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MAI.12 Fans

MAI - Musikzeitung Loop · 2017. 2. 21. · se. Spain kehren nach elf Jahren gerade mit einer ... Man liest, dass Sie das Libretto auf Französisch schreiben. Sie leben aber in Berlin

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Page 1: MAI - Musikzeitung Loop · 2017. 2. 21. · se. Spain kehren nach elf Jahren gerade mit einer ... Man liest, dass Sie das Libretto auf Französisch schreiben. Sie leben aber in Berlin

MAI.12

Fans

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EINSCHLAUFENWir standen draussen vor der Tür. Wie so oft. Unsere Köpfe steckten unter nichtssagenden Frisuren, die vom auffrischenden Abendwind bereits ein wenig zerzaust waren. Unsere damals noch kleinen Herzen pulsierten nervös, während wir uns mit hastig inhaliertem Marlboro-Rauch zu beruhigen versuchten. Erfolglos. Denn was wir soeben miterlebt hatten, rumorte in der Tie-fe des Brustkastens weiter, breitete sich zwischen den Schläfen aus, hatte längst unsere Beine um-fasst und diese erweicht. Wenn es unser damals noch ziemlich bescheidenes Vokabular erlaubt hätte, originelle und vielsprachige Flüche von uns zu geben – wir hätten es getan. Doch wir brachten bloss unartikuliertes Gemurmel über die Lippen, wenngleich wir dies mittels verwege-ner Mimik mit Bedeutung aufzuladen versuch-ten. Ein ziemlich armseliger Versuch, aber was hätten wir denn tun sollen?Man schrieb die späten Neunzigerjahre, und die Band, die uns an jenem Abend mit ihren lang-sam pulsierenden Songs in die Rat- und Sprach-losigkeit getrieben hatte, trug einen Namen, den wir später mit einem ganz bestimmten Miles-Davis-Album, mit robusten Rotweinen, einem verklärt-verheerenden Bürgerkrieg, siegreichen Segelregatten, der berüchtigten Inquisition, Tiki-Taka-Fussball und einer verheerenden Rezession in Verbindung bringen mussten. Davon wussten wir damals freilich noch nicht viel.

Impressum Nº 04.11DER MUSIKZEITUNG LOOP 15. JAHRGANG

P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …[email protected]

Verlag, Layout: Thierry Frochaux

Administration, Inserate: Manfred Müller

Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe

Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), Yves Baer (yba), Thomas Bohnet (tb), Christoph Fellmann, Michael Gasser (mig), Nick Joyce, Hanspeter Künzler, Tony Lauber (tl), Mathias Menzl (men), Philipp Niederberger, Miriam Suter

Druck: Rotaz AG, Schaffhausen

Das nächste LOOP erscheint am 31. MaiRedaktions-/Anzeigenschluss: 24. Mai

Titelbild: The future Ace Frehley

Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 33 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

Betrifft: Wo wir waren

Nun, das vermeintliche Rätsel hat sich mittler-weile also fast von selbst gelöst. Die Band hiess Spain, das damals aktuelle Album «She Haunts My Dreams» und das betreffende Konzert -lokal El Internacional. Eine sentimentale Drei-faltigkeit, sozusagen, denn dieser einst sehr reale Rahmen ist inzwischen längst zerfallen. Doch in den Köpfen unter den zerzausten Frisuren und in den von brüchigen Brustkästen umhüllten Herzen von einst haben Idee, Form, Inhalt und Wirkung all die verfl ossenen Jahre überdauert. Tiefroter Rioja, Tortillas mit Spargelspitzen und ein wenig Weltklassefussball – das wärs doch ei-gentlich schon.Nun aber schliessen sich unversehens die Krei-se. Spain kehren nach elf Jahren gerade mit einer neuen Platte an die Oberfl äche zurück. Und plötzlich stehen wir wieder dort draussen im Wind, etwas abgeklärter zwar, aber den-noch aufgewühlt. Denn wir sind das, was wir immer schon waren: Fans. Loyale Zuhörer, die sich nicht beirren lassen. Wir wissen ganz genau, was gut ist. Wem wir zuhören wollen. Wen wir für vernachlässigbar halten. Man sieht uns nur noch selten. Aber hin und wieder am Merchan-dise-Stand, wo wir Tour-T-Shirts und den gan-zen Plunder begutachten. Fast so, als hätten wir noch eine Chance.

Guido Gran Reserva

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DIE FACKEL DES LEBENSBesessen von einer tragischen Diva: Der exzentrische New Yorker Sänger und Song writer Rufus Wainwright widmete sich vor einigen Jahren den grossen Songs von Judy Garland. Rufus Wainwright, bei Ihrem Judy-Garland-Programm muten Sie sich ziemlich viel zu. Ein zweistündiges Set mit sehr anspruchsvollen Songs – das zehrt doch an den Stimmbändern. Als Performer muss man eine Schallmauer durchbrechen, um richtig in Fahrt zu kommen. Das war damals bei Judy Garland nicht anders, denn ihre Stimme war erst am Ende eines Konzerts richtig eingesungen. Aber es kann schon mal passieren, dass mir meine Stimme den Dienst versagt und ich mich dann mittels Komik und Ironie durch das Repertoire retten muss.

Dass Sie das überhaupt können, sagt viel über Ihre Vielseitigkeit als Performer aus. Ich orientiere mich halt an einer längst vergangenen Ära, als Stars wirklich etwas leisten mussten und Stepptanzen und Schauspielern zu den Basics gehörten. Heute sind aber die meisten Berühmtheiten nur dafür berühmt, berühmt zu sein. Oder mit jemandem ge schlafen zu haben, der be-rühmt ist. Es geht alles nur noch über die Weichteile. Und das macht den ganzen Promi-Zirkus ziemlich öde.

Was fasziniert Sie an Judy Garland? Ihre Stimmgewalt oder ihre tragi-sche Aura als Opfer des Showge-schäfts? Sie war zweifelsohne eine grossartige Sängerin, der nur gerade Edith Piaf das Was-ser reichen konnte. Aber für mich ist sie auch als Identi-fi kationsfi gur wichtig. Die meisten Leute, die 1961 bei ihrem berühmten Konzert in der Carnegie Hall dabei waren, waren schwul und Opfer von tagtäglichen Re-pressalien und Bürgerrechts-verletzungen. Später wurde die Schwulenszene von der schrecklichen Aidsseuche heim gesucht. Als Mitglied dieser Gemeinschaft versu-che ich, die Fackel des Le-bens für andere Menschen hochzuhalten.

Viele Ikonen der Schwulenszene stammen aus der goldenen Ära von Hollywood. Woran liegt das? Nie zuvor in der Geschich-te der Menschheit sind so viele Talente aus den ver-schie densten Disziplinen

aufeinander geprallt wie im Hollywood der 1930er- und 40er-Jahre, und mit der Hil fe dieser grossarti-gen Regis seure, Designer und Bühnenbildner hat die Maschinerie der Traumfa-brik Götter und Göttinnen am Laufband produziert. Homosexuelle verlassen sich traditionell auf über-menschliche Kräfte, um sich über den Verrat des Lebens hinwegzuhelfen, und im al-ten Hollywood fi nden sie ein Pantheon an Vorbildern, an denen sie sich inspirieren können. Dass die heutigen Hollywood-Schauspieler diese Anziehungskraft nicht haben, liegt wohl daran, dass sie zu viel Macht haben und zu stark bei der eigenen Karriere mitreden, statt wie früher die Knetmasse wirk-lich kreativer Menschen zu sein.

Sie haben in Interviews gesagt, dass Sie wohl der Einzige sind, der sich an Garlands Setliste heranwagen darf. Wie ist das gemeint? Ein Hetero-Mann hätte die Bedeutung dieses Repertoires für die Schwulengemeinde nicht verstanden, und eine Frau wür-de wohl zu nah am Original bleiben. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will Judy Garland nicht entweiblichen. Ob-wohl sie in Showkreisen als Drache galt, hatte ihre Ausstrah-lung viel mit einem weiblichen Feuer zu tun. Dieses habe ich natürlich nicht, aber gerade darum habe ich die Möglichkeit, etwas Eigenes mit diesem Material anzufangen.

Wie hat die Auseinandersetzung mit Stücken von Gershwin, Coward und Arlen Ihre eigene Musik verändert? Mehr als meine eigenen Songs hat dieses Repertoire meine Aussprache beim Singen beeinfl usst. Denn die Klassiker ver-langen, dass man die Texte klar intoniert, damit das Pub-likum tatsächlich versteht, was da gesungen wird. Und ich gebe es zu: Bis jetzt habe ich die Texte eher genuschelt. Das geht bei diesen Songs nicht.

Sie arbeiten derzeit an Ihrer ersten Oper. Dieses Projekt fordert Ihnen sicher eine ganz andere Arbeitsweise ab als das Songschreiben. Es gibt mir die Chance, mich voll und ganz auf die Mu-sik zu konzentrieren und keine Rücksicht auf die Sprache zu nehmen. Denn bei Opern geht es ja in erster Linie um die Musik: Die wenigsten Leute im Parkett verstehen, was oben auf der Bühne gesungen wird. Das soll aber nicht heis-

sen, dass ich beim Libretto schludere: Schliesslich wird die Opernwelt mein Werk zerpfl ücken, wenn es einmal aufgeführt wird. Substanz muss da schon sein, aber beim Schreiben geniesse ich es, mich auf die Melodien und die Figuren konzentrie-ren zu können.

Man liest, dass Sie das Libretto auf Französisch schreiben. Sie leben aber in Berlin. Auf Französisch fallen mir operngerechte Melodien ein fach schneller ein als auf Englisch. Ich bin damals von New York weggezogen, weil ich weder die posttrau-matische Stimmung in der Stadt noch die Art und Wei-se ertragen konnte, wie die Bush-Regierung 9/11 aus-schlachtete. Also bin ich nach Berlin umgesiedelt – eine Metropole, die ihre Trau mata bereits hinter sich hat. Aber inzwischen lebe ich wieder in New York, und meine Hommage an Ju dy Garland ist so etwas wie ein Treueschwur an die USA, diese grossartige Nati-on, auf die ich immer noch eine Sauwut habe.

Interview Nick Joyce

CD & DVD des Judy-Projekts sind

2007 bei Universal erschienen.rufus wainwright

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ABSOLUTE PLEASURESeit 1973 zelebriert die «Rocky Horror Show» den Fankult wie kaum ein anderes Musical. Die bizarre Geschichte von hemmungslosem Sex und absoluter Freizügigkeit spornt die Fans nicht nur zum Mittanzen an.Ein Samstagabend in Zürich. Eine bunt gemischte Men-schenmenge wartet auf Einlass ins Theater. Manch einer zündet sich noch eine Zigarette an, ein anderer hat seine gerade mit dem Absatz seiner glitzernden High-Heels aus-gedrückt und rückt die platinblonde Perücke zurecht. Ein ganz normaler Premierenabend? Ja, ein ganz normaler Pre-mierenabend.Vor dem Theater 11 hat sich die Fangemeinde des Musicals «The Rocky Horror Show» eingefunden. Es wimmelt nur so von Männern in Strapsen, hohen Hacken und mit mehr als Full Face Make-Up. Viele davon haben bessere Beine als ich in meinen kühnsten Träumen. Hie und da nimmt jemand noch einen Schluck aus dem mitgebrachten Flach-mann, roter Lippenstift wird nachgezogen, falsche und sehr echte Brüste werden zurechtgerückt. Man darf also gespannt sein.

ANLEITUNG FÜR NEULINGE

Seit 1973 fasziniert das Kultstück, das Richard O’Brian und Jim Sharman erfunden haben. Zwei Jahre später folg-te der Kinofi lm «The Rocky Horror Picture Show». Die Handlung: Das stockbiedere, frisch vermählte Pärchen Brad Majors und Janet Weiss will seinen früheren Uni-Pro-fessor besuchen, in dessen Unterricht sich die zwei kennen-gelernt haben. Nach einer Autopanne landen sie im Schloss des mysteriösen Frank N. Furter. Der ist Transe, Alien aus dem Universum Transsylvania und besitzergreifender Lo-ver seiner Angestellten. Ausserdem läuft er fast den ganzen Tag in Strapsen und glitzernden Stöckelschuhen rum und hat sich gerade einen Gespielen, Rocky, geschaffen, um sei-ne «tension» zu «relieven» – also um den ganzen Tag mit ihm vögeln zu können. Rocky zottelt nach seiner Schöpfung nur mit einer golde-nen, knallengen Unterhose bekleidet durch die Villa, allzeit bereit, seine Dienste zu erfüllen – allerdings nicht nur sei-nem Herrn. Auch Brad und Janet fi nden Gefallen an hem-mungslosem Sex und lassen sich auf die Seite des «absolute pleasure» verführen, was für Irritationen und Eifersüchte-leien sorgt und in Sehnsüchte mündet – und in eine herz-zerreissende Schlussszene. Diese wird jetzt hier natürlich nicht verraten, sonst würde ich den ganzen Rocky-Horror-Virgins ja die Vorfreude verderben. Virgins? Eine Virgin, also jemand, der noch nie ein Musical besucht hat, wird vor Beginn der Vorführung auf die Büh-ne gebeten und entjungfert: Seinen besten Orgasmus nach-spielen, einem anderen Besuchern Schlagrahm vom Körper lecken oder eine Banane zwischen den Beinen abbeissen – das sind die gängigen Rituale. Danach darf man seinen halb entblössten Hintern endlich auf dem Sessel platzieren und der Dinge harren, die da kommen. Und die haben es tatsächlich in sich. «The Rocky Horror Show» ist ein Musical, bei dem das Publikum ausser Atem kommt: Ständig wird mitgetanzt, etwas dazwischen geschrien oder Klopapier oder Konfet-

ti auf die Bühne geworfen. Und natürlich kursieren im Internet mehrseitige PDF-Files, die den Rocky-Horror-Neuling in die Mitmachkultur einführen, damit dieser beispielsweise weiss, in welcher Szene mit Wasserpistolen geschossen wird. Doch das steht den Besuchern am Premiere-abend noch bevor.

