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Marinetti und die Tabula rasa des Futurismus / Dessen Verbindung zum Faschismus Mussolinis, zum Heroismus, Maskulinismus, zum Automobil-und Ggeschindigkeitswahn, zur Maschinen- und Kriegsromantik / Von Nike Wagner - 1999
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Marinetti und die Tabula rasa des FuturismusNike Wagner/ 06.03.1999 - FAZ
“Unica religione, l'Italia" heißt es programmatisch im Gründungsmanifest des „Partito
politico futurista", der politischen Partei der Futuristen vom September 1918, „Unica
religione, l'Italia di domani". Die Hoffnung auf ein Italien von morgen verbindet sich mit
der Ausschließlichkeit eines totalen Anspruchs und mit einem Credo: Italien die einzige
Religion. Politik, Nation, Zukunft, Einzigartigkeit, Glaube bilden ein Konglomerat. Was
dachten sich die Künstler dabei? Denn Künstler waren die Verfasser dieses Manifestes,
Künstler jener fulminanten Erneuerungsbewegung in Italien, die 1909 begonnen und bis
in die dreißiger Jahre hinein gedauert hat. Für die „historische Avantgarde" in Europa,
Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus ist der
Futurismus die Avantgarde schlechthin.
Der Futurismus hat Kunstgeschichte gemacht, aber auch „wirkliche", politische
Geschichte. Neidisch bezeugte der Dichter Gottfried Benn in seiner Berliner Rede von
1934, es sei den Futuristen gelungen, „den Schritt von der Kunst in den Rausch der
Geschichte zu tun". „Wir haben von hier aus verfolgt", sagte er zum Futuristenführer
Marinetti, „wie Ihr Futurismus den Faschismus miterschuf, wie Sie die Roma Futurista
gründeten, wie ... Ihre Stoßtrupps für die Erneuerung Ihres Vaterlandes kämpften und
fielen, und wir haben mit äußerster Spannung wahrgenommen, wie aus Ihrem futuri-
stischen Gedankenkreis, seinem Willen, seinen Kampfstaffeln drei grundlegende Werte
des Faschismus aufstiegen: das Schwarzhemd in der Farbe des Schreckens und des
Todes, der Kampfruf „a noi!" und das Schlachtenlied, die Giovinezza - wie ein moderner
Künstler in den politischen Gesetzen seines Landes gschichtlich unsterblich wurde."
Im Namen von Filippo Tommaso Marinetti, Gründer, Macher, Propagandist und Chef der
Futuristen, und im Namen von Benito Mussolini. Gründer, Macher und Chef der Faschi-
sten, hängen Kunst und Politik symbolisch, symbiotisch zusammen. Marinetti und
Mussolini waren Freunde und Weggefährten. Der futuristische Glaube an die „eine
Religion Italien" hat im Faschismus Mussolinis sein Echo: „Unser Mythos ist die Größe
der Nation... und dieser Größe ... haben wir alles andere untergeordnet... Der
Faschismus ist nicht nur eine Partei, er ist ein Regime: er ist nicht nur ein Regime,
sondern ein Glaube; er ist nicht nur ein Glaube, sondern Religion..."
Vorfaschistische ÄsthetikSchon 1911 hatte Marinetti proklamiert, daß das Wort „Italien" das Wort „Freiheit" an
Glanz bei weitem überstrahle" - als könne er die Freuden einer nationalen Supermacht
Italien, eines über die Maßen vollendeten „risorgimento" gar nicht abwarten. Doch
welchen Zeitabschnitt man auch herausgreift, Marinetti, geboren 1875 in Alexandria,
studierte in Paris und Genua, bereiste ganz Europa und Rußland, war ein mondäner
Weltmann, ein sprühender, verrückter Literat und Theatermann mit dem Anspruch,
Leben und Kunst radikal neu zu gestalten. Marinetti bleibt in einem Punkt offenbar
älteren emotionalen Schichten treu. 1926 wird er von einem befreundeten Maler
gefragt: „Also was jetzt - bist Du Faschist oder bist Du es nicht?" Da antwortet er nicht
direkt: "Vor allem bin ich Italiener", sagt er. „Dann bin ich auch ein alter persönlicher
Freund von Mussolini. Was aber heute zählt, ist die Verteidigung Italiens."
