziemlich nervös, insbesondere die starre Gestalt und das ausdrucks-lose Gesicht unserer ersten Trophäe, aber es gelang uns, alle Spurenunseres Besuches zu verwischen. Als wir die letzte Schaufel Erde ge-glättet hatten, steckten wir unser Versuchsobjekt in einen Leinwand-sack und machten uns zu dem alten Chapman-Haus hinter MeadowHill auf.

Auf dem behelfsmäßigen Seziertisch des alten Farmhauses, beimLicht einer starken Acetylenlampe, sah unser Versuchsobjekt nichtsehr gespenstisch aus. Er war ein kräftiger und offensichtlich phan-tasieloser junger Mann von gesundem, plebejischem Typ gewesen -grobknochig, grauäugig, brünett, ein gesundes Lebewesen ohne psy-chologische Feinheiten, wahrscheinlich mit Lebensvorgängen dereinfachsten und gesündesten Art. Jetzt, mit geschlossenen Augen, saher mehr schlafend denn tot aus; obwohl der sachverständige Testmeines Freundes darüber keinen Zweifel ließ. Wir hatten jetzt, wasWest immer herbeigesehnt hatte - einen wirklichen Toten des Ideal-

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typs, bereit für die Lösung, die nach genauen, sorgfältigsten Berech-nungen hergestellt worden war. Unsere Spannung wurde sehr groß.Wir wußten, daß es für so etwas wie einen durchschlagenden Erfolgkaum eine Chance gab, und konnten uns der schrecklichen Furchtmöglicher grotesker Resultate einer teilweisen Wiederbelebung nichtverschließen. Wir waren im Hinblick auf den Geist und die Impulsedes Geschöpfes sehr besorgt, da in der seit dem Tode verstrichenenZeit einige der empfindlichen Hirnzellen Schaden erlitten habenmochten. Ich selbst hegte noch einige merkwürdige Vorstellungenvon der traditionellen »Seele« des Menschen und fühlte einen Ehr-furchtsschauer vor den Geheimnissen, die ein von den Toten zurück-gekehrter zu berichten haben würde. Ich fragte mich, was dieserunkomplizierte junge Mann in unerreichbaren Sphären für Dinge zuGesicht bekommen würde und was er erzählen könne, wenn man ihnganz ins Leben zurückriefe. Aber meine Neugierde war nicht über-wältigend, da ich größtenteils den Materialismus meines Freundesteilte. Er war gefaßter als ich, während er eine große Menge dieserFlüssigkeit in eine Armvene des Leichnams injizierte und den Ein-stich sofort fest umwickelte. Das Warten war furchtbar, aber Westblieb ganz ruhig. Ab und zu untersuchte er das Versuchsobjekt mitHilfe des Stethoskops und ertrug die negativen Ergebnisse wie einPhilosoph. Nach ungefähr dreiviertel Stunden ohne das geringsteLebenszeichen, erklärte er enttäuscht die Lösung für ungeeignet, waraber entschlossen, aus der Gelegenheit das Beste herauszuholen undeine Abwandlung des Rezepts auszuprobieren, bevor er sich dieserschrecklichen Beute entledigte. Wir hatten am Nachmittag im Kellerein Grab geschaufelt und würden es vor dem Morgengrauen wiederzuschütten müssen - denn obwohl wir ein Schloß am Haus ange-bracht hatten, wollten wir selbst das entfernteste Risiko einer gräßli-chen Entdeckung vermeiden. Außerdem würde der Körper amnächsten Abend auch nicht mehr annähernd frisch genug sein. Wirtrugen die einzige Acetylenlampe in das Labor nebenan, ließen un-seren schweigenden Gast auf dem Tisch im Dunkeln zurück und wid-meten all unsere Energie dem Mischen einer neuen Lösung, derenWiegen und Abmessen West mit beinah fanatischer Sorgfalt über-wachte.

Das schreckliche Ereignis trat plötzlich und gänzlich unerwartetein. Ich goß gerade etwas von einem Reagenzglas in ein anderes, undWest war mit der Alkoholgebläselampe beschäftigt, die uns in demGebäude ohne Gasanschluß den Bunsenbrenner ersetzen mußte, als

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aus dem stockdunklen Zimmer, das wir verlassen hatten eine entsetz-liche und dämonische Folge von Schreien herüberdrang, wie siekeiner von uns je vernommen hatte. Das Chaos unbeschreiblicherTöne hätte nicht unsagbarer sein können, wenn der Höllenschlundselbst sich aufgetan hätte, um die Seelenängste der Verdammtenloszulassen, denn in einer unvorstellbaren Kakophonie konzentriertesich all das überirdische Grauen und die ungeheuerliche Verzweif-lung der beseelten Natur. Es hatte nichts Menschliches an sich - keinMensch kann derartige Töne produzieren -, und ohne an unserejüngste Beschäftigung und ihre mögliche Entdeckung zu denken,sprangen West und ich wie getroffene Tiere aufs nächste Fenster zu,indem wir Reagenzgläser, die Lampe und Retorten umwarfen, umuns wie verrückt in den bestirnten Abgrund der ländlichen Nacht hin-auszuschwingen. Ich glaube, wir schrien selbst, als wir wiewahnsinnig der Stadt zustolperten, obwohl wir, als wir die Außenbe-zirke erreichten, uns zur Fassung zwangen - gerade genug, um denEindruck von verspäteten Zechern zu erwecken, die von einer nächt-lichen Sauftour nach Hause wanken.

Wir trennten uns nicht, so gelang es uns, Wests Zimmer zu errei-chen, wo wir bei Gaslicht bis zum Morgengrauen miteinanderflüsterten. Bis dahin hatten wir uns mit vernunftgemäßen Theorienund Plänen für eine Nachuntersuchung so weit beruhigt, daß wir denTag über schlafen konnten - und den Unterricht Unterricht seinließen. Aber an diesem Abend machten zwei Zeitungsnotizen, dienichts miteinander zu tun hatten, es uns wiederum unmöglich zuschlafen. Das alte, verlassene Chapman-Haus war unerklärlicher-weise zu einem formlosen Aschenhügel niedergebrannt, was unswegen der umgestürzten Lampe verständlich war, außerdem war derVersuch unternommen worden, ein frisches Grab im Potters Fieldaufzuwühlen, als ob jemand vergeblich ohne Spaten die Erde aufzu-scharren versucht hätte. Wir konnten uns dies nicht erklären, dennwir hatten den Grabhügel sehr sorgfältig wieder geglättet. Und fürsiebzehn Jahre danach pflegte West sich häufig umzusehen und sichzu beklagen, er bilde sich ein, Schritte hinter sich zu hören. Jetzt ister verschwunden.

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IIDer Seuchendämon

Ich werde nie den schrecklichen Sommer vor sechzehn Jahrenvergessen, als wie ein schädlicher Efrit aus Eblis Hallen der Typhusauf Opfer lauernd durch Arkham schlich. Wegen dieser teuflischenPlage entsinnen sich die meisten dieses Jahres, denn leibhaftigesGrauen schwebte auf Fledermausflügeln über den aufeinanderge-türmten Särgen in den Gräbern des Christ-Church-Friedhofes,dennoch barg für mich diese Zeit noch größeres Grauen - ein Grauen,von dem nur ich weiß, seit Herbert West verschwunden ist. NachErlangung unseres akademischen Grades arbeiteten West und ichwährend des Sommersemesters an der Medizinischen Fakultät derMiskatonic-Universität, und mein Freund war wegen seiner Versu-che, die zur Wiederbelebung Verstorbener führen sollten, eine allbe-kannte Persönlichkeit geworden. Nach der wissenschaftlichenAbschlachtung Tausender kleiner Tiere war die absonderliche Tätig-keit auf Befehl unseres skeptischen Dekans, Dr. Allan Halsey,scheinbar gestoppt worden; obwohl West fortfuhr, in seinem dunklenPensionszimmer heimliche Versuche durchzuführen, und er hatte beieiner schrecklichen und unvergeßlichen Gelegenheit einen menschli-chen Leichnam aus dem Grab im Potters Field gestohlen und in dasverlassene Farmhaus hinter Meadow Hill gebracht.

Ich war bei diesem widerlichen Ereignis mit ihm beisammen, undich sah ihn das Elixier in die toten Venen injizieren, von dem erangenommen hatte, es würde bis zu einem gewissen Grade die che-mischen und physischen Lebensvorgänge wieder in Gang bringen. Eshatte gräßlich geendet - in einem Delirium der Furcht, das wir all-mählich unseren überreizten Nerven zuzuschreiben begannen -Westwurde später nie mehr das unbehagliche Gefühl los, verfolgt und ge-jagt zu werden. Die Leiche war nicht frisch genug gewesen, es liegtauf der Hand, daß, will man einem Körper seine normalen geistigenMerkmale zurückgeben, er wirklich ganz frisch sein muß. Das Nie-derbrennen des alten Hauses hatte uns daran gehindert, den Toten zubegraben. Es wäre besser gewesen, wenn wir gewußt hätten, daß erwieder unter der Erde lag.

Nach diesem Erlebnis hatte West für einige Zeit seine Versuchefallenlassen, aber als der Eifer des geborenen Wissenschaftlers all-mählich wieder erwachte, fiel er der Collegefakultät wiederum lästig,

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indem er um den Gebrauch des Sezierraumes und frischer menschli-cher Versuchsobjekte bat, im Interesse der Arbeit, die er für so über-aus wichtig hielt. Seine Bitten waren indessen vergeblich, denn derEntschluß Dr. Halseys stand unverrückbar fest, und die anderenProfessoren bestätigten das Urteil ihres Vorgesetzten. Sie sahen inder umwälzenden Theorie der Wiederbelebung nichts als die un-ausgegorenen Ideen eines jugendlichen Enthusiasten, dessen zierlicheGestalt, dessen blondes Haar, dessen sanfte Stimme nichts von derübernormalen, beinah teuflischen Art des dahintersteckenden eiskal-ten Intellekts erahnen ließ. Ich sehe ihn heute vor mir, wie er damalswar -und zittere. Sein Gesichtsausdruck wurde zwar härter, aber nie-mals älter. Und jetzt ist in Sefton ein Unglück geschehen, und Westist verschwunden. Am Ende des letzten Semesters vor Erlangung desersten akademischen Grades, geriet West in einem wortreichen Dis-put mit Dr. Halsey aneinander, der ihm in bezug auf Höflichkeit nichtsoviel Ehre machte wie dem gütigen Dekan. Er hatte das Gefühl,nutzlos und unvernünftig in seiner überragend wichtigen Arbeit be-hindert zu werden, einer Arbeit, die er natürlich in späteren Jahrennach eigenem Ermessen fortsetzen könne, mit der er aber beginnenwolle, solange ihm die ausgezeichneten Einrichtungen der Universi-tät zu Gebote stünden. Er fand es unaussprechlich widerwärtig, daßdie traditionsgebundenen Vorgesetzten seine einzigartigen Erfolgebei Tierversuchen ignorierten und auf ihrer Ableugnung derMöglichkeit einer Wiederbelebung beharrten, für einen Geist vonWests logischer Veranlagung nahezu unbegreiflich. Nur größeregeistige Reife konnte ihm dazu verhelfen, die unverrückbaren geis-tigen Grenzen des »Professor-Doktor«Typs zu erkennen - des Pro-dukts vieler Generationen unnachgiebiger Puritanismus, gütig,gewissenhaft, manchmal sanft und liebenswürdig, dennochbeschränkt und intolerant, Gewohnheiten unterworfen und jeglicherPerspektive ermangelnd. Das Alter hat mehr Nachsicht mit diesenunvollkommenen und dennoch hochherzigen Charakteren, dereneinzige wirkliche Untugend Zurückhaltung ist und die am Ende fürihre intellektuellen Sünden dem allgemeinen Gespött anheimfallen -Sünden wie Ptolemäismus, Calvinismus, Antidarwinismus und An-tinietzscheismus und alle anderen Arten von Sektiererei und Kleider-ordnung. West, trotz überragender wissenschaftlicher Leistungensehr jung, hatte mit dem guten Dr. Halsey und seinen gelehrtenKollegen wenig Geduld und hegte einen steigenden Groll, gepaartmit dem Wunsch, diesen abgestumpften Ehrenmännern seine Theori-