BASTELLEIM UND EIN FLOTTER DREIER

Ein Fan sticht an diesem Abend besonders heraus: Sara, 19, hat sich extra für den Musicalbesuch ein originalgetreues Kos-tüm des Dienstmädchens Columbia gekauft: Ein goldener Glitzerfrack mit passendem Zylinder, bunt gestreifte Hotpants, eine Fliege, Netzstrümpfe und Steppschuhe. «Ich brauche schon etwa zwei Stunden,

bis ich mit allem fertig bin», erklärt sie. «Columbia hat rote Augenbrauen, die ziemlich hoch im Gesicht sitzen. Dazu habe ich meine eigenen mit Bastelleim und Camoufl age-Schminke abgedeckt und künstliche Brauen aufgemalt.» Als echter Fan kennt sie den Film natürlich auswendig, schon zwölf Mal hat sie ihn sich angesehen: «Meine liebste Szene ist defi nitiv der erste Auftritt von Frank N. Furter!» Der britische Schauspieler Rob Fowler schlüpft an diesem Abend in die Rolle des tuntigen, nimmersatten Hausherrn. Da können zweideutige Angebote von Fans gar nicht aus-bleiben: «Einmal kam eine Mutter mit ihren beiden Töch-tern nach einer Vorstellung zu mir und fragte, ob ich mit den beiden einen Dreier haben will. Ich habe zuerst ge-dacht, da sei ein Witz und gelacht: «Da müsst ihr mir aber schon was zeigen!». Die zwei Mädels haben dann glatt ihr Oberteil ausgezogen. Aber natürlich habe ich das Angebot abgelehnt.»Ein Rocky-Horror-Abend lohnt sich. Die Gesichter der Besucher strahlen nach der Vorstellung. Einige sind noch ganz verschwitzt, anderen klebt Konfetti in den Haaren. Dass man zuhause (oder schon im Zug) die Stöckelschuhe und Netzstrümpfe wieder auszieht und sich das Make-Up vom Gesicht wäscht, ist nur eine oberfl ächliche Verwand-lung. Was man von so einer Vorstellung mitnimmt? Nicht nur eine heisere Stimme am nächsten Tag und vielleicht einen verletzten Knöchel von den ungewohnt hohen Schu-hen, sondern vor allem das alles übergreifende Mantra der Show: «Don’t dream it, be it!»

Miriam Suter

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WENN NEMO TÖTETAufgerieben von den Stimmen in seinem Kopf, ermordete Mark David Chapman am 8. Dezember 1980 John Lennon, den er für den Antichristen hielt.22.50 Uhr, eine Limousine fährt vor dem Dakota Building in New York vor. Yoko Ono springt heraus, gefolgt von John Lennon, der ein Tonbandgerät und einige Kassetten trägt. Auf dem Trottoir wartet ein dicklicher junger Mann mit einer dicken Brille. «Hallo», sagt er zu Yoko, als sie an ihm vorbeihastet. John schaut den Mann durchdringend an. «Er prägte sich mein Bild ein», sollte dieser später vor Gericht zu Protokoll geben. Der Mann tritt zwei Schritte in die Einfahrt, zieht einen kurzläufi gen Revolver, geht in Schussposition, gebeugte Knie, den Arm mit der Waffe aus-gestreckt, mit der anderen Hand am Gelenk abstützend.

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Mark David Chapman wurde am 10. Mai 1955 in Fort Worth, Texas geboren. Zu seiner Familie hatte er kein gutes Verhältnis. Mit 17 erschien ihm Jesus in einer Vision, di-rekt neben seinem Knie sei er gestanden. Chapman schwor seinem Hippieleben mit Amphetaminen und LSD ab und wurde wiedergeborener Christ. Er begann zu missionieren, spielte bei Gottesdiensten die Gitarre und begab sich An-fang 1975 mit einer YMCA-Gruppe auf Missionsreise in den Libanon. Doch der ausbrechende Bürgerkrieg durch-kreuzte seine Pläne. In Chapmans Weltbild ist die Erde ein Schlachtfeld für die Mächte des Lichtes und der Finsternis. Seinen Geist hält er für eine Empfangsstation, die sowohl die Befehle Gottes als auch des Satans registriert. Chapman war der Liebling der YMCA-Lagerleiter, die von ihm be-treuten Kinder nannten ihn Kapitän Nemo. Um dauerhaft eine internationale Karriere bei der christlichen Jugendorga-nisation anstreben zu können, besuchte Chapman das Con-vent College in Tennessee. Doch der Druck des Studiums war zu gross, er erlitt im ersten Semester einen Nervenzu-sammenbruch, worauf er das Studium abbrach.

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«Jesus, führe mich aus dieser Versuchung!», betet Chapman erneut. Den ganzen Tag über hatte er gebetet, wenn er sich nicht mit dem Portier unterhalten oder in seinem Lieblings-buch, «Der Fänger im Roggen», gelesen hatte. Vielleicht zi-tierte er im Gebet auch Jesus Worte aus der Ostergeschichte vom Kelch, der an ihm vorübergehen möge.

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Hilfe erhielt Chapman nach dem Kollaps keine, einzig sein Kumpel Dana Reeves, der in den Polizeidienst ging, half ihm durch die Krise. Er riet ihm, als Wachmann zu arbei-ten. Chapman fügte sich in sein Schicksal, bei den Schiess-kursen war er einer der besten. Er schrieb sich erneut an einem College ein, scheiterte abermals und wollte sich 1977 in Honolulu mit Autoabgasen das Leben nehmen. Auch der Suizidversuch scheiterte. Nach seiner Entlassung arbeitete er für zwei Jahre im Castle Memorial Hospital in Hono-lulu, wo er behandelt worden war. In dieser Zeit lernte er die junge Japanerin Gloria Abe kennen, reiste 1978 nach Japan und plante einen Neustart. Der Jesusfreak Chapman heiratete Abe, eine Buddhistin, die an Astrologie und Ok-

kultismus glaubte. Er ver-schwendete das Geld sei-ner Frau und kündigte im Dezember 1979 die Stelle, weil er nicht befördert wor-den war, und arbeitete als unbewaffneter Wachmann. Die Angestellten der Sci-entology-Kirche gegenüber seines neuen Abreitsplatzes schilderten einen verdeckt gewalttätigen Mann, der die Kirche mit Drohanrufen eindeckte. Mitte Oktober 1980 las Chapman im Ma-gazin «Esquire» einen Arti-kel über John Lennon, der 150 Millionen verdiene und gute Anwälte hätte, die ihm Steuerschlupfl öcher auf-zeigten. In einer Bibliothek lieh er Anthony Fawcets Biographie «John Lennon: One Day at a time». Er kam zum Schluss, dass Len-non Frieden und Liebe pre-dige, aber eine gewalttätige Person sei, die das Leben ei-nes Millionärs führe. Kurz: ein Heuchler. Zuhause überspielte er Beatles-Songs auf Kassetten, seine Frau glaubte in den Backvocals Stimmen von Kobolden zu hören. Ende Oktober fasste Chapman den Entschluss, Lennon zu töten.

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«Tu es!», hämmert ihm eine Stimme im Geist ein. Auch zu Satan betet Chapman, dass er ihm helfe, den Antichristen zu besiegen. Chapman krümmt den Finger, der Abzug gibt nach.

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Im Frühling 1980 spielte John Lennons Autoradio zufällig «Coming Up», die neue Single von Paul McCartney. «Fick die Henne, das ist Paul», rief er gemäss seines Assistenten Fred Seaman aus. Seaman wurde beauftragt, Pauls aktuelles Album «McCartney II» zu kaufen. Was in den 60er-Jahren funktioniert hatte, die gegenseitige Anstachelung mit immer besseren Songs, schien Anfang der 80er-Jahre wieder aufzu-fl ammen. Lennon reiste im Juni 1980 für drei Monate auf die Bahamas, wo er die Songs aufnahm, die im November auf «Double Fantasy» erscheinen sollten. Das Album sollte sein persönlicher Neustart werden. Fünf Jahre hatte er zu-rückgezogen im Dakota als Hausmann und Vater gelebt, der Brot buk, während Yoko Ono unter dem Einfl uss von dubiosen Beratern das Vermögen vermehrte. Die Ehe soll gemäss Fred Seamann in einer fast unüberbrückbaren Kri-se gesteckt haben, die Lennon nach dem Comebackalbum lösen wollte. Für Chapman bedeutete «Double Fantasy», dass der Antichrist, der berühmter als Jesus sein wollte, wie-der seine Stimme erhebt.

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Im Rhythmus der «Tu es!»-Befehle schiesst Chapman fünf Mal. Die ersten beiden Kugeln treffen John im Rücken – glatte Durchschüsse, sie zerschlagen die Scheiben des Wind-fangs des Dakota Building, die drei anderen Kugeln treffen den sich durch die Wucht der Kugeln verdrehenden Lennon in die Schultern.

mark david chapman

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Am 23. Oktober 1980 verliess Chapman seine Arbeits-telle zum letzten Mal. Er signierte mit einem gekritzelten und durchgestrichenen «John Lennon». Vier Tage später kaufte er im Waffengeschäft J & S einen Revolver: 38 Char-ter Arms Special. Der Werbeslogan der Waffenhandlung lautete: «Kauf eine Kanone und mach mal einen richtigen Knall!» Am 29. Oktober fl og Chapman nach New York, um alles zu ändern. Er lebte J. D. Salingers «Der Fänger im Roggen» nach. Da er wegen der Waffengesetze keine Mu-nition bekam, fl og er am 8. November nach Atlanta, wo Reeves im Büro des Sheriffs arbeitete. Er sorgte dafür, dass Chapman fünf Hohlmantelgeschosse bekam, die beim Auf-prall zerbersten und ihr Opfer zerfetzen. Am 9. November fl og Chapman nach New York zurück und hörte plötzlich Engelsstimmen. Zwei Tage später reiste er nach Hawaii zurück. Die nächsten drei Wochen verbrachte er vor dem Fernseher. Er hatte zwei Halluzinationen, die er als göttliche Botschaften deutete: Du sollst nicht töten. Ende November sagte er zu seiner Frau, er wolle endlich erwachsen werden. Seine Waffe hätte er ins Meer geworfen. Er vereinbarte ei-nen Termin in der Waikiki Counseling Clinic – den er aller-dings nicht wahrzunehmen gedachte. Stattdessen fl og Chapman am 5. Dezember nach New York zurück. Einem Taxifahrer erzählte er, dass er als Toninge-nieur arbeite und eben Bänder für ein Album abgeliefert habe, das John Lennon und Paul McCartney gemeinsam eingespielt hätten. Als sie an einem Plattenladen vorbei-gefahren waren, bekam Chapman einen Wutanfall und wetterte gegen Leute, die es zu etwas gebracht hatten, zum Beispiel Rockstars. Am Vormittag des 8. Dezember mischte sich Chapman unter die Fans vor dem Dakota. Beim Ver-lassen des Gebäudes signierte Lennon im Vorübergehen das Exemplar von «Double Fantasy», das ihm Chapman entge-genstreckte. Lennon war unterwegs zu einem Fotoshooting bei Annie Leibovitz.

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Lennon wankt in den Windfang des Dakotas und bricht zusammen. Der Portier ruft sofort die Polizei, die ihn im Streifenwagen ins Spital fährt. Wohl auf dem Weg dorthin stirbt John Lennon.

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Nach den Schüssen kam Chapman wieder zu sich, warf die Waffe fort und wartete, «Der Fänger im Roggen» lesend, auf seine Verhaftung. Am 22. November 1981 bekannte sich Chapman vor Gericht schuldig. Sein Pfl ichtverteidiger wollte ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen. Chap-man erhielt 20 Jahre bis lebenslänglich.

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Seit 1994 habe Chapman gegen keine Gefängnisregel ver-stossen, heisst es. Er hat eine Einzelzelle und arbeitet in der Bücherei. Seit 2000 hat Chapman sechs Mal Antrag auf Haftentlassung auf Bewährung – alle zwei Jahre steht ihm dies zu. Der Haftprüfungsauschuss von New York lehnte letztmals 2010 das Gesuch um Haftentlassung ab. Das Ge-richt kam zum Schluss, dass er noch immer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Yoko Ono hatte der Kommissi-on einen Brief geschrieben, dass sie sich mit ihren Kindern (Lennon-Sohn Sean sowie Kyoko aus erster Ehe) nicht mehr sicher fühlen würde, wenn Chapman freikäme. Er müsse deswegen lebenslang eingesperrt bleiben. Möglicherweise aber ist Chapman im Gefängnis wesentlich sicherer aufge-hoben als in Freiheit…

Yves Baer

john lennon

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31. – 33. Mai 2012 Kilbi

Bonn Bad

www.badbonn.chDüdingen

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VON JACKO GERETTETDer Berner Oberländer Thomas Käppeli sammelt Michael-Jackson-Devotionalien – bis er seinen Lebensretter persönlich trifft. Begegnung mit einem Superfan, dessen Kollektion im King-of-Pop-Museum in Steffi sburg ausgestellt ist.Die Zugfahrt von Zürich nach Bern dauert eine Stunde, von dort nach Thun sind es noch mal zwanzig Minuten, zum Schluss folgt ein kurzer Sprung im überhitzten, anti-ken Schienenbus. Das malerische Thun liegt am Thuner-see, in der Sonne funkeln die schneebedeckten Gipfel des Berner Oberlandes, und vor ein paar Jahren schaffte es der FC Thun sensationell in die Champions League. Obgleich Steffi sburg quasi ein Aussenquartier von Thun ist, hat es von den Reizen der Stadt nur die fernen Berge abbekom-men. Zwar führt der Weg vom Bahnhof zuerst unter der «strassenüberquerenden Kunstinstallation» durch, die der griechische Künstler Costas Varotsos «aus der Landschaft heraus erspürt» hat, dann über eine mittelalterliche Holz-brücke, und ohne Zweifel geniessen die Chalets am Hü-gel oben eine grossartige Aussicht. Dennoch hält sich der Charme des Dorfes auf den ersten Blick in Grenzen. «Opening King of Pop Museum» stand auf der Einladung. Datum: Freitag, 28. August 2009, Zeit: 18 Uhr. Adresse:

Restaurant Brasserie 98, «Traditioneller Familienbetrieb», Oberdorfstrasse 15, 3612 Steffi sburg. Das Eintreffen der Gäste werde begleitet von Weisswein aus der Weinkellerei R. Vouilloz, Rotwein von der Firma Mounir, Salgesch, so-wie Bier Marke Rugenbräu Alpenperle. Die «Begrüssung durch den profunden Michael-Jackson-Kenner Thomas Käppeli» wurde für 18.30 Uhr versprochen, gefolgt von der Besichtigung des Museums und «Pasta Guggershörnd-li all Arrabiata Don Francesco». Ach, und die Einladung stammte von «Thomas Käppeli (ehemaliger Freund von Michael).»Leider war ich verhindert. So betrete ich die Brasserie 98 – ein paar Monate verspätet – erst im tiefsten Februar. Es begrüsst mich eine Dorfschankstube, wie sie im schweize-rischen Heimatbuch steht: Holztische, Jass-Tafeln, wind-gegerbte Herren mit dicken Stumpen zwischen den Hand-werkerfi ngern. Herr Käppeli? Das King-of-Pop-Museum? Ich werde durch ein dunkles Hinterzimmer und einen Korridor geführt – und plötzlich öffnet sich eine exotische neue Welt. In der Sprache des Hausherrn Don Francesco, der eigentlich Franz-Urs Linder heisst und den Ausdruck hat schützen lassen, befi nden wir uns nun in einem «Pizze-rante». Es ist ein Mischding aus italienischer Pizzeria und amerikanischem Diner, beleuchtet von einer klassischen Wurlitzer-Jukebox in bunten Elvis-Farben. Und tatsäch-lich hängen an den Wänden rundum die Zeugnisse von Thomas Käppelis einstiger Michael Jackson-Sammlung: goldene Schallplatten zuhauf, eine waschechte Jackson-Uniformjacke, ein Award für 25 Millionen verkaufte

bitte umblättern

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«Thriller»-Exemplare, Fotos, auf denen «Chäppi» persön-lich neben einer Auswahl von Jacksons steht. Eine Treppe führt ins Kellerverlies – hier fi nden wir ei-nen Teddybären, einen bekritzelten Schweizer Pass, eine Zeichnung von Michael, eine rosarote Serviette, dazu den Award, mit dem Michael Jackson für den Verkauf von 100 Millionen Tonträgern geehrt wurde und von dem es dem Vernehmen nach nur noch drei weitere Exemplare gibt. Mittendrin sitzt strahlend der ewige Fan und stolze Ex-Sammler Käppeli.

