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Lucy Foley Roman

Lucy Foley - Suhrkamp Verlag...serne Rippen, das Skelett eines Monsters aus der Zeit der Industrialisierung. Ein erhabener, hallender Ort, ein Tem-pel der Geschwindigkeit und der Effizienz

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L u c y F o l e y

R o m a n

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insel taschenbuch 4697Lucy Foley

Die leuchtenden Tage am Bosporus

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Lucy Fo l e y

DieleuchtendenTage amBosporus

RomanAus dem Engl i schen von

Kat ja Bendels

Inse l Ver lag

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem TitelLast Letter from Istanbul bei HarperCollins Publishers, London.

insel taschenbuch 4697Deutsche ErstausgabeErste Auflage 2019

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2019© Lost and Found Books Ltd 2018

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfotos: Valentino Sani/Trevillion Images; Getty ImagesSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-36397-2

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Die leuchtenden Tageam Bosporus

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Für Al, der immer mein erster Leser ist.Ich liebe Dich.

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SIEGREICHE ENTENTE INKONSTANTINOPEL !

Seit heute, dem 13. November 1918, steht Konstantinopelunter Besatzung. Das besiegte Reich der Osmanen, das denFehler beging, sein Schicksal mit dem Deutschen Kaiser-reich zu verbinden, wird sich nun den siegreichen Streit-kräften der Alliierten beugen müssen.

Die britischen Schiffe erreichten das GoldeneHorn, nach-dem sie bereits amDienstag die Dardanellen undmit ihnendie schicksalhaften Schauplätze der unrühmlichen Schlachtvon Gallipoli vor drei Jahren passiert hatten. Es mag einFiasko für die Entente gewesen sein, ja, aber nicht wenigerauch für die damals siegreiche osmanische Streitmacht. Eswar an diesen Stränden von Gallipoli, dass sie die Blüte ih-rer Jugend verschwendete, ein Verlust, von dem sie sichniemals erholte.

Kaum, dass sie das GoldeneHorn erreicht hatten, stürm-ten die Truppen, fast 3 000 britische, gut 500 französischeund 500 italienische Soldaten, umgehend an Land und be-setzten Militärbarracken, Hotels, italienische und franzö-sische Schulen, Häuser und Hospitäler. Die Männer wer-den dort ausharren, bis die Administration der siegreichenMächte organisiert ist und die Requirierung privaterWohn-häuser beginnen kann, damit die Ordnung in dieser vonKrieg gezeichneten Stadt bald wiederhergestellt ist. Andersals die Mehrheit ihrer Kameraden werden diese Männer

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nicht zu ihren Familien zurückkehren, sondern Tausendevon Meilen entfernt ihrer ehrenhaften Aufgabe nachkom-men.

DER FEIND ÜBERNIMMT STAMBOL

Heute, am 13. November 1918, haben die Schiffe unsererFeinde unsere herrliche Stadt, die Blume unseres Reiches,eingenommen.Dieser Zug der sogenannten »Entente« straftalle Versprechen Lügen, dass sie nicht an einer Besetzungosmanischer Gebiete interessiert seien. Zum Glück habendie Osmanen schon lange gelernt, dass man dem Wort ih-rer westeuropäischen Kontrahenten keinen Glauben schen-ken kann.

Mit Trauer in ihren Herzen verfolgten Männer, Frauenund Kinder von den Ufern unseres geliebten GoldenenHorns aus den Einzug der Schiffe. Einige der Männer hat-ten 1915 an den Stränden vonGallipoli beherzt gegen diese»Alliierten« gekämpft. Sie haben damals viele Kameradenverloren, und doch einen ehrenvollen Sieg davongetragen.Nun mit ansehen zu müssen, wie ihre einst geschlagenenFeinde ihnen hierher folgen, um Anspruch auf ihre Stadtzu erheben und sich ihrer Häuser zu bemächtigen, wennihnen der Sinn danach steht, ist die größte nur denkbareDemütigung.