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en schlagend und überzeugend zu beweisen. Wie die meisten jungenLeute, gab er sich sorgfältig durchdachten Tagträumen hin, von Ra-che, Triumph und von großmütiger Vergebung, die er schließlich ge-währen würde. Dann war die Seuche grinsend und tödlich aus denalpdruckähnlichen Höhlen des Tartarus emporgestiegen, West undich hatten zur Zeit ihres Beginns soeben den ersten akademischenGrad erlangt, waren aber für zusätzliche Arbeit im Sommerkurs ge-blieben, so daß wir in Arkham weilten, als sie in ihrer ganzen dä-monischen Wucht über die Stadt hereinbrach. Obwohl noch nichtzugelassene Ärzte, hatten wir jetzt unseren Grad, wir wurden un-erbittlich zum öffentlichen Dienst gezwungen, als die Zahl der Kran-ken zunahm. Die Lage war fast nicht zu bewältigen, und dieTodesfälle traten für die örtlichen Leichenbestatter zu häufig ein, umganz damit fertig zu werden. Beerdigungen ohne vorheriges Einbal-samieren folgten rasch hintereinander, und selbst das Notaufnahme-grab auf dem Friedhof der Christ Church füllte sich mit Särgen nichteinbalsamierter Toter. Dieser Umstand blieb auf West nicht ohneWirkung, der oft über die Ironie der Lage nachdachte - so vielefrische Versuchsobjekte, dennoch nichts für seine verbotene For-schungsarbeit! Wir waren schrecklich überarbeitet und die entsetzli-che geistige und nervliche Anstrengung veranlaßte meinen Freund zukrankhaften Grübeleien.

Aber Wests sanftmütige Feinde waren nicht weniger von ihren auf-reibenden Pflichten erschöpft, es fanden fast keine Vorlesungen mehrstatt, und jeder Doktor der Medizinischen Fakultät half mit, den Ty-phus zu bekämpfen. Ganz besonders Dr. Halsey hatte sich durch auf-opfernden Dienst ausgezeichnet, indem er all seine Kunst mit ganzerEnergie auf Fälle verwandte, welche andere wegen der Gefahr oderoffensichtlichen Hoffnungslosigkeit mieden. Bevor ein Monat umwar, war der furchtlose Dekan zum Volkshelden geworden, obwohler sich seines Ruhmes gar nicht bewußt war, als er dagegen ankämpf-te, vor körperlicher Ermüdung und nervlicher Erschöpfung zu-sammenzubrechen. West konnte der Seelenstärke seines Feindesseine Bewunderung nicht versagen, aber gerade darum war er mehrdenn je entschlossen, ihn von der Wahrheit seiner erstaunlichenLehrsätze zu überzeugen. Indem er sich die Verwirrung, sowohl derUniversitätsarbeit als auch der städtischen Gesundheitsvorschriftenzunutze machte, gelang es ihm, die Leiche eines kürzlich Verstor-benen eines Abends in den Sezierraum der Universität zu schmug-geln, und injizierte ihm in meiner Gegenwart eine Modifikation

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seiner Lösung. Das Wesen öffnete tatsächlich die Augen, aber esstarrte lediglich mit einem Blick, der einem die Seele gefrieren ließ,zur Decke, bevor es in Leblosigkeit zurücksank, aus der nichts eserwecken konnte. West meinte, es sei nicht frisch genug -die Som-merhitze ist Leichen nicht hold. Diesmal wurden wir beinah erwischt,bevor wir das Wesen einäschern konnten, und West bezweifelte, obes ratsam sei, den gewagten Mißbrauch des Universitätslabors zuwiederholen.

Im August erreichte die Epidemie ihren Höhepunkt. West und ichwaren halbtot, und Dr. Halsey starb am vierzehnten. Die Studentennahmen sämtlich an dem am fünfzehnten stattfindenden eiligen Be-gräbnis teil und kauften einen eindrucksvollen Kranz, obwohl dieservon den Blumenspenden reicher Arkhamer Bürger und denen derStadtverwaltung völlig in den Schatten gestellt wurde. Es war fasteine öffentliche Angelegenheit, denn der Dekan war sicherlich ein öf-fentlicher Wohltäter gewesen. Wir waren nach der Beisetzung alle ir-gendwie niedergeschlagen und verbrachten den Nachmittag in derBar des Handelshauses, wo West, obwohl erschüttert durch den Todseines Hauptwidersachers, die anderen mit Hinweisen auf seine be-rüchtigten Theorien einschüchterte. Als es später wurde, gingen diemeisten Studenten heim oder sonstigen Pflichten nach, aber Westbrachte mich dazu, ihm behilflich zu sein, »uns die Nacht um die Oh-ren zu schlagen«. Wests Vermieterin sah uns ungefähr um zwei Uhrin der Frühe ankommen, mit einem dritten Mann zwischen uns, undsie sagte zu ihrem Mann, wir müßten offensichtlich alle gut gegessenund getrunken haben.

Offenbar hatte die etwas säuerliche Matrone recht, denn ungefährum drei Uhr in der Frühe wurde das ganze Haus von Schreien, dieaus Wests Zimmer drangen, aus dem Schlaf gerissen, wo sie, nach-dem sie die Tür aufgebrochen hatten, uns beide ohnmächtig auf demblutbefleckten Teppich fanden, zerschlagen, zerkratzt und schwerverletzt, umgeben von den zerbrochenen Überresten von Wests Fla-schen und Instrumenten. Nur ein offenes Fenster verriet, was aus un-serem Angreifer geworden war und viele wunderten sich, wie er wohlnach dem schrecklichen Sprung davongekommen sein mochte, den eraus dem zweiten Stock auf den Rasen hatte machen müssen. ImZimmer fanden sich einige merkwürdige Kleidungsstücke, aber Westsagte, nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte, sie gehörtennicht dem Fremden, sondern sie seien Probestücke, die er für eine

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bakteriologische Analyse im Rahmen seiner Untersuchungen über dieÜbertragbarkeit von ansteckenden Krankheiten mitgebracht habe. Ergab den Auftrag, sie so schnell wie möglich in dem großen Kamin zuverbrennen. Der Polizei gegenüber gaben wir beide vor, unseren letz-ten Begleiter nicht zu kennen. Er war, wie West nervös sagte, ein unszusagender Fremder, den wir in einer Bar der Innenstadt, von der wirnicht mehr wußten, wo sie sich befand, getroffen hatten. Wir warenalle sehr aufgeräumt gewesen, und West wünschte nicht, daß unserkampflustiger Begleiter verfolgt würde.

In derselben Nacht erlebte Arkham den Beginn des zweitenGrauens, eines Grauens, das in meinen Augen die Seuche selbst inden Schatten stellte. Der Christ-Church-Friedhof wurde zum Schau-platz eines gräßlichen Mordes, ein Friedhofswärter war auf eineWeise, so schrecklich, daß einem die Worte dafür fehlen, durchKrallenhiebe getötet worden, was Zweifel wachrief, ob ein Menschdie Tat begangen haben könne. Das Opfer war lang nach Mitternachtnoch lebend gesehen worden - die Morgendämmerung enthüllte dieunaussprechliche Begebenheit. Der Direktor eines Zirkus in derNachbarstadt Bolton wurde verhört, aber er schwor, daß keines sei-ner Tiere zu irgendeiner Zeit aus seinem Käfig ausgebrochen sei.Die, welche den Leichnam auffanden, stellten fest, daß eine Blutspurzum Notaufnahmegrab führte, wo eine kleine rote Pfütze sich aufdem Betonboden außerhalb des Tores fand. Eine schwache Spurführte in Richtung Wald, verlor sich aber bald. In der nächsten Nachttanzten Teufel auf den Dächern von Arkham, und der Wind heultemit unnatürlichem Wahnsinn. Durch die fiebernde Stadt schlich ver-stohlen ein Fluch, von dem manche behaupteten, er sei schlimmer alsdie Seuche, und von dem einige sich zuflüsterten, daß er die verkör-perte Teufelsseele der Seuche selbst sei. Das namenlose Wesendrang in acht Häuser ein und ließ roten Tod hinter sich, alles zu-sammen wurden siebzehn verstümmelte Reste von Körpern von demstummen, sadistischen Ungeheuer, das herumschlich, zurückgelassen.Einige Personen hatten es im Dunkeln halb gesehen und sagten, essei ein Weißer und wie ein mißgestalteter Affe oder ein menschen-ähnliches Scheusal. Es hatte nicht alle hinterlassen, die es angegriffenhatte, denn es war gelegentlich hungrig gewesen. Die Anzahl der Ge-töteten betrug vierzehn, drei der Körper hatten sich in Seuchen-häusern befunden und waren nicht mehr am Leben gewesen.

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In der dritten Nacht fingen es von der Polizei angeführteverzweifelte Suchtrupps in einem Haus in der Crane Street nahe demMiskatonic-Campus ein. Sie hatten die Suche sorgfältig vorbereitet,indem sie mit Hilfe eines freiwilligen Telephondienstes unterein-ander in Verbindung blieben, und als jemand im Collegedistriktmeldete, Kratzen an einem Fensterladen gehört zu haben, wurde dasNetz rasch ausgeworfen. Wegen des allgemeinen Alarms und derVorsichtsmaßnahmen gab es nur zwei weitere Opfer, und die Verhaf-tung wurde ohne größere Verluste durchgeführt. Das Wesen wurdeschließlich durch eine Kugel gestoppt, wenn sie auch nicht tödlichwar und unter allgemeiner Erregung und Abscheu schnell ins Orts-krankenhaus transportiert.