JACKO AUF DEM SCHULTERBLATT

Thomas Käppeli, Jahrgang 1963, stämmig gebaut, offenes Gesicht, Zigarette, gelernter Maschinenzeichner, heute Im-mobilienhändler, früher beim FC Thun für die Sicherheit der Fans bei Auswärtsspielen zuständig, früher unter an-derem auch aktiv im Schützenverein, im Eishockey-Klub, bei den Ornithologen und den Philatelisten, berühmt ge-worden durch seinen bestsellenden Kaffeerahmdeckeli-Katalog, Ausbildung im Finanzwesen, Vater von drei Kin-dern aus erster Ehe, Stiefvater einer Tochter aus zweiter Ehe, doppelter Weltmeister im Photoplay (einem global gesteuerten Computerspiel), Inhaber des schweizerischen Jagdscheines und Pächter eines Wildschweinjagdreviers in Tschechien. Auf seinem linken Schulterblatt prangt in der Grösse einer Single eine Tätowierung von Michael Jack-sons Konterfei.«Das mit Michael...», hebt Chäppi an, «schon der Anfang war genial. Das Alter: 16, 17. Sehr dominanter Vater. Ver-suchte immer alles vorzuschreiben. Man kommt zur Schu-le raus, darf endlich selbst entscheiden. Darf am Sonntag, statt daheim mit den Eltern Autorennen zu schauen, richtig aus dem Haus. Und der Kollege hat ein Auto. Und in dem Auto läuft genau dieses Kassettli, ‹Off the Wall›, ‹Rock With You›. Das sind so Zufälle. Vielleicht hängt alles damit zusammen. Mit der Befreiung.»

DER OFFIZIERSVATER

Chäppi war hingerissen von «Off the Wall». Jeder Song eine Perle. Nicht ein Stück Füllmaterial. Er begann damit, sich über diesen Michael Jackson zu informieren und ent-deckte Gemeinsamkeiten. «Sein Vater, mein Vater – das war nicht ungleich. Darum habe ich schon früh etwas mehr gesehen bei Michael. Vielleicht hat mir ja gerade das so gut gefallen, dass dieser 21-jährige Bengel, etwa gleich alt wie ich, trotz dem Riesenerfolg, den er mit den Brüdern hat-te, trotz dem Druck vom Vater und trotz dem Druck von Motown – dass er einfach sagt: ‹So, jetzt mache ich selbst etwas!› Und knallhart hat er es durchgezogen. Bei der Ge-burtstagsfeier von Motown, ‹Billie Jean› – da hats mir die Zehennägel aufgerollt, so unglaublich toll war das!» Chäppi und seine Familie waren keine Aussenseiter im Dorf – im Gegenteil. Und doch wurde die geistige Verbin-dung des Schweizer Landbuben mit dem frühreifen Popstar aus der kalifornischen Sonne, für den Switzerland wahr-scheinlich noch das Gleiche war wie Schweden, auf einsei-tige Weise immer inniger. Was die beiden verband waren die Schläge. Chäppi kassierte sie mit Rute und Teppich-klopfer.«Wie soll ich sagen», sagt Chäppi und seufzt. «Da waren ein paar Sachen. Mein Vater war Berufsoffi zier, Oberst. Ein sehr dominanter Mann. Und überall, wo der kleine Chäp-pi hingekommen ist, da hiess es: «Bist du der Sohn vom Herrn Oberst?» Da konnte man hin, wo man wollte. Man konnte nie sich selber sein. Man war immer das Ergebnis von seiner Mutter und seinem Vater. Einmal in der Sekun-darschule hat ein Lehrer zu mir gesagt: «Etwas Gutes hast Du, Käppeli, und das ist dein Vater.» Irgendwann muss man sich entscheiden. Entweder man schickt sich drein,

einfach der Sohn vom Alten zu sein. Oder man bekommt eine solche Wut im Bauch, dass man sagt: «Okay, jetzt mach ich alles erdenklich Mögliche, bis es einmal heisst: «Sind Sie der Vater von dem Sohn?» Das war mein Ziel. Es war ein gewaltiger Krampf. Ich habe geschuftet und mich abgeplackt. Alles, bis mein Vater eines Tages wegen einer Nasenoperation ins Krankenhaus musste. Der Narkosearzt erscheint, blickt aufs Formular und sagt: «Eine Frage, Herr Käppeli – sind Sie etwa der Vater vom Kafi rahm-Deckeli-Käppeli?» Das war das erste Mal. Auf ein Mal merkte ich, dass mein Vater ganz anders umging mit mir. Ich war nicht mehr sein Soldat.» Den Moment hatte Chäppi Michael Jackson zu verdanken. «Michaels Beispiel hat mir gezeigt: ‹Du kannst das.› Das Wichtigste ist, dass man in den Spiegel schauen und an sich glauben kann. Man in the Mirror. Das hat Michael ge-macht, auch mit seinen Operationen. Wenn du in den Spie-gel schaust und immer nur deinen Vater siehst, da musst du doch etwas ändern! Und zwar musst du etwas ändern. Du kannst nicht auf die anderen warten.»

NACH DER SCHEIDUNG DIE SAMMLUNG

Bis aus Chäppi, dem Michael-Jackson-Fan, Chäppi, der Michael-Jackson-Sammler wurde, vergingen indessen noch eine Hochzeit, drei Geburten und eine «sehr glückliche» Scheidung: Chäppi hatte seine Sandkastenliebe geheiratet und nach neun Jahren festgestellt, dass «Liebe allein nicht reicht, dass es die Gemeinsamkeiten sind, die verbinden.» Obwohl das Ehepaar im Frieden auseinanderging und noch heute gut befreundet ist, stürzte ihn das Scheitern der Ehe in eine schwere Depression.«Aus dem Haus habe ich die Polstergruppe und einen TV mitgenommen, zwei, drei Köfferli, in denen auch die CDs von Michael waren, und bin in eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung gezogen. Von Morgen bis Abend habe ich ge-heult. Es ging mir dreckig. Ich hatte Angst, ich würde alles verlieren, die Kinder, die Kollegen, alles. Und da kam wie-der die Michaels Liebe hervor. Der war doch früher gut, er wird jetzt auch noch gut sein. Und so habe ich irgendwann wieder angefangen, Michael Jackson zu hören.»Das Dorf, so wurde ihm zugetragen, schwatzte über ihn. Nimmt sich so eine junge Frau, hängt ihr drei Kinder an, und wenn der Kleinste zwei Jahre alt ist und ihm das An-gebundensein nicht mehr passt, läuft er davon. «Über mich wurde geurteilt, das stimmte alles nicht. Gestern war ich im Verein noch der geilste Typ, heute war ich denen verleidet, einfach, weil man aufrichtig war mit sich und seiner Frau und sich hat scheiden lassen. Da kamen wieder die Paral-lelen zu Michael. Man hört von morgens bis abends seine Musik, und man verfolgt alles, was mit ihm passiert, und plötzlich hat man das Gefühl: ‹Ich kenne ihn.› Man sieht ihn am Fernsehen und sagt sich: ‹In der Situation würde ich doch genau gleich handeln! Auch wenn er anders ist als ihr, lasst ihn doch sein! Er lässt euch ja auch in Ruhe.› Als ich gefl üchtet bin in die Wohnung hier in Steffi sburg haben mich Michael und seine Musik am Leben erhalten.»Eines Tages hörte er von einer Frau in Basel, einem Mi-chael Jackson-Fan. Sie hatte alles gesammelt, was sie von ihm fi nden konnte. Eines Tages traf sie ihr Idol persönlich, und von dem Moment an brauchte sie die Sammlung nicht mehr. Chäppi kaufte ihr die Sammlung ab, für 10 000 Franken. Es sprach sich rasch herum, dass Chäppi jetzt Sammler war. Zuhauf wurden ihm die Stücke angeboten. Andere erstand er auf Auktionen, wieder andere fanden ihren Weg direkt und superdiskret aus den Lagerhäusern der Plattenfi rma in seine Hände. Chäppi verdiente durch seinen Job mit Anlagen gutes Geld. Es gab Wochen, wo er drei, vier Raritäten an Land zog. Es mehrten sich die Anfragen von Fans, welche die Sammlung gern gesehen hätten. Am 1. November eröffnete Chäppi im Selve-Areal, dem einst trendig verlotterten Industriequartier von Thun, die «King of Pop»-Bar, wo nun all seine Schätze zu bewun-dern waren.

VON JACKO GERETTET

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IN GSTAAD BEI MICHAEL

Datum: 16. April 2000. Plötzlich versperren zwei schwere Typen den Eingang zur «King of Pop»-Bar. Es steht ihnen ins Gesicht geschrieben, dass es Bodyguards sind. Sie bau-en sich vor Chäppi auf. Es gebe in Gstaad jemanden, der auf ihn warte, draussen stehe der Wagen. Gstaad, exklusi-ver Urlaubsort für VVVIPs. Chäppi befahl dem Kollegen, niemandem ein Sterbenswörtchen zu verraten. Er kaufte einen dicken Rosenstrauss und hielt den Fahrer an, einen Umweg zu seinem Haus zu machen. Er musste ja noch den Teddybären und das Fotoalbum holen, die für genau diese Gelegenheit bereit lagen. «Ich war überzeugt, dass dieser Moment kommen würde», sagt Chäppi. «Immer hab ich das im Kopf gehabt. Und wenn du etwas im Kopf hast, und du weisst, du kannst das, dann heisst es dranbleiben und dranbleiben, und eines Tages wirst du es schaffen. Aber du musst selber an dich glauben. Nie aufgeben. Egal was die anderen denken von dir. Nicht zweifeln – machen! Kannst dir vorstellen was ich so hören musste: ‹Diese Schwuchtel, dem gefallen die kleinen Buben auf den Knien.› Scheissegal. Durchziehen!»In Gstaad lag tiefer Schnee. Wie erwartet hielt der Wagen vor dem Chalet von Elizabeth Taylor an, der besten Freun-din Michael Jacksons, wo dieser häufi g zu Gast war. «Ich stehe auf dem Vorplatz. Zwei Bodyguards hüten den Ein-gang. Die zwei Bodyguards, die mich gebracht haben, ste-hen auch noch herum. Dann kommt ein Auto angefahren, da sitzt Grace drin mit den Kindern (Anm: Grace Rwaram-ba war das langjährige Kindermädchen Michaels; weil sie auch den gleichen Ring trug wie Michael, verbreitete sich das allerdings nie bestätigte Gerücht, dass die beiden ein Liebespaar waren). Grace schaut mich so an: ‹Was machst du denn hier?› Ich sage: ‹Mich kam jemand holen, Michael sei hier, ich würde gern zu ihm.› Grace ging hinein. Kurz später geht oben das Fenster auf. Es ist Michael. Er sagt: ‘Hi!’ Ich kann nur eines entgegnen: ‹I love you.› Er sagt ‹I love you more.› Hey, du Scheisse! Nach zwanzig Jahren! Du träumst von dieser Situation. Nie im Leben, denkst du. Eher noch George Bush. Aber da ist er, Michael Jackson, keine drei Meter von dir entfernt.»Michael: «Grace hat gesagt, dass du mir gern etwas mittei-len würdest.»Da war es vorbei mit Chäppis Beherrschung. «Ich fi el auf die Knie und habe nur noch geheult. Vierzig Jahre alt und nur noch gefl ennt! So nah! Ich allein. Das darf nicht wahr sein! Sonst immer mit 80 000 anderen. Hier mutterseelen-allein.» Es war schon dunkel.Michael: «Frierst du nicht?»Chäppi: «Und wie!»Michael: «Willst du reinkommen?»Chäppi: «Ja...»«Und im Schnee ziehe ich noch die Schuhe aus. Du kannst doch nicht mit den Schuhen in so ein Haus! Stand in den Socken im Schnee.»Chäppi betrat den Korridor. «Diese Treppe, ich hatte sie noch nie gesehen, aber zehn Mal bin ich sie im Traum schon hinaufgegangen.» Er wurde in die Küche geführt. Hier sass das betagte Ehepaar, das sich um Elizabeth Taylor küm-merte, wenn sie hier in den Ferien weilte. Der Mann fi ng zu erzählen an. In Thun sei er im Militär gewesen, auf einem Panzer aus dem 19. Jahrhundert. Chäppi konnte ihm kaum zuhören. Die Spannung war unerträglich.«Es war eine Riesenküche. Alles aus Holz. Wir haben Tee getrunken. Da ging plötzlich die Türe auf, und die kleinen Globis, Prince Michael und Paris, stürzten herein. Ich sass so da, und die beiden sind voll auf mich zu gerannt, als würden sie mich seit hundert Jahren kennen. Springen mich an, dass es mich im Stuhl fast umhaut. Klein-Michael, fast weisse Haare, strohblond. Paris, Zapfenzieherlocken. Ich musste schauen, dass sie den Tee nicht ausleerten. Prince hat mir ständig auf der Nase herumgedrückt wegen der Laubfl ecken, die haben ihn fasziniert. Ein paar Mal hat sich die Tür leicht geöffnet, und Michael hat hereingeschaut.

