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Arnold Bernhard/Georg Glockler/Ernst Schuberth Mathematikunterricht an Freien Waldorfschulen 249 In ihrem Beitrag (JDM 17 [96] 3/4) unternehmen S. Prediger und H. Ullrich den Ver- such, Ziele und Methoden des Mathematikunterrichtes an Waldorfschulen zu analysieren. Die Autoren fragen weiter nach, wie die theoretischen Anspriiche in der Unterrichtspra- xis eingelost werden. Wir sind uns bewuBt, welche schwierige Aufgabe damit gestellt ist, nicht nur, weil damit eine 77jahrige Entwicklung zu tiberschauen ist, sondern vor allem, weil dem Un- terricht an Waldorfschulen in weit geringerem MaBe als tiblich ein verbindlicher Lehr- plan zugrunde liegt und die Literatur selbst in den unterrichtsnahesten Darstellungen keine Schulbticher im traditionellen Sinne darstellt. Hinzu kommt, daB auch die zugehO- rigen Fachdidaktiken und -methodiken nur im Gesamtkontext der anthroposophischen Padagogik sachgerecht diskutiert werden konnen. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es nicht verwunderlich, wenn bei Kennern der Waldorfpadagogik ein zwiespaltiger Eindruck nach der Lekttire zuriickbleiben muB. Da es sich unsererseits nur urn einen Diskussionsbeitrag handelt, mochten wir versu- chen, auf die uns problematisch erscheinenden Stell en durch Anmerkungen hinzuweisen. Dabei konnen nur einige wenige Punkte exemplarisch herausgegriffen werden. Mit Recht weisen die Autoren daraufhin, daB sich der Facherkanon an den Waldorf- schulen nicht wesentlich von dem traditioneller Schulen unterscheidet. Die Autoren wollen damit den Eindruck erwecken, daB deshalb eine padagogische Begriindung des Lehrplanes nicht gegeben sein konne. Nun macht Steiner seIber oft darauf aufinerksam, daB ein vollstandig entwicklungsgerechter Lehrplan nicht moglich ist, denn die Waldorf- schulen erziehen nicht ffu irgendeine Kultur sondern ffu die Kultur ihres Umfeldes. Es sind also sinnvolle ulld notwendige Kompromisse zu schlieBen. DaB hier je etwas ,,nicht eingestanden" ware, wie die Autoren ermahnend betonen, ist unverstandlich. Bei der Zusammenschau der zahlreichen mtindlichen AuBerungen Steiners zum Lehrplan erhalt man vielmehr ein ganz anderes Bild: Erziehung hat sich im Spannungs- feld von Entwicklungsanforderungen des Kindes und den Kulturbedingungen, in welche das Kind und der Jugendliche hineinwachsen, zu entfalten. FUr das jtingere Kind stehen die Entwicklungsforderungen - aber niemals ausschlieBlich - im Vordergrund, ffu den Jugendlichen die Inhalte und Forderungen der zeitgenossischen Kultur. Auf Seite 295f. auBern die Autoren ihre Vermutungen tiber das Entstehen von Wal- dorflehrplanen. Da wir als Beteiligte speziell im Fach Mathematik die Diskussionen der vergangenen 35 Jahre recht genau tiberblicken konnen, mochten wir unser Erstaunen tiber die vorgebrachten Ansichten zum Ausdruck bringen. Wie andere Fachgruppen tref- fen sich jahrlich die Mathematiklehrer an Waldorf schul en zu Fachtagungen, in denen neuere Entwicklungen in der Mathematik, der Mathematikdidaktik und der eigenen Un- terrichtspraxis vorgestellt und diskutiert werden. Das Ergebnis kann die Aufnahme neuer (JMD 18 (97) 2/3, S. 249-251)

Mathematikunterricht an Freien Waldorfschulen

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Page 1: Mathematikunterricht an Freien Waldorfschulen

Arnold Bernhard/Georg Glockler/Ernst Schuberth

Mathematikunterricht an Freien Waldorfschulen

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In ihrem Beitrag (JDM 17 [96] 3/4) unternehmen S. Prediger und H. Ullrich den Ver­such, Ziele und Methoden des Mathematikunterrichtes an Waldorfschulen zu analysieren. Die Autoren fragen weiter nach, wie die theoretischen Anspriiche in der Unterrichtspra­xis eingelost werden.

