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Mandel Tourismus und Kulturelle Bildung · 2017. 1. 20. · Ulrich Müllenmeister, Geschäftsführer, und Ninanin Raschewski, Leitung Kinderprogramm 158 5.10„Die Zukunft des Kulturtourismus

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Mandel

Tourismus und Kulturelle Bildung

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Kulturelle Bildung vol.28

Eine Reihe der BKJ – BundesvereinigungKulturelle Kinder- und Jugendbildung,Remscheid (vertreten durch Hildegard Bock-horst und Wolfgang Zacharias) bei kopaed

Kulturelle Bildung setzt einen besonderen Akzent auf denaktiven Umgang mit künstlerischen und ästhetischen Aus-drucksformen und Wahrnehmungsweisen: von Anfang anund lebenslang. Sie umfasst den historischen wie aktuel-len Reichtum der Künste und der Medien. Kulturelle Bil-dung bezieht sich zudem auf je eigene Formen der sichwandelnden Kinderkultur und der Jugendästhetik, der kind-lichen Spielkulturen und der digitalen Gestaltungstechni-ken mit ihrer Entwicklungsdynamik.

Entsprechend der Vielfalt ihrer Lernformen, Inhalts-bezüge und Ausdrucksweisen ist Kulturelle Bildung eineQuerschnittsdisziplin mit eigenen Profilen und dem ge-meinsamen Ziel: Kultur leben lernen. Sie ist gleichermaßenTeil von Sozial- und Jugendpolitik, von Kunst- und Kultur-politik wie von Schul- und Hochschulpolitik bzw. derenOrte, Institutionen, Professionen und Angebotsformen.

Die Reihe „Kulturelle Bildung“ will dazu beitragen,Theorie und Praxis Kultureller Bildung zu qualifizieren undzu professionalisieren: Felder, Arbeitsformen, Inhalte, Di-daktik und Methodik, Geschichte und aktuelle Entwick-lungen. Die Reihe bietet dazu die Bearbeitung akzentu-ierter Themen der ästhetisch-Kulturellen Bildung, der Kul-turvermittlung, der Kinder- und Jugendkulturarbeit undder Kulturpädagogik mit der Vielfalt ihrer Teildisziplinen:Kunst- und Musikpädagogik, Theater-, Tanz-, Museums-und Spielpädagogik, Literaturvermittlung und kulturelleMedienbildung, Bewegungskünste, Architektur, Stadt- undUmweltgestaltung.

BeiratKarl Ermert (Akademie Wolfenbüttel)

Burkhard Hill (Hochschule München)

Birgit Jank (Universität Potsdam)

Peter Kamp (Vorstand BKJ/BJKE)

Birgit Mandel (Universität Hildesheim)

Wolfgang Sting (Universität Hamburg)

Rainer Treptow (Universität Tübingen)

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Birgit Mandel

Tourismus und

Kulturelle Bildung

Potentiale, Voraussetzungen,

Praxisbeispiele und

empirische Erkenntnisse

www.kopaed.de

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ISBN 978-3-86736-328-0

Titelfotos: Jana MandelDruck: Kessler Druck+Medien, Bobingen

© kopaed 2012Pfälzer-Wald-Str. 64, 81539 MünchenFon: 089. 688 900 98 Fax: 089. 689 19 12e-mail: [email protected] Internet: www.kopaed.de

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra-fische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

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Inhaltsverzeichnis

0. EinführungWarum der Tourismus Potential für die Kulturelle Bildung bietet 9

1. Kultur im Tourismus, historischer Rückblick und aktuelle Tendenzenim Überblick 17

1.1 Von der Grand Tour zur Pauschalreise. Was den Massentourismusvon den kulturellen Bildungsreisen früherer Reisender unterscheidet 17

1.2 Fakten und Trends im (Kultur-)Tourismus 19

1.3 Beweggründe für Kulturrezeption im Urlaub 22

2. Kulturelle Bildung und touristische Aneignung 31

2.1 Kennzeichen und Ziele (inter-)Kultureller Bildung 31

2.2 Touristische Aneignung von Urlaubswelt: Sehenswürdigkeiten,Sightseeing und Souvenirs 39

2.3 Lernen in der Freizeit optimieren oder zur Emanzipation animieren.Positionen der Reisepädagogik 47

2.4 Idealtypische Stufen kultureller Aneignung im Tourismus 50

2.5 Zwischenergebnis: Potentiale touristischer Reisen für (inter-)kulturelle Bildung 51

3. Ziele und Akteure von Kulturvermittlung im Tourismus 55

3.1 Tourismus-Management als Kulturvermittlung 56

3.2 Schriftliche Reiseführer als mediale Kulturvermittler 59

3.3 Reiseleiter und Gästeführer als Kulturvermittler 62

3.4 Animateure als Anreger kultureller Aktivitäten 64

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6 Tourismus und Kulturelle Bildung

4. Strategien der Kulturvermittlung und Potentiale für KulturelleBildung in einzelnen kulturtouristischer Formaten 67

4.1 Kulturelles Sightseeing und Stadtführungen im Städtetourismus 68

4.2 Museen, Schlösser und andere Kultureinrichtungen als(städte-)touristische Attraktionen 77

4.3 Studienreisen und Ethnien-Kultur-Tourismus 87

4.4 Kultur-Event-Tourismus in Festivals und (Open-Air-)Inszenierungen 102

4.5 Tourismus in Themenparks und kulturellen Erlebniswelten 107

4.6 Kulturelle Animation in Cluburlauben und auf Kreuzfahrtschiffen 116

5. Best Practise Beispiele und Experten-Meinungenzur Kulturvermittlung im Tourismus 127

5.1 „Route der Romanik“, „Wege ins Mittelalter“ und Gartenträume“in Sachsen-Anhalt. Der Tourismus als Motor für neue Wege in derKulturvermittlung. Christian Antz, Referatsleiter imWirtschaftsministerium Sachsen-Anhalt 127