Denn es war ein Mensch gewesen. Soviel war klar, trotz der wider-lichen Augen, der stimmlosen Affenähnlichkeit und der dämonischenWildheit. Sie verbanden die Wunde und brachten es in das Irrenhausvon Sefton, wo es sechzehn Jahre lang gegen die gepolsterten Wändeder Tobsuchtszelle anrannte - bis zu dem neuerlichen Unglücksfall,als es unter Umständen, die niemand wiedergeben kann, entkam.Was die Leute des Suchtrupps in Arkham am meisten entsetzte, warder Umstand, den sie entdeckten, als sie das Gesicht des Ungeheuerswuschen - die hohnsprechende unglaubliche Ähnlichkeit mit dem ge-lehrten, aufopferungsvollen Märtyrer, der erst vor drei Tagen be-erdigt worden war - dem verstorbenen Dr. Allan Halsey, öffentlicherWohltäter und Dekan der Medizinischen Fakultät an der Miskatonic-Universität. Für den verschwundenen West und mich waren Abscheuund Grauen am größten. Ich schaudere an diesem Abend, wenn ichdaran denke, schaudere noch mehr, als ich es an jenem Morgen tat,als West durch seine Verbände hindurch murmelte: »Verdammtnochmal, es war doch nicht ganz frisch genug!«

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IIISechs Schüsse im Mondschein

Es ist ungewöhnlich, alle sechs Schüsse eines Revolvers hinterein-ander abzufeuern, wenn einer wahrscheinlich genügen würde, aber inHerbert Wests Leben war vieles ungewöhnlich. Es passiert z. B. nichthäufig, daß ein junger Arzt, der das College verläßt, gezwungen ist,die Gründe geheimzuhalten, die seine Wohnungs- und Praxiswahlbestimmen, dennoch war es bei Herbert West der Fall. Als wir un-seren Doktorgrad an der Medizinischen Fakultät der Miskatonic-Uni-versität erwarben und unserer Armut abzuhelfen versuchten, indemwir uns als praktische Ärzte niederließen, sorgten wir ängstlich dafür,niemanden zu sagen, daß wir unser Haus wegen seiner einsamenLage wählten und weil es nah am Potters Field lag. Solche Zurück-haltung ist selten ohne Grund, unsere war es in der Tat auch nicht;denn unsere Erfordernisse resultierten aus unserer entschieden unpo-pulären Lebensarbeit. Nach außen hin waren wir nur Ärzte, aber un-ter der Oberfläche verfolgten wir Ziele von größerer undschrecklicher Bedeutung - denn das Wesentliche in Wests Leben wareine Suche inmitten der schwarzen und verbotenen Gebiete des Un-bekannten, bei der wir das Geheimnis des Lebens zu entschleiern undden toten Friedhofsstaub einem ewigen Leben zuzuführen hofften.Solche Suche erfordert ausgefallenes Material, unter anderem frischemenschliche Leichen und um sich mit diesen unentbehrlichen Dingenversorgen zu können, muß man abgeschieden und nicht zu weit vonder Stätte der Armesündergräber leben.

West und ich hatten uns im College kennengelernt, und ich war dereinzige, der für seine gräßlichen Experimente Sympathie aufbrachte.Ich war mit der Zeit sein unzertrennlicher Assistent geworden, undnun, da wir das College verlassen hatten, mußten wir beisammenbleiben. Es war nicht einfach, für zwei gemeinsam praktizierendeÄrzte einen geeigneten Anfang zu finden, aber endlich verschaffteuns der Einfluß der Universität eine Praxis in Bolton - einer Fabrik-stadt nahe Arkham, dem Sitz des College. Die Bolton Kammgarn-spinnereien sind die größten im Miskatonic-Tal, und ihre aus allerWelt stammenden Arbeiter sind bei den ortsansässigen Ärzten als Pa-tienten nicht gefragt. Wir wählten unser Haus mit großer Sorgfalt ausund nahmen endlich von einem ziemlich heruntergekommenen Land-haus nahe dem Ende der Pond Street Besitz, fünf Nummern vom

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nächsten Nachbarn und vom örtlichen Potters Field nur durch einStück Wiesenland getrennt, das ein schmaler Ausläufer eines ziem-lich dichten Forstes, der nördlich davon liegt, in zwei Teilezerschnitt. Die Entfernung war größer, als uns lieb war, aber wirkonnten kein näher gelegenes Haus auftreiben, ohne uns ganz auf dieandere Seite des Feldes zu begeben, die gänzlich außerhalb desFabrikdistrikts lag. Wir waren indessen gar nicht unzufrieden, dazwischen uns und unserer unheimlichen Versorgungsquelle niemandwohnte. Der Weg war ein bißchen lang, aber wir konnten unserestummen Versuchsobjekte ungestört befördern.

Unsere Praxis war von Anfang an überraschend groß - groß genug,um manch jungen Arzt zufriedenzustellen, und groß genug, um fürStudenten, deren wahres Interesse ganz anderswo lag, eine langwei-lige Belastung zu bedeuten. Die Fabrikarbeiter hatten eine etwas stür-mische Veranlagung, und neben ihren natürlichen Nöten gaben unsihre häufigen Zusammenstöße und Messerstechereien viel zu tun.Aber was unser Interesse wirklich in Anspruch nahm, war das Ge-heimlabor, das wir im Keller eingerichtet hatten -das Labor mit demlangen Tisch unter der elektrischen Beleuchtung, in dem wir in denfrühen Morgenstunden häufig Wests Lösungen in die Venen der Ge-schöpfe injizierten, die wir aus dem Potters Field herbeischleppten.West experimentierte wie verrückt, um etwas zu entdecken, das diemenschlichen Lebenserscheinungen wieder in Gang setzen würde,die durch den Tod zum Stillstand gekommen waren, aber wir warenauf die schrecklichsten Hindernisse gestoßen. Die Lösung mußte fürdie verschiedenen Typen verschieden zusammengesetzt sein - wasfür Meerschweinchen geeignet wäre, würde sich nicht für menschli-che Wesen eignen, und verschiedene Versuchsobjekte machten großeVeränderungen notwendig.

Die Leichen mußten außerordentlich frisch sein, sonst würde dieleichte Verwesung der Hirnzellen eine vollkommene Wiederbele-bung unmöglich machen. Es war in der Tat das größte Problem, siefrisch genug zu bekommen - West hatte während seiner heimlichenVersuche im College mit Leichen zweifelhafter Herkunft schreckli-che Erfahrungen gemacht. Das Resultat einer teilweisen oder unvoll-kommenen Wiederbelebung war viel schrecklicher als die völligenFehlschläge, wir hatten furchtbare Erinnerungen an derartiges. Stetsseit unserer teuflischen Sitzung in dem verlassenen Farmhaus aufMeadow Hill in Arkham hatten wir eine herannahende Bedrohung

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verspürt, und West, obwohl er in mancher Beziehung ein ruhiger,blonder und blauäugiger wissenschaftlicher Automat war, gestandmir oft ein schauderndes Gefühl heimlichen Verfolgtwerdens ein. Erhatte stets halb das Gefühl, daß jemand hinter ihm her sei - psycholo-gische Wahnvorstellungen seiner erschütterten Nerven, noch ver-stärkt durch die unzweifelhaft beunruhigende Tatsache, daß zummindesten eines seiner wiedererweckten Versuchsobjekte am Lebensei - ein grauenhaftes, fleischfressendes Wesen in einer Tobsuchts-zelle in Sefton. Dann gab es noch ein anderes, unser erstes, dessengenaues Schicksal wir nie herausbekamen. Wir hatten in Bolton leid-liches Glück mit unseren Versuchsobjekten. Wir hatten uns nochnicht eine Woche dort niedergelassen, als wir uns ein Unfallopfer inder Nacht seines Begräbnisses verschafften, und brachten es fertig,daß es mit einem staunenswert vernünftigen Ausdruck die Augen öff-nete, ehe die Lösung versagte. Es hatte einen Arm verloren -wenn esein unversehrter Körper gewesen wäre, hätten wir vielleicht einenbesseren Erfolg erzielt. Zwischen damals und dem darauffolgendenJanuar verschafften wir uns drei weitere, einen völligen Versager,einen Fall deutlicher Muskelbewegung und ein reichlich schauerli-ches Wesen - es richtete sich von selbst auf und stieß einen Ton aus.Dann folgte ein Zeitraum, in dem wir gar kein Glück hatten; Beerdi-gungen waren selten, und die, die stattfanden, betrafen Objekte, diezu sehr von Krankheit gezeichnet oder zu verstümmelt waren.

In einer Märznacht erlangten wir indessen ganz unerwartet einVersuchsobjekt, das nicht aus dem Potters Field stammte. In Boltonhatte der herrschende Geist des Puritanismus das Boxen verboten-mit dem üblichen Resultat. Häufige, schlecht organisierte Kämpfezwischen den Fabrikarbeitern waren an der Tagesordnung, und ge-legentlich wurde ein bescheidenes Berufstalent eingeführt. Andiesem Spätwinterabend hatte ein solcher Kampf stattgefunden, of-fensichtlich mit verheerenden Resultaten, da zwei verängstigte Polenmit zusammenhanglos geflüsterten Bitten zu uns kamen, sich einesheimlichen und hoffnungslosen Falles anzunehmen. Wir folgten ih-nen zu einer verlassenen Scheune, wo der Rest einer Mengeverschreckter Ausländer eine still auf dem Boden liegende schwarzeGestalt betrachtete. Der Kampf hatte zwischen Kid O'Brien, einemtölpelhaften, jetzt wie Espenlaub zitternden jungen Mann mit einergänzlich un-hibernischen (un-irischen) Hakennase, und Buck Robin-son, »The Harlem Smoke« (»Der dunkle Harlemer«), stattgefunden.Der Neger war k. o. geschlagen worden und eine kurze Untersuchung

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zeigte uns, daß er es für immer bleiben würde. Er war ein widerli-ches, gorillaähnliches Geschöpf mit abnorm langen Armen, die ichnicht umhinkonnte, Vorderbeine zu nennen, und einem Gesicht, dasaus den unaussprechlichen Geheimnissen des Kongo und derTamtam-Trommeln unter einem unwirklichen Mond hervorgezaubertworden war. Der Leichnam mußte im Leben sogar noch fürchterli-cher ausgesehen haben - es gibt eben viele häßliche Dinge auf derWelt; Furcht lag über der ganzen bedauernswerten Menge, denn siewußten nicht, was das Gesetz von ihnen fordern würde, wenn mandie Angelegenheit nicht geheimhielte, und sie waren dankbar, alsWest, trotz meines unwillkürlichen Abscheus, vorschlug, das Dingheimlich beiseite zu schaffen - für einen Zweck, der mir nur zu gutbekannt war.

