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Meinung und Debatte 27.12.16 / Nr. 302 / Seite 10 / Teil 01 NZZ AG Der innere und der äussere Osten Die aufgeheizte Debatte über die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 hat in Bezug auf die europäische Selbstwahrnehmung starke Verwerfungen hin- terlassen. Es ist fahrlässig und fatal, wenn der Westen den Osten moralisch ausgrenzt. Die symbolische Teilung des Kontinents hat dessen inneren Zusammenhalt stark geschwächt. Gastkommentar von Oliver Jens Schmitt Als nach der Grenzöffnung im Spätsommer 2015 die Zahl der Migranten und Flüchtlinge Deutsch- land und Österreich überforderte, wurde der Ruf nach «europäischer Solidarität» erhoben. Dafür, dass diese Forderung auf zum Teil entschiedene Ablehnung stiess, machten Berlin und Wien vor allem eine Ländergruppe verantwortlich, die sie als «Osteuropa» bezeichneten. Die Staaten vom Balti- kum über Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien hatten sich dem Versuch einer ein- seitig oktroyierten Quotenpolitik für Flüchtlinge und Migranten verweigert. Politische und mediale Verantwortungsträger in den beiden deutschsprachigen Staaten übten gegen diese Staaten massiven diplomatischen und auch mentalen Druck aus. Die Beschwörung eines ver- meintlich geschlossenen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Ostens rief nicht nur Geister des Kalten Krieges hervor, sondern konstruierte ein moralisches Gefälle in EU-Europa. Dieses wurde in den Raum eingeschrieben: West gegen Ost. Jene Staaten, die 2004 und 2007 in die EU auf- genommen worden waren, wurden zu Europäern zweiter Klasse degradiert, denen deutliche Lektio- nen zu «europäischen Werten» zu erteilen seien. Offene Flanke Was vor einem Jahr in ungewöhnlicher Erregtheit gefordert und behauptet wurde – Sanktionen, Aus- schluss aus der EU und der europäischen Werte- gemeinschaft –, zeitigt mittlerweile realpolitische Wirkung. Die Bilanz der primär deutschen Selbst- überhöhung ist bedrückend: Die deutsche Migra- tionspolitik hat im Westen des Kontinents den Bre- xit befördert und populistische Strömungen be- stärkt. Im Osten aber, und dies ist mindestens eben- so bedenklich, wurde der ohnehin schon starken russischen Propaganda ohne Not eine Flanke geöff- net. Und diese Flanke weitet sich im Balkan nach Südosten, wo die Türkei ebenfalls seit längerem agiert wie Russland: als Systemkonkurrenz, die sich als auch moralisch überlegene Macht sieht, als Alternative zu dem als dekadent und verkommen betrachteten Westen des Kontinents, für den der polemische Begriff «Gayropa» verwendet wird. Innert eines Jahres baute Russland seinen Ein- fluss in der EU und deren unmittelbarer Nachbar- schaft bedeutend aus. Der Sieg prorussischer Kräfte bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Bulgarien und der Republik Moldau zeigt dies deutlich. Die europäische Peripherie ist geschwächt und teilweise schon ins Rutschen geraten. Die symbolische Teilung des Kontinents in West und Ost ist in der überreizten Stimmung des Herbsts 2015 ohne zwingenden Grund herauf- beschworen worden. Sie erfolgte auch ohne Blick auf die geostrategischen Konsequenzen. Die Ver- räumlichung von Wertehaltungen – hier ein kosmo-

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Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

# NZZ AG

BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

Seite 21

Meinung und Debatte 27.12.16 / Nr. 302 / Seite 10 / Teil 01

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Der innere undder äussereOstenDie aufgeheizte Debatte über die Flüchtlingskrise des Jahres2015 hat in Bezug aufdie europäische Selbstwahrnehmung starke Verwerfungen hin-terlassen. Es ist fahrlässigund fatal, wenn der Westen den Osten moralisch ausgrenzt. Diesymbolische Teilungdes Kontinents hat dessen inneren Zusammenhalt starkgeschwächt.Gastkommentar von Oliver Jens Schmitt

Als nach der Grenzöffnung im Spätsommer 2015die Zahl der Migranten und Flüchtlinge Deutsch-land und Österreich überforderte, wurde der Rufnach «europäischer Solidarität» erhoben. Dafür,dass diese Forderung auf zum Teil entschiedeneAblehnung stiess, machten Berlin und Wien vorallem eine Ländergruppe verantwortlich, die sie als«Osteuropa» bezeichneten. Die Staaten vom Balti-kum über Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarnund Rumänien hatten sich dem Versuch einer ein-seitig oktroyierten Quotenpolitik für Flüchtlingeund Migranten verweigert.