5.2 Stiftung Preußische Schlösser und Gärten: Vermittlung alsSensibilisierung für die Schönheit und den Erhalt des gemeinsamenkulturellen Erbes. Heinz Buri, Marketingdirektor 132

5.3 Tourismusorientierter Service, kurzweilige Vermittlungsangebote undeinprägsame Architektur. Tourismusmagnet Jüdisches Museum.Martina Dillmann, Tourismusmarketing 134

5.4 Die Gästeführung als unverzichtbare Profession stärken.Markus Müller-Tenckhoff, Stadtführer in Berlin 139

5.5 Differenzierte interkulturelle Kulturvermittlung als entscheidenderMarktfaktor. Kulturvermittlungskonzepte des StudienreiseunternehmensStudiosus. Peter Strub, Mitglied der Unternehmensleitung, undErnst Koelnsperger, Leiter der Reiseleiterabteilung 142

5.6 Reality Tours, Travel Mumbai und Salaam Baalak City Walk Neu Delhi –Tourismusprojekte in der Verbindung von sozialen, unternehmerischenund interkulturellen Zielen. Christine Sader, Mitarbeiterin beiTourismusprojekten in Indien 146

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5.7 Usdeom Musikfestival: Verbindung von hochwertigen Musikkonzertenmit Erkundungen von Natur und Kultur auf einer Ferieninsel.Thomas Hummel, Leiter Usedom Musikfestival 151

5.8 Europapark Rust: Emotionale und ästhetische Verbundenheit mitden Länder-Kulturen Europas erfahren durch eine Kurzreise in einidealisiertes Europa 154

5.9 Phantasie statt Animation. Vamos-Reisen für Eltern und Kinder.Ulrich Müllenmeister, Geschäftsführer, und Ninanin Raschewski,Leitung Kinderprogramm 158

5.10 „Die Zukunft des Kulturtourismus liegt in der Leichtigkeit desUmgangs mit kulturellen Phänomenen.“ Wolfgang Isenberg,Thomas-Morus-Akademie und Berater Zukunftswerkstatt TUI 161

5.11 Kulturrezeption im Tourismus. Ein weißes Blatt in der Tourismus-und der Kulturmanagementforschung.Yvonne Pröbstle, Kulturmanagementwissenschaftlerin 164

6. Fazit: Qualitätskriterien, Vermittlungsstrategien undVoraussetzungen für Kulturelle Bildung im Tourismus 169

6.1 Realität und Potentiale Kultureller Bildung in verschiedenenTourismusformaten 169

6.2 Thesen und Ergebnisse zu den Voraussetzungen für Kulturelle Bildungim Tourismus 172

6.3 Die Perspektive: Tourismus als kulturelles Lernfeld 178

Literaturverzeichnis 181

Inhaltsverzeichnis

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0. EinführungWarum der Tourismus Potential für Kulturelle Bildung bietet

„Reisen bildet“ – dieser Erkenntnis, die maßgeblich im Zeitalter der klassischen bür-gerlichen Bildungsreise gewonnen wurde, wird vermutlich kaum jemand widerspre-chen. Können aber auch die durch Massentourismus geprägten Urlaubsreisen im 21.Jahrhunderts bilden, und mehr noch, können sie auch kulturell bilden?

Der Tourismus ist ein Massenphänomen, dessen Nachfrage auch in wirtschaftlichenKrisenzeiten ungebrochen ist. Für die nächsten Jahre wird weltweit ein stabiles Wachs-tum erwartet. Der Tourismus wird deshalb heute als einer der globalen Wachstums-motoren angesehen (vgl. u.a. BMWI 2008, S. 10).

Die Urlaubsreise gilt für einen Großteil der Deutschen, die über ein sicheres Ein-kommen verfügen, als unverzichtbarer Bestandteil ihres Lebens. Mit zunehmendemWohlstand verreisen viele sogar mehrfach im Jahr. Kurzurlaube, vor allem in Groß-städte, haben stark zugenommen. Fast immer, und zunehmend mehr, sind mit einerUrlaubsreise auch kulturelle Aktivitäten bzw. kulturelle Erlebnisse verknüpft, etwawenn Sehenswürdigkeiten besichtigt werden oder kulturelle Besonderheiten in derAlltagskultur eines bereisten Landes erfahren werden oder auch nur, wenn eine Land-schaft bewusst als Kulturlandschaft wahrgenommen wird.

„Der Tourismus selbst ist immer bereits Kultur und vermittelt zwischen Kulturen desHerkunftslandes der Reisenden wie des Gastlandes der Bereisten“ (Nahrstedt 2000,S.10). Der (Massen-)Tourismus ist damit potentiell auch ein kulturelles Lern- undErfahrungsfeld.

Hinzu kommt, dass in einer „Wissensgesellschaft“ auch Urlaubsreisen immer we-niger nur der körperlichen Erholung dienen, sondern auch neue Anregungen vermit-teln sollen und häufig als ein informelles Lernfeld genutzt werden für individuelleBildungsprozesse. „Heute sind Freizeit und Reisen Trainingsfelder des notwendigenSelbstdesigns.(…) Sie sind eminent notwendig für die Zukunftsfähigkeit der Bürger“(Romeiss-Stracke 1999, S. 85/86).

Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur als einem emotional und ästhetisch aufgela-denen, als auratisch und authentisch empfundenen, sinnliche Erfahrungen ermögli-chenden Bereich könnte sich für solche informellen Erfahrungs- und Bildungsprozes-se im Urlaub auf besondere Weise anbieten.

„Tourismus im allgemeinen und Kulturtourismus im besonderen unterstützt denMenschen bei seiner Sinnsuche, indem ihm eine Bandbreite an Alternativen für dasalltägliche wirtschafts- und berufsorientierte Leben geboten wird. Dem Streben nachökonomischem Zugewinn wird hier ein Zugewinn an Lebenssinn und Lebenskulturentgegengesetzt“ (Steckenbauer 2004, S. 25).

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Touristen nennen sehr häufig in Befragungen das Reisemotiv „Neues sehen underfahren“ ebenso wie „Land und Leute kennenlernen“, ohne dass damit jedoch kon-krete Bildungs-Ansprüche verknüpft würden.

Nur die kleine Gruppe derjenigen, die gezielt Bildungs- und Studienreisen beirenommierten Veranstaltern bucht, erwartet eine profunde Vermittlung von Kunstund Kultur durch professionelle Mittler. Touristen, die etwa im Rahmen von Städte-reisen oder während kurzer Ausflüge vom Strandurlaub z.B. eine bekannte Kirchebesichtigen, wollen oft gar nicht mehr als „auch da gewesen zu sein“.

Kulturelle Bildung soll hier verstanden werden als ein Allgemeinbildungsprozess inAuseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Kulturelle Bildung ist, im Unterschied et-was zum schulischen Lernen, freiwillig, selbst bestimmt und intrinsisch motiviert.Kulturelle Bildung umfasst die Fähigkeit, kulturelle Phänomene, wozu Kunst und kul-turelle Traditionen ebenso wie Alltagskultur gehören, bewusst ästhetisch wahrzu-nehmen, sie entziffern zu können und daraus Sinn machen zu können für die (Neu-)Interpretation und Gestaltung des eigenen Lebens. Sie umfasst die Fähigkeit, kreativmit Kunst und Kultur umzugehen. Kulturelle Bildungsprozesse können durch unter-schiedlichste ästhetische und kulturelle Erfahrungen ausgelöst werden, brauchen je-doch immer eine bewusste Reflexion, damit aus Erlebnissen und Erfahrungen Bildungwachsen kann. Diese Anregung zur bewussten Reflexion wird häufig durch professio-nelle Kulturvermittler stimuliert.

Kulturelle Bildung wurde gerade in den letzten Jahren auch kultur- und bildungspo-litisch als eine Schlüsselkompetenz erkannt. Vor allem für die Zielgruppen Kinder undJugendliche werden gegenwärtig vielfältige Anstrengungen unternommen, um Kultu-relle Bildung, häufig im Rahmen schulischer Bildung, zu fördern.

Touristisches Reisen ist bislang weder für Kinder und Jugendliche noch für Er-wachsene als potentieller Nährboden für Kulturelle Bildung in der Literatur zur Kultu-rellen Bildung oder der Tourismuswissenschaft näher betrachtet worden.

Dabei bietet der Tourismus grundsätzlich Zeit und Raum, sich ästhetisch, zweckfreiund selbstbestimmt mit kulturellen Phänomenen auseinander zu setzen sowie Mög-lichkeiten für kulturelle Differenzerfahrungen. Gleichzeitig hat der Massentourismusjedoch auch zu einer Standardisierung der touristischen Rolle sowie zur Standardisie-rung von Urlaubswelten geführt, in denen Kultur häufig nur noch als Bestandteiltouristischer Infrastruktur wahrgenommen wird und das Verhaltens-Repertoire desTouristen eingeschränkt ist.

Inwiefern sind auch innerhalb der touristisch aufbereiteten Welten individuelle Pro-zesse Kultureller Bildung möglich? Kann die Urlaubsreise als positiv definierter Frei-raum öffnen für neue ästhetische Perspektiven auf die Welt? Kann durch kulturtouris-tisches Sightseeing nachhaltig Interesse für Kunst und Kultur geweckt werden?

Kann die Urlaubsreise zu eigenem, kreativen Gestalten anregen? Und inwiefern könnendurch touristische Erfahrungen in anderen Ländern auch interKulturelle Bildungsprozesseals Fähigkeit zur Wertschätzung anderer Kulturen und Lebensweisen ausgelöst werden?

Tourismus und Kulturelle Bildung

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110. Einführung

Für die Analyse von kulturtouristischen Phänomenen muss von einem weiteren Kul-turbegriff ausgegangen werden als dies üblicherweise in Deutschland der Fall ist, woKultur eher mit den schönen Künsten der sogenannten Hochkultur assoziiert wird.Kulturrezeption im Tourismus kann „Hochkultur“ umfassen wie den Besuch von Muse-en oder Konzerten oder kulturhistorischen Monumenten. Ebenso gehört dazu aberauch populäre Kultur wie Volksfeste, Alltagskultur als Lebensart von Einheimischeneinschließlich gastronomischer Kultur oder auch inszenierte kulturelle Erlebniswel-ten und Themenparks.