Immer wieder: Italien. Der Nationalismus - oder Patriotismus - war es, der den Futu-
rismus in eine ideologische und moralische Falle geführt hat. Zwar sind auch die anderen
künstlichen Avantgardebewegungen der Vor- und Zwischenkriegszeit der Versuchung zur
Identifikation mit einem kollektiven Wir - nationalistisch, sozialistisch oder rassistisch,
manchmal auch nur chauvinistisch definiert - erlegen: die englischen Vortizisten mit
ihren von Hitler und Mussolini begeisterten Dichtern Wyndham Lewis und Ezra Pound,
der deutsche Expressionismus mit Gottfried Benn, der auf die Nationalsozialisten ähnlich
positiv reagiert hat wie Ernst Jünger, die französischen Intellektuellen, die vor allem mit
Charles Maurras oder Louis Ferdinand Céline, dem französischen Faschismus nahe-
standen, oder die für den Nazismus anfälligen Dichter und Schriftsteller in Österreich.
Ernst Nolte hält Marinetti nur für eine pittoreske Begleiterscheinung des Faschismus, und
George L. Mosse meint analog dazu, letztlich seien die Futuristen nur Exzentriker am Hof
der Macht gewesen, der Kunsthistoriker Maurizio Calvesi weist eine “plumpe Identifizie-
rung" von Futuristen und Faschisten zurück, Peter Demetz reduziert die Beziehungen der
beiden Bewegungen auf ein „Hin und Her und Her und Hin".
Wenn es je eine unromantische, ja gegenromantische Bewegungung der Kunst gegegen
hat, so war es die der Futuristen. Verkündete Marinetti nicht den „Tod des Mondscheins"
und anderer Sentimentalitäten - der Liebe und des Tangos, Venedigs oder des Mont-
martre? Richard Wagner gar: nur noch ein „Kadaver", ist auf jener schwarzen Liste zu
lesen, die er mit dem Wort „Scheiße" überschrieben hat.
Der Futurismus springt zehn Jahre vor dem Faschismus auf die Weltbühne - mit jenem
Donnerschlag des ersten futuristischen Manifestes von Marinetti, das zuerst im Pariser
„Figaro" am 11. Februar 1909 erschien und eine Kampfansage an alle geheiligten Tradi-
tionen war. Der Faschismus dagegen beginnt nach dem Krieg, als die explosiven und
programmatischen neun Jahre des Futurismus schon vorbei waren, als im März 1919
sich in Mailand ein im Grunde wirrer Haufen aus Anarchisten, Kriegsheimkehrern, Repu-
blikanern und Sozialisten trifft, um die patriotischen Fasci di combattimento zu gründen.
Da sind die Futuristen dabei. Als Jahr der eigentlichen faschistischen Parteiengründung
aber gilt 1922, nach jenem legendären Marsch auf Rom, zu dem Mussolini im Schlaf-
wagen anreiste. Um diese Zeit waren die Futuristen politisch nicht mehr dabei.
Affinitäten aber zwischen Marinetti und den Frühfaschisten bestanden schon um 1914,
als vor allem in der Linken die Frage des Kriegseintritts Italiens debattiert wurde. Beide,
Mussolini wie Marinetti, waren „Interventionisten". Als sie dann bei der Gründung der
„fasci" wirklich zusammentrafen, waren sie sich auch über die Sozialrevolutionären
linken Ziele ihrer künftigen Partei einig. Marinetti schrieb überschwenglich: „Wir wollen
Italien vom Papsttum, von der Monarchie, vom Senat, von der Ehe und vom Parlament
befreien ...Wir wollen die Abschaffung des stehenden Heeres, der Gerichte, der Polizei
und der Gefängnisse ..." Im Parlament sollten nur mehr junge Leute sitzen dürfen,
Maximalalter: 22 Jahre. Bald darauf findet man Marinetti zusammen mit Mussolini bei
den Parlamentswahlen für die faschistische Liste von 1919; in flammenden Ansprachen
beschwört er den Namen Garibaldis, dessen „Seele heute in den Fraktionen der natio-
nalen Avantgarde lebendig" sei. Kandidat Marinetti fällt durch.