Heller Mondschein lag über der schneelosen Landschaft, wirkleideten das Ding an und trugen es zwischen uns durch dieverlassenen Straßen und Wiesen, so, wie wir etwas ganz Ähnliches ineiner schrecklichen Nacht in Arkham getragen hatten. Wir nähertenuns dem Haus vom Feld auf der Rückseite und trugen unser Ver-suchsobjekt zur Hintertür hinein, die Kellertreppe hinunter und berei-teten alles für das übliche Experiment vor. Unsere Furcht vor derPolizei war unsinnig groß, obwohl wir unseren Gang zeitlich soabgestimmt hatten, daß wir den einsam patrouillierenden Polizistender Gegend mieden. Das Ergebnis war schmerzlich enttäuschend.Schrecklich, wie unsere Beute aussah, reagierte sie auf keine der Lö-sungen, die wir in den schwarzen Arm injizierten, Lösungen, die wirnach Erfahrungen mit weißen Versuchsobjekten zusammengestellthatten. Deshalb taten wir, als die Stunde der Morgendämmerung ge-fährlich näherrückte, das gleiche, was wir mit dem anderen getanhatten - wir schleiften das Ding zu dem Waldausläufer nahe PottersField und gruben dort ein Grab, so gut es der gefrorene Boden zumachen erlaubte. Das Grab war nicht sehr tief, aber genauso gut wiedas des vorangegangenen Versuchsobjektes - das Geschöpf, das sichvon selbst aufgerichtet und einen Ton geäußert hatte. Beim Licht un-serer abgedunkelten Laternen bedeckten wir es sorgfältig mit Blät-tern und toten Ranken, leidlich sicher, daß die Polizei es in einemderart düsteren und dichten Wald niemals finden würde.

Am nächsten Tag wurde ich wegen der Polizei immer arg-wöhnischer, denn ein Patient trug uns Gerüchte von einem ver-dächtigen Boxkampf und Todesfall zu. West hatte noch einen

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anderen Grund zur Sorge, denn er war am Nachmittag zu einem Fallgerufen worden, der äußerst bedrohlich ausging. Eine Italienerin warwegen ihres vermißten Kindes, eines Jungen von fünf Jahren, dersich früh am Morgen entfernt hatte und zum Mittagessen nicht er-schienen war, hysterisch geworden - sie hatte im Hinblick auf ihrschon immer schwaches Herz höchst bedrohliche Symptome entwi-ckelt. Es war eine sinnlose Hysterie, da der Bub schon früher öfterweggelaufen war, aber italienische Bauern sind äußerstabergläubisch, und diese Frau schien von schlechten Vorzeichen wievon Tatsachen ständig beunruhigt zu sein. Ungefähr um sieben Uhrabends war sie gestorben, und ihr verzweifelter Ehemann hatte einefürchterliche Szene gemacht, indem er versuchte, West umzubringen,den er aufgeregt dafür verantwortlich machte, nicht genug getan zuhaben, um ihr Leben zu retten. Freunde hielten ihn fest, als er ein Sti-lett zog. West verließ sie inmitten unmenschlicher Schreie, Flücheund Racheschwüre. In seinem neuesten Kummer schien der Burschesein Kind ganz vergessen zu haben, das zu vorgerückter Nachtstundenoch immer vermißt wurde. Es war davon die Rede, die Wälder zudurchsuchen, aber die meisten Freunde der Familie waren mit der to-ten Frau und dem schreienden Mann beschäftigt. Alles in allem mußdie Nervenanspannung für West ungeheuer gewesen sein. Die Ge-danken an die Polizei und den verrückten Italiener wogen beideschwer.

Wir zogen uns etwa um elf zurück, aber ich schlief nicht gut. Füreine so kleine Stadt hatte Bolton eine überraschend gute Polizei-truppe, und ich konnte nicht umhin, die Verwicklungen zu fürchten,die sich ergeben würden, so sie der Angelegenheit von gestern Nachtje auf die Spur kämen. Es könnte das Ende all unserer Arbeit hier be-deuten und vielleicht Gefängnis für uns beide, West und mich. Dieseherumschwirrenden Gerüchte von einem Boxkampf wollten mir nichtgefallen. Nachdem die Uhr drei geschlagen hatte, schien mir derMond ins Gesicht, aber ich drehte mich um, ohne aufzustehen undden Rolladen herunterzulassen. Dann folgte ein ständiges Rütteln ander Hintertür.

Ich lag ruhig und etwas verwirrt da, aber kurz darauf hörte ichWest an meine Tür klopfen. Er war mit einem Schlafrock und Haus-schuhen bekleidet und hatte einen Revolver und eine elektrische Ta-schenlampe in der Hand. Aus dem Revolver schloß ich, daß er eheran den verrückten Italiener als an die Polizei dachte.

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»Es wäre besser, wenn wir alle beide gingen«, flüsterte er. »Eswäre auf keinen Fall angängig, nicht aufzumachen, und es könnte einPatient sein - es würde diesen Narren ähnlich sehen, an die Hintertürzu kommen.«

Dann gingen wir beide auf Zehenspitzen hinunter, mit einerFurcht, die teilweise gerechtfertigt und teilweise von der Art war, wiesie dem Wesen der unheimlichen frühen Morgenstunden entspringt.Das Rütteln setzte sich fort, etwas an Lautstärke zunehmend. Als wirdie Tür erreichten, öffnete ich vorsichtig den Riegel und stieß sie auf,und da der Mond klar auf die sich abzeichnende Gestalt hernieder-schien, tat West etwas Ungewöhnliches. Trotz der offensichtlichenGefahr, Aufmerksamkeit zu erregen und uns eine polizeiliche Unter-suchung auf den Hals zu hetzen - ein Umstand, der durch die verhält-nismäßig einsame Lage unseres Hauses noch einmal gnädigabgewendet wurde -, entleerte mein Freund, erregt und ganz über-flüssig, alle sechs Kammern seines Revolvers in unseren nächtlichenBesucher. Aber dieser Besucher war weder Italiener noch Polizist.Sich schrecklich gegen den gespenstischen Mond abhebend, ragte einriesiges, mißgestaltetes Geschöpf, wie man es sich nur im Alptraumvorstellen kann - eine Erscheinung mit verglasten Augen, tief-schwarz, beinah auf allen vieren, bedeckt mit Moder, Blättern undRanken, mit geronnenem Blut verschmiert, zwischen den leuch-tenden Zähnen ein schneeweißes, schreckliches, länglichrundes Et-was, das in einer winzigen Hand endete.

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IVDer Schrei des Toten

Der Schrei des Toten rief zusätzliches, akutes Grauen vor Dr.West hervor, das mich in späteren Jahren unserer Verbindung heim-suchte. Es ist verständlich, daß so etwas, wie der Schrei des TotenGrauen einflößt, denn es ist offensichtlich kein angenehmes und ge-wöhnliches Erlebnis; aber ich war an ähnliche Erlebnisse gewöhnt,deshalb litt ich bei dieser Gelegenheit nur wegen der außergewöhnli-chen Umstände. Und wie ich angedeutet habe, es waren nicht so sehrdie Toten selbst, die mir Angst einflößten. Herbert West, dessenTeilhaber und Assistent ich war, besaß wissenschaftliche Interessen,die weit über die übliche Routine des Gemeindearztes hinausgingen.Das war der Grund, daß, als er seine Praxis in Bolton eröffnete, erdieses abgelegene Haus nahe dem Potters Field gewählt hatte. Um eskurz und ohne Umschweife auszudrücken, Wests einziges, ihn ganzin Anspruch nehmendes Interesse war das geheime Studium derLebenserscheinungen und ihres Aufhörens, das zur Wiedererwe-ckung der Toten mit Hilfe einer anregenden Lösung führen sollte.Für diese schrecklichen Experimente war es notwendig, über eineDauerversorgung mit ganz frischen Leichen verfügen zu können,ganz frisch, da selbst der geringste Verfall die Hirnstruktur hoff-nungslos schädigt, und Menschen, weil wir herausgefunden hatten,daß die Lösung für die verschieden gearteten Organismen verschie-den zusammengesetzt sein mußte. Scharen von Kaninchen undMeerschweinchen hatten wir getötet und behandelt, aber die Spurführte ins Nichts. West war nie ganz erfolgreich gewesen, weil es unsnie geglückt war, eine genügend frische Leiche zu erhalten. Was wirbrauchten, waren Körper, aus denen das Leben soeben erst entflohenwar; Körper mit unbeschädigtem Zellsystem und imstande, auf denImpuls in Richtung der Bewegungsart, Leben genannt, zu reagieren.Es bestand die Hoffnung, daß dieses zweite, künstliche Leben durchwiederholte Injektionen zu einem ewigen werden könne, aber wirhatten erfahren, daß ein gewöhnliches, natürliches Leben auf denEingriff nicht ansprechen würde. Um die künstlichen Lebensantriebeherzustellen, muß das natürliche Leben erloschen sein - die Ver-suchsobjekte müssen zwar ganz frisch, aber wirklich tot sein. Die un-heimliche Suche hatte begonnen, als West und ich bei derMedizinischen Fakultät der Miskatonic-Universität in Arkham Stu-

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denten waren und wir uns das erste Mal der durchweg mechanischenArt der Lebensvorgänge völlig bewußt waren. Das war vor siebenJahren, aber West sah auch jetzt kaum einen Tag älter aus - er warklein, blond, glattrasiert, von sanfter Stimme und bebrillt, und nur eingelegentliches Aufblitzen der kalten blauen Augen verriet die sichverhärtende und wachsende Fanatisierung seines Charakters unterdem Druck seiner schrecklichen Forschungen. Unsere Erlebnissewaren häufig äußerst schrecklich gewesen; die Resultate unvollkom-mener Wiederbelebungen, wenn diese irdischen Friedhofshüllendurch die verschiedenen Abwandlungen der belebenden Lösung inkrankhafte, unnatürliche, hirnlose Bewegung galvanisiert wurden.Eines dieser Wesen hatte einen nervenerschütternden Schrei ausge-stoßen, ein anderes sich urplötzlich aufgerichtet, uns beide bewußtlosgeschlagen und war dann in gräßlicher Weise Amok gelaufen, bevores ins Irrenhaus hinter Gitter gebracht wurde; wieder ein anderes,eine Abscheu erregende afrikanische Monstrosität, hatte sich einenWeg aus dem flachen Grab heraus mit den Händen gewühlt und einVerbrechen begangen - West hatte dieses Versuchsobjekt erschießenmüssen. Es gelang uns nie, Leichen zu bekommen, frisch genug, umnach der Wiederbelebung Spuren von Vernunft zu zeigen, und erhatte dadurch namenloses Grauen geschaffen. Es war beunruhigend,daran zu denken, daß eines oder vielleicht zwei dieser Ungeheuernoch am Leben waren - dieser Gedanke folgte uns wie ein Schatten,bis West schließlich unter schrecklichen Umständen verschwand.Aber zur Zeit des Schreies im Kellerlabor des abgelegenen Hauses inBolton stand unsere Furcht hinter der Besorgnis um äußerst frischeVersuchsobjekte zurück. West war begieriger als ich, so daß es mirbeinah vorkam, als schaue er halb begehrlich jeder gesundenlebenden Gestalt nach.