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ERSTER TEIL

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KONSTANTINOPEL1921

DREI JAHRE UNTER BESETZUNGDER WESTMÄCHTE

Nur

Früher Morgen. In einem Zimmer oberhalb der Schiffswerf-ten des Bosporus schläft eine Frau. Ihr langes schwarzesHaar hat sich in der rauen See der Nacht um ihren Körpergeschlungen. Sie hat vergessen, es zusammenzubinden,wiesie es normalerweise tut. Zumüde. Ein Arm liegt wie acht-los fortgeschleudert über ihremKopf, eine körperlicheNach-lässigkeit, die sie sich amTageniemals erlaubenwürde. IhreFinger sind gespreizt, dieHandwie in einer flehendenGestegeöffnet.

Es ist still, abgesehen vom selbstgefälligen Ticken einerUhr: eine eher klobige Konstruktion aus dunklem Holz.MADE IN ENGLAND. Ihr lautesTickenhallt imRaum,dennnebendieserUhr unddem niedrigenDiwanmit seiner schla-fendenmenschlichenFrachtgibt esnurwenigeMöbel.Aberes hat einmal welche gegeben; die dunkleren Spuren aufdem Boden, die das Sonnenlicht noch nicht hat ausbleichenkönnen, sind noch immer zu sehen. Sie stammen nicht nur

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von Möbeln, auch von Teppichen, viel feiner als dieses ab-genutzteDing, das übrig geblieben ist.Kelim ausAnatolien,soumak aus Persien.

Die Sonne geht auf. Sie klettert über die grünen Grasflä-chen am anderen Ufer des Bosporus und streicht über dasWasser wie Butter. Jetzt berührt sie Europa. Innerhalb we-nigerMinuten hat sie zwei Kontinente überspannt; ein täg-lichesWunder. Sie vergoldet den hässlichenmechanischenDetritus der Werften. Jetzt erreicht sie das Zimmer der Schla-fenden. In der muffigen Luft vollzieht sich einweiteresWun-der: Die schwebende Staubschicht verwandelt sich in einenSchwarm tanzender Goldpartikel.

Egal wie häufig die Wohnung auch geputzt wird, derStaub bleibt. Vielleicht liegt es amAlter des Gebäudes oderdaran, dass es vollständig aus Holz gebaut ist und über dieJahreRegen, brütendeHitze, Frost und Schnee ertragen hat.Es ist geschrumpft und gewachsen, hat sich gebogen undgeatmet wie das lebende Wesen, das es einst war.

Mittlerweile ist das Licht lautlos die Bettlaken hinaufge-wandert und hat schlafende Zehen unter einem Lüftungs-schacht aus Stoff gefunden. Ein Muster aus ungeübt, aberdoch ansehnlich gestickten Granatäpfeln. Ihre Farbe ent-spricht beinahe vollkommen den Früchten, die bald an denBäumen in einemGarten auf der anderen Seite desWassersreifenwerden. Die rotenKerne der aufgebrochenen Früchtewerden zu einem Muster und marschieren am Saum derDecke entlang; ein goldener Faden bildet die Fasern zwi-schen ihnen.

Jetzt erreicht das Licht die wirrenHaarsträhnen. Im Schat-ten schienen sie schwarz – nun zeigt sich, dass sie in ver-

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schiedenen Brauntönen changieren, an manchen Stellen soleuchtend wie der goldene Stickfaden. Das Licht sammeltsich für seinen finalen Coup: den Hals zu erklimmen, diefeinen Knochen des Kiefers, den leicht geöffneten Mund,den vorstehenden Bug der Nase, die Augenlider …

Nur erwacht. Rosiges Licht. Sie öffnet die Augen.Weiß. Siesetzt sich auf, verschlafen, wischt sich über den Mund. Eswar eine unruhige Nacht. Was hat sie in den frühen Mor-genstunden aus dem Schlaf gerissen? Ein schlechter Traum.Sie kann sich nicht mehr an die Details erinnern. Je inten-siver sie versucht, ihrer habhaft zu werden, desto rascherversinken sie, wie kleine Wesen, die sich im Sand eingra-ben. Ihr bleibt nur das Gefühl eines nachhallenden Unbe-hagens. Weit beunruhigender jedoch ist dieses Gefühl desNichtwissens. Sie steht auf, betrachtet den Tag. Jenseits derflachenDächer kann sie dasWasser erahnen, ein hellesGlit-zern. Bis zum Frühstück wird sie ihre Unruhe von sich ab-geschüttelt haben. Da ist sie sicher. Denn was kann einenschon an einem solchen Morgen erschüttern?