Wir sind uns bewuBt, welche schwierige Aufgabe damit gestellt ist, nicht nur, weil damit eine 77jahrige Entwicklung zu tiberschauen ist, sondern vor allem, weil dem Un­terricht an Waldorfschulen in weit geringerem MaBe als tiblich ein verbindlicher Lehr­plan zugrunde liegt und die Literatur selbst in den unterrichtsnahesten Darstellungen keine Schulbticher im traditionellen Sinne darstellt. Hinzu kommt, daB auch die zugehO­rigen Fachdidaktiken und -methodiken nur im Gesamtkontext der anthroposophischen Padagogik sachgerecht diskutiert werden konnen.

Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es nicht verwunderlich, wenn bei Kennern der Waldorfpadagogik ein zwiespaltiger Eindruck nach der Lekttire zuriickbleiben muB.

Da es sich unsererseits nur urn einen Diskussionsbeitrag handelt, mochten wir versu­chen, auf die uns problematisch erscheinenden Stell en durch Anmerkungen hinzuweisen. Dabei konnen nur einige wenige Punkte exemplarisch herausgegriffen werden.

Mit Recht weisen die Autoren daraufhin, daB sich der Facherkanon an den Waldorf­schulen nicht wesentlich von dem traditioneller Schulen unterscheidet. Die Autoren wollen damit den Eindruck erwecken, daB deshalb eine padagogische Begriindung des Lehrplanes nicht gegeben sein konne. Nun macht Steiner seIber oft darauf aufinerksam, daB ein vollstandig entwicklungsgerechter Lehrplan nicht moglich ist, denn die Waldorf­schulen erziehen nicht ffu irgendeine Kultur sondern ffu die Kultur ihres Umfeldes. Es sind also sinnvolle ulld notwendige Kompromisse zu schlieBen. DaB hier je etwas ,,nicht eingestanden" ware, wie die Autoren ermahnend betonen, ist unverstandlich.

Bei der Zusammenschau der zahlreichen mtindlichen AuBerungen Steiners zum Lehrplan erhalt man vielmehr ein ganz anderes Bild: Erziehung hat sich im Spannungs­feld von Entwicklungsanforderungen des Kindes und den Kulturbedingungen, in welche das Kind und der Jugendliche hineinwachsen, zu entfalten. FUr das jtingere Kind stehen die Entwicklungsforderungen - aber niemals ausschlieBlich - im Vordergrund, ffu den Jugendlichen die Inhalte und Forderungen der zeitgenossischen Kultur.

Auf Seite 295f. auBern die Autoren ihre Vermutungen tiber das Entstehen von Wal­dorflehrplanen. Da wir als Beteiligte speziell im Fach Mathematik die Diskussionen der vergangenen 35 Jahre recht genau tiberblicken konnen, mochten wir unser Erstaunen tiber die vorgebrachten Ansichten zum Ausdruck bringen. Wie andere Fachgruppen tref­fen sich jahrlich die Mathematiklehrer an Waldorf schul en zu Fachtagungen, in denen neuere Entwicklungen in der Mathematik, der Mathematikdidaktik und der eigenen Un­terrichtspraxis vorgestellt und diskutiert werden. Das Ergebnis kann die Aufnahme neuer

(JMD 18 (97) 2/3, S. 249-251)

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Gebiete - wie der Infonnatik - oder deren Ablehnung, wie zum Beispiel der sogenannte ,,Mengenlehre" in den 70er Jahren sein. Dabei mu13 allerdings beriicksiehtigt werden, daB Lehrplanentwickelungen niemals verbindlichen Charakter fUr den einzelnen Lehrer ha­ben konnen, sondem wechselseitige Anregungen der Lehrer als Angebote zu verstehen sind. Den Autoren ist allerdings zugute zu halten, daB diese Diskussionen selten publi­ziert werden, und so der Einblick in die tatsachliche Diskussion schwer, wenn nicht un­moglich ist. Allerdings - und das deckt sieh zum Teil mit den Anmerkungen der Autoren - sind die Veranderungen im Lehrplan der Oberstufe wesentlich deutlieher als im Unter­stufenbereich. Hier ist zwar intensiv an der padagogischen Aufarbeitung des Lehrplanes gearbeitet worden, zu einer volligen Anderung der Konzeption gab es aber keinen AnlaB.