Obwohl Mussolini Marinetti nach den gescheiterten Wahlen als „Clown" klassifizierte,
wird er ihn in der Kampfzeit doch immer wieder in der Rolle des Propagandisten ver-
wenden. Ab dem faschistischen Parteikongreß von 1920 jedoch bahnt sich die Spaltung
an. Mussolini plädiert hier für „Restauration", während Marinetti immer noch für die Ent-
vatikanisierung Italiens, gegen die Monarchie und für proletarische Streiks eintritt. Es
fällt gegen Mussolini das von den Futuristen erfundene und bevorzugte Schimpfwort:
sein Faschismus beginne jetzt, „reaktionär und passatistisch" zu werden. „Passatistisch"
war ein Neologismus, abgeleitet von „passato" - überholt, vergangen. Der Kampf gegen
jeglichen „Passatismus" gehörte von allem Anfang an zu den Dogmen der futuristischen
Ästhetik. Die einstige gemeinsame „linke" Staatsidee wurde verabschiedet, als Mussolini
1926 auch noch die Gräber öffnen ließ, um die Ruinen des alten Rom zu exhumieren.
Damit war sein „Passatismus", die Rückbindung seines Regimes an die Vergangenheit,
symbolisch besiegelt.
Der Futurismus dagegen bleibt seiner vorfaschistischen Ästhetik treu. Man liebte Mani-
feste, hatte sie als Mittel künstlerischer Mitteilung überhaupt erst geschaffen. Im Stil der
Manifeste drückte sich ihr Inhalt aus, sie waren Kunstwerke. Das erste futuristische
Manifest widmet sich der Grablegung des Alten und der Installation von modernen
Gegenwerten. Marinetti: "Wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Profes-
soren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien...Wir wollen es von den
unzähligen Museen befreien, die es wie unzählige Kirchhöfe bedecken...Museen:
öffentliche Schlafsäle...Wir preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaf-
losigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag...Wir
erklären, daß die Herrlichkeit der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: die
Schönheit der Geschwindigkeit...Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von
Samothrake...Wir werden...die Empörung singen, die vielfarbigen, die vieltönigen Bran-
dungen der Revolutionen in den modernen Hauptstädten...die gefräßigen Bahnhöfe
voller rauchender Schlangen; die durch ihre Rauchfäden an die Wolken gehängten
Fabriken, die gymnastisch hüpfenden Brücken...die abenteuerlichen Dampfer, die den
Horizont wittern, die breitbrüstigen Lokomotiven...und den gleitenden Flug der Aero-
plane…" Das klingt wahrhaftig nicht nach Uniformität und Einparteienstaat.
Das futuristische Credo, wie es vor allem die Maler und Bildhauer Boccioni, Carrà,
Russolo, Balla und Severini formulierten, beruhte ebenfalls auf Prinzipien der Bewegung,
der Geschwindigkeit, der Multiperspektive, der Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung, das
heißt der Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit: „Alles bewegt sich, alles fließt,
alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich
vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich ... Die sechzehn Personen,
die ihr in einer fahrenden Straßenbahn um euch habt, sind eine, zehn, vier, drei; sie
stehen still und sie bewegen sich; sie kommen und gehen, sie prallen, von einer
Sonnenzone verschlungen, auf die Straße zurück, dann setzen sie sich wieder hin,
beharrliche Symbole der universellen Vibration. Und manchmal sehen wir auf der Wange
einer Person, mit der wir sprechen, das Pferd, das in der Ferne vorübertrabt. Unsere
Körper dringen in die Sofas, auf denen wir sitzen, ein, so wie die vorüberfahrende
Straßenbahn in die Häuser eindringt, die sich ihrerseits auf die Straßenbahn stürzen und
sich mit ihr verquicken ... Um die neuen Schönheiten eines modernen Bildes erdenken
und begreifen zu können, muß die Seele wieder rein werden, muß sich das Auge von
dem Schleier befreien, mit dem es Atavismus und Kultur bedeckt haben ... Dann werden
wir alle auf einmal merken, daß unter unserer Haut nicht das Braun zirkuliert, sondern
daß dort das Gelb leuchtet, das Rot aufflammt, und das Grün, Blau oder Violett ..."