Oh. Ein Zögern. Etwas fehlt.Und nungeschieht es, wie je-den Morgen. Die Erinnerung an alles, was sich veränderthat. Sie spürt, wie das Wissen sich wieder auf ihre Schul-tern hinabsenkt – beinahe schon auf beruhigendeWeise ver-traut.Denn nunhat sie es zumindest wiedergefunden, kenntsein Gewicht. Es ist weit schlimmer als die Erfindung einessimplen Albtraums.

Im Zimmer nebenan kocht jemand Kaffee. Der Geruchist wie der Tag selbst – eine Andeutung von Wärme undWohlbefinden. Sie kann diesen besonderenKlang des Kup-

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ferkessels hören, als er gegen den Herd schlägt. Sie schiebtdie Füße in ihre abgetragenen babouches und schlurft in denFlur hinaus. Lang nach oben gestreckt, sodass das Kinn ge-rade über dieKante desHerds ragt, auf demderKessel einegefährlicheDampfwolkeausatmet, stehteinekleineGestalt.Der Junge.Erblickt zu ihr auf, gefangenzwischenStolzundSchuldgefühlen. Dann lächelt er.

Sie kann ihm nicht böse sein. Der Junge ist beinahe wieein anderesKind imVergleich zudem,der er nochvor zweiJahrenwar. OftmalsfindetNur ihnmorgensmit offenenAu-gen auf dem Rücken liegend und fragt sich, ob er sie über-haupt geschlossen oder dieNacht damit verbracht hat, eineProjektionder Schrecken anderDecke zuverfolgen.Wenigs-tenshat erwieder angefangen zuessen.Doch es hatte etwasMechanisches,dieArt,wie erdasEssennahmundkauteundschluckte und den Mund öffnete, um erneut etwas hinein-zuschieben. Es war nichts weiter als der Instinkt eines Or-ganismus, am Leben zu bleiben.

Lange Zeit hatte es keine Anzeichen mehr von dem Jun-gengegeben, den sie einst gekannt hatte.Nur fragte sich, obdiesesKindgänzlichvonderBildfläche verschwundenwar –und niemals zurückkehren würde. Es gab Dinge, die einenMenschen vollkommen verändern konnten. Und als Kindwarman formbarer, leichter zubeeindrucken;dieVerände-rung konnte umso verheerender sein.

Nur nimmt ihre Tasse mit hinauf auf das flache Dach desHauses.Dies ist ihrheimlichesVersteck; sieglaubtnicht,dassdie anderenBewohner des Blocks es kennen.Hier kannderTag sie noch nicht treffen. Sie ist seine Herrin. Der Morgen

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ist klar, noch kühl. Doch die Hitze des Tages kündigt sichbereits an. DasWasser schwappt undplappert unaufhörlich.UndamHorizont liegt ein Schimmern;dieWolken, die sichdort oben ballen, haben die Farbe von Safran.

Sie trinkt einen Schluck Kaffee. Er ist gut, weit besser alsder, den ihre Großmutter zubereitet, die sich zu gut dafürist, Kaffee zu kochen, und ihn jedes Mal zu heiß aufbrüht.

Der Tag ist so still wie einGemälde.Man kann sich kaumvorstellen, dass dort untenBewegungherrscht, Chaos.Dochsie kann es hören: dieGeräusche der erwachenden Straßen,den Ruf des Milchverkäufers, die fernen Rufe der Schauer-männer amKai, die Fischer, die ihren Fang feilbieten. GanzinderNähedasRatternundQuietschen einer Straßenbahn.AusdemnahegelegenenViertelPera,nuretwazweihundertMeter nachWesten gelegen, dringt dasWimmern einer Gei-ge – Relikt nächtlicher Vergnügungen.

Früher hätte Nur dieses Viertel, Tophane, nie als Wohn-ort in Erwägung gezogen. Eswar einNirgendwo – einNach-gedanke, der am Rockzipfel der großen Stadt hing, ein Ort,andemverschiedeneWohnviertel zwangsläufig zusammen-kamen, wo ihre Hauptstraßen aufeinandertrafen wie die lo-sen Enden eines Seils.