Die Hauptsorge bei allen Lehrplandarstellungen bleibt, daB sie nicht irgend etwas dogmatisch festschreiben. Bevorzugt werden deshalb eine Vielzahl konkurrierender Unterrichtsvorschlage. Man mochte eben nicht einen zwar demokratisch legitimierten, dann aber verbindlichen Lehrplan, sondem freie Konkurrenz zahlreicher Anregungen, aus denen der einzelne Lehrer seine Auswahl nach eigener Entscheidung trifft oder neue Wege entwickelt.

Ganz unverstandlich ist uns, wenn die Autoren das Erstellen einer wissenschaftlich dringend benotigten Quellensammlung als ,,Hang zur weltanschaulichen Orthodoxie" betrachten (Seite 296). Hier konnen wir uns des Eindruckes nicht erwehren, daB Teile der Darstellung gar nicht der sachlichen Auseinandersetzung sondem einer ideologischen Stigmatisierung dienen solI en.

Bedauerlich ist, daB der Versuch, die insbesondere von Schuberth in den Hauptlinien mehrfach skizzierte Theorie der mathematischen Begriffsbildung als "eigenwillig" abzu­tun, ohne sich in den Gesamtkontext der Argumentation einzulassen. Gerade hier ware aber aus unserer Sieht eines der interessantesten gemeinsamen Arbeitsfelder von traditio­neller Mathematikdidaktik und Waldortpadagogik. Wenn hier auch von unserer Seite Forschung bei weitem nicht abgeschlossen ist - worauf ausdriicklich hingewiesen wurde1

- sollte die Bedeutung eines begrifflichen Rahmens fUr neue Fragestellungen nicht unter­schatzt werden. Dazu sind allerdings Diskussionen mit Fachkollegen wiinschenswert, die am Problem der mathematischen BegritIsbildung seIber arbeiten.

AbschlieBend mochten wir feststellen: Wir begriiJ3en das Anliegen der Autoren, in einen kritischen Dialog mit waldorfpadagogisch orientierten Fachdidaktikem einzutreten. Wir sind jederzeit bereit, diesen Dialog aufzugreifen und konnen u.V. auch schwer zugangli­che Quellen zu speziellen Fragen bereitstellen. Wenig hilfreich erscheinen uns Versuche, die Grundlagen der Waldorfpadagogik als unverstandlich abzutun. Die Tatsache, daB die von Rudolf Steiner verwendeten Begriffe und Forschungsmethoden nicht den Fonnen des modemen naturwissenschaftlichen Materialismus entsprechen, ist kein Einwand gegen ihre Berechtigung. Der bloBe Konsens, daB gewohnlich so nicht gedacht werde, ist seIber noch kein Argument. Gerade die Mathematik zeigt deutlieh genug, daB wissen­schaftliehe Ergebnisse ein der Sache angemessenes Diskussionsniveau benotigen. Selbst-

I Michaela Glockler: Das Schulkind - Gemeinsame Aufgaben von Arzt und Lehrer, S. 242, 3. Konstitutionell bedingte Rechenstorungen, Domach 1992

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versHindlich miissen die Waldorfpadagogik und ihre anthroposophischen Grundlagen sich der Diskussion stell en. Geme wollen wir versuchen, dort wo Gesprachsbereitschaft besteht, zu einer Verstandigung beizutragen.

Arnold Bernhard Eggfluhstr. 37 CH-4153 Reinach

Georg Glockler Mathematisch-Astronomische Sektion am Goetheanum CH-4143 Domach

Prof. Dr. Ernst Schuberth Freie Hochschule fUr anthroposophische Padagogik Zielstr.28 68169 Mannheim