Auseinandersetzung mit Kultur im Tourismus als Chance interkultureller Erfah-rungen und ReflexionenIn der Kultur im ethnologischen Sinne als Volks-Kultur einer Region oder eines Lan-des manifestieren sich deren besondere Eigenheiten, Geschichte, Traditionen, Le-bensweise, Esskultur, ökonomische Verhältnisse. Volkskultur wird sowohl in der All-tagskultur erfahrbar wie auch über kulturelle Sehenswürdigkeiten und kulturelle Ver-anstaltungen. Bei kulturellen Veranstaltungen im touristischen Kontext handelt essich häufig um Folklore, um traditionelle Kunst-Kulturen, die oft speziell für denTourismus wieder aufbereitet werden.

Auch zeitgenössische Kunst-Kultur kann Hinweise auf die Charakteristika der Kul-tur eines bereisten Landes geben, wird aber in der Regel von Touristen nicht alstypisch wahrgenommen, da zeitgenössische Kunst in ihren Ausdrucksformen häufigglobal ist bzw. zwischen verschiedenen Kulturen agiert. Am häufigsten wird Kultur inForm kultureller Relikte aus der weiter entfernten Vergangenheit im touristischenSightseeing erfahren. Die Besichtigung historischer Sehenswürdigkeiten ist gleich-zeitig immer auch eingebettet in zeitgenössische alltagskulturelle Formen und Infra-struktur.

Die Beschäftigung mit einer als „anders“ oder „fremd“ empfundenen Kultur for-dert den Vergleich mit der eigenen Kultur heraus und ermöglicht im besten Fall eindifferenzierteres Verständnis des bereisten wie des eigenen Landes. Die direkte Be-gegnung mit Menschen des Gastlandes kann diese interkulturellen Erfahrungen wei-ter bereichern. Angesichts der Herausforderungen einer zunehmend von Migrationgeprägten Gesellschaft könnte der Tourismus damit potentiell auch ein Lernfeld fürdie Herausbildung interkultureller Kompetenz sein, um so mehr als Ziele massentou-ristischen Reisens wie etwa die Türkei zugleich auch Herkunftsländer von Migrantenin Deutschland sind. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen solche interkulturel-len Begegnungen im Sinne Kultureller Bildung wirken können.

Die interkulturellen Wirkungen des Tourismus werden hier im Wesentlichen aus derPerspektive der Reisenden und nicht aus der der Bereisten untersucht. Insofern wer-den die Auswirkungen des Kulturtourismus auf die bereisten Länder und Regionenund ihre Alltags- ebenso wie ihre Dienstleistungskultur nicht betrachtet, die auchdort kulturelle Formen und Wahrnehmungsweisen verändern.

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Kulturrezeption im Tourismus als Chance, mehr Menschen für Kunst und Kulturauch über die touristische Reise hinaus zu interessierenKulturelle Sehenswürdigkeiten gehören, ebenso wie kulturelle bzw. (folkloristische)Veranstaltungen zum touristischen Standardprogramm und Rollenrepertoire, auch beivielen, die im Alltag kein Interesse für Kunst und Kultur zeigen. Dabei kann es sichnur um eine Konvention, eine reine Pflichtübung ohne nachhaltige Wirkung handeln.Solche Besichtigungsprogramme im Urlaub könnten jedoch, neben einem besserenVerständnis der Kultur eines bereisten Landes oder einer Region, auch zu einemdauerhaften Interesse an kulturellen und künstlerischen Manifestationen beitragen.

„Der Tourismus wird die Kultur popularisieren“, prognostiziert FAZ-FeuilletonistSerra: „Dank des Tourismus bleibt die Kultur ein lebendiger Teil unseres Lebens,unseres Alltags. Der Tourismus wird quasi ihre Lebensversicherung sein“ (Serra 2007,S. 14). Im Kontext einer touristischen Reise würden viele Menschen angeregt, daserste Mal in ein Museum gehen oder ein Konzert zu besuchen. „Der Massentourismusholt die elitäre Kultur vom Sockel“, so proklamiert auch Freizeitforscher Opaschowskidie Bedeutung des Tourismus für die seiner Einschätzung nach von abnehmendemInteresse bedrohte „Hochkultur“ (Opaschowski 2001, S.97).

Kann auch Kunst-Kultur über den Umweg der touristischen Reise attraktiv werdenfür bislang nicht kunstinteressierte Bevölkerungsgruppen? Kann der Tourismus alsoauch ein Instrument des Audience Development sein? Hierbei dürfte eine entschei-dende Rolle spielen, wie Kunst und Kultur auf einer Reise vermittelt werden.

Die touristische Reise als Ort und Zeit für eigene ästhetische und kreative kul-turelle TätigkeitenReisen kann auch mit eigenen kreativen ästhetischen Aktivitäten verbunden sein,z.B. im Rahmen von Kreativkursen (Malen, Musizieren, Fotografieren etc.) oder eheren passant wie beim Knipsen. Diese Aktivitäten können sich auf das handwerklicheGestalten oder Erlernen einer künstlerischen Technik beschränken oder sich auchbewusst mit Kultur und Natur des bereisten Landes ästhetisch auseinandersetzen.Fotografieren als ästhetische Tätigkeit, die aufgrund ihrer einfachen und schnellenHandhabbarkeit von fast jedem Touristen praktiziert wird, kann ein ideales Mittelsein, um die eigene Perspektive auf das Gesehene und Erfahrene auszudrücken – siekann aber auch umgekehrt dazu beitragen, Wahrnehmung weiter zu standardisierenund letztlich zu verhindern.