Politische und mediale Verantwortungsträger inden beiden deutschsprachigen Staaten übten gegendiese Staaten massiven diplomatischen und auchmentalen Druck aus. Die Beschwörung eines ver-meintlich geschlossenen, nationalistischen undfremdenfeindlichen Ostens rief nicht nur Geisterdes Kalten Krieges hervor, sondern konstruierteein moralisches Gefälle in EU-Europa. Dieseswurde in den Raum eingeschrieben: West gegenOst. Jene Staaten, die 2004 und 2007 in die EU auf-genommen worden waren, wurden zu Europäernzweiter Klasse degradiert, denen deutliche Lektio-nen zu «europäischen Werten» zu erteilen seien.

Offene FlankeWas vor einem Jahr in ungewöhnlicher Erregtheit

gefordert und behauptet wurde – Sanktionen, Aus-schluss aus der EU und der europäischen Werte-gemeinschaft –, zeitigt mittlerweile realpolitischeWirkung. Die Bilanz der primär deutschen Selbst-überhöhung ist bedrückend: Die deutsche Migra-tionspolitik hat im Westen des Kontinents den Bre-xit befördert und populistische Strömungen be-stärkt. Im Osten aber, und dies ist mindestens eben-so bedenklich, wurde der ohnehin schon starkenrussischen Propaganda ohne Not eine Flanke geöff-net. Und diese Flanke weitet sich im Balkan nachSüdosten, wo die Türkei ebenfalls seit längeremagiert wie Russland: als Systemkonkurrenz, die sichals auch moralisch überlegene Macht sieht, alsAlternative zu dem als dekadent und verkommenbetrachteten Westen des Kontinents, für den derpolemische Begriff «Gayropa» verwendet wird.

Innert eines Jahres baute Russland seinen Ein-fluss in der EU und deren unmittelbarer Nachbar-schaft bedeutend aus. Der Sieg prorussischerKräfte bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen inBulgarien und der Republik Moldau zeigt diesdeutlich. Die europäische Peripherie ist geschwächtund teilweise schon ins Rutschen geraten.

Die symbolische Teilung des Kontinents in Westund Ost ist in der überreizten Stimmung desHerbsts 2015 ohne zwingenden Grund herauf-beschworen worden. Sie erfolgte auch ohne Blickauf die geostrategischen Konsequenzen. Die Ver-räumlichung von Wertehaltungen – hier ein kosmo-

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Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

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BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

Seite 21

Meinung und Debatte 27.12.16 / Nr. 302 / Seite 10 / Teil 02

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politischer Westen, da ein national verschlossenerOsten – gab schon im Jahr 2015 die Wirklichkeit inEuropa nur verzerrt wieder. 2016 ist sie obsolet.Deutschland selbst ist in der Frage von Migrationund Flucht tief gespalten. In Frankreich zeichnetsich eine allgemeine Hinwendung zu nationalkon-servativen Positionen ab. Ähnliches ist in den Nie-derlanden zu erwarten. Schweden und Österreichhaben sich migrationspolitisch von Deutschlanddistanziert.

Quer laufende BruchlinienKaum ein europäisches Land hat die GemütslageDeutschlands im Herbst 2015 verstanden. Niemandist bereit, die Folgen einer deutschen Politik zu tra-gen, die in Europa nicht abgestimmt worden ist. ImOsten der EU hingegen sind, wie etwa das polni-sche Beispiel zeigt, liberale Kräfte durchaus in derLage, oppositionelle Wirkung gegen eine national-konservative Regierungspolitik zu entfalten. We-der der Westen noch der Osten Europas bilden da-her kompakte politisch-kulturelle Blöcke. DieBruchlinien der Debatte über das gesellschaftlicheSelbstverständnis, über europäische Identität, Mi-gration oder Geschlechterrollen, verlaufen viel-mehr quer durch den Kontinent.

Osten ist aber auch aus einem anderen Grundkeine sinnvolle Analyse-Kategorie. Denn heute be-stehen zwei Gestalten des Ostens in Europa, eininnerer und ein äusserer. Der innere Osten umfasstjene Staaten vom Baltikum bis ans Schwarze Meer,die in den letzten zwölf Jahren in die EU aufgenom-men worden sind. Diese Gesellschaften streben alleeindeutig nach Westen, auch wenn Präsidenten undPremiers in Tschechien oder Ungarn Sympathienfür Russland bekunden.

Doch findet die Abstimmung nicht nur an denUrnen statt, sondern auch mit den Füssen. Millio-nen Polen, Rumänen, Bulgaren haben sich aufanderem Wege für den Westen entschieden: Siesind in den letzten beiden Jahrzehnten ausgewan-dert und fehlen oft als aufgeklärtes, demokratischesElement in ihren Herkunftsstaaten. Die Staatendes inneren Ostens waren also Objekt des deut-schen Ausgrenzungsdiskurses, obwohl gerade ihreBürger durch Migration und zahlreiche wirtschaft-liche und kulturelle Bande eng mit den westlichenund südlichen EU-Staaten verbunden sind.