Nur hereingeschaut. Er war nicht geschminkt. Nicht be-reit. Und ich dachte: «Michael, komm rein, komm rein!». Ich hatte mein Fotoalbum dabei, die Blumen. Den Kindern habe ich Spielsachen gebracht – das, was Michael immer gemacht hat, nur umgekehrt. Auf einmal bringt Michael eine rosarote Serviette. Er hat sie signiert. «Michael Jack-son». Ich konnte nicht aufstehen. Seine Kinder sassen mir auf den Knien. Ich konnte ihn nur aus dem Sitzen anschau-en und das Fotoalbum zu ihm hinüberschieben. Dann hiess es zu den Kindern: «Ab ins Nest!» Ich muss sagen, Michael hatte sie im Griff. Prince hat geschrien und gekickt, Micha-el hat ihn unter den Arm genommen und hinausgetragen. Dann hat er mir noch Autogramme für mich und meine Kinder und einen Teddy-Bären geschenkt. Er sagte, er wer-de mich anrufen, er wolle mich nach Amerika einladen, er wolle Business machen mit mir. Ich bin zurück in die Bar. Es war schon fast Mitternacht. Ich habe sie aufgeschlossen, nur für mich. Ich habe mein Lieblingslied gespielt, bin mit meinem neuen Teddybären auf der Tanzfl äche gestanden und habe geheult wie ein Kind.»

WARTEN IN LAS VEGAS

Die Monate vergingen, aber der versprochene Anruf kam nicht. Eineinhalb Jahre zogen ins Land, bis Chäppi einen Anruf von Faisal und Sandy aus Las Vegas bekam. Fai-sal und Sandy gehörten zum erlauchten inneren Kern von MJ-Fans, denen es gelungen war, eine persönliche Bezie-hung anzuknüpfen. Michael hatte sogar versprochen, bei ihrer Hochzeit als Trauzeuge zu walten. Sandy berichtete, Michael wolle mit Chäppi eine Geschäftsidee besprechen und erwarte ihn am kommenden Mittwoch in Las Vegas, der Flug auf seinen Namen sei schon gebucht. So landete Chäppi wenige Tage später in der Bruthitze von Las Vegas. Es war seine erste Reise nach Amerika. Er solle sich ins Hotel Mandalay Bay begeben, hatten ihn seine Freunde an-

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gewiesen. Oben im Mandalay Bay befi nde sich ein weiteres Hotel, das noch exklusivere Four Seasons, dort wohne Mi-chael. Man müsse sich bloss bei der Rezeption melden und werde dann sogleich zu ihm geführt. Michael habe vor, in Zürich eine Bar zu eröffnen.Am nächsten Morgen in Las Vegas band sich Chäppi eine Krawatte um den Hals und sprach mit seinem Aktenköf-ferchen am Empfang des Mandalay Bay, 3950 Las Vegas Boulevard, South, vor. Dort wurde ihm kategorisch erklärt, es wohne in dem Hotel kein «Mr. Jackson». Chäppi warte-te ein paar Stunden im Foyer und versuchte es bei den Re-zeptionsmitarbeitern der nächsten Schicht von Neuem. Das Resultat war das gleiche. Er rief Faisal und Sandy an. Diese rieten ihm an, einfach zu warten, bis einer von Michaels Bodyguards erscheine, die kenne er ja. Chäppi hielt sich an den Rat. Wartete. Nichts tat sich. Chäppi wartete bis Mitternacht, schnappte ein paar Stunden Schlaf und kehrte um sieben Uhr früh ins Mandalay-Foyer zurück. Wartete weiter. Drei Tage lang. Da, endlich, erschien doch noch ei-ner der Bodyguards. Chäppi steckte ihm seine Visitenkarte in die Hand und schärfte ihm ein, Michael die Nachricht zu überbringen, er sei angekommen. Und wartete, wartete. Es passierte nichts. Endlich wurde er von zwei jungen Spa-nierinnen angesprochen. Es sei ihnen aufgefallen, dass er stundenlang untätig herumsitze. Was er denn hier treibe?Chäppi: «Ich warte auf einen Kollegen.»Spanierinnen: «Könnte der Kollege vielleicht Michael Jack-son heissen?»Die Spanierinnen eröffneten Chäppi, dass er am falschen Ort sei. Michael wohne durchaus hier oben im Hotel. Er gehe auch fast jeden Tag aus dem Haus. Aber er benutze dazu den Lieferanteneingang. Wenn sein Fahrer Kaito mit dem Wagen vorfahre, gehe es noch zehn Minuten, dann erscheine Michael, gewöhnlich mit den Kindern.«Ich bin hinter das Hotel zum Lieferanteneingang und eine Viertelstunde später kommt Michael daher. Ich stehe dort wie ein frischgevögeltes Poulet und schaue ihn an. Er kommt, umarmt mich und sagt: ‘Endlich bist du da!’»Chäppi durfte sich in Michaels Karosse setzen, dieser ent-schuldigte sich fürs lange Warten, man fuhr um den Häu-serblock und knipste ein Foto. «Das ging nachher eine gute Woche so. Nicht grad jeden Tag, aber mindestens jeden zweiten Tag haben wir kurz zusammen geredet, im Auto, irgendwo unterwegs. Einmal sind wir im Drive-in-Restau-rant Sushi holen gegangen. Einmal sind wir zum Mirage gefahren, dem Hotel, in dem Siegfried und Roy auftreten. Michaels Business war ganz klar. Er wollte in Zürich das machen, was ich in Thun hatte, nur grösser. Alles mit weis-sen Fliesen, neonviolettem Licht, goldenen Rändern und all dem Zeugs. Ein Riesenschuppen. Er hats beschrieben, wie er das sieht. Mit DJ. Vom Feinsten. Ob ich das machen könne für ihn. Ich sagte: ‘Schon, aber ich will nicht nach Zürich.’ Er sagte: ‘Aber die Schweiz ist doch Zürich!’ Wir trafen uns noch kurz mit Chris Tucker, mit dem hatte Mi-chael auch geschäftlich zu tun. Dann machten wir einen weiteren Termin ab, zwei Tage später. Bei dem Meeting sollten wir alles festnageln. Termine und alles.»

DAS DRECKSPIEL

Ein Tag vor dem wichtigen Treffen fuhren beim Hintergang plötzlich die Lieferwagen vor. In höchster Eile wurden sie mit dem Hab und Gut von Michael und seinem Anhang be-laden. «Ganze Kleiderständer wurden einfach in den Kar-ren geschmissen. Der hatte eine Sache bei sich, unglaub-lich. Dann kommt Michael herunter, sieht mich, zieht mich noch mal ins Auto, macht ein Foto, signiert das erstbeste Stück Papier, den Reisepass, und sagt: ‘Du hörst von mir. Jemand macht ein Dreckspiel mit mir.’»Fast wäre Chappü statt zu Hause in Steffi sburg im Knast von Las Vegas gelandet. Man warf ihm am Flughafen vor,

VON JACKO GERETTETden Pass mutwillig beschädigt und damit ungültig gemacht zu haben. Erst als sich Chappü daran erinnerte, dass sich unter den im 2-Stunden-Shop frisch entwickelten Fotos eine Aufnahme befand, wo er und Michael Jackson sich die Hand um die Schulter legten und Chäppi das gleiche Hemd trug wie jetzt, als er vor dem Grenzbeamten stand, glaubte man ihm die Geschichte mit dem Autogramm und liess ihn gehen. Zurück in Steffi sburg erfuhr er endlich den Grund für Mi-chaels überstürztes Verschwinden. Der Skandal um den Dokumentarfi lm von Martin Bashir war losgebrochen. Es war der Film, in dem Jackson seinem Erstaunen darüber Ausdruck gab, dass es in den Augen gewisser Leute falsch sei, mit fremden Kindern das Bett zu teilen. Er führte zu erneuten Vorwürfen des Kindesmissbrauchs und endete am 13. Juni 2005 im Geschworenengericht von Santa Maria mit einem Freispruch auf der ganzen Linie.Es war das letzte Mal, dass Chappü Kontakt mit Michael hatte. Ein Jahr später gab er die «King of Pop»-Bar ab, aber nicht wegen mangelnden Zuspruchs, sondern wegen einer schweren Krankheit, die ihn ein ganzes Jahr kostete. Das Sammeln von Michael-Jackson-Memorabilia gab er eben-falls auf: «Wenn man ihn getroffen hat, geredet hat mit ihm, gegessen und geblödelt, dann bedeutet so eine Samm-lung nichts mehr.» Seine Zeitungsausschnitte schenkte er Sandy und Faisal. Der Plan, mit einem Teil seiner Raritäten ein kleines Museum einzurichten, bestand lange vor dem 25. Juni 2009. Einige Stücke wurden verkauft, darunter drei Grammys, die im Mai 2009 im New Yorker Hard Rock Café versteigert wurden und 30 000 Dollar einbrach-ten. «Ich sagte mir: was nützt mir das, wenn die bei mir nur herumstehen?»

GOTT MICHAEL

Vor fünf Jahren hörte Chäppi doch noch einmal von Mi-chael, allerdings auf indirekte Art. Dessen Vater Joseph fei-erte seinen Geburtstag in Berlin und organisierte eine gros-se Party. Aus der Schweiz wurden fünf Leute eingeladen – drei Mitglieder des Fanclubs jackson.ch sowie Chäppi und seine Frau. Dieser ist überzeugt, dass es auf Veranlas-sung von Michael geschah: «Wie hätte Joe sonst gewusst haben sollen, wer ich bin?»«Ob sich meine Verehrung von Michael vergleichen liesse mit einem religiösen Glauben?» Chäppi wiederholt die Fra-ge laut und ganz langsam. Dann bleibt er lang still.«Das geht jetzt grad ein bisschen hart in die Eingeweide», entgegnet er schliesslich. «Aber ich kann sagen, wenn ich je im Leben einen Gott gehabt habe, dann war es Michael. Ich selber bin kein Kirchengänger. Ich sage immer: Scheiss-egal, an was du glaubst, wichtig ist, dass du an etwas glau-ben kannst. Komischerweise sind Leute vor allem dann gläubig, wenn es ihnen Scheisse geht. Kaum geht es ihnen schlecht, erinnern sie sich daran, dass es da noch einen gab, der gekreuzigt wurde, der Dinge konnte, die andere nicht konnten. Michael war nur ein Mensch, das müssen wir ehrlich sagen. Aber für mich, im Nachhinein, wenn das auch komisch tönt – für mich war er schon ein bisschen wie ein Gott. Ich habe Michael mein Leben zu verdanken. Sein Beispiel hat mir Kraft gegeben. Die Arbeit musste ich sel-ber verrichten. Aber er hat mir den Grund dafür gegeben, mit seinen Texten und seiner Musik. Er hat mein Denken geprägt. Einmal habe ich es ihm auch gesagt. Ich sagte zu ihm: ‹Ich habe dir mein Leben zu verdanken. Ich glaube nicht, dass du dir bewusst bist, wie viele Menschen dir das Leben zu verdanken haben. Wie viele Pärchen sich getrof-fen haben zu deiner Musik.› Er sagte: ‹You are crazy.› Ich sagte: ‹I am crazy, but you are too.›»

Hanspeter Künzler

Der Text entstammt dem Buch «Der Thriller um Michael Jackson»,

erschienen im Hannibal Verlag.

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Masha QrellaAnalogies(Morr Music)

2002 ist auf dem Berliner Label Monika Enterprise mit «Luck» das erste Solo-album von Masha Kurella alias Masha Qrella erschie-nen – mit minimalistischen, eher melancholischen, fast schon romantischen Indie-Pop-Songs. Eine weitere Platte, «Unsolved Remai-ned», folgte, ehe man sich 2009 mit dem Cover-Al-bum «Speak Low» durch-aus gekonnt über Kom-positionen von Kurt Weill und Frederick Loewe her-gemacht hat. Doch auf das neue Soloalbum der Berli-ner Multinstrumentalistin und Songwriterin mussten wir einige Jahre warten. Das lange Warten hat sich gelohnt, sind Masha Qrel-la doch neun echte Perlen gelungen, wobei man den schönsten Song der Platte, «Fishing Buddies», gleich in zwei Versionen auf das Album gepackt hat. Zwi-schen minimalistischem Indie-Pop und so etwas wie Neo-New-Wave rich-ten sich die Tracks ein, die auch mal an die gros-sen Young Marble Giants oder an Stereolab erinnern und relativ konventionell instrumentiert, allerdings höchst geschmackvoll ar-rangiert sind – so etwa die dezente Electr onica meets Jazz in «Take Your Time». Exzellente Platte.

tb.

Corin CurschellasLa Grischa(Rtunes)

Seit Jahren schon widmet sich eine überschaubares Gruppe Schweizer Musiker der Erkundung und Neuin-terpretation traditionellen Liedgutes. Alle zwei Jahre gibt sich die Szene ein Stell-dichein beim «Alpentöne»-Festival in Altdorf. Zu den Stammgästen zählt dort Corin Curschellas, die ne-ben Christine Lauterburg die profi lierteste Sängerin dieses Genres ist. Auf «La Grischa» interpretiert sie bereits zum dritten Mal rä-toromanische Volkslieder. Gemeinsam mit Albin Brun an Sax und Flöten, Kontra-bassist Claudio Strebel und Patricia Draeger (Akkorde-on und Schwyzerörgeli) ar-rangiert sie die Stücke zu ei-ner Art Kammer-Folk-Jazz. Meist klingt das recht lüp-fi g, doch auch die Wehmut, die oft die Musik aus den Alpen durchzieht, schwingt hier mit. Curschellas bestä-tigt sich als sachkundige und lustvolle Musikerin, die das Traditionelle am Le-ben hält, in dem sie es neu interpretiert. Mit über einer Stunde Spielzeit ist das Al-bum etwas ausführlich ge-raten, doch vielleicht lässt sich die Überlänge nutzen, um darüber nachzudenken, weshalb in Indie-Zirkeln angeregt über Alan Lo-max’ Archiv von Folk aus aller Welt diskutiert wird, während die zeitgenössi-sche Beschäftigung mit der Schweizer Volksmusik dem DRS-2-Publikum überlas-sen bleibt.

ash.