Potentiell bietet die Urlaubsreise Zeit, Muße und Distanz zum Alltag sowie neueEindrücke, die zu einer ästhetischen Aneignung anregen können, – die Frage ist,welche Anstöße es braucht, damit Touristen den Urlaub auch als Freiraum für eigeneKreativität wahrnehmen können.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die vielfältigen Prozesse KulturellerBildung im Rahmen von touristischen Reisen stattfinden können, dürfte eine pro-fessionelle Kulturvermittlung sein, die Rahmenbedingungen, Zeit und Raum sowieHintergrundwissen für eine bewusste Auseinandersetzung mit Kunst und Kulturermöglicht.

Tourismus und Kulturelle Bildung

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Kulturvermittlung im Tourismus findet sowohl in medialer Form statt, vor allem durchschriftliche Reiseführer, die von fast jedem Touristen zur Orientierung und Informati-on genutzt werden, wie auch in personaler Weise durch Reiseleiter, Stadtführer, Ani-mateure. Kulturvermittlung wirkt darüber hinaus auch in indirekter Form durch Tou-rismusmarketing, indem attraktive Rahmenbedingungen und Serviceleistungen ge-schaffen werden, die die Beschäftigung mit Kunst und Kultur ermöglichen. Dazugehört auch die Aufbereitung einer Region in touristisch erfahrbare Etappen undSehenswürdigkeiten unter bestimmten, touristisch interessanten Leitmotiven undein entsprechendes Aufmerksamkeitsmanagement.

Forschungsstand

Das Thema Kulturtourismus ist in den vergangenen Jahren zunehmend von Kultur-schaffenden und Touristikern entdeckt und auf diversen Kulturmanagement-Tagun-gen diskutiert worden. Dabei fällt auf, dass es fast ausschließlich aus der Anbieter-perspektive betrachtet wird: Der Tourismus erweist sich als neuer Absatzmarkt fürKultureinrichtungen, die von schwindenden Stammnutzerzahlen bedroht sind undsich intensiv um neues Publikum und neue Einnahmequellen bemühen müssen. Auchfür die Profilierung von Städten und Regionen als touristischem Ziel ist der Kultur-tourismus ein wichtiger (flexibler) Faktor, so dass intensiv über vielfältige Koopera-tionsstrategien zwischen Stadtmarketing, touristischen Anbietern und Kultureinrich-tungen nachgedacht wird.

Kaum beachtet wird hingegen die Perspektive des einzelnen Touristen und derindividuelle Wert, der diesem aus der Beschäftigung mit Kunst und Kultur im Rahmeneiner Urlaubsreise erwachsen kann.

Es gibt bislang noch keine Untersuchung, die sich mit dem besonderen Einfluss vonKunst und Kultur auf Aneignungs- und Bildungsprozesse in touristischen Kontextenauseinandersetzt und die Themen Tourismus und Kulturvermittlung (einschließlichKulturmarketing, Kultur-PR, Kulturpädagogik und Kunstvermittlung) in ihrem Wir-kungszusammenhang betrachtet. Das könnte daran liegen, dass der Tourismusgrößtenteils privatwirtschaftlich organisiert ist und man in Deutschland kommerziel-len Angeboten wenig Bildungspotential zutraut, könnte aber auch damit zusammen-hängen, dass der (Massen-)Tourismus insgesamt eher als „anspruchsloses Ablenkungs-programm“ (ab-)gewertet wird und man ihm wenig Anregungspotentiale zugesteht.

Für Kulturvermittlung im Tourismus gibt es bislang noch so gut wie keine Quali-tätsstandards.

In der Tourismuswissenschaft wurde in den 70er-Jahren für die Seite der Vermittlungder Begriff der Reisepädagogik entwickelt. Damit wurde das Bildungspotential desTourismus in den Blick genommen vor allem unter dem Aspekt „Besser reisen“ imSinne von bewusster und umweltschonender, es fand jedoch kaum eine Auseinander-setzung mit kulturpädagogischen Dimensionen des Tourismus statt. Die Reisepäda-gogik verschwand sehr bald wieder von der tourismuswissenschaftlichen Bildfläche

0. Einführung

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und überließ das Feld der Tourismuswirtschaft, die mehrheitlich keine Ansprüche andie Bildung ihrer Kunden stellt.

Pröbstle konstatiert nach einer Recherche aller deutschsprachigen empirischen Stu-dien zum Kulturtourismus ein Forschungsdefizit in Hinblick auf folgende Felder:

Fehlen würden differenzierte Erkenntnisse zu unterschiedlichen Typen von Kultur-touristen. In keiner der Studien über Kulturtourismus werde klar unterschieden zwi-schen „spezifisch Kulturinteressierten“ und „Auch-Kulturtouristen“. Vor allem die großeGruppe der „Auch-Kulturtouristen“ müsse weiter erforscht und differenziert werdenin ihren Motiven, denn diese seien ein unbeschriebenes Blatt (Pröbstle 2010, S.251). Weiter stellt auch sie fest, dass es kaum Erkenntnisse über Wirkungsweisenkulturtouristischer Aktivitäten auf Touristen gibt. Weder würden Kulturanbieter for-mulieren, welche (Bildungs-)Ziele sie an ihre Angebote in Bezug auf die ZielgruppeTouristen stellen, noch gäbe es Erkenntnisse darüber, welche Ansprüche diese selbstan Kulturvermittlung hätten. Gerade für einen nachhaltigen Kulturtourismus sei dieFrage wesentlich, „welche Wirkungsabsicht Kulturbetriebe gegenüber Kulturtouristenanstreben und welcher spezifischen Vermittlungsformen diese bedürfen. Ein bloßer„Abhaktourismus“, der weder dazu beiträgt, das kulturell Erlebte zu verinnerlichen,noch langfristig die Erinnerung daran wachzuhalten, steht der Kulturvermittlung konträrgegenüber und kann nicht Gegenstand eines nachhaltigen Kulturtourismus sein“(Pröbstle 2010, S. 243/244). Aspekte der Kulturvermittlung würden in den wenigenbestehenden Studien nicht berücksichtigt.