Nach der Theorie der "dynamischen Kontinuität als Grundform" gelangen dem begab-
testen Futuristen in der bildenden Kunst, Umberto Boccioni, Skulpturen, die die „end-
liche Linie", die Geschlossenheit, aufzubrechen und die Umwelt inss Innere der Figur
einzulassen scheinen. Auch in der Musik wird die Geschlossenheit aufgebrochen und die
moderne Umwelt hereingeholt: Luigi Russolo, der Maler-Komponist, erfindet die „Intona-
rumori", Lärmmaschinen, mit deren Hilfe er eine Art Geräuschkunst schafft, die die
Musik um die „Geräusch-Töne", um Brummen, Donnern, Bersten, Pfeifen, Zischen,
Pusten, Flüstern, Murmeln, Knattern, erweitert. „Wir verspüren einen weit größeren
Genuß", schreibt er, „wenn wir im Geist die Geräusche der Straßenbahn, des Explosions-
motors, der Wagen und der lärmenden Menge kombinieren, als zum Beispiel beim noch-
maligen Anhören der Eroica oder der Pastorale." Strawinsky und die „Groupe des Six"
waren begeistert von diesen „tönenden Ohrfeigen".
Als Dichter machte sich Marinetti an die Befreiung der Syntax von den Zwängen der
Logik, erfindet die „parole in libertà", Texte, die die Worte „frei deformieren, umgestal-
ten, sie abschneiden oder verlängern". Sogar die Buchstaben dürfen aus dem Buch,
diesem „statischen Begleiter des sitzenden, nostalgischen und neutralistischen Men-
schen", heraustreten, sie werden, damit sie Dynamismus entwickeln, auf riesige, ver-
schiebbare Wände gemalt: tanzende Typographien. Die feste Einheit des Ichs in der
Literatur soll autgelöst, „die ganze Psychologie" abgeschafft werden zugunsten einer
betreit pulsierenden Materie, die diejenigen organischen Attribute und Emotionen
bekommt, die dem Menschen entzogen werden. „Über die befreiten Gegenstände und
die launischen Motoren müssen die Atmung, die Sensibilität und die Instinkte der
Metalle, der Steine, des Holzes und so weiter erfaßt werden." Die Wärme eines Stückes
Eisen, so Marinetti weiter, sei viel aufregender als das Lächeln oder die Tränen einer
Frau. Bewegte und bewegbare Medien wie der Film und die Fotografie kommen diesem
futuristischen Dynamismus entgegen, beeinflussen die Malerei, regen zu Collagen und
Durchdringungen an.
Verherrlichung der TechnikStatt des zeitgenössischen Theaters, („Verse, Prosa, Musik) verherrlichen die Futuristen
das Varieté, das „keine Meister und Dogmen" hat, das durch „Komik, erotischen Reiz
oder geistreiches Schockieren zerstreut und unterhält" (Marinetti); das Variete erscheint
manchmal wie eine Synthese aller Bestrebungen des Futurismus, alles ist in simultaner
Bewegung, die Formen, Farben und Töne der Technik wie die der Menschen, es ist ein
Schmelztiegel aller Einzelkünste, das auch das Publikum noch heranzieht. „Das Varieté
zerstört das Feierliche, das Heilige, das Ernste und das Erhabene in der Kirnst, es hilft
bei der futuristischen Vernichtung der unsterblichen Meisterwerke mit, weil es sie plagi-
iert, parodiert, auf zwanglose Art präsentiert... So billigen wir bedingungslos die Auf-
führung des Parsifal in 40 Minuten, die in einem großen Varieté in London vorbereitet
wird", proklamiert Marinetti. Er selber übrigens war ein glänzender Showman, Sprach-
artist und Happening-Veranstalter, gleichsam ein Mitglied der „Wiener Gruppe" avant la
lettre.