Es war im Juli 1910, daß unser Pech in bezug auf Versuchsobjekteein Ende nahm. Ich war auf einen langen Besuch bei meinen Eltern inIllinois gewesen und traf West bei meiner Rückkehr in einzigartig ge-hobener Stimmung an. Er hatte, wie er mir aufgeregt erzählte, dasProblem der Frische durch ein Verfahren ganz neuer Art gelöst - demder künstlichen Erhaltung. Ich hatte gewußt, daß er an einer neuenund gänzlich ungewöhnlichen Einbalsamierungsflüssigkeit arbeitete,und war infolgedessen nicht verwundert, daß sie sich als brauchbarerwies; aber ehe er mir Einzelheiten erklärte, stand ich vor einemRätsel, wie eine derartige Flüssigkeit bei unserer Arbeit nützlich seinkönne; da die beanstandete mangelnde Frische der Versuchsobjekte

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in der Hauptsache auf die Verzögerung zurückging, mit der sie in un-sere Hände gelangten. Dies, das sah ich jetzt, hatte West klar erkannt,indem er seine Einbalsamierungsflüssigkeit eher für zukünftigen,denn unmittelbaren Gebrauch geschaffen hatte, und er vertraute demSchicksal, ihm bald wieder einen frischen, noch unbeerdigten Leich-nam zu verschaffen, wie dies vor Jahren geschehen war, als wir denNeger bekamen, der in einem Boxkampf in Bolton getötet wordenwar. Endlich war ihm das Schicksal hold gewesen, so daß in diesemFalle in unserem geheimen Kellerlabor ein Leichnam lag, bei demdie Zersetzung unmöglich begonnen haben konnte. Was sich bei derWiederbelebung ereignen würde und ob wir auf eine Wiedererwe-ckung des Geistes und der Vernunft hoffen konnten, wagte Westnicht vorauszusagen. Das Experiment würde ein Markstein in un-seren Studien sein, und er hatte den neuen Körper bis zu meinerRückkehr aufbewahrt, so daß wir beide an dem Schauspiel in ge-wohnter Weise teilhaben könnten. West erzählte mir, wie er zu demVersuchsobjekt gekommen war. Es war ein lebensvoller Mann ge-wesen, ein gutgekleideter Fremder, gerade mit dem Zug angekom-men, um mit der Bolton Kammgarnspinnerei ein Geschäftabzuschließen. Der Weg durch die Stadt war lang gewesen, und zuder Zeit, als der Reisende bei unserem Haus anhielt, um den Weg zurFabrik zu erfragen, war sein Herz stark überanstrengt worden. Erhatte ein Anregungsmittel zurückgewiesen und war ganz unvermitteltkurz danach tot zusammengebrochen. Wie man erwarten kann, warder Leichnam für West ein Geschenk des Himmels. Während derkurzen Unterhaltung hatte der Fremde erklärt, daß er in Bolton unbe-kannt sei, und eine anschließende Untersuchung seines Taschen-inhalts enthüllte ihn als einen gewissen Robert Leavitt aus St. Louis,der offenbar keine Angehörigen besaß, die wegen seinesVerschwindens Ermittlungen anstellen würden. Sollte man diesenMann nicht ins Leben zurückrufen können, würde niemand etwas vonunserem Versuch erfahren. Wir begruben unser Versuchsmaterial ineinem dichten Waldstreifen zwischen dem Haus und Potters Field.Andererseits, falls er ins Leben zurückgerufen werden könnte, wäreunser Ruhm glänzend und für immer etabliert. Deshalb hatte Westunverzüglich die neue Flüssigkeit ins Handgelenk der Leiche inji-ziert, um sie bis zu meiner Ankunft frisch zu halten. Die Sache mitdem vermutlich schwachen Herzen schien West nicht allzusehr zubekümmern. Er hoffte mindestens zu erreichen, was er noch nie vor-her erreicht hatte - die Wiederentzündung des Geistesfunkens und

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vielleicht ein normales, lebendes Geschöpf.Nun standen in der Nacht des 18. Juli 1910 West und ich im

Kellerlabor und starrten auf die weiße, schweigende Gestalt unter derblendenden Bogenlampe. Das Einbalsamierungsgemisch hatte unge-heuer gut gewirkt, denn als ich fasziniert auf die rüstige Gestalt starr-te, die zwei Wochen ohne Leichenstarre dagelegen war, fühlte ichmich veranlaßt, mir von West versichern zu lassen, daß das Wesenwirklich tot sei. Diese Versicherung gab er mir bereitwillig, indem ermich daran erinnerte, daß die wiederbelebende Lösung nie ohne ge-naue Versuche, ob noch Leben vorhanden sei, angewandt wurde, dasie ohne Wirkung bleiben müsse, wenn nur etwas von der ursprüngli-chen Lebenskraft vorhanden wäre. Während West fortfuhr, die erstenvorbereitenden Schritte zu unternehmen, war ich von der unge-heueren Kompliziertheit des neuen Experiments beeindruckt, eineKompliziertheit, die so ungeheuer war, daß er sie keiner Hand anver-trauen konnte, die nicht so feinfühlig war wie die seine. Er verbotmir, die Leiche zu berühren, und injizierte ihr zunächst eine Drogeins Handgelenk, genau neben der Stelle, die er angestochen hatte, alser die Einbalsamierungsmischung injizierte. Dies, sagte er, diene demZweck, die Mischung zu neutralisieren, um das Organsystem in einennormalen Entspannungszustand zu bringen, so daß die wiederbe-lebende Lösung ungehindert wirken könne, wenn er sie einspritze.Kurz danach, als eine Veränderung und ein leichtes Beben auf die to-ten Glieder einzuwirken schien, drückte West gewaltsam einenkissenähnlichen Gegenstand auf das zuckende Gesicht und nahm ihnerst wieder fort, als der Leichnam ruhig und für unseren Wiederbele-bungsversuch bereit schien. Der bleiche Enthusiast nahm jetzt nocheinige flüchtige Tests im Hinblick auf absolute Leblosigkeit vor, ent-fernte sich befriedigt und injizierte schließlich in den linken Armeine genau dosierte Menge des Lebenselixiers, das wir während desNachmittags mit mehr Sorgfalt zubereitet hatten, als wir sie seit un-serer Zeit am College angewandt hatten, als unsere Erfolge noch neuund unsicher waren. Ich kann die unheimliche, atemlose Spannungnicht beschreiben, in der wir den Erfolg mit diesem ersten wirklichfrischen Individuum erwarteten - dem ersten, von dem wir erwartendurften, daß es den Mund zu vernünftiger Rede öffnen würde, umuns vielleicht zu berichten, was es jenseits des unermeßlichen Ab-grunds erblickt hatte. West war ein Materialist, der nicht an das Vor-handensein der Seele glaubte und die ganze Bewußtseinstätigkeitkörperlichen Erscheinungen zuschrieb, infolgedessen wartete er nicht

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auf die Enthüllung schrecklicher Geheimnisse aus den Klüften undHöhlen jenseits der Grenze des Todes. Theoretisch war ich mit ihmfast einer Meinung, dennoch bewahrte ich mir noch instinktiv Restedes einfachen Glaubens meiner Väter; weshalb ich nicht umhinkonn-te, den Leichnam mit einer gewissen Ehrfurcht und gespannterErwartung zu betrachten. Außerdem konnte ich den gräßlichen, nichtmenschlichen Schrei nicht vergessen, den wir in jener Nacht ver-nahmen, als wir in dem verlassenen Farmhaus bei Arkham unsererstes Experiment durchführten.

Es war nur wenig Zeit vergangen, bevor ich sah, daß der Versuchkein totaler Versager werden würde. Eine Spur von Farbe stieg in diebis dahin kalkweißen Wangen und verbreitete sich auch unter denmerkwürdig üppigen rotblonden Bartstoppeln. West, der seine Handam Puls des linken Handgelenks hatte, nickte plötzlich bedeutungs-voll, und beinah gleichzeitig zeigte sich auf dem Spiegel, den wirdem Körper vor den Mund hielten, ein leichter Hauch. Ein paarkrampfhafte Muskelbewegungen folgten, dann hörbares Atmen undeine sichtbare Bewegung des Brustkorbs. Ich sah auf die ge-schlossenen Augenlider und glaubte sie zucken zu sehen. Dann öff-neten sich die Lider und ließen Augen erkennen, die grau, ruhig undlebendig waren, aber noch ohne bewußte Intelligenz und nicht einmalneugierig. In einem Anfall verrückter Laune flüsterte ich Fragen indie sich rötenden Ohren, Fragen, andere Welten betreffend, an diedie Erinnerung noch gegenwärtig sein könnte. Darauffolgende Schre-cken verjagten sie aus meinem Gedächtnis, aber ich glaube, die letz-te, die ich wiederholte, war: »Wo sind Sie gewesen?« Ich weiß nochimmer nicht, ob ich darauf eine Antwort bekam, denn aus dem wohl-geformten Munde drang kein Laut, ich weiß jedoch, daß ich mir indiesem Augenblick fest einbildete, daß die schmalen Lippen sichlautlos bewegten und Silben formten, die ich als »erst jetzt« laut aus-gesprochen hätte, wenn dieser Satz Sinn oder Bedeutung gehabt hät-te. In diesem Augenblick war ich, wie gesagt, infolge derÜberzeugung, daß das große Ziel erreicht sei, in gehobener Stim-mung, und daß ein wiedererweckter Leichnam deutlich Wortegesprochen hatte, die von wirklicher Vernunft dirigiert wurden. Imnächsten Moment gab es in bezug auf den Triumph keinen Zweifelmehr, zweifellos hatte die Lösung, zum mindesten vorübergehend,ihre Aufgabe, vernunftgemäß und klar er kennbares Leben in demToten wiederherzustellen, voll erfüllt. Aber inmitten des Triumphsüberkam mich stärkstes Grauen - nicht Grauen vor dem sprechenden

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Wesen, sondern Grauen vor der Untat; deren Zeuge ich gewordenwar, und vor dem Mann, mit dem mein Berufsschicksal mich ver-band. Denn die wirklich frische Leiche, die sich nun endlich zuvollem und schrecklichem Bewußtsein durchrang, warf mit angstge-weiteten Augen, in Erinnerung an das letzte irdische Erlebnis,verzweifelt in einem Kampf auf Leben und Tod, um Luft zu bekom-men, die Hände empor und brach in einer zweiten, diesmal endgül-tigen Auflösung zusammen, aus der es keine Rückkehr geben konnte,und stieß den Schrei aus, der auf ewig in meinem schmerzenden Ge-hirn wiederhallen wird: »Hilfe! Bleib mir vom Leibe, du verdammtesflachshaariges Scheusal - bleib mir mit deiner Nadel vom Leibe!«