In der traditionellen Tourismusforschung wird das Phänomen Tourismus allgemeinmit den beiden kontroversen Ansätzen der „Fluchttheorie“ (mit Enzensberger alsihrem ersten Protagonisten) und der „Explorationstheorie“ (die u.a. Nahrstedt, Wöh-ler, Wegener Spöhring vertreten) erklärt: Tourismus als „weg von“ und vergeblicheFlucht oder Tourismus als „hin zu“ und Chance für neue Erfahrungen.

Letzterer Ansatz liegt auch dieser Publikation zugrunde, die nach Potentialen desTourismus als kulturellem Lernfeld fragt.

Bildet touristisches Reisen? Begreift man den Tourismus als „vergebliche Flucht“(Enzensberger) vor der eigenen Realität und die „touristische Rolle“ als total (Knebel),dann sicherlich nicht. Begreift man touristische Räume hingegen als Möglichkeitsräu-me für die Herausbildung neuer Perspektiven und Interessen, dann unbedingt.

Ziele des Buches, Vorgehensweisen und Methoden

Ziel dieser Publikation ist es, aufmerksam zu machen auf das Potential des Tourismusfür die Kulturelle Bildung, das bislang noch nicht in den Fokus kulturwissenschaftli-cher und auch nur ansatzweise in den Fokus freizeit- und tourismuswissenschaftli-cher Forschung genommen wurde.

Weiter soll Wissen über kulturelle Aneignungs- und Vermittlungsprozesse im Tou-rismus ebenso wie über die spezifischen Potentiale verschiedener Vermittlungsfor-men generiert werden, um kulturtouristisch relevanten Einrichtungen Kriterien und

Tourismus und Kulturelle Bildung

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Konzepte für eine erfolgreiche Kulturvermittlung zur Verfügung zu stellen, die Kultu-relle Bildungsprozesse nachhaltig stimulieren kann.

Diese Publikation ist ein erster Aufriss des Themas auf der Basis wissenschaftlicherLiteratur sowie mehrerer empirischer Lehrforschungsprojekte an der Universität Hil-desheim zu verschiedenen kulturtouristischen Formaten. Es geht zum einen um dieFrage, wie Touristen Kultur erleben, erfahren und sich aneignen und zum anderendarum, welche Präsentations- und Vermittlungsformate sie dabei besonders erfolg-reich unterstützen. Die Studie ist bewusst breit angelegt und umfasst sowohl Sight-seeing im Städtetourismus einschließlich des Besuchs traditioneller Kultureinrich-tungen, Studienpauschalreisen, Besuche kulturtouristischer Festivals und Events wieauch kulturtouristische Aktivitäten in Erlebnisparks, bei Cluburlauben und auf Kreuz-fahrtschiffen. Damit sollen erste wissenschaftliche Grundlagen gelegt ebenso wievielfältige Ansatzpunkte für differenzierte zukünftige Forschungen ermöglicht wer-den.

Nach der Darstellung historischer Grundlagen und aktueller Trends im Kulturtouris-mus (Kapitel 1) werden Prinzipien der Kulturellen Bildung und der Kulturvermittlungsowie Erkenntnisse der Kulturnutzerforschung mit Erkenntnissen der Reisepädagogikauf touristische Aneignungsprozesse übertragen (Kapitel 2). Dabei interessiert vorallem die große Gruppe der nicht-primär kulturinteressierten Touristen, die Kultureher zufällig und nebenbei im Rahmen einer Urlaubsreise wahrnehmen.

In einem empirischen Teil wird das Potential verschiedener Tourismusformen für kul-turelle Aneignung betrachtet (Kapitel 3 und Kapitel 4). Kulturvermittlungsformateund -formen in touristischen Kontexten werden analysiert und durch Befragung vonTeilnehmern und Anbietern touristischer Reisen darauf hin evaluiert, inwiefern siegeeignet sind, Kulturelle Bildungsprozesse anzustoßen und welche Art von Kulturver-mittlung dabei unterstützend wirkt.

Ergänzt werden die empirischen Erhebungen durch Experteninterviews und Best PractiseBeispiele aus den unterschiedlichen Feldern kulturtouristischer Vermittlung (Kapitel5).

In einem Fazit werden die vorhandenen Erkenntnisse zusammengeführt unter derFragestellung, wie und unter welchen Bedingungen Prozesse Kultureller Bildung statt-finden, welche Kriterien sich daraus für Kulturvermittlung in den verschiedenen touris-tischen Kontexten ableiten lassen und wie Kultureinrichtungen auf der einen undTourismusunternehmen auf der anderen Seite überzeugt werden können, Verantwor-tung für Kulturelle Bildung aktiv wahrzunehmen (Kapitel 6).