DIE NEUEN PLATTEN

Seeker Lover KeeperSeeker Lover Keeper(Microdata/Phonag)

Eigentlich ist Vorsicht ge-boten, wenn sogenannte Supergruppen angepriesen werden. Ist die Summe doch häufi g künstlerisch weit weniger wertvoll als ihre Einzelteile. Unschö-nes Beispiel aus jüngerer Zeit: SuperHeavy mit Mick Jagger, Dave Stewart und Joss Stone. Aber zu Seeker Lover Keeper. Hierzulande mögen die Namen von Sa-rah Blasko, Holly Throsby und Sally Seltmann (Co-Autorin von Feists «1234») nicht allzu geläufi g sein, doch in ihrer Heimat Aus-tralien sieht das anders aus. Da haben die drei Musi-kerinnen einen gehörigen Bekanntheitsgrad, weshalb es nicht verwundert, dass ihr gemeinsames Debüt mit Gold ausgezeichnet wurde. Jetzt kommt das Album – mit halbjähriger Verspätung – auch in unse-ren Breitengraden auf den Markt. Eine erfreuliche Sa-che, denn die Singer/Song-writerinnen, die vornehm-lich aus dem versonnenen Folk-Pop schöpfen, haben ein inniges Werk geschaf-fen. Und das nicht nur, weil die Harmonien des Trios herzbewegend ineinander fl iessen, sondern ebenso, weil die Stücke – insbeson-dere die pianogetriebenen – mit der vollen Kraft der Verträumtheit zu verfangen vermögen. Ein klanglicher Balanceakt zwischen Un-schuld und Lebensüber-druss. Und zwar einer der absolut gelungenen Art.

mig.

Niki and The DoveInstinct(Sub Pop/Irascible)

Sie tragen die Taube im Bandnamen, singen von Veilchen, Adlern und vom Fuchs, der alle Probleme in einem Loch auf einem Hügel vergräbt. Die Rede ist von Niki and The Dove, einem schwedischen Pop-Duo, das auf Sub Pop einen schweren Synthie-Pop-Ent-wurf mit Hang zu Mystik und Theatralik vorlegt. Die grossen Gesten also. Seit 2010 veröffentlichen Ma-lin Dahlström und Gustaf Karlöf aus Stockholm ein-zelne Tracks, die jeweils im Internet kleine Begeiste-rungs-Eruptionen auslösen. Ihre erste Single «DJ, Ease My Mind» erhielt reihum begeisterte Kritiken und endete als Disco-Hit. Das Debütalbum «Instinct» vereint nun die Höhepunk-te der vergangenen zwei Jahre mit neuen Tracks zur grossen Fanfare. Dunkle, satte Tanzmusik, die man auch sitzend geniessen kann, in der Tradition von Kate Bush und Björk, mit starken Parallelen zu Bat For Lashes und Landsfrau Lykke Li. Vergleiche, die aber zu kurz greifen. Niki and the Dove zeichnet ein schwerer, düsterer, aber durch und durch leiden-schaftlicher Gefühlsüber-schuss aus, der mit grosser Verve vorgetragen wird und eine magische Anzie-hungskraft verströmt. Für manche vielleicht zu über-kandidelt, aber wers thet-ralisch mag, ist hier gold-richtig. «Instinct» ist ein Must-Have.

men.

Joan OsborneBring it on Home(Saguaro Road Records)

Joan Osborne, eine mei-ner Lieblingsstimmen der Gegenwart, meldet sich mit einer Kollektion klas-sischer Blues-, R&B- und Soulnummern von Allen Toussaint, Muddy Waters, Ray Charles, Otis Redding und Al Green zurück. Mit sinnlich angerauter Stimme interpretiert die Amerika-nerin Stücke, von denen sie sich im Laufe ihrer Karriere inspirieren liess. «Die Stim-men von Otis Redding und Al Green liebkosten meine geplagte Seele, die Power von Etta James und Tina Turner machten mir Mut, das tief empfundene Ge-fühl von Muddy Waters und anderer grossartiger Bluesmusiker brachte mich schliesslich dazu, meine eigenen Tiefen auszuloten und auszudrücken», sagte Osborne in einem Inter-view. Interessant ist die Auswahl, die sie getroffen hat: Neben oft gecover-ten Bluessongs («Bring it on Home», «Shake Your Hips») hören wir auch hinreissende Interpretatio-nen wenig bekannter Titel wie John Mayalls «Broken Wings» oder Ike Turners «Game of Love». Nicht minder berückend huldigt Osborne R&B-Grössen wie Ray Charles («I Don‘t Need no Doctor») und Otis Redding («Champagne and Wine»). Allen Toussaint sitzt für seine Komposition «Shoorah! Shoorah!» am Piano. Super Repertoire, grossartige Sängerin!

tl.

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DIE NEUEN PLATTEN

Best CoastThe Only Place(Mexican Summer/MV)

Ab und an hält das Leben einen unbeschwerten Mo-ment bereit. Dann steht der passionierte Plattensamm-ler vor der Regalwand und sucht konsterniert «etwas Leichtes» – Musik, die nicht in emotionale Un-tiefen führt. Auftritt Best Coast: Das Duo aus Kali-fornien liefert den Sound-track zum Auftischen vor der Grillparty. Seit 2009 fa-brizieren Sängerin Bethany Cosentino und Multiinstru-mentalist Bobb Bruno eine muntermachende Mixtur aus Garagengeschrummel und Girlgroup-Gesang. Den zweiten Longplayer nahmen Best Coast nun mit Produzent Jon Brion (Fiona Apple, Aimee Mann et al) in den Capitol Studios auf, wo schon Frank Sinat-ra seinen Songs Feinschliff verpasste. Entsprechend su-blimiert klingt «The Only Place». Die Arrangements sind reduziert und aufge-räumt, die Melodien sim-pel, eingängig und auch et-was redundant. Langeweile droht, doch die verhindert Cosentinos Gesang. Wüss-te man es nicht besser, man könnte meinen, Neko Case hätte sich zu den Dum Dum Girls verirrt. Die kräf-tige Stimme mit dunkler Folk-Färbung verleiht Best Coasts Bubblegum-Pop Gefühl und jenes bisschen Tiefgang, das der passio-nierte Plattensammler ein-fach braucht, um Zunei-gung zeigen zu können.

ash.

The HomestoriesAha Aha(Irascible)

Die Geschichte ist zu gut, um nicht wiederholt zu werden: Kennengelernt ha-ben sich Gabriela Krapf, einst Frontfrau bei Lobith, und Ernst David auf ei-ner Hochzeit – sie war als Chanteuse engagiert, er als in der Torte auf seinen Ein-satz wartender Showtänzer. Kaum getroffen, gründeten die beiden schon ihren ge-meinsamen Musikhaushalt namens The Homestories. Sinn und Zweck: Das Ge-nerieren von schmucken Arrangements, schicken Melodien und vielen Son-nigkeiten. Auf das Debüt «Click-Click Clack-Clack» (2009) lässt das Duo jetzt den Zweitling «Aha Aha» folgen. Zwei Titel, die ah-nen lassen, dass die Win-terthurer nicht gross in der Tiefe schürfen, sondern sich lieber der Leichtigkeit hin-geben. «I’m in the Mood (for Something Extraor-dinary)», das mit seinem frühlingshaften Flötenspiel auftrumpft, erinnert in sei-nem Wesen an eine herbe-re Version der Cardigans, während «Don’t Bring It Back» auf ähnlich schau-migen Jazz-Pop-Pfaden wandelt wie Fritz Brau-se mit ihrem einzigen Hit «Shilly Shally» anno 1985. The Homestories mögen nichts Neues anreissen, aber weil sie mit enorm viel Mumm und Elan an ihr durchwegs poppiges Werk gehen, erreicht ihr Album erstaunlich hohe Werte auf der nach oben offenen Un-terhaltungsskala.

mig.

Beach HouseBloom (Sub Pop/Irascible)

Beach House hören ist Hei-mat. Der Alltag und die Probeme bleiben draussen. Was in der Marketingwelt Cocooning und in der Psy-chologie Eskapismus heisst, hört in der Musik auf den Namen Dream Pop. Beach House sind sicherlich nicht die erste und die am häu-fi gsten gehypte Dream-Pop-Gruppe, aber sie sind irgendwie klammheimlich zum hellsten Stern die-ses Genres avanciert. Das französisch-amerikanische Duo mit Wahlheimat Balti-more packt einen mit ihrer Musik in Watte. Synthies, Gitarren und der rauchige, desinteressierte Gesang von Victoria Legrand münden in ein Klangmeer, das alles vergessen macht. Auch auf ihrer vierten Platte verlas-sen sich Beach House auf dieses Erfolgsmodell. Die zweite Veröffentlichung «Devotion» war ihr Durch-bruch, der Drittling «Teen Dream» ihr zugänglichstes Werk – und «Bloom» ist nun der Ritterschlag. Mit scheinbarer traumwandle-rischer Sicherheit schaffen sie es erneut, eine musika-lische Droge gegen den All-tag zu entwickeln.

men.

SpiritualizedDrogen, Krankheit, Jesus, gebrochene Erleuchtung und im besten Fall die Erlösung: Jason Pierce alias Jason Space-man wiederholt dieses Programm in schmerzhafter Red-undanz – einst als Teil von Spacemen 3 und seit mehr als 20 Jahren unter dem Bandnamen Spiritualized. Natürlich muss dieses Programm laut verkündet werden, sehr laut, mit Orchester, Gospelchor, zermarternden Gitarren und Free-Jazz-Bläsern, damit die Therapie auch Wirkung zeigt. Spätestens seit dem Grosswerk «Ladies and Gentlemen, We Are Floating in Space» ist das so, und das ist nun auch auf dem neuen, siebten Spiritualized-Album «Sweet Heart, Sweet Light» nicht anders.«Play loud, drive fast» heisst es zur Platte, die auf dem Co-ver in grossen Lettern «Huh?» fragt – und den umnachte-ten Zustand des versehrten Spaceman während der Auf-nahmen ausdrückt: Zur Kur seines Leberleidens sei er voll mit Medikamenten gewesen. Früher, so Spaceman, habe der Drogenkonsum wenigstens noch Spass bereitet. Auch wenn die Drogen heute andere sind: «Sweet Heart, Sweet Light» ist ein – beinahe zu – typisches Spiritualized-Werk. Da wird orchestral Anlauf genommen im Intro, man stürzt sich in den bebenden und aufwühlenden Roadtrip «Hey Jane», weint in den Balladen, wird zerstört im toxi-schen Monster «Headin’ For the Top Now», trippt weiter und weiter in diesen spirituellen Welten, die inszeniert sind, wie sie bei Jason Spaceman eben sind: Mit Orchester, Chö-ren, Gitarren und Free-Jazz-Bläsern. Der Tinnitus lauert im grellen Soundmix hinter der nächs-ten Strassenecke, der Lord wird angerufen, Jesus er-scheint, immer wieder – und doch ist man zum Ende ganz allein: Eingeleitet von Spacemans elfjähriger Tochter Pop-py nimmt man Abschied von der Welt und segelt weiter, irgendwohin, wo es bessere Medikamente als diesen Gott gibt. So long – bis zur nächsten gebrochenen Erleuchtung, immer wieder.

Benedikt Sartorius

Spiritualized: «Sweet Heart, Sweet Light» (Double Six/MV)

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DIE NEUEN PLATTEN

Mina TindleTaranta(Believe Digital)

Die Lieder der Französin mit den spanischen Wur-zeln geistern schon seit ge-raumer Zeit durchs Netz. Nach einer EP hat die 28-Jährige mit der zarten, hohen Stimme, die mich manchmal an Feist erin-nert, nun ein ganzes Album aufgenommen. Geholfen hat ihr bei den 14 Tracks der Franzose JP Nataf – ein spindeldürrer Musiker mit voluminösem Vollbart, der einst Kopf der chartser-probten French-Pop-Band Les Innocents war und seit einigen Jahren auch unter dem eigenen Namen aktiv ist. Mina Tindle, die selbst Fan von Nataf ist, hat «Tschii-ipiiii» vor einigen Jahren kennengelernt und mit ihm die Songs geschrieben und das Album eingespielt – wobei vier der Stücke be-reits auf der EP zu hören waren. Die überwiegend englischen Songs zeich-nen sich durch prägnante Melodien und sehr feine Arrangements aus. Zwei der 14 Songs, das exzellen-te «Pan» und «Demain», singt Mina Tindle auf Fran-zösisch. Das ist für meinen Geschmack der einzige Minuspunkt – ich hätte mir mehr Französisches ge-wünscht.

tb.

Rocket Juice & The MoonDito(Honest Jon’s/MV)

Die Ausgangslage ist viel-versprechend: Mit Flea und Tony Allen – der Taktgeber von Fela Kuti, der 2007 schon bei The Good the Bad and the Queen mit-wirkte – verfügt Damon Albarn über ein Team für ein gutes, funkiges Album. Mit «Hey Shooter», ge-sungen von Erykah Badu, ist auch eine ansprechende Single gelungen. Und bei Albarn folgt ja in der Re-gel auf ein Nebenwerk ein Hitalbum – also wäre nun eigentlich ein solcher Knal-ler an der Reihe. Die Ver-öffentlichung auf Honest Jon’s hingegen lässt vermu-ten, dass nach dem letzten Gorillaz-Album «The Fall» nun ein weiteres Nebenal-bum erscheint. Es gelingt Albarn nicht, den Ver-dacht komplett zu widerle-gen. «Rocket Juice & The Moon» ist funky. Albarn selber singt auf «Benko» und der Ballade «Poison», worin seine Klasse als Songwriter aufblitzt. Sonst aber startet die Platte nicht richtig durch, der Funkbeat wird auf die Dauer mono-ton, das Konzept ist nicht klar erkennbar. Das Gan-ze pendelt unentschlossen zwischen Weltmusik und Funk, die zusätzlichen An-leihen an «Parklife»-Zeiten lassen das Album als musi-kalische Gerümpelkammer erscheinen. Angesichts der Tatsache, dass Albarn in Bälde bereits seine Oper «Dr. Dee» veröffentlichen wird, besteht die Gefahr, dass er sich zwischen all seinen Projekten verliert.

yba.