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VAus dem Schatten steigt das Grauen

Manche Menschen haben von schrecklichen Dingen erzählt, dienie im Druck erschienen, welche sich auf den Schlachtfeldern desgroßen Krieges ereigneten. Manche dieser Dinge ließen michschwach werden, bei anderen würgte mich entsetzliche Übelkeit,während wieder andere mich erbeben und im Dunkeln über dieSchulter blicken ließen, dennoch glaube ich, mögen diese noch soschlimm sein, das Allerschrecklichste erzählen zu können - das unna-türliche, das unglaubliche Grauen, das aus dem Schatten emporsteigt.Im Jahre 1915 war ich bei einem kanadischen Regiment in FlandernArzt im Range eines Oberleutnants, einer der vielen Amerikaner, dieder Regierung in ihrer Teilnahme am großen Kampf vorangingen. Ichwar nicht aus eigenem Antrieb in die Armee eingetreten, sonderneigentlich als selbstverständliche Folge der Anwerbung des Mannes,dessen unentbehrlicher Assistent ich war - des berühmten Bostonerchirurgischen Spezialisten Dr. Herbert West. Dr. West hatte begierigauf eine Chance gewartet, als Militärarzt im großen Krieg dienenkönnen, und als die Chance sich bot, schleppte er mich beinah gegenmeinen Willen mit. Es gab Gründe, warum ich froh gewesen wäre,wenn der Krieg uns getrennt hätte, Gründe, aus denen ich die Aus-übung des ärztlichen Berufes und Wests Teilhaberschaft immer läs-tiger fand; aber als er nach Ottawa gezogen war und dank demEinfluß eines Kollegen einen Arztposten im Rang eines Majorserhielt, konnte ich der zwingenden Überredungskunst eines Mannes,der entschlossen war, daß ich ihn in meiner üblichen Eigenschaft be-gleiten müsse, nicht widerstehen. Wenn ich sage, daß West begierigdarauf war, an Schlachten teilzunehmen, will ich damit nicht be-haupten, daß er entweder von Natur kriegerisch oder auf die Rettungder Zivilisation bedacht war. Immer eine eiskalte, intellektuelle Ma-schine: schmächtig, blond, blauäugig und bebrillt: ich glaube, errümpfte manchmal ob meiner gelegentlichen Kriegsbegeisterung undmeiner Kritik an untätiger Neutralität die Nase. Es gab indessen imumkämpften Flandern etwas, das er brauchte, und um es zu erlangen,mußte er ein militärisches Äußeres annehmen. Was er brauchte, waretwas, das nicht viele Menschen brauchen; das aber mit dem Spezial-zweig der Medizin, den er im geheimen zu verfolgen sich ent-schlossen hatte, zusammenhing, in dem er erstaunliche und

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gelegentlich schreckliche Resultate erzielt hatte. Es war in der Tatnicht mehr und nicht weniger als der reichliche Nachschub an frischGefallenen in allen Stadien der Verstümmelung.

Herbert West benötigte frische Leichen, denn sein Lebenswerkwar die Wiedererweckung der Toten. Dieses Werk war seinereleganten Klientel, die nach seiner Ankunft in Boston so schnell sei-nen Ruf verbreitet hatte, unbekannt, mir aber nur allzu gut, der ichseit den alten Tagen an der Medizinischen Fakultät der Miskatonic-Universität in Arkham sein engster Freund und einziger Assistent ge-wesen war. Bereits in diesen Collegetagen hatte er mit seinenschrecklichen Experimenten begonnen, zuerst an kleinen Tieren unddann an menschlichen Leichen, die er sich auf abstoßende Art ver-schaffte. Es gab eine Lösung, die er in die Venen der toten Ge-schöpfe injizierte, und sie reagierten auf merkwürdige Weise, wennsie frisch genug waren. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, das richtigeRezept herauszufinden, denn er fand, daß jeder Organtyp ein Stimu-lans benötigte, das genau auf ihn abgestimmt war. Grauen beschlichihn, wenn er über seine Teilversager nachdachte; unbeschreiblicheDinge, die auf eine fehlerhafte Lösung oder ungenügend frische Lei-chen zurückzuführen waren. Eine gewisse Anzahl dieser Versagerwaren am Leben geblieben - einer befand sich im Irrenhaus, währenddie anderen verschwunden waren -, und wenn er an vorstellbare, aberpraktisch nicht durchzuführende Möglichkeiten dachte, dann erbebteer oft unter seiner üblichen Gelassenheit.

West hatte schnell begriffen, daß absolute Frische das erste Er-fordernis für den Gebrauch seiner Versuchsobjekte war, und hattedeshalb zu schrecklichen und ungeheuerlichen Hilfsmitteln beim Lei-chenraub seine Zuflucht genommen. Im College und in unserer erstengemeinsamen Praxis in der Fabrikstadt Bolton war meine Einstellungihm gegenüber in der Hauptsache die einer faszinierten Bewunderunggewesen. Aber als seine Methoden kühner wurden, begann nagendeFurcht sich einzustellen. Mir gefiel die Art nicht, wie er gesunde,lebende Wesen betrachtete; dann folgte die alpdruckähnliche Sitzungim Kellerlabor, bei der ich erfuhr, daß ein bestimmtes Versuchs-objekt ein lebender Mensch gewesen war, als er es sich beschaffthatte. Es war das erste Mal gewesen, daß er bei einem Leichnam dieFähigkeit zu vernünftigem Denken wiedererweckt hatte, und sein Er-folg, um solch gräßlichen Preis erkauft, hatte ihn völlig gefühllos ge-macht.

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Über seine Methoden in den dazwischenliegenden Jahren möchteich nicht sprechen. Ich war durch nacktes Angstgefühl an ihngefesselt und erschaute Dinge, die keine Menschenzunge wiederho-len möchte. Nach und nach fand ich Herbert West selbst vielschrecklicher als alles, was er tat - damals dämmerte es mir, daß seineinst normaler wissenschaftlicher Eifer, das Leben zu verlängern, zueiner bloßen morbiden und dämonischen Neugier und einer ge-heimen Vorliebe für Friedhofsromantik degeneriert war. Sein Inter-esse wurde zur Sucht für das Abstoßende und scheußlich Anomale;er weidete sich an künstlichen Monstrositäten, die die meistengesunden Menschen vor Angst und Abscheu würden tot umfallenlassen; er wurde hinter seiner bleichen Intellektualität ein anspruchs-voller Baudelaire des physikalischen Experiments - ein müder Helio-gabal der Gräber.

Er begegnete Gefahren, ohne zurückzuweichen, er beging unge-rührt Verbrechen. Ich glaube, der Höhepunkt war erreicht, als er sei-ne Meinung bestätigt sah, daß geistig gesundes Lebenwiederherstellbar sei, und er hatte neue Welten zu erobern versucht,indem er an der Wiederbelebung einzelner Körperteile expe-rimentierte. Er hatte seltsame und originelle Ideen betreffs der un-abhängigen Lebensprozesse organischer Zell- und Nervengewebe,die aus dem natürlichen Körpersystem herausgelöst waren, und er er-zielte einige gräßliche Anfangserfolge in Gestalt nie sterbenden,künstlich ernährten Gewebes, das er den beinah ausgebrüteten Eierneines unbeschreiblichen tropischen Reptils entnommen hatte. Er waraufs äußerste bestrebt, zwei biologische Fragen zu klären - ob ein ge-wisses Ausmaß an Bewußtsein oder vernunftgemäßer Handlungs-weise ohne Gehirn möglich wäre, das vom Nervenstrang derWirbelsäule und verschiedenen Nervenzentren ausgeht, und zwei-tens, ob eine Art rein geistiger, unfaßbarer Beziehung ab seits desZellmaterials existieren könne, um die chirurgisch getrennten Teiledessen, was zuvor ein einziger lebender Organismus war, mitein-ander zu verbinden. All diese Forschungsarbeit erforderte einenreichlichen Nachschub frisch hingeschlachteten Menschenfleisches -das war der Grund, warum Herbert West in den großen Krieg einge-treten war. Die gespenstische, nicht wiederzugebende Geschichte er-eignete sich eines Mitternachts, Ende März 1915, in einemFeldlazarett hinter den Linien bei St. Eloi. Ich frage mich heute noch,ob es nicht ein dämonischer Fiebertraum gewesen sein könnte. Westhatte in einem östlich gelegenen Zimmer des scheunenartigen Notge-

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bäudes ein Privatlabor, das ihm auf seine Bitte, er wolle sich neueund gründlichere Methoden für die Behandlung bisher hoffnungs-loser Verstümmelungsfälle ausdenken, zugeteilt worden war. Erarbeitete dort wie ein Metzger inmitten seiner blutigen Produkte - ichkonnte mich nie an den Gleichmut gewöhnen, mit dem er bestimmteDinge behandelte und einordnete. Manchmal vollbrachte er an denSoldaten wirklich chirurgische Wunder; aber sein Hauptvergnügenwar nicht von allgemein bekannter und philanthropischer Art undmachte viele Erklärungen der Geräusche nötig, die selbst inmittendieses Babels der Verdammten ungewöhnlich waren. Zu diesen Ge-räuschen gehörten häufige Revolverschüsse - auf einem Schlachtfeldnichts Ungewöhnliches, aber entschieden ungewöhnlich in einem La-zarett. Wests wiederbelebte Versuchsobjekte waren weder für einlanges Leben, noch ein großes Publikum bestimmt. Neben menschli-chem Körpergewebe verwendete West viel das Körpergewebe desReptilembryos, das er mit einzigartigem Erfolg gezüchtet hatte. Eseignete sich besser, als menschliches Material dazu, Leben inorganlosen Überresten zu erhalten, und das war jetzt die Haupttätig-keit meines Freundes. In einem finsteren Winkel des Labors hielt erüber einem merkwürdig aussehenden Brutofen einen großen,verdeckten Behälter, angefüllt mit reptilischem Zellmaterial, das sichvermehrte und aufgebläht und schrecklich anwuchs.