Das Buch möchte zum einen Anregungen für weitere differenzierte Forschungen ge-ben und zum anderen praktische Anhaltspunkte dazu, wie Kulturvermittlung mit demZiel Kulturelle Bildung im touristischen Kontexte angelegt werden könnte. Es möchtesensibilisieren für das große Potential, das auch der Massentourismus für Kulturelle

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Bildungsprozesse eröffnet. Es möchte das Feld des Tourismus anschließen an die inden letzten Jahren stark vorangeschrittenen Fachdiskurse im Bereich der Kulturver-mittlung und Kulturellen Bildung, und es möchte ermutigen, neue Vermittlungskon-zepte zu entwickeln, die dem touristischen Kontext und den touristischen Bedürfnis-sen adäquat sind und zugleich die positiv konnotierte Ausnahmesituation „Urlaub“dafür nutzen, neue Zielgruppen für kulturelle Themen zu begeistern.

Tourismus und Kulturelle Bildung

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1. Kultur im Tourismus, historischer Rückblick und aktu-elle Tendenzen im Überblick

1.1. Von der Grand Tour zur Pauschalreise. Was den Massentourismus von denkulturellen Bildungsreisen früherer Reisender unterscheidet

Der Tourismus als Reiseform, die der Erholung, dem Vergnügen und der „Ablenkungvon den Sorgen des Alltags“ dient, ist ein jüngeres Phänomen, das sich erst mit derfortschreitenden Industrialisierung entwickelte. Voraussetzungen für den Tourismuswaren ein relativ gesichertes Einkommen größerer Bevölkerungsgruppen in einer ar-beitsteiligen Gesellschaft, die klare Trennung von Arbeit und Freizeit sowie gesetzli-che Urlaubsregelungen. Vor Ort waren ein gut ausgebautes Verkehrssystem, die Ent-wicklung einer touristischen Infrastruktur sowie die Standardisierung touristischerAngebote notwendig, um das Reisen massentauglich zu machen.

Viele der Reiseformen vor dem Tourismus waren explizit am Motiv der KulturellenBildung orientiert. Die Grand Tour der Adligen im 16./17. Jahrhundert, die in derRegel ein Jahr dauerte und von einem Mentor als „Kulturvermittler“ begleitet wurde,diente der Persönlichkeits-Bildung, der Erweiterung des eigenen Weltbildes, demKontakt zu anderen Adligen in Europa sowie vor allem dem Erwerb kommunikativer,diplomatischer und interkultureller Kompetenzen. Neben den Studienreisen der Adli-gen nutzten auch Handwerkerstände und Studenten Reisen, um Kompetenzen undBildung zu erwerben.

Die sogenannte Bildungsreise, geistesgeschichtlicher Vorläufer des „spezifischKultur interessierten Touristen“, entstand im 19. Jahrhundert als Veranstaltung deshöheren Bildungsbürgertums. Sie diente vor allem der Selbstbildung, vorwiegend inAuseinandersetzung mit Kulturleistungen vorangegangener Generationen. Ihre inne-re Orientierung erhielt die Bildungsreise durch die deutsche Klassik, die maßgeblichin kulturhistorischen Zeugnissen der Antike Anregungen und ideellen Halt für dieGegenwart suchte. Die Idee, dass die Begegnung mit dem „Guten, Wahren, Schönen“analoge Kräfte der Seele wecke und ausbilde, wurde besonders durch Goethes „Itali-enische Reise“ zum Gemeinplatz bürgerlicher Kultur (vgl. Spode 1993). Über dieAuseinandersetzung mit der klassischen Kunst wollte Goethe seine Persönlichkeiterweitern und mit sich und der Welt ins Reine kommen. „Mir ist es jetzt um diesinnlichen Eindrücke zu tun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, dass ichwieder Interesse an der Welt nehme und dass ich meinen Beobachtungsgeist versu-che, ob und wie mein Auge licht, rein und hell ist, was ich in der Geschwindigkeitfassen kann und ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen haben, wiederauszutilgen sind. (...) Ich mache diese wunderbare Reise nicht, um mich selbst zubetrügen, sondern um mich an den Gegenständen kennen zu lernen“ (Goethe 1786/1976, S. 35 u. S. 61). Die Bildungsreise wurde überwiegend mit dem Ziel unternom-

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men, durch die persönliche Begegnung mit Natur und vor allem mit Kultur das eigeneWissen zu erweitern, den Geschmack zu verfeinern, die Urteilsfähigkeit zu schärfen,„Buchwissen“ in persönlicher Erfahrung bewusst zu machen, sie ist also ein Idealfallkultureller Selbstbildung. Als „Vermittler“ dienten damals erste schriftliche Kulturrei-seführer (Winkelmann) sowie Berichte vorangegangener Bildungsreisender, denn: „Mansieht nur, was man weiß“.

„Die Bildungsreise fällt in die heroische Phase der Formierung des modernenBürgertums und liefert zumeist den Vergleichsmaßstab für die kulturkritischeVerdammung des heutigen Tourismus“ (Spode 1993, S.3)

„Der Begriff Tourist gilt bei vielen als Synonym für Unwissenheit, Arroganz,mangelnde Sensibilität, Lernverweigerung und die Vulgarisierung des Reisens.Diese grundlegende Ablehnung des Tourismus und der Oberflächlichkeit derTouristen, die sich nur für das Scheinbare interessieren (… ) wurde von einerlangen Reihe von Kritikern geäußert. (… ) Dahinter steht ein stark bildungs-bürgerlich orientiertes Menschenbild“ (Mundt 2006, S. 244/245)

Was unterscheidet den Massentourismus von der klassischen kulturellen Bildungsrei-se, die mit Goethe und seinen Zeitgenossen zum Ideal des gehobenen Bürgertumswurde?