Während der frühe Futurismus - etwa 1909 bis 1920 - die „utopische und heroische
Phase der Bewegung" darstellt, in der politische und ästhetische Ziele noch vereinbar
erschienen, sah er sich in seiner zweiten Phase einem Faschismus gegenüber, dessen
bürokratische, katholische, staatsverpflichtende und restaurative Züge eigentlich keiner-
lei Parallelaktionen mehr zuließen. Nach dem Machtantritt Mussolinis bekennt Marinetti
ironisch bedauernd, daß der Faschismus nur noch einem „Minimalprogramm" der Futu-
risten entspräche. Gewisse Anpassungen waren aber nicht zu vermeiden. Ist es Marinetti
beispielsweise zu verübeln - wie man es vielerorts getan hat -, daß er sich 1929 in die
Königliche Akademie wählen ließ, zu deren Niederbrennen er einst aufgerufen hatte?
Natürlich halfen ihm sein Posten als Kulturminister und seine persönliche Beziehung zu
Mussolini zu verhindern, daß der Futurismus an den Rand gedrängt oder von den kunst-
politischen Gleichschaltungstendenzen aufgesogen wurde. Zu einer offiziellen Regime-
kunst eignete sich der Futurismus wohl nie.
Auffällig blieb er aber in einem seiner originärsten Sujets, der "Flugmalerei", der „aero-
pittura". In der Verbindung von Himmel und Motoren konnten sie sich subjektiv frei
fühlen und der Vogelperspektive des Piloten phantastische und visionäre Bilder abge-
winnen. Andererseits näherten sie sich darin fatal den Faschisten. Eine schwärmerische
Vorliebe fürs Fliegen pflegte auch Mussolini - abgesehen von der Begeisterung, die die
Fliegerei seit Blériots Flug über den Ärmelkanal damals überall ausgelöst hatte. 1931
wurde die futuristische Flugmalerei denn auch propagandistisch lanciert und ging wenig
später problemlos über im die Kriegsmalerei, die "aeropittura di guerrá"; damit hatte der
zweite Futurismus sich in die Falle manövriert.
Diese Falle war schon seit 1909 erkennbar, als der Maschinenschwärmer Marinetti seinen
von Nietzsche inspirierten Satz vom Krieg als der "einzigen Hygiene der Welt" gegen
sein dekadentes Zeitalter schleuderte. Unverbesserlich stieg der Futuristenführer nicht
nur im Ersten Weltkrieg in die Schützengräben, sondern ging auch noch als alter Mann
im Zweiten an die russische Front, um dann in Mussolinis Republik von Salò zurückzu-
kehren.
Aber zwischen Mussolini und Marinetti waren zwischen 1937 und 1939, den Jahren der
Annäherung Mussolinis an Hitler, erhebliche Differenzen entstanden. 1938 verurteilte
Marinetti in seiner Zeitschrift „artecrazia" die antisemitischen Gesetze Mussolinis scharf;
prompt wurde die Nummer von der Zensur eingezogen. Jedenfalls widersetzte sich der
Futurist den Kampagnen der offiziellen italienischen Kulturpolitik, die den Maßstab der
Kunst nach den Rassebestimmungen richten wollte, und es gelang ihm, die öffentliche Meinung zu organisieren, so daß die Diffamierung einer „entarteten Kunst" in Italien
unterblieb.
In seiner Technikverherrlichung bleibt der Futurismus jedoch ganz im Einklang mit der
faschistischen Mentalität. Hinter der Fassade der dezidierten Antiromantik quillt eine
andere Romantik um so vehementer hervor. Auch hier hat Karl Kraus, das einpräg-
samste Wort gefunden: "Technoromantik". Marinetti schwärmt: „Der Rausch hoher
Geschwindigkeit im Automobil ist nichts anderes als das Hochgefühl, sich mit der
einzigen Gottheit zu vereinigen." Der futuristische Enthusiasmus für die Maschine, die
Maschinenästhetik, die „macchialotria", ist notorisch geworden, im besonderen die
Fetischisierung des Automobils durch Marinetti, seiner autolatria. Das Auto bedeutet
Machtzuwachs. Die Problematik des technischen Fortschritts konnte durch die alten
Gefühle, die daran gewendet wurden - schwärmerisch-romantisch-kindliche Lustgefühle
- nicht mehr relativiert und analysiert werden.