In der Nacht, von der ich spreche, hatten wir ein großartiges neuesVersuchsobjekt - einen Mann, der einst körperlich kräftig und vonderart hervorragenden Geistesgaben gewesen war, so daß wir einesfeinfühligen Nervensystems sicher sein konnten. Es war voller Ironie,denn es war der Offizier, der West zu seinem Posten verholfen hatteund der jetzt unser Teilhaber hätte werden sollen. Außerdem hatte erin letzter Zeit bis zu einem gewissen Grad die Theorie der Wiederbe-lebung unter West studiert. Major Sir Eric Moreland Clapham-LeeDSO (Distinguished Service Order, für Armeeoffiziere) war der bes-te Militärarzt unserer Division und war eilends nach St. Eloi beordertworden, als Nachrichten über schwere Kämpfe das Hauptquartier er-reichten. Er war im Flugzeug angekommen, das von dem unerschro-ckenen Leutnant Ronald Hill gesteuert wurde, nur um genau überseinem Ziel abgeschossen zu werden. Der Absturz war großartig undschrecklich gewesen, Hill war danach nicht mehr zu erkennen, aberdas Wrack gab den großen Chirurgen beinah enthauptet, aberanderweitig in intakter Verfassung frei. West hatte sich begierig desleblosen Körpers bemächtigt, der einst sein Freund und wissenschaft-

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licher Arbeitskamerad gewesen war, und mir graute, als er mit derLostrennung des Kopfes fertig war und ihn in seinen Höllenkesselmit dem Reptilgewebe legte, um ihn für spätere Experimente zukonservieren und fuhr fort, den enthaupteten Körper auf dem Opera-tionstisch zu behandeln. Er injizierte frisches Blut, vereinigte be-stimmte Venen, Arterien und Nerven des kopflosen Halses undschloß die schreckliche Öffnung, indem er Haut von einem unidenti-fizierten Versuchsobjekt verpflanzte, das eine Offiziersuniform ge-tragen hatte. Ich wußte, was er wollte - sehen, ob dieserhochentwickelte Körper ohne Kopf Zeichen der Geistestätigkeit, dieSir Eric Moreland Clapham-Lee ausgezeichnet hatte, hervorbringenkönne. Einst selbst Student der Wiederbelebung, war seinschweigender Rumpf nun grausam dazu bestimmt, sie zu beweisen.

Ich kann West noch heute unter dem unheimlichen elektrischenLicht sehen, wie er seine Wiederbelebungslösung in die Armvene deskopflosen Leichnams injizierte. Ich vermag die Szene nicht zubeschreiben - ich würde schwach werden, falls ich es versuchte, dennsolch ein Raum voll klassifizierter Friedhofsreste, mit Blut undgeringeren menschlichen Überresten, die den rutschigen Boden bein-ah knöcheltief bedecken, mit furchtbaren Reptilabnormitäten, diewachsen, Blasen werfen und über einer blinkenden, blaugrünen Geis-terflamme in einem abgelegenen Winkel brodeln, ist schiererWahnsinn. Das Versuchsobjekt besaß, wie West wiederholt be-merkte, ein wunderbares Nervensystem. Wir versprachen uns viel da-von, und als einige zuckende Bewegungen sichtbar wurden, konnteich fieberhaftes Interesse in Wests Gesicht erkennen. Ich glaube, erwar bereit, für seine sich immer mehr verstärkende Ansicht, daß Be-wußtsein, Vernunft und Persönlichkeit unabhängig vom Gehirn exis-tieren können, den Beweis zu erbringen - daß der Mensch nicht einealles verbindende Geisteszentrale besitzt, sondern lediglich einenMechanismus aus Nervenmasse darstellt, in der jeder Abschnitt insich mehr oder weniger abgeschlossen ist. West wollte in einer tri-umphierenden Demonstration das Geheimnis des Lebens ins Bereichder Mythen verweisen. Der Körper zuckte jetzt viel stärker und be-gann unter unseren aufmerksamen Blicken sich in schrecklicherWeise herumzuwerfen. Die Arme bewegten sich unruhig, die Beinewurden angezogen, und einzelne Muskeln zogen sich zusammen undverkrümmten sich auf widerliche Weise. Dann warf das kopfloseWesen in einer unverkennbaren Verzweiflungsgeste die Arme empor-eine intelligente Verzweiflung, offenbar ausreichend, um alle Theo-

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rien Herbert Wests zu bestätigen. Sicherlich erinnerten sich die Ner-ven der letzten Hand lung im Leben dieses Mannes, des Kampfes,sich aus dem abstürzenden Flugzeug zu befreien. Was folgte, werdeich nie mehr genau erfahren. Es könnte eine völlige Halluzination ge-wesen sein, verursacht durch den momentanen Schock infolge derplötzlichen und vollständigen Zerstörung des Gebäudes in verhee-rendem deutschem Granatfeuer -wer kann es bestreiten, da West undich nachweislich die einzigen überlebenden waren? Vor seinemjüngsten Verschwinden pflegte West dies auch zu denken, aber esgab Zeiten, wo ihm dies nicht gelang, denn es war seltsam, daß wirbeide die gleiche Halluzination gehabt haben sollten. Der schreckli-che Vorfall war an sich nicht besonders bemerkenswert, nur für das,was er nach sich zog. Der Leichnam auf dem Tisch hatte sich ineinem blinden und schrecklichen Herumtasten erhoben und wirhatten einen Ton vernommen. Ich würde den Ton nicht eine Stimmenennen, denn er war zu gräßlich. Dennoch war die Tonfärbung nochnicht das Schrecklichste daran. Auch die Mitteilung war es nicht - siehatte lediglich gebrüllt: »Spring, Ronald, um Gotteswillen, spring!«Das Schrecklichste war ihr Ursprung. Denn sie war aus dem großen,verdeckten Behälter gekommen, aus dieser Geisterecke schleichenderschwarzer Schatten.

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VIDie Grabeslegionen

Als West vor einem Jahr verschwand, verhörte mich die Polizeiausführlich. Sie hatten den Verdacht, daß ich etwas verschweige, undargwöhnten vielleicht noch Schlimmeres, aber ich konnte ihnen nichtdie Wahrheit sagen, da sie sie nicht geglaubt hätten. Sie wußten na-türlich, daß West mit Arbeiten in Verbindung gebracht wurde, die fürgewöhnliche Menschen außerhalb des Glaubwürdigen lagen, dennseine gräßlichen Experimente mit der Wiederbelebung toter Körperwaren lange zu umfangreich gewesen, um eine völlige Geheim-haltung zu gewährleisten; aber die letzte, seelenzerstörende Kata-strophe enthielt Elemente teuflischer Phantasie, die selbst mich dieWirklichkeit dessen, was ich erblickte, bezweifeln lassen. Ich warWests engster Freund und einziger vertraulicher Assistent. Wir hattenuns vor Jahren beim Medizinstudium getroffen, und ich hatte vonAnfang an an seinen gräßlichen Forschungen teilgenommen. Er hatteversucht, nach und nach eine Lösung zu vervollkommenen, welche,in die Venen unlängst Verstorbener eingespritzt, das Leben wieder-herstellen würde, eine Arbeit, die Unmengen frischer Leichen er-forderte und die infolgedessen die schrecklichsten Handlungen mitsich brachte. Noch schockierender waren die Erzeugnisse einigerdieser Experimente -grausliche Fleischmassen, die tot gewesenwaren, die West jedoch zu einem blinden, hirnlosen, übelkeitser-regenden Leben erweckt hatte. Dies war das Durchschnittsergebnis,denn um den Geist wieder zu erwecken, war es nötig, Versuchsobjek-te zu haben, so absolut frisch, daß noch kein Verfall die empfindli-chen Hirnzellen geschädigt haben konnte. Dieses Bedürfnis nachganz frischen Leichen war Wests moralischer Ruin gewesen. Siewaren schwer zu bekommen, und eines schrecklichen Tages hatte ersich seines Versuchsobjekts versichert, als es noch am Leben undvoller Vitalität gewesen war. Ein Kampf, eine Nadel und ein starkesAlkaloid hatten es in einen ganz frischen Leichnam verwandelt, unddas Experiment war für einen kurzen und denkwürdigen Augenblickerfolgreich gewesen; aber West war mit gefühlloser und abgestumpf-ter Seele und harten Augen, die manchmal mit einer Art schreckli-cher und berechnender Abschätzung Menschen mit besonders hochentwickeltem Gehirn und ausnehmend kräftiger Gestalt anblickten,daraus hervorgegangen. Gegen Schluß hatte ich vor West tatsächlich

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große Angst, denn er fing an, mich auch so anzusehen. Die Leuteschienen diese Blicke nicht wahrzunehmen, aber sie nahmen meineFurcht wahr und benutzten dieselbe nach seinem Verschwinden alsGrundlage für einige absurde Verdächtigungen. In Wirklichkeit hatteWest mehr Angst als ich, denn seine furchtbare Beschäftigung hatteein Leben der Heimlichkeit und eine Angst vor jedem Schatten zurFolge. In der Hauptsache fürchtete er die Polizei; aber manchmal saßseine Nervosität tiefer und war schwerer zu bestimmen, da sie ge-wisse unbeschreibliche Dinge betraf, denen er ein krankhaftes Lebeneingehaucht hatte und aus denen er dieses Leben nicht entfliehen sah.Er beendete seine Experimente meist mit Hilfe des Revolvers, waraber ein paarmal nicht flink genug gewesen. Da war das erste Ver-suchsobjekt, auf dessen ausgeraubtem Grab sich später Kratzspurenfanden. Ebenfalls war da der Körper des Professors aus Arkham, derKannibalismus begangen hatte, ehe er eingefangen und in die Irrenh-auszelle nach Sefton gebracht wurde, wo er sechzehn Jahre langgegen die Wände anrannte. Die meisten der anderen überlebendenResultate betrafen Dinge, von denen man nicht gern spricht - denn inspäteren Jahren war Wests wissenschaftlicher Eifer zu einer unge-sunden und wunderlichen Manie geworden, und er hatte sein größtesGeschick darauf verwendet, nicht ganze menschliche Leichen, son-dern nur einzelne Körperteile zu beleben, oder Teile, die er mitanderer als menschlicher Organmaterie vereinigt hatte. Es war zu derZeit, als er verschwand, ungeheuer abstoßend geworden, viele dieserExperimente kann man im Druck nicht einmal andeuten. Der großeKrieg, in dem wir beide als Militärärzte dienten, hatte diese Seite vonWests Charakter noch verstärkt. Wenn ich behaupte, daß WestsFurcht vor seinen Versuchsobjekten verschwommen war, denke ichbesonders an ihren verwickelten Charakter. Sie stammte teilweise ausdem Wissen um die Existenz dieser namenlosen Ungeheuer, währendein anderer Teil aus dem Vorgefühl entsprang, sie könnten ihm untergewissen Umständen körperlichen Schaden zufügen. IhrVerschwinden gab der Situation etwas Grauenhaftes - er kannte nurden Aufenthaltsort eines einzigen unter ihnen, des bemitleidens-werten Wesens im Irrenhaus. Dann war da noch eine eher nebelhafteFurcht - ein unheimliches Gefühl, das aus einem merkwürdigen Ex-periment resultierte, das stattfand, als er 1915 in der kanadischen Ar-mee diente. West hatte inmitten einer heftigen Schlacht den Körperdes Majors Sir Eric Moreland Clapham-Lee, DSO, eines Arztkame-raden, der um seine Experimente wußte und sie hätte wiederholen

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können, wiederbelebt. Der Kopf war entfernt worden, so daß dieMöglichkeiten eines quasiintelligenten Lebens im Rumpf untersuchtwerden konnten. Gerade, als das Gebäude von deutschen Granatenzerstört wurde, hatte sich der Erfolg eingestellt. Der Rumpf hatte sichvom Verstand gesteuert bewegt, und kaum glaublich, wir warenbeide mit Widerwillen sicher, daß artikulierte Töne von dem abge-schnittenen Kopf ausgingen, der in einem schattigen Winkel des La-bors lag. Die Granate war uns in gewisser Weise gnädig gewesen-aber West konnte sich nie so sicher fühlen, wie er gewünscht hätte,daß wir tatsächlich die einzigen Überlebenden waren. Er stellteschaudernd Mutmaßungen über eine mögliche Tätigkeit eines kopf-losen Arztes an, der die Möglichkeit hatte, die Toten wiederzube-leben.