Zunächst ist es der Faktor Zeit. Während der Bildungsreisende des 19. Jahrhun-derts mindestens ein Jahr zur Verfügung hatte, um sich ein Reiseland und seineKultur anzueignen, hat der Tourist im Durchschnitt nur zwei Wochen Urlaubszeit. Daswiederum hat Auswirkungen auf die Art der Aneignung und erforderte eine andere Artder Vermittlung des „Sehenswürdigen“. Im Tourismus werden die lange Vorbereitungauf eine Reise und das eigene Studium während der Reise ersetzt durch einen Reise-leiter oder gedruckten Reiseführer mit vielen praktischen Hinweisen, der alles We-sentliche kompakt vermittelt und den Touristen in kurzer Zeit an den bekanntestenSehenswürdigkeiten vorbei führt. Statt sich zeichnend und schreibend mit den neuenEindrücken auseinanderzusetzen, werden nebenbei Fotos geknipst.

Der zweite Unterschied ist die Massenhaftigkeit. Nicht nur eine kleine Elite, sondernviele Millionen Menschen sind unterwegs und wollen die häufig beschriebenen undabgebildeten Sehenswürdigkeiten mit eigenen Augen sehen, was nur mit Hilfe stan-dardisierter touristischer Infrastruktur möglich ist.

Ab Ende der 50er-Jahre wurde das Reisen für immer breitere Bevölkerungsschich-ten der westlichen Industrienationen möglich. Ein differenziertes Angebot an unter-schiedlichsten Urlaubs- und Reiseformen entwickelte sich seitdem, wobei die Mehr-zahl der Urlaubsreisen zunächst eher der körperlichen und psychischen Entspannungdienen sollten denn der Bildung. Zugleich jedoch beinhaltet jede touristische Reiseauch kulturelle und ästhetische Erfahrungen von anderen Landschaften, anderer Ar-chitektur, anderem Aussehen und Verhaltensweisen von Menschen und fordert zumWahrnehmen von kultureller Differenz heraus.

Tourismus und Kulturelle Bildung

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Je weniger der Urlaub der reinen körperlichen Erholung dient, um so mehr kann ergenutzt werden für die eigene Identitätsfindung, Bildung und Weiterentwicklung, wozudie Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur in besonderer Weise beitragen kann.

1.2 Fakten und Trends im (Kultur-)Tourismus

Touristisches Reisen war in Deutschland bis in die 50er-Jahre im Wesentlichen aufeine kleine, finanzstarke und gebildete Bevölkerungsgruppe beschränkt. Die Durch-schnittsbevölkerung konnte (mit Ausnahme der im Nationalsozialismus organisiertenKraft-Durch-Freude-Reisen) erst mit umfassenden Urlaubsregelungen und einsetzen-dem Massenwohlstand seit den 60er-Jahren verreisen. 1954 machten nur 24% derDeutschen eine Urlaubsreise, 1964 waren es schon 39% (vgl. Mandel 1996, S. 24),2011 unternahmen bereits 76% mindestens einmal jährlich eine Urlaubsreise vonmindestens fünf Tagen. Zu insgesamt 70 Millionen Urlaubsreisen kamen weitere 86Millionen Kurzurlaubsreisen pro Jahr. 46% der Reisen der Deutschen sind Pauschal-reisen (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. 2011).

Deutschland hat bereits seit Ende der 60er-Jahre den höchsten Anteil an Touris-ten in der Bevölkerung und ist seitdem „Reiseweltmeister“, gefolgt von US-Amerika-nern und Briten. Aktuell stark gestiegen ist der Anteil der Touristen unter der Bevöl-kerung in sogenannten Schwellenländern wie etwa China und Indien, die besondersan Besichtigungen von Kunst und Kultur in Europa interessiert sind.

Inzwischen gilt der Tourismus selbst in Krisenzeiten als relativ sicherer Markt. Seit1990 hat er, gemessen an der Zahl der weltweiten Touristenankünfte, um über 100%zugenommen – von 436 Millionen auf 898 Millionen Ankünften im Jahr 2007 (BMWI,Berlin 2008, S. 10).

Seit Ende der 60er-Jahre reisten die Deutschen häufiger ins Ausland als innerhalbDeutschlands; seit den 90er-Jahren ist Deutschland wieder das beliebteste Ziel derDeutschen. Deutschland selbst hat als Destination bei deutschen Touristen einenMarktanteil von einem Drittel, ein weiteres Drittel reist zu Zielen rund ums Mittel-meer (am beliebtesten bei den deutschen Urlaubern ist Spanien (13%), gefolgt vonItalien (7%) fast gleichrangig mit der Türkei), das letzte Drittel nehmen alle anderenDestinationen inklusive Fernreisen ein (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisene.V. 2011).

Trotz Krisen weltweit haben auch Fernreisen keine Einbußen erlitten, jeder neunteDeutsche unternahm 2010 eine Reise in eine Überseedestination nach Nordamerika,Asien oder Afrika (BAT Stiftung für Zukunftsfragen 2011).

„Hinter der stabil hohen Zahl von Urlaubsreisen stehen reiseerfahrene, sehr regelmä-ßig reisende, urlaubsmotivierte Menschen. Sie interessieren sich mit steigender Ten-denz für eine Vielzahl unterschiedlicher Reiseziele und Urlaubsformen. Dies führt zueiner hohen Flexibilität der Urlauber: Sie sind „multioptional“ und sehen verschiede-ne Möglichkeiten, ihre Urlaubsbedürfnisse zu befriedigen. So werden Destinationen

1. Kultur im Tourismus, Rückblick und aktuelle Tendenzen