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158 Philipp Ullmann Mathematik - Moderne - Ideologie. Eine kritische Studie zur Legitimität und Praxis der modernen Mathematik Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Philosophie, genehmigt von der Fakultät fiir Geistes- und Erziehungswissenschajien der TU Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig Gutachter: Prof Dr. Herbert Mehrtens Prof Dr. Klaus Volkert Datum der mündlichen Prüfong: 30. April 2007 Mathematikdidaktikerlnnen haben in aller Regel differenzierte und konkrete Erwartungen an den Bildungsanspruch der Schulmathematik. In merkwürdigem Kontrast zu den ho- hen Ansprüchen stehen die Resultate. Mathematik scheint im Alltagsverständnis auf das bloße Zahlenrechnen reduziert zu sein [vgl. Stroop 1998]. Bevor man sich aber an- schickt, den Allgemeinbildungsanspruch unter anderem Vorzeichen - und immer aufs Neue - zu aktualisieren, sollte man sich die Zeit nehmen, ihn kritisch zu beleuchten. Welche Rolle spielt die Mathematik in der Gesellschaft, und wie steht es mit ihrer eman- zipatorischen Dimension? Ich beginne mit drei Beobachtungen. 1. Wir sind immer und überall von Zahlen umgeben. Das reicht von so einfachen Dingen wie Herdknöpfen oder Telefonnummern bis hin zu so komplexen Dingen wie Zeit oder Geld. 2. Das war nicht immer so. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die heutige Allgegenwart der Zahl das Resultat einer historischen Entwicklung ist. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen zwar weit zurück, aber den Alltag erobert haben die Zahlen erst im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte - in der Periode also, die Soziologen Moderne nennen. 3. Zahlen erfüllen eine wichtige Funktion: Sie verschaffen uns Sicherheit. Zahlen geben Struktur und Ordnung, sie stehen für Präzision und Objektivität. In ei- nem Fahrplan beispielsweise finden sich Zahlen - ordentlich aufgereiht, in Zeilen und Spalten eingeteilt - und strukturieren unser Leben. Stellen Sie sich vor, sie stehen auf dem Bahnhof und warten auf einen Zug, aber er kommt nicht. Dann sagen Sie nicht: »Naja, das ist ja nur ein Fahrplan.« Sondern Sie sagen: »Der Zug ist zu spät.« Die Zahlen werden uns zur Wirklichkeit, oder zumindest zum Maßstab unserer Wirklich- keit. Hier kommt das Moment der Ideologie ins Spiel. Nach diesen Vorbemerkungen skizziere ich die beiden Hauptthesen meiner Arbeit. These 1: Das Bindeglied zwischen Modeme und Zahlen ist die Mathematik. Grundlage rur die Sicherheit, die wir in den Zahlen finden, für das Vertrauen, das wir ih- nen entgegenbringen, ist das mathematische Wissen mit seinem Anspruch, rational, ob- jektiv, universell gültig, und vor allem wertneutral zu sein. Und die Sicherheit, die wir in den Zahlen finden, ist wiederum Grundlage (zumindest eine Grundlage) für das Vertrauen, das wir in unsere modemen Lebensbedingungen haben. (JMD 29 (2008) H. 2, S. 158-159)

Mathematik — Moderne — Ideologie. Eine kritische Studie zur Legitimität und Praxis der modernen Mathematik

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158

Philipp Ullmann

Mathematik - Moderne - Ideologie. Eine kritische Studie zur Legitimität und Praxis der modernen Mathematik

Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Philosophie, genehmigt von der Fakultät fiir Geistes- und Erziehungswissenschajien der TU Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig

Gutachter: Prof Dr. Herbert Mehrtens Prof Dr. Klaus Volkert

Datum der mündlichen Prüfong: 30. April 2007

Mathematikdidaktikerlnnen haben in aller Regel differenzierte und konkrete Erwartungen an den Bildungsanspruch der Schulmathematik. In merkwürdigem Kontrast zu den ho­hen Ansprüchen stehen die Resultate. Mathematik scheint im Alltagsverständnis auf das bloße Zahlenrechnen reduziert zu sein [vgl. Stroop 1998]. Bevor man sich aber an­schickt, den Allgemeinbildungsanspruch unter anderem Vorzeichen - und immer aufs Neue - zu aktualisieren, sollte man sich die Zeit nehmen, ihn kritisch zu beleuchten. Welche Rolle spielt die Mathematik in der Gesellschaft, und wie steht es mit ihrer eman­zipatorischen Dimension? Ich beginne mit drei Beobachtungen. 1. Wir sind immer und überall von Zahlen umgeben.

Das reicht von so einfachen Dingen wie Herdknöpfen oder Telefonnummern bis hin zu so komplexen Dingen wie Zeit oder Geld.

2. Das war nicht immer so. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die heutige Allgegenwart der Zahl das Resultat einer historischen Entwicklung ist. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen zwar weit zurück, aber den Alltag erobert haben die Zahlen erst im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte - in der Periode also, die Soziologen Moderne nennen.