Wests letzte Wohnung befand sich in einem ehrwürdigen, sehreleganten Haus, das einen der ältesten Friedhöfe in Boston über-blickt. Er hatte den Ort aus symbolischen und merkwürdig ästhe-tischen Gründen gewählt, da die meisten Gräber aus der Kolonialzeitstammten und infolgedessen für einen Wissenschaftler, der nur ganzfrische Leichen sucht, von wenig Nutzen waren. Das Labor befandsich in einem Tiefkeller und war von Arbeitern von außerhalb heim-lich errichtet worden, es enthielt einen riesigen Verbrennungsofenzur unauffälligen und vollständigen Beseitigung von Körpern oderEinzelteilen oder künstlich zusammengesetzten Spottgebilden vonKörpern, wie sie bei den morbiden Experimenten und unheiligenVergnügungen des Eigentümers übrigbleiben mochten. Während derAusschachtung dieses Kellers waren die Arbeiter auf außerordentlichaltes Mauerwerk gestoßen, das zweifellos mit dem alten Friedhof zu-sammenhing, das dennoch zu tief lag, um mit einer dort bekanntenGrabstätte in Zusammenhang zu stehen. Nach einigen Berechnungenentschied West, daß es irgendeine Geheimkammer unter dem Grabder Averills sein müsse, wo die letzte Beisetzung im Jahre 1768 statt-gefunden hatte. Ich war bei ihm, als er die salpeterhaltigen,triefenden Mauern untersuchte, welche die Spaten und Hacken derLeute freigelegt hatten, und bereitete mich auf den Gruselschauervor, den das Freilegen jahrhundertealter Grabgeheimnisse mit sichbringen würde; aber zum erstenmal übertraf bei West neue Ängst-lichkeit seine natürliche Neugier, und er verriet seine dekadenteCharakterstärke, indem er befahl, das Mauerwerk unangetastet zulassen und zu verputzen. Es bildete dadurch bis zu der letztenhöllischen Nacht einen Teil der Mauern des Geheimlabors. Ich

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erwähnte Wests Dekadenz, muß aber hinzufügen, daß sie eine reingeistige und unbestimmbare Sache war. Nach außen hin blieb er biszuletzt der gleiche - ruhig, kalt, schmächtig, hellhaarig, mit bebrilltenblauen Augen und von einem allgemein jugendlichen Aussehen, dasauch die Jahre und seine Ängste nicht zu verändern vermochten. Erschien ruhig, selbst wenn er an das aufgescharrte Grab dachte, undsah sich um, selbst wenn er des fleischfressenden Geschöpfes ge-dachte, das in Sefton an den Stäben knabberte und sie umklammerte.

Herbert Wests Ende begann eines Abends in unserem gemein-samen Studierzimmer, als er seine neugierigen Blicke zwischen mirund der Zeitung hin- und hergehen ließ. Die Überschrift eines merk-würdigen Artikels war ihm in den zerknitterten Seiten aufgefallen,und eine namenlose Riesenklaue schien über sechzehn Jahre hinwegnach ihm zu greifen. Etwas Furchtbares und Unglaubliches war im Ir-renhaus von Sefton, fünfzig Meilen entfernt, passiert, das die Nach-barschaft bestürzte und die Polizei vor ein Rätsel stellte. In denfrühen Morgenstunden war eine Schar schweigender Männer in dasGelände eingedrungen, und ihr Anführer hatte das Aufsichtspersonalgeweckt. Er war eine drohende, militärische Gestalt, die sprach, ohnedie Lippen zu bewegen und dessen Stimme nach Art der Bauchred-ner mit einem riesigen schwarzen Koffer, den er trug, zusammenhing.Sein ausdrucksloses Gesicht sah gut aus und war beinah strahlendschön zu nennen, hatte aber den Direktor schockiert, als das Licht derHalle darauffiel -denn es war ein Wachsgesicht mit gemaltenGlasaugen. Ein schrecklicher Unfall mußte diesem Mann zugestoßensein. Ein größerer Mann führte ihn, ein abstoßender Koloß, dessenblau angelaufenes Gesicht, wovon die eine Hälfte von einer unbe-kannten Krankheit zerfressen schien. Der Sprecher hatte darum gebe-ten, das menschenfressende Scheusal, das vor sechzehn Jahren ausArkham hier eingeliefert worden war, unter seinen Schutz zunehmen, und als man ihm dies verweigerte, gab er das Zeichen, daseinen furchtbaren Aufstand herbeiführte. Die Ungeheuer hatten jedenWärter, der nicht floh, geschlagen, zertrampelt und gebissen, tötetenvier und es gelang ihnen schließlich, das Ungeheuer zu befreien. DieOpfer, die sich des Vorfalls ohne Hysterie erinnern konnten, schwo-ren, daß diese Geschöpfe weniger wie Menschen, denn unvorstellba-re Automaten, angeführt von ihrem wachsgesichtigen Führer,gehandelt hätten. Bis man Hilfe herbeirufen konnte, hatte man vonden Männern und ihrem verrückten Schutzbefohlenen jede Spurverloren.

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Von der Stunde an, als er diesen Artikel las, saß West bis Mitter-nacht wie gelähmt da. Um Mitternacht läutete die Türglocke, wobeier fürchterlich erschrak. Da alle Hausangestellten im Speicherschliefen, ging ich selbst an die Tür. Wie ich der Polizei berichtete,befand sich kein Wagen auf der Straße, nur eine Gruppe seltsamerGestalten, die eine große, längliche Kiste trugen, die sie im Zugangzur Diele absetzten, nachdem einer von ihnen mit hoher, unnatürli-cher Stimme gebrummt hatte: »Expreßzustellung, schon bezahlt.« Sieverließen das Haus im Gänsemarsch mit schlenkernden Schritten,und als ich ihnen nachschaute, wie sie weggingen, hatte ich denkomischen Eindruck, daß sie auf den alten Friedhof zugingen, der andie Rückseite des Hauses anstößt. Als ich die Tür hinter ihnen zu-warf, kam West die Stiege herunter und sah sich die Kiste an. Siemaß ungefähr zwei Quadratfuß und trug Wests richtigen Namen undgegenwärtige Adresse. »Von Eric Moreland Clapham Lee, St. Eloi,Flandern.« In Flandern war vor sechs Jahren ein von Granaten getrof-fenes Lazarett über dem kopflosen, wiederbelebten Rumpf von Dr.Clapham-Lee und seinem abgetrennten Kopf der - vielleicht - artiku-lierte Töne ausgestoßen hatte, eingestürzt. Nicht einmal jetzt warWest erregt. Seine Verfassung war viel schrecklicher. Er sagteschnell, »Das ist das Ende - aber laß uns dies verbrennen.« Wirtrugen das Ding ins Labor hinunter und lauschten. Ich erinnere michnur weniger Einzelheiten - Sie können sich meine Gemütsverfassungvorstellen -, aber es ist eine unverschämte Lüge, zu behaupten, es seiHerbert Wests Körper gewesen, den ich in den Verbrennungsofenbugsierte. Wir schoben die ganze, ungeöffnete Kiste hinein,schlossen die Tür und schalteten den Strom ein. Aus der Kiste drangkein Ton. West bemerkte zuerst den abfallenden Verputz an jenemTeil der Mauer, wo das alte Grabmauerwerk verdeckt worden war.Ich wollte davonlaufen, aber er hielt mich fest. Dann erblickte icheine kleine, schwarze Öffnung, fühlte einen geisterhaften, eisigenWind und roch die Friedhofseingeweide verfaulender Erde. Da warkein Laut, aber gerade dann erlosch das elektrische Licht, und ich sahgegen ein phosphoreszierendes Leuchten aus dem Jenseits eine Scharschweigender, schwer arbeitender Geschöpfe sich abheben, die nurder Wahnsinn - oder Schlimmeres zu schaffen vermochte. Ihre Um-risse waren menschlich, halbmenschlich, teilweise menschlich undgar nicht menschlich - die Horde war grotesk verschiedenartig. Ruhigentfernten sie nach und nach die Steine aus dem alten Gemäuer. Unddann, als die Lücke groß genug war, kamen sie im Gänsemarsch ins

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Labor, angeführt von dem stolz aufgerichteten Geschöpf mit demschönen Wachskopf. Eine Art von irrblickendem Ungeheuer hinterdem Anführer bemächtigte sich Herbert Wests. West leistete keinenWiderstand, noch brachte er einen Ton heraus. Dann sprangen alleauf ihn zu und rissen ihn vor meinen Augen in Stücke und trugen dieEinzelteile in das unterirdische Gewölbe der unwirklichen Monstrosi-täten. Wests Kopf wurde von dem Anführer mit dem Wachskopf hin-weggetragen, der die Uniform eines kanadischen Offiziers trug. Alser meinen Blicken entschwand, sah ich, daß die blauen Augen hinterden Brillengläsern mit einem Anflug wilder, sichtbarer Erregungschrecklich aufblitzten. Hausangestellte fanden mich in der Frühe be-wußtlos auf. West war fort. Der Verbrennungsofen enthielt lediglichunidentifizierbare Asche. Detektive haben mich verhört, aber waskann ich ihnen sagen? Sie werden die Tragödie in Sefton nicht mitWest in Verbindung bringen; nicht das und auch nicht die Männermit der Kiste, deren Existenz sie abstreiten. Ich erzählte ihnen vondem Gewölbe, aber sie deuteten auf die glattverputzte Mauer undlachten. Deshalb sage ich nichts mehr. Sie ziehen den Schluß, daß ichentweder ein Irrer oder ein Mörder sei - möglicherweise bin ich ver-rückt. Aber ich wäre vielleicht nicht verrückt, wenn diese verfluchtenGrabeslegionen nicht so stumm gewesen wären.