SantigoldMaster of My Make-Believe(Warner)

Santi White alias Santigold (ehemals Santogold) ist seit ihrem Durchbruch 2008 eine feste Grösse in der Musikszene. Wer etwas auf sich hält, weiss Santigold in seiner oder ihrer Kollabo-rationsliste: Beastie Boys, Mark Ronson, Kanye West, Julian Casablanca, Pharrell Williams und na-türlich auch ihre Schwester im Geiste, M.I.A.. Wäh-rend Santigold auf ihrem Debüt noch reihum mit frischen Crossover für Aufsehen sorgte, reisst das 2012 niemanden mehr vom Hocker. Ihre Genregrenzen sprengende Mischung aus Reggae, New Wave, Dub, HipHop und Electro wurde von Mainstream-Künstlern wie Lady Gaga oder Ni-cki Minaj erfolgreich(er) kopiert. Santigold steht diesbezüglich exemplarisch für die Schnelllebigkeit und Durchlässigkeit des Musikgeschäfts. Es wäre kein Wunder, wenn sie nach «Master of My Ma-ke-Believe» mangels Ver-kaufszahlen von Warner geschasst würde. Während des Aufnahmeprozesses wurde sie von ihren Auf-traggebern gefragt: «Wo bleiben die Hits?» Dar-aufhin verschwand sie mit ihren Produzenten nach Ja-maica. Der einzige Hit, den sie nach Hause brachte, heisst «Disparate Youth». Der Rest ist leider nur nett und versinkt mehrheitlich im melancholischen Sumpf der Achtzigerjahre. Santi-gold hat das Momentum verloren.

men.

London HotlineRar sind die Konzerte, die zum Weinen schön sind. Fast noch seltener allerdings kommen Konzerte daher, bei de-nen man brüllen darf, so lustig sind sie. Gerade habe ich wieder einmal ein solches erlebt. Die Band, die ich mir eigentlich anschauen wollte, hiess Solus 3. Aber darauf kommts jetzt nicht mehr an. Denn was mir vom Abend im South Bank Centre in Erinnerung bleiben wird, ist ohne Zweifel die «Vorgruppe» The Untied Knot. Schon der Mo-derator deutete unfreiwilligerweise an, dass es mit dieser «Truppe» etwas auf sich hatte. In seiner aufbauschenden Einführung wurden sie fl ugs in das ziemlich fussballerisch klingende «United Knot» umgetauft. Dabei sahen die sol-chermassen fehlbenamsten Herren ganz so aus, als ob sie eine Verbindung mit Fussball als Affront vulgärster Art er-achten müssten.Das unfreiwillige Vergnügen begann schon vor dem Auf-tritt, als ich auf dem mir zugewiesenen Sessel eine Karte vorfand. Darauf stellten The Untied Knot sich und ihre Absichten so vor: «Circular themes couched in a simplicity that facilitates their mesmeric effect – a reverie of synaest-hetic memories realised through melody and timbre.» Und: «The meter and harmony of unconscious refl ections from a dissolving cluster of sensory detritus. – Welcome to the past.» Ich muss gestehen, dass ich bei der Lektüre heftig ins Glucksen kam. Man stelle sich vor: ein Musiker setzt sich hin, schreibt diese Zeilen über seine eigene Musik und denkt sich allen Ernstes: «Ja, genau so ist es.» Mir indes-sen gelang es nicht, aus den Zeilen etwas anderes zu lesen, als dass ich mich bald in der Präsenz von zwei Männern befi nden würde, die mehr mit Cristiano Ronaldo und Ar-jen Robben gemeinsam hatten, als sie es wohl vermuten – nämlich ein gewaltiges Ego. Dazu glaubte ich eine gänzli-che Absenz von Humor erkennen zu können.Der Herr in der Mitte krümmte sich um seine Gitarre, als wäre es ein Baby, und zupfte endlos repetitive Motive, de-ren Simplizität weniger an «Erinnerungsgeröll» gemahnte als an Fingerübungen für besonders geduldige Gitarren-schüler. Es wäre falsch zu behaupten, er hätte gespielt wie ein Kind: einem Kind wäre das Geplätscher sehr bald lang-weilig geworden. Neben dem Gitarristen sass ein zweiter, bebrillter Herr mit mittellangen Haarsträhnen im Schnei-dersitz am Boden, drückte dann und wann eine kleine Me-lodie aufs Mini-Synthi-Keyboard und konnte schliesslich auch noch mit Tablas klappern. Was die beiden boten, war ein klassischer Fall von des Kai-sers neuen Kleidern. Banalität der banalsten Sorte – und gerade wegen des bizarren Gegensatzes von «Konzept» und Praxis ein echter Lachschlager. Kaum zu glauben: The Untied Knot haben auch schon zwei Alben veröffentlicht, ja, es gab Leute, die das Lokal nach ihrem Auftritt verlies-sen, weil sie nur wegen ihnen gekommen waren. Wow! Die Moral der Geschichte: Aufpassen, liebe Musikanten, welche Sprüche ihr euch von den PR-Experten aufs Auge drücken lässt! Auch beim Schreiben kann der falsche Ton Karrieren vernichten. Karrieren, die möglicherweise noch gar nicht begonnen haben.

Hanspeter Künzler

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DIE NEUEN PLATTEN

SpainThe Soul of Spain(Glitterhouse/Irascible)

Kurz und knapp führt die Bio auf Josh Hadens Web-site die Fakten an: «2004 – Debut Solo CD for Dre-amworks; 2006 Dropped by Dreamworks.» Drei Jahre später widmet sich der Sohn von Jazz-Ikone Charlie Haden wieder sei-nem bis dato gewichtigsten Projekt: Spain. Weitere drei Jahre ziehen ins Land, bis der Amerikaner seine Band mit einem neuen Album in die Erinnerung zurückruft – nach über einer Dekade der Plattenpause. Völlig vergessen gingen Spain nie; dazu war ihr verhängter Dream-Pop einfach zu be-törend. Mit «The Soul of Spain» knüpft das Quartett an seine früheren Arbeiten an, bricht jedoch mit eini-gen Traditionen. Der un-verändert sanft verhauchte Gesang Hadens sorgt für den prompten Wiederer-kennungseffekt, aber Spain haben ihr Tempo sachte erhöht und den Sound stel-lenweise um ein bis zwei Mü verrockt. So wartet «Because Your Love» mit verschärfter Gitarre und «Miracle Man» mit ver-nehmlichem Verlangen auf, während Songs wie «Only One» – ganz wie früher – die Innensicht und die schwere Melancholie pfl e-gen. Sprich: Spain haben sich so weit erneuert, dass man aufhorcht. Und Spain sind sich so weit treu ge-blieben, dass man sich (wie einst) von der Schönheit ihrer Klangschwermut um-hüllen lässt.

mig.

Lower DensNootropics(Ribbon Music/MV)

Einst veröffentlichte Jana Hunter ihre Musik im ehemaligen Freak-Folk-Umfeld von Devendra Banhart und zog dann wei-ter: nach Baltimore an die Ostküste, wo sie ihre Band Lower Dens gründete. Seit-her erforschen Hunter und ihre Kollegen hypnotische Geistermusik, die sie auf Tourneefahrten mit Deer-hunter führte – und die nun, zwei Jahre nach dem Debüt «Twin-Hand Mo-vement», neu und dunkel schimmert. «Nootropics» heisst die Platte, die weit weniger Gitarren als der Vorgänger enthält und mit dem minimalen, entschleu-nigten «Alphabet Song» beginnt. Gleich nach die-sem sinistren Auftakt folgt die bisherige Single des Jah-res. «Brains» durchkämmt shuffelnd einen Krautrock-Alptraum, mantrahaft singt Hunter ihre Zeilen, Stimmen fl üstern und hyp-notisieren, bis alles gut scheint: «Don’t be afraid/ don’t be afraid/ Everything will change». Doch der Schatten, der bleibt. Später fl üchtet sich «Nootropics» in blubbernde Futurama-Fantasien und löst sich im endlichen Jam gänzlich auf. «Feel different now than I did bevor», singt Hunter wiederholt am Ende einer traumwandelnden Platte, die aufwühlt und selten das Licht sieht. bs.

FehlfarbenXenophonie(Tapete Records/Irascible)

Die Drums und der Bass rollen los, die Gitarre sägt wie in guten alten New-Wave-Zeiten und der Sän-ger setzt mit seiner Stim-me ein: «2011-2012 der Abstand wird verkürzt, 2013-2014 schon bald auf Augenhöhe.» Diese Stimme in all ihrer Dringlichkeit, inzwischen gealtert und etwas dunkler als vor dreis-sig Jahren, ist unter Tau-senden wiedererkennbar: Peter Hein, Kopf der le-gendären Fehlfarben, deren Debütalbum «Monarchie und Alltag» von 1980 mit zum Besten gehört, was an deutschsprachiger Musik je veröffentlicht worden ist. Heute haben die Düssel-dorfer zwar nicht mehr die Relevanz von damals, den-noch beeindruckt das neue Album «Xenophonie». Die neue ist die beste Platte seit dem feinen Comeback-Al-bum «Knietief im Dispo» von 2002. Augenzwin-kernd jagen die Sechs um Sänger Peter Hein durch Songs voller Zeitkritik wie das fl otte «Bundesagentur» («Ich bin Analyst, ich baue immer Mist») oder «Lang genug». Bei letzterem singt Hein, der einst die Karriere eines Popstars zugunsten seines Jobs bei der Kopier-erfi rma Xerox aufgegeben hatte: «Ich hab doch lang genug gelebt vom Kopie-ren, um jetzt noch den Durchblick zu verlieren». Einziger Schwachpunkt: das englisch gesungene Stück «The Flag Drops». Aber ein Ausfall bei elf Songs ist verkraftbar.

tb.

Alan LomaxEr nannte es eine Jagd, und sie trieb ihn schon als jungen Mann ins schwarze Ghetto von Austin. «Wäre ich erwischt worden, man hätte mich vermutlich von der Universität geschmissen.» Aber Alan Lomax blieb dem Blues auf den Fersen. Es waren die Dreissigerjahre, und die schwarze Musik erlebte eine erste Blütezeit. Robert Johnson streifte durchs Land und sang seine Lieder über den Teufel. Als Lo-max, mittlerweile ein Angestellter der Library of Congress, ihn 1939 suchte, fand er nur noch Johnsons Mutter, die sagte: «Little Robert, he dead.» Doch die Jagd ging weiter. Alan Lomax suchte, wenn nicht nach dem Mann, so doch nach seinem Sound. Und fand einen jungen Musiker, der sich Muddy Waters nannte und eine verstörend gute Slidegitarre spielte. Lomax überrede-te ihn, seinem portablen Aufnahmegerät vorzuspielen und produzierte so die ersten Platten des Bluessängers. Das war 1941, und nach den ersten Sessions mit Waters war Lomax der Platz in der Musikgeschichte nicht mehr zu nehmen. Lomax hat auch wegweisende Aufnahmen mit Woody Gu-thrie und Leadbelly gemacht. Und doch wäre es falsch, sei-ne Verdienste nur an diesen Platten zu messen. Auch nach 1942, als er nicht mehr für die Library of Congress unter-wegs war, durchkämmte er rastlos die Südstaaten. Lomax besuchte die Gottesdienste und die härtesten Gefängnisse des schwarzen Amerika, und er stiess noch in den Sieb-zigerjahren auf Reste archaischer Trommel- und Flöten-musik, die direkt aus Afrika importiert schien. Diese Auf-nahmen erzählen aus der afroamerikanischen Erfahrung, bevor diese auf den Zungen der professionellen Bluessän-ger und Gospelquartette zum einfl ussreichsten Musikstil des vergangenen Jahrhunderts wurde. Als Lomax im Sommer 2002 starb, hinterliess er eine riesige Sammlung von Aufnahmen. 150 000 Meter Film, 5000 Fotos. Und 17 400 Songs. Eine Auswahl wurde über die Jahre in Schallplattenserien veröffentlicht. Doch seit kurzem ist das Archiv im Internet vollständig und frei als Stream zugänglich. Zwar fehlen die Songs, die Lomax für die Library of Con-gress produziert hat, aber das schmälert den Wert der Sammlung nicht. Denn erstens sind die Aufnahmen von Muddy Waters oder Woody Guthrie aus anderen Quellen gut greifbar, und zweitens wollte Lomax nicht in erster Linie die besten Künstler überliefern, sondern den «brei-ten Strom afroamerikanischer Folklore». Und wie der sich schliesslich in den Blues verengte.Ab 1950 reiste Lomax durch Irland, Schottland, Spanien, Italien und Portugal und dokumentierte auch dort die Tän-ze und die Lieder der lokalen Bevölkerung. Wonach der Sammler suchte, waren keine ländertypischen, sondern lo-kale Stile. 1958 kehrte Alan Lomax in den Süden der USA zurück. Er jagte wieder den Blues. Und stellte dabei fest, dass der Blues auch ihn gejagt hatte. Die schwarze Bevöl-kerung des Südens wisse schon lange, was es heisse, wur-zellos und entfremdet zu leben. In der Moderne, schrieb er in seinen Memoiren, lerne es nun auch das weisse Ameri-ka: «Was das ist, der Blues.»