3. Zahlen erfüllen eine wichtige Funktion: Sie verschaffen uns Sicherheit. Zahlen geben Struktur und Ordnung, sie stehen für Präzision und Objektivität. In ei­nem Fahrplan beispielsweise finden sich Zahlen - ordentlich aufgereiht, in Zeilen und Spalten eingeteilt - und strukturieren unser Leben. Stellen Sie sich vor, sie stehen auf dem Bahnhof und warten auf einen Zug, aber er kommt nicht. Dann sagen Sie nicht: »Naja, das ist ja nur ein Fahrplan.« Sondern Sie sagen: »Der Zug ist zu spät.« Die Zahlen werden uns zur Wirklichkeit, oder zumindest zum Maßstab unserer Wirklich­keit. Hier kommt das Moment der Ideologie ins Spiel.

Nach diesen Vorbemerkungen skizziere ich die beiden Hauptthesen meiner Arbeit.

These 1: Das Bindeglied zwischen Modeme und Zahlen ist die Mathematik.

Grundlage rur die Sicherheit, die wir in den Zahlen finden, für das Vertrauen, das wir ih­nen entgegenbringen, ist das mathematische Wissen mit seinem Anspruch, rational, ob­jektiv, universell gültig, und vor allem wertneutral zu sein. Und die Sicherheit, die wir in den Zahlen finden, ist wiederum Grundlage (zumindest eine Grundlage) für das Vertrauen, das wir in unsere modemen Lebensbedingungen haben.

(JMD 29 (2008) H. 2, S. 158-159)

Dissertationen 159

Dieses Argument und mit ihm der Zusammenhang von Mathematik, Modeme und Ideo­logie entfalte ich im ersten Teil des Buches. Nun ergibt sich aber folgenes Problem: Wie kann Mathematik Vertrauen und Sicherheit schaffen, wenn (siehe oben) die meisten Menschen gar keinen rechten Zugang zu eben dieser Mathematik haben?

These 2: Unser Zutrauen in die alltagsweltliche Relevanz der Mathematik wird wesent­lich durch die Schulmathematik legitimiert.

Ohne ihre Praxis wäre eine »reine« Mathematik gar nicht möglich, zumindest nicht in der Form, in der wir sie heute kennen. Erst in ihrer Vermittlung in der Schule (und in ih­ren Anwendungen) erhält die Mathematik Glaubwürdigkeit und Legitimität. Dem Beleg dieser These ist der zweite Teil des Buches gewidmet. Mit der Durchsetzung der Schulpflicht (und damit des Mathematikunterrichts) im 19. Jahrhundert ist zumindest eine Erkenntnis im Bewusstsein verankert worden: Was auch immer es mit ihr auf sich hat, Mathematik ist wichtig im Leben. Sie befähigt idealiter dazu, mit verschiedenen Münzen und Währungen umzugehen, Geld- und Versicherungsgeschäfte zu tätigen, sich in einer technisierten und rationalisierten Welt zu behaupten - und entfaltet dabei durch­aus ein emanzipatorisches Moment. Doch ganz nebenbei werden - unter dem Deck­mantel der vermeintlichen Wertfreiheit der Zahl - die SchülerInnen zugerichtet für die Anforderungen der modemen Gesellschaft. Eine detaillierte Analyse von Mathematik­schulbüchern von 1900 bis 1950 belegt gerade diesen Aspekt besonders plastisch. Um die Eingangsfrage noch einmal aufzugreifen: Welche gesellschaftliche Rolle also spielt die Mathematik, und wie steht es mit ihrem Bildungsanspruch? In seinem Antwortversuch setzt der kritische Blick des Buches den Focus auf die Ver­mittlung der Mathematik in der Schule, präpariert neben der vorgeblich freiheitlichen und emanzipatorischen Dimension ein totalisierendes und disziplinierendes Komplement heraus und konstatiert: Die Mathematik als modeme Volksbildung ist keine Bildung des Volkes, sondern eine Bildung zum Volk, indem sie den rechenhaften Staatsbürger heran­bildet. Unter diesem Blickwinkel wird zugleich deutlich, dass sich das Dritte Reich, ein Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung, in eine Traditionslinie einreiht, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur Bundesrepublik reicht.

Literatur: Mehrtens, Herbert [1990]: Moderne - Sprache - Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die

Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme. Frankfurt: Suhrkamp. Stroop, Dietlinde [1998]: Alltagsverständnis von Mathematik bei Erwachsenen. Eine qualitative

empirische Studie. Frankfurt: Lang. Ullmann, Philipp [2008]: Mathematik - Moderne - Ideologie. Eine kritische Studie zur Legitimität

und Praxis der modernen Mathematik. Konstanz: UVK.

Adresse des Autors

Philipp Ullmann Heinrich-von-Kleist-Schule Dörnweg 53 65760 Eschborn Ph. [email protected]