Rausch der GeschwindigkeitDie Futuristen tun hier nun etwas Merkwürdiges. Wie in ihrer berühmten Wendung von
den „Instinkten der Metalle" lieben sie auch hier das organologische Vokabular, montie-
ren es aber nicht auf das Abstraktum Nation, sondern auf den Fetisch Maschine. Sie darf
jetzt atmen und schwitzen und launisch sein. Oder sie kehren den Vorgang um und
erfinden die unwahrscheinlichsten Bilder, wie der menschliche Körper ins Anorganische
der Maschine übergeht. dessen verlängerter Bestandteil wird. Im Auto, am Lenkrad und
am Gaspedal, gehen Arm und Schenkel direkt in den Metallkörper über, noch mehr wohl
verschmilzt der Pilot in seiner engen Kabine auf Gedeih und Verderb mit seinem Maschi-
nenvogel. Das scheinen nur verschrobene, exaltierte Vorstellungen; in Wirklichkeit
haben solche Imaginationen ihren genauen Sinn und Zweck. Zum einen will Marinetti
mit seiner Mischung von Organischem und Anorganischem eine moderne, neue Sensi-
bilität schaffen, die mit den angsterregenden Erscheinungen der industriellen Welt zu
versöhnen vermag, indem sie mit ihnen Umgang pflegt, als seien es Teile des eigenen
Ichs - darin geht der Futurismus konform mit dem nationalen Glücksziel Fortschritt.
Zum anderen aber steckt in der Idee des Maschinenkörpers oder der Körpermaschine
noch eine abgründigere Bedeutung, die sich auf ihre Weise dem Kontext von Nationa-
lismus und Faschismus einfügt und ihm eine libidinöse Schubkraft gibt. Der Rausch der
Geschwindigkeit, des Fliegens ist von Freud bekanntlich als sexueller Rausch entschlüs-
selt worden. In der Verlagerung der Lust auf die Maschine - der Verschmelzung des
männlichen Fleisches mit dem Maschinenteil - erprobt die Technoromantik in Verbindung
mit dem Gemütsfaschismus der Futuristen den Ersatz, wenn nicht die Exorzierung des
Weiblichen. Nicht zufällig glorifizierte das erste Manifest den Krieg, den Patriotismus und
den Militarismus im gleichen Atemzug, mit dem es die Verachtung der Frau predigte.
Andere Manifeste gibt es, die vom Erfolgsautor der Misoegynie, Otto Weininger, abge-
schrieben sein könnten, und es ist nicht weiter verwunderlich, daß auch Mussolini zu den
Weininger-Verehrern gehörte.
Der Futurismus ist eine Bewegung, die aus der Jahrhundertwende kommt - seine male-
rischen Anfänge sind noch symbolistisch -, und er schleppt deren Konflikte und Krisen
mit. Im Zeitalter der beginnenden Emanzipation der Frau war die Krise der Männlichkeit
wahrscheinlich die stärkste. Darauf antworteten die Futuristen mit ihrer Verklärung von
Heroismus, Mut, Energie, Todesbereitschaft und Krieg. Der Krieg wurde als ein avant-
gardistisches Todesfest imaginiert. Der Mann exitierte nur noch in den Augenblicken der
höchsten Gefahr, im Kampf lösten sich alle Spannungen und Ängste - alle Bedrohungen,
die vom negativ stigmatisierten Weiblichen ausgehen.
Der futuristische Haß auf die „Decadence" in allen ihren Erscheinungsformen war auch
ein Angriff auf die Symbole der weichen, „tangoartigen", als weiblich definierten Kultur
der Jahrhundertwende. Die Sphäre des erregend Warmen, Sinnlichen, Instinktiven war
auf die Maschine, auf die anorganischen Materialien übergegangen. Wenn Marinetti sein
Auto mit Maschinengewehren zu einem einzigen fahrenden Schießröhrengefährt umbaut,
seine „automitrailleuse", ist das zeittypische Amalgam aus Sexualersatz, militärischer
Aggressionslust und romantischer Todesbereitschaft Objekt geworden, individuell kombi-
niert mit futuristischer Performancebegabung. Der politische und der Techno-Romantiker
sind eins geworden.