Christoph Fellmann

Das Archiv: http://culturalequity.org

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M. WardA Wasteland Companion (Bella Union/Irascible)

Matthew Ward gehört zu den enigmatischsten Figu-ren der Musikszene. Wer glaubt, ihn am Retro-Pop-Sound seines Projektes She & Him (mit Zooey «New Girl» Deschanel) festma-chen zu können, entdeckt beim Hören seiner Solo-alben weit mehr. Klar ist auch auf seinem neusten Werk eine Prise Nostal-gie im Spiel, man lausche etwa der Coverversion von Daniel Johnstons «Sweet-heart»: Die verhaltene Leidenschaft des Originals wird hier mit akustischen und elektrischen Gitarren, quirligem Piano sowie einer Frauenstimme (Deschanel) aufgemotzt. Ward und De-schanel halten die erotische Spannung und treiben den Übermut noch weiter – sie covern «I Get Ideas» von Louis Armstrong. Gerade diese beiden pointierten Versionen erklären, wes-halb die kreativen Impul-se des Mannes bei Norah Jones, Cat Power und den Monsters Of Folk gefragt sind. Als Songwriter und Produzent dekonstruiert Ward die Musik aus der Vergangenheit, überführt sie in die Gegenwart und kreiert daraus etwas Neu-es. Wie einst Buddy Holly, The Beatles, Jack White. «A Wasteland Compa-nion», sein bestes Album, demonstriert Wards Vor-liebe für stilistische Kur-ven, indem er zwischen Pop, Country-Melancholie, Lagerfeuer-Romantik und abgründigem Rock’n’Roll pendelt.

tl.

Black DiceMr. Impossible(Ribbon Music/MV)

Black Dice war die wohl sperrigste Major-Label-Band des vergangenen Jahrzehnts. Zum Dank gab es Pop-Core-Collagen und Ambient-Splatter-Ex-perimente auf die Mützen der Marketing-Experten, ehe die drei zum Label der befreundeten Animal Coll-ective weiterzogen und nun auf dem Domino-Sublabel Ribbon Music wieder ein neues Heim gefunden ha-ben. «Mr. Impossible» heisst das sechste Album der Gebrüder Copeland und Aaron Warren und präsentiert Schweinerock in der Black-Dice-Spielart: Dreckig programmiert sind die Beats, die Gitar-ren fi ltern und jaulen, die Stimmen sind natürlich arg verzerrt und – bei allem Experiment – darf hier nun krawalliert und wüst ge-tanzt werden. Das beginnt mit dem altertümelnden Breakbeat von «Pinball Wi-zard», bei der Single «Pigs» grunzen die Säue und ni-cken die Köpfe, bis sich die drei in der zweiten Plat-tenhälfte wieder mehr Zeit nehmen und einige Fallstri-cke in ihr glücklicherweise humorvolles Macker-Spiel einbauen. Kurz, «Mr. Im-possible» ist ein kurzweili-ger Megamix für den Pop-Abenteurer.

bs.

DIE NEUEN PLATTEN

Min KingAm Bluemeweg(Irascible)

Hoppla Schorsch! Da hört man sich mässig motiviert durch die Neuerscheinun-gen, und auf einmal mutiert der etwas in die Breite ge-gangene Bürostuhlhintern zum Tanzfüdli. Min King ist ein Septett, das den Soul nach Art von Stax nach-baut und dazu im Schaff-hauser Dialekt singt. Kann auf dem Papier nicht funk-tionieren, ist in Songform aber der heisseste Scheiss, der dieses Jahr in der Schweiz produziert wurde. Betrachtet man die Betei-ligten, wird der Überra-schungshit aus dem Nichts verständlich. Philipp und René Albrecht spielten früher bei der Ska-Truppe Plenty Enuff, Roger Greipl ist Saxofonist bei den Aero-nauten. Mit Guz und Luc Montini haben zudem zwei alte Hasen geholfen, das erste stilechte Schweizer-deutsch-Soulalbum aufzu-nehmen. «Am Bluemeweg» ist eine mitreissende Retro-R&B-Revue voller toller Nummern. Die Band spielt mit Druck und Gefühl und Sänger Philipp Albrecht singt so beseelt, dass wir ihn fortan Otis Redding vom Rheinfall nennen wol-len. Fans von Charles Brad-ley, den Aeronauten oder auch Phenomden sei dieses Album ans Herz gedrückt. Wäre ich ein Open-Air-Ver-anstalter mit Programmlü-cken, ich würde schleunigst Min King buchen.

ash.

Dr. JohnLocked Down(Nonesuch/Warner)

Wir kennen den Trick: Ein Musiker, der den Zenit überschritten hat, trifft auf einen Fan mit einer Vision. Dieser produziert mit sei-nem Idol eine Platte, wel-che an dessen musikalische Sternstunden erinnern soll. Das funktionierte bei John-ny Cash und Rick Rubin, Solomon Burke und Joe Henry. Jetzt war Malcolm Rebenack alias Dr. John mit Dan Auerbach, dem Gitarristen und Songwriter der Black Keys, im Studio. Das Resultat: der Gum-bo kocht wieder. «Locked Down» ist eine erstaunlich frische Platte, ein Alters-werk, das ansatzweise so inspiriert und funky klingt wie «Gris Gris», jener be-törende Voodoo-Trip von 1968, der fortan das exo-tische Image des «Night Trippers» defi nierte. Au-erbach scharte eine Hand-voll junger Musiker um den Schamanen aus New Orleans und brachte das Kunststück fertig, den klas-sischen Stilmix aus krypti-schen Voodoo-Gesängen, Funk und Blues nicht re-konstruieren zu wollen, sondern die Essenz dieser Musik freizulegen und mit diskreten Gitarrenlicks, elastischem Bass und einer kompakten Bläsersection dezent aufzupfeffern. «Lo-cked Down» ist eine res-pektvolle Verbeugung eines Fans vor einem grossen Musiker. Übrigens sass Dr. John im Studio nicht am Piano, sondern spielte eine Farfi sa-Orgel – auf Wunsch seines Produzenten.

tl.

Quantic & Alice RussellLook Around the Corner (Tru Thoughts)

Tru-Thoughts-Mastermind Quantic (Pseudonym des Produzenten Will Holland) und die britische Soulstim-me Alice Russell spannten schon in der Vergangenheit zusammen. Jetzt haben sie in Cali, Kolumbien (wo Quantic lebt), ein gemein-sames Album aufgenom-men. «Look Around the Corner» bietet einen ver-führerischen, an sich unde-fi nierbaren musikalischen Cocktail, dessen Zutaten Soul, Blues, Folk, Gospel und Latin beinhalten. Im animierten Titelstück kre-iert das Duo ein dezent psychedelisches Ambiente, an anderen Stellen faucht und gurrt die Sängerin aus Suffolk wie Bettye LaVette oder windet ihre geschmei-dige Stimme über folkige Flöten, jazzig aufspielende Violinen und unwider-stehliche Latin-Rhythmen. Neben Russells charisma-tischem, von Minnie Ri-perton inspiriertem Gesang und Quantics warmer, in-novativer Produktion über-zeugt auch das Songmate-rial – es hat Klasse, ohne allzu klassisch zu wirken, und erfrischt. Unterstützt werden die beiden Seelen-verwandten auf «Look Around the Corner» von Quantics unvergleichlich swingender Hausband Combo Barbaro, die das Duo auch auf ihrer Tour-nee begleiten wird (die sie am 15. Mai nach Zürich in den Stall 6 führt). Und da hört man gerne hin. Sehr gerne sogar.

tl.

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DIE NEUEN PLATTEN

Big Papa LorenzoSon of the Sky(Lsdap Rec)

Schon Wahnsinn, was da alles aus den Boxen dringt, während unter der Nadel eine tiefschwarze Vinyl-scheibe mit gemächlichen 33 Umdrehungen pro Minute rotiert. Ein kom-plettes Klanguniversum aus schwer verschleppten Sounds, Drones, hinweg-fl ackernden Gesangsfetzen, elfenbeinfarbenem Rau-schen und knisterndem Stanniolpapier. Oder zu-sammengefasst: Es ist eine kleine Offenbarung, die der umtriebige, im Untergrund operierende Big Papa Lo-renzo auf seinem neuen Werk präsentiert. Fernab gängiger Trends, klassi-scher Song- und Vermark-tungsstrukturen hat der frühere Vierspur-Artist mit Gitarre, Laptop und «Tau-senden von Effekt-Tools» vier überlange, ins Kosmi-sche greifende Tracks ein-gespielt und auf eine Platte gepresst, die in nostalgisch bebildeter Hülle und streng auf 500 Exemplare limitiert daherkommt. Also vergesst Spotify, vergesst Lana Del Rey, vergesst den vermeint-lich neuen heissen Scheiss aus den gerade angesagten Ecken dieser Welt, denn hier werkelt einer komplett unkorrumpiert an seinem eigenen Entwurf einer Sa-che, die wir fast schon vergessen haben. Oder in Anlehnung an Led Zeppe-lin gefragt: «Does anybody remember music?»

amp.

Jack WhiteBlunderbuss(XL Recordings/MV)

Das erste Soloalbum von Jack White ist da. Obwohl es gar nicht als solches ge-plant war. Doch: RZA vom Wu-Tang Clan schaffte es nicht bis ins Aufnahme-studio. Weshalb sich der frisch geschiedene White erst mal ohne fremde Hil-fe ans Werk machte. «Es sind meine eigenen Far-ben, und es ist meine ei-gene Leinwand», erklärte der Amerikaner gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Entstanden ist ein bitterdunkles Frauenbild, in dem sich vornehmlich Femme Fatales, geldgieri-ge Weiber oder mütterli-che Bastarde trollen. Und White, auf dem Albumco-ver mit einem Geier auf der Schulter zu sehen, setzt sich gegen die Damenschaft zur Wehr. Ein Schelm, wer nun denkt, dass die Platte einzig deshalb den Titel «Blun-derbuss», Donnerbüchse, trägt. Der 36-Jährige rotzt, rumpelt und rabaukt sich durch 13 zornige bis wü-tende bis zarte Blues-Rock-Lieder. White, der gerne in unnachgiebigen Falsett-gesang verfällt, dreht und wendet die Stimmungen nach schierem Belieben; er setzt Prog-Rock-Gitar-renriffs («Missing Pieces») an circensische Exkurse («Hypocritical Kiss») oder an Stadion-Power («Take Me With You When You Go»). Das wirkt biswei-len wild und unfassbar, ist aber ungemein kraftvoll. Bis zum Bersten und darü-ber hinaus. Eine Platte fürs laufende Jahrzehnt – wenn nicht gar für die Ewigkeit.

mig.

Roy and the Devil’s MotorcycleTell it to the People(Voodoo Rhythm/Irascible)

Sie leben in ihrer eigenen Zeit, die Gebrüder Stähli aus dem Berner Kaff Ober-diessbach. Seit 21 Jahren drehen sie als Roy and the Devil’s Motorcycle ihre psychedelischen Kreise, frönen dem Acid-Rock, altem Deltablues und un-heimlichem Gospel. Zwei Alben entstanden in all den Jahren, zuletzt «Be-cause of Woman» (2006) und nun die dritte Platte «Tell it to the People». Die Gebrüder entdecken nach dem schweren Höllentrip ins Herz der Finsternis des Vorgängers vordergründig die scheinbare Leichtigkeit der akustischen Gitarre, während das Feedback im Hintergrund durchgehend gefährlich dräut, anschwillt und zeitweise explodiert. Und ja, man kann den Re-ferenzrahmen ausweiten: Zeitweise klingen die Fin-nen von 22 Pistepirkko an, nur wüster; man erinnert sich an das Americana-Bergler-Gebräu von Cali-fone, das auf dieser Lo-Fi-Platte sein Alpenpendant fi ndet, und dank Bläser-Gast Hans Koch sind auch Parallelen zwischen dem Geister-Blues und der frei-en Improvisation endlich offensichtlich. Zum Schluss plätschert ein Bach, und die Roys stimmen in der Holz-hütte «Henry’s Blues» an, die Nadel springt aus der Rille, und man startet aufs Neue den Ausfl ug in diese wunderliche Blues-Hinter-welt.

bs.

45 PrinceWem Stevie Ray Vaughan einfach zu gut Gitarre spielt und spielt und spielt und spielt, der wird seine wahre Freude fi nden am knapp einminütigen «Kick the Can Pt. 1» von den Herrschern des Primitiven, den Ostschweizern Haunted Swamp Beasts (Bone Brain Records). Zwei Gitarren spie-len ein von 33rmp auf 45rmp runtergepitchtes Surf-Inst-rumental von Dick Dale, damit auch Bela Lugosi mitstab-bern kann. Derselbe Song wird rückseitig noch von einem Schlagzeuger begleitet, wobei es gut sein könnte, dass dies der lokale Metzger ist, den man kurzerhand einen Monat bei Wasser und Brot im Übungskeller wegsperrte und ge-zwungen hat, mitzuspielen.Jedem Rock’n’Roller tut es hin und wieder gut, die stin-kigen Stiefel auszuziehen und barfuss zu tanzen. Dazu braucht es selbstverständlich mehr als die Los-Paraguayos-Platten der Eltern. Einmal angefi xt, entwickeln die Cum-bia-Zusammenstellungen des in London beheimateten Weltmusik-Labels Soundway Records grösstes Suchtpoten-tial. In den beiden Boxen (mit je drei Singles) «Colombia 45» und «Lucho Bermudez y su Orchestra» spielen sich Big-Bands der Fünfzigerjahre rhythmusgetrieben in zuwei-len schwindelerregenden Tempi durch Merengues, Gaitas, Porros und anderes, von dem ich keine Ahnung habe, las-sen Klarinetten und Bläsern freien Lauf und entladen ihre Spielfreude in lauten Zwischenrufen. Der Soundtrack zu Jack Kerouacs «On the Road». Australiens The Living Eyes dürften wohl erst knapp 18 Jahre alt sein, was ein grosser Vorteil ist beim Wie-derverwursteln der Sechziger. Dabei halten sie sich an die schon damals landestypische Art, den englischen R&B wiederzugeben – ohne amerikanische Zwischenschreie oder schnelles Tempo, aber trotzdem dunkel und aggressiv. «Livin’» (Saturno) endet in einem Rave-Up mit Mundhar-monika, die auch durch das nach Atlanta weisende «That Song We Sing» führt. «Thinking of You» ist dagegen mehr ein Folk-Rocker, allerdings mit einem herrlich untypischen Regen-Gitarren-Solo. Nicht fehlen darf da natürlich eine Ballade wie «A Mind In My Own». Und dass meine Kopie stilgerecht mit einigen Kratzern ausgeliefert wurde, ver-steht sich von selbst.