Sie blickt über die Anlegestellen hinweg auf die glitzern-deWeitedesmitKriegsschiffengesprenkeltenBosporus.Vonhier oben sehen sie winzig aus, als könnte man sie mit derflachen Hand wieder ins Meer zurückschieben. Sie reprä-sentieren drei der vier Sprachen, die Nur beherrscht. Einevage imaginierte Zukunft in Friedenszeiten, erfüllt mit be-sinnlichemZeitvertreib – Paris, London, Rom; die Lektüreder europäischen Literatur.

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Der Beginn der Besetzung. Das Donnern ihrer Stiefel aufdemKopfsteinpflaster, beobachtet von hundert Augen, dieihnen in einer –wie es für dieUnwissenden scheinenmag –leerenStraßehinterverschlossenenLädenfolgen:alteFrauen,junge Frauen, die sie hassen, die sie fürchten. DieGeschütz-türme der riesigen hässlichen Schiffe im Goldenen Horn,die sie auf die antiken Schätze der Stadt richteten –dieAya-sofya, Süleymaniye, Sultanahmet. Eine unausgesprocheneund doch ohrenbetäubende Drohung.

Diese ersten Nächte, wie ein angehaltener Atemzug.Dabei hatten sie gesagt, es würde keine Besetzung geben. Sie

hatten es versprochen. Die Engländer, die Franzosen, dieItaliener – beim Waffenstillstand von Compiègne, der denKriegbeendete. Selbstdiejenigen, dienochnie eineZeitunggelesenhaben, selbstdie, diegar nicht lesenkönnen,wissendas. Wissen jetzt, dass sie ihnen nicht vertrauen können.

Die neuesten Demütigungen sind ein Schlag ins Gesicht:DenMännern wird befohlen, ihre roten Fese abzunehmen,die sie getragen haben, seit sie denken können. Die Frauenwerden begafft, aus irgendeinem Grund vor allem dann,wenn sie den Schleier tragen.

Hier oben, auf demDach, hat sie gesessen, vor denBlickenverborgen, als die Soldaten der britischen Armee unter ihrdurch die Straßen marschierten. Einzelne Gesprächsfetzenschwebten zu ihr herauf:

»… leben wie Tiere …«und»… ihre Frauen wirklich kaum besser als Huren …«und»…einMannhierkannsovieleFrauenhaben,wieerwill…«

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und»… vielleicht hast du Glück, Clarkson, wenn die Ladys

hier in diesenAngelegenheiten nichts zumelden haben…«und»… seht euch nur den Zustand dieses Hauses an. Kein

Wunder, dass sie verloren haben.«Wären sie auchso lautgewesen,wennsiegewusst hätten,

dassman ihnen zuhörte und verstand, was sie sagten?Nurvermutete –unddaswar vonallendiebeleidigendsteVarian-te –, dass die Männer sich nicht weiter darumgeschert hät-ten. Die Stadt gehört ihnen. Sie haben sogar ihren eigenenNamen für sie:Konstantinopel. Dieser andereName stammtaus dem Reich der Bürokratie, der Kartenmacher. İstanbul,so nennen ihre Bewohner sie. So hat Nur selbst sie immergekannt. Das ist derOrt, an dem sie aufgewachsen ist – ver-traut, geliebt.Aber die Regelnwerden jetzt von anderenge-macht.

Als dieseMänner fortfuhrenmit ihren Beleidigungen,warsie andieKante desDaches gekrochen,wobei sie darauf ge-achtet hatte, außer Sichtweite zu bleiben. Sie hatte die TasseKaffee, die sie in der Hand hielt, gekippt und zugelassen,dass ein paar Tropfen hinunterfielen. Völlig aus dem Affektheraus; doch sie fielen, als hätte Nur es sorgfältig geplant.Ein dicker Lieutenant, der gerade seine Mütze abgezogenhatte, umseinenkahlenKopf einpaar Sekunden langzukrat-zen. Das beinahe vernehmbare Zischen, als die brühend hei-ßeFlüssigkeitmitderempfindlichenHaut inBerührungkam.Sein Aufheulen, schriller als das einer Straßenkatze.

Doch damalswaren sie nochmutiger gewesen. GerüchtevonWiderstand. KühneWorte, rebellischeWorte: Sie wür-

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