Philipp Niederberger

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SZENE

Do. 26.4.12 Clubraum 20:30Sugarshit Sharp

*WHITE RABBITSLabrador City

Sa. 5.5.12 Aktionshalle 21:00Enter The Dancehall

*TARRUS RILEYBoss Hi-Fi, Signal From Mountain

So. 6.5.12 Clubraum 20:30Sugarshit Sharp

*RUSSIAN CIRCLESDeafheaven

Di. 8.5.12 Ziegel oh Lac 21:30Ziischtigmusig

LES YEUX SANS VISAGESupport

Mi. 9.5.12 Clubraum 20:30A Thousand Leaves

*MORIARTYSupport

Do. 10.5.12 Clubraum 20:30Sugarshit Sharp

*FANFARLOPhilco Fiction

Fr. 11. - So. 135.12 Aktionshalle 20:00Fabrikjazz

TAKTLOS 12Fr. 11.5. 20h Giulia Valle Group // 21.30h Nils Wogram Septett // 23h: Carla Bozulich & John EichenseerSa.12.5.12 Tony Malaby Paloma Recio // 21.30h: Matthew Shipp & Sabir Mateen // 23h: Phall FataleSo. 13.5.12 20h: The New Songs // 21.30h: The Magic I.D.

Do. 17.5.12 Clubraum 20:30Sugarshit Sharp

*CURSIVESupport

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Kindergeschichten CDs

De Blaui Dino Nr. 22

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NACHTSCHICHT

Künsteln mit der Blues Explosion

Es gibt gewisse Dinge, zu denen kehrt man immer wieder zurück. Die abgegriffene Billigausgabe von Bukowskis «Post Offi ce», die Liveaufnah-men von Johnny Cashs Gefängniskonzerten, Hot-Dogs mit Ketchup und Senf, karierte Kurzarmhemden, die Tour-de-France-Etappen hoch zur Alpe d’Huez. Oder eben das Video des Auftritts von Jon Spencer und seiner Blues Explosion im französischen Fernsehen anno 1998. Die Herren Spen-cer, Bauer und Simins spielen ein langes Set, in dessen Verlauf der Front-mann in Ekstase gerät, mit seinem Mikrofon durchs Publikum wirbelt, dabei schreit wie ein durchgeknallter Prediger und unterwegs sogar noch die Hand von Studiogast Jackie Chan schüttelt. Ein kleiner Meilenstein, der einem beim Wiedersehen selbst via YouTube ein wenig Selbstvergewis-serung gewährt.Nun kehrt die Blues Explosion livehaftig in unsere Gegenden zurück, um in der Kaserne aufzuspielen – notabene im Rahmen der Finissage zum Fo-toband «The Moment After the Show», den der wohlsortierte Zeitgenosse natürlich gleich links von Bukowski im Regal stehen hat. Dazu gibt es eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Ausser vielleicht: «The blues is number one, baby!» (amp)

6.5., Kaserne, Basel

Feiern mit den Labels

Wenn schon, denn schon: Mit den eklektischen A Tree In A Field Records aus Basel und den famosen Voodoo Rhythm Records aus Bern, gegründet von keinem Geringeren als Beat «Reverend Beat-Man» Zeller, rufen gleich zwei Labels zur gemeinsamen, aber keineswegs stillen (Musik-)Nacht. Auf dem Programm stehen sechs Bands, die unterschiedlicher kaum sein könn-ten. Zu erwähnen, unbedingt, gilt es Roy And The Devil’s Motorcycle, die ihren dunkel funkelnden und schwer schleppenden Underground-Sound – trotz zwanzigjährigem Bestehen – bislang erst dreimal auf Platte gebannt haben. Fai Baba (Bild) ist da nicht nur weit jünger, er deckt und steckt auch ganz andere Klangterritorien ab: Der Zürcher sinniert gequält, mutig und eigenwillig zwischen Noise-Folk, Pop und Elektro. Hinter Combineharves-ter steckt Marlon McNeill, der seine Songperlen aus den Gewässern von Grindcore und Pop schöpft und sie gerne mit Fröstelndem überzieht. Abge-rundet wird das überaus satte Paket durch die neuseeländischen Voodoo-Blues-Rocker Heart Attack Valley sowie die stets aufs Eruptive bedachten und auf Brüche schielenden Flimmer und natürlich MIR, die zwischen No Wave und Japan-Punk schwanken, wobei es partout hart und krallig zu-geht. (mig)

19.5., Dachstock, Bern

Schrägtönen mit Evelinn Trouble

Evelinn Trouble hätte es sich einfacher machen können. Mit dem Debüt «Arbitrary Act» brachte sie sich in Position, um als nächstes Fräuleinwun-der der Schweizer Songwriter- und Popszene bejubelt zu werden. Stattdes-sen veröffentlichte sie voriges Jahr «Television Religion», einen sperrigen Brocken aus grobmotorischen Grooves und ordentlich Lärm. Damit mach-te sich die Zürcherin nicht nur Freunde. Weil wir beim Loop aber ein Herz für Querdenkerinnen und Schrägtönerinnen haben, weisen wir gerne auf einige Gelegenheiten hin, Evelinn Trouble bei der Live-Umsetzung ihrer Klangexkursionen zuzuschauen. Zwei Mal tritt sie mit Flo Götte und Toby Schramm im krawalligen Television-Religion-Powertrio auf. Zudem gibt es ein Solo-Konzert mit Gästen, bei dem Trouble ihre aktuellen Stücke vom Krach befreien und auf den Weg zurück zur Songwriterei führen will. Ob dröhnend oder feinsinnig: Evelinn Trouble ist ein Ereignis. (ash)

9.5., Exil, Zürich (mit Tobias Preisig und Sarah Palin); 11.5., Royal, Baden (Television Religion); 23.5., Exil, Zürich (Television Religion)

Schweigen und staunen mit Züri West

Die alte Maschine, sie läuft und läuft. Und sie läuft runder und fi ligra-ner denn je, wie eine sorgfältig gewartete französische Limousine aus den frühen Siebzigerjahren, die elegant durch die Nacht gleitet. Das hät-te durchaus auch anders kommen können, doch Züri West haben in den vergangenen Jahren stets weitsichtig agiert und sich trotz bisweilen widri-ger Umstände – Gleitschirmunfall, Schreibstau, Proberaumhavarie – auf hohem Niveau weiterentwickelt. «Göteborg», das jüngste Zeugnis ihres Schaffens, hat sich in der Schweizer Albumhitparade die Spitzenposition gesichert, ist allerdings nicht nur in kommerzieller, sondern auch in künst-lerischer Hinsicht ein Meisterstück. Ein besonnen und klug arrangiertes Werk, das sachte im Gemüt des Zuhörers wühlt und mit diversen diskret verbauten Ideen verblüfft. Ob es in den Songs nun um Gott geht, der mit bescheidenem Budget Sonnenuntergänge komponieren muss, um den trau-rigen Gitarre-Johnny oder den Mann, der mit 50 Wörtern durchkommen muss – da wird so viel Grosses aus dem kleinen Leben extrahiert, dass es einem wieder und wieder den Atem verschlägt. Und so steht man dann schweigend und staunend irgendwo hinten in der dunklen Halle, während die Band vorne im Rampenlicht facettenreich musiziert. Besser hätte es nicht kommen können. (amp)

4.5., Salzhaus, Winterthur; 10.5., Fri-Son, Fribourg; 11.5., Chollerhalle, Zug; 17./18.5., Bärensaal Dürrenast, Thun; 19.5., Kaserne, Basel, 25.5., Kreuzsaal, Jona; 1.6., Stars of Sounds, Aarberg, 9.6., Fr. Blaser-Areal, Hasle-Rüegsau; 14.6., B-Sides, Luzern; 29.6., Openair St. Gallen

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FR 4.5. Züri West (CH) Ausverkauft

DO 10.5. Skindred (UK) Alternative, Metal

FR 11.5. The Homestories (CH) Indie, Pop

SO 20.5. Band of Skulls (UK) Rock, Indie

MO 4.6. Wolves in the Throne Room (USA) Metal

salzhaus.ch Salzhaus Winterthur starticket.ch

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Woody GuthrieDie nächste Ausgabe erscheint am 31. Mai – Abotalon Seite 2

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P I N G P O N G # 2 21 8 . 0 5 . 2 0 1 2

E V E R E S T R E C O R D SL A B E L N I G H TC O P Y& PA S T E | L I V E , C HA L P H AT R O N I C | L I V E , C H M E I E N B E R G | L I V E , C H1 9 . 0 5 . 2 0 1 2 C H A T E A U R Ö S T I

L O V E & G I R L S C HW I D D E R S H I N S C HT H E J A M B O R I N E S C H2 0 . 0 5 . 2 0 1 2

C U R S I V E U S2 6 . 0 5 . 2 0 1 2

E N D O F S E A S O N PA R T Y

P × R × E × V × I × E × W × S

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NACHTSCHICHT

Umsteigen mit Halt auf Verlangen

Das feine Festival unterhalb von Engelberg hat längst einen Stammplatz in der Agenda des guten Geschmacks. Wenn sich das Gasthaus Grünen-wald über Pfi ngsten jeweils ins Konzerthaus Grünenwald verwandelt, rei-sen Musikfreunde aus der ganzen Schweiz und dem benachbarten Ausland an, um zwei denkwürdige Tage in der guten Bergluft zu verbringen, das eine oder andere Wohlfühl-Getränk zu sich zu nehmen und immer wieder überraschenden Darbietungen von Bands jeglicher Stilrichtungen zu lau-schen. Das ist auch heuer so, wenn etwa die Sixties-Garagencombo The Jackets, der ehemalige Dead Brother Pierre Omer (Bild) oder King Auto-matic mit seiner One-Man-Band vor imposanter Gebirgskulisse hinter ihre Mikrofone treten. Oder wenn die Hausherren von Jolly & The Flytrap im schummrigen Restlicht einen ihrer mittlerweile selten gewordenen Auftrit-te absolvieren. Es wird fast so sein wie immer – inspirierend, euphorisie-rend, wohltuend und versöhnlich –, doch etwas ist anders. Denn das dies-jährige «Halt auf Verlangen» ist die erste Austragung des Festivals ohne direkte Anbindung an den Schienenverkehr. Man kann also nicht mehr wie bis anhin bequem mit der Zentralbahn direkt vors Gasthaus fahren, sondern muss umsteigen auf Shuttlebusse. Am Ende der etwas anderen An-reise steht jedoch nach wie vor diese ganz eigene, schwer zu beschreibende, unvergleichliche «Grünenwald Experience». (amp)

26./27.5., Gasthaus Grünenwald, www.gasthaus-gruenenwald.ch

Erinnern mit der Bad Bonn Kilbi

Einst trug die Bad Bonn Kilbi in Düdingen noch den Blues und den Rock im Namen, das Kilbi-K war ein weiches «Ch», man präsentierte Cover-bands aus der Region und als grossen Act die Zürcher Metaller Coroner. Das ist 20 Jahre her. Heuer fi ndet bereits die 22. Ausgabe des Festivals statt, das seit Jahren – abseits der musikalischen Supermärkte der Gross-veranstaltungen – eine feine Auswahl des ungebundenen Popschaffens ins Senslerland bringt. Unter den 46 Namen tummelt sich etwa das Duo Beach House oder Daniel Lopatin, der als Oneohtrix Point Never televisi-onäre Werbejingles entfremdet und geisterhaften Ambient kreiert. Weitere Traum-Gitarrenklänge steuern Lower Dens bei, während Station 17 – ein Hamburger Kollektiv aus Musikern mit und ohne Handicap – Wave und Beats neu zusammensetzen. Listig und auf dem Sprung nach vorne sind derweil die Briten Metronomy, euphorisch und sprunghaft der Elektroni-ker Rustie, vertrackt und tanzbar Clark, psychedelisch und dylanesk The War on Drugs (Bild), erleuchtet und naturverbunden die Dub-Legende Lee Scratch Perry. Auch rohere Klänge gibts auf dem überdachten Acker in Düdingen zu vernehmen, zumal bei den Helden aus vergangenen Zeiten: bei Mudhoney oder den reformierten Afghan Whigs. Schliesslich hallt das Echo aus der fernen Kilbi-Vergangenheit nach: Coroner spielen wieder und erinnern an den Ursprung, als das Festival noch den Blues und den Rock im Namen trug. (bs)

31.5.–2.6., Bad Bonn, Düdingen, www.kilbi.badbonn.ch

Befreunden mit Jeffrey Lewis

Neue alte Freunde sind die besten, die es gibt. Ein solcher ist der New Yor-ker Jeffrey Lewis, der pro Jahr mindestens einmal die Aufwartung macht und auf den Bühnen dieses Landes seine Lieder und Bildergeschichten er-zählt. Und dafür sorgt, dass in den Publikumsreihen regelmässig Tränen der Rührung und des Lachens ins Bierglas kullern. Natürlich, man hat sich auch schon mal aus den Augen verloren, während Jeff – fl ankiert von sei-nem Bruder Jack und Schlagzeuger Dave Beauchamp – munter weiter und fernab von allen übercoolen Indie-Codes schrummte, dampfplauderte und seinen geschichtsbewussten Antifolk immer weiter verfeinerte. Und so hört man sich erst in diesen schattigen Tagen das letztjährige Album «A Turn in the Dream Songs» an, eine Platte, die sofort ins Herz geschlossen wird – dank tröstenden Hymnen wie «I Got Lost» und «Try it Again». Also wer-de ich wieder in der ersten Reihe stehen, wenn Jeff Lewis, dieser Held mit dem schütteren Haar, die favorisierten Lokale dieses Landes einmal mehr heimsucht. Denn neue alte Freunde, das sind immer noch die besten. (bs)

25.5., Palace, St. Gallen (mit Tu Fawning); 30.5., El Lokal, Zürich

Bauen mit Sandro Perri

Er baut an einer neuen Liedwelt und war im Stillen die Entdeckung des vergangenen Popjahres: Der Kanadier Sandro Perri packte vieles in seine sieben Songs und lotete auf seiner Platte «Impossible Spaces» (Constella-tion Records) die Möglichkeiten der Liedform aus. Querfl öten, orchest-rale Mächtigkeiten, legere Tropicalia, Keyboardfl ächen, Verweise auf die «nichtobligatorische Disco» eines Arthur Russel, kurz: alles war hier zu hören, in erster Linie aber diese sanfte, rhythmisch fl exible Stimme, die durchs Album führt. Die unerhörten Songs von Perri, der auch hinter den Disco-Forschungs-Projekten Polmo Polpo und Glissandro 70 steckt, dür-fen nun hierzulande zum ersten Mal auch live bestaunt werden. Und schier unmögliche Räume werden sich öffnen. (bs)

24.5., Palace, St. Gallen

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