Der äussere Osten hingegen bezeichnet Russ-land und seinen Machtbereich. Zwar ist Russlandvon Sanktionen betroffen, deren Fortführung dieEU kürzlich beschlossen hat. Doch gerade jeneKreise, die den inneren Osten am liebsten ausEuropa entfernen würden, zeigen Russland gegen-über oftmals Rücksicht. Und selbst russlandkriti-sche Stimmen verwenden nicht jene tugendüber-höhte Sprache, wie sie gegenüber dem innerenOsten allzu oft zu hören ist. Innerer und äussererOsten stehen historisch in einem schwierigen Ver-hältnis zueinander. Russische und sowjetischeDominanz im 19. und in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts hat tiefe Traumatisierungen ver-ursacht.

Nach 1989 suchte und fand der innere Osten beider Nato Schutz und bei der EU die Verwirklichungder europäischen Wiedervereinigung nach vierJahrzehnten der Teilung in Westen und «Ostblock».Mittlerweile ist dieser Prozess aber bedroht: Russ-land greift weit in seinen früheren Einflussbereichaus. Der künftige Präsident der USA hat Sicher-

heitsgarantien für den inneren Osten relativiert.Mit Francois Fillon und Marine Le Pen besitzenzwei russlandfreundliche bzw. -loyale Politiker Aus-sichten auf das französische Präsidentenamt.Rechtspopulisten wie die FPÖ lehnen sich offen anMoskau an. Rückhalt kann der innere Osten vorallem an Deutschland finden.

Der deutsche und zeitweise auch österreichischeAusgrenzungsdiskurs von 2015 muss vor diesemHintergrund umso verstörender wirken. Das Euro-päischsein des inneren Ostens wurde grundsätzlichinfrage gestellt. Entscheidungsträger in Berlin undWien verlangten vom inneren Osten kulturelle Ein-stellungen, die auch im Westen noch vor wenigenJahrzehnten nicht bestanden hatten – man denkenur an die lang dauernde strafrechtliche Verfolgunggleichgeschlechtlicher Beziehungen. Indem einezugespitzte Wertedebatte geführt wurde, unter-stützten Berlin und auch Brüssel indirekt, unwil-lentlich, aber höchst wirksam die russische Offen-sive, die sich ebenso auf Waffen stützt wie auf einengezielten Kulturkampf mit EU-Europa. Dass inEU-Europa selbst eine West-Ost-Teilung herauf-beschworen wurde, ist vor diesem Hintergrundfatal. Es wirkt, als ob hier ein mentaler Rückzug aufden alten Eisernen Vorhang erfolgen würde. Derinnere Osten galt gesellschaftspolitisch plötzlich alshoffnungslos reaktionärer Fall.

Ein Herz für EuropaDie primär deutsche Migrations- und Wertepolitikführte die Gruppe der Visegrad-Staaten, einstZweckbündnis Polens, Tschechiens, der Slowakeiund Ungarns im Vorfeld des EU-Beitritts, wiederenger zusammen. Geeint werden sie von der Ab-lehnung deutscher Quoten-Oktrois, getrennt aberdurch die Haltung zu Russland. Polen und die bal-tischen Staaten sehen sich von Russland bedrohtund suchen militärischen Schutz im Westen. Beson-ders auf dem Gebiet des alten Österreich-Ungarnzeichnet sich etwas anderes ab. Die deutsche Politikbewirkte ungewollt eine Annäherung von ehemali-gen Kronländern. Diese eint die Ablehnung derstarken Zuwanderung von Muslimen, der Gesell-schaftspolitik des linksliberalen Mainstreams undder derzeitigen Russlandpolitik der EU. Ungarn istbis in den Balkan hinab regionalpolitisch aktiv. Derfreiheitliche Präsidentschaftskandidat in Öster-reich wollte sein Land aussenpolitisch in den weite-ren pannonischen Raum ausrichten. Weniger einVisegrad-«Ostblock», sondern ein pannonischerVerbund und eine polnisch-baltische Interessen-gemeinschaft zeichnen sich ab, wenn auch vage undmit inneren Widersprüchen. Ihre Herausbildunggehört zu den Folgeerscheinungen der einseitigenGrenzöffnung vor einem Jahr.

Wie kann auf diese unheilvolle SchwächungEU-Europas reagiert werden? Die politische Spra-che hat sich schon gemässigt. Eine Verräumlichungvon Debatten ist zu vermeiden. Sie emotionalisiertohne Not und ist sachlich falsch. Klarer zu erken-nen ist, dass das unbesonnene Reden von West undOst einen Keil in EU-Europa treibt und das EU-Vorfeld schwächt. In Rumänien, neben PolenHauptpfeiler der Nato gegen den äusseren Osten,haben postkommunistische Oligarchen eben dieMacht wieder übernommen. In den Kleinstaatendes Balkans kreuzen sich die EinflussversucheMoskaus und der Türkei, während Brüssels Armschwächer wird. Die Kernstaaten der EU sollten

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Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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Meinung und Debatte 27.12.16 / Nr. 302 / Seite 10 / Teil 03

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daran denken, dass nirgendwo mehr Demonstran-ten EU-Fahnen unter Lebensgefahr schwenkten alsauf dem Kiewer Maidan. Am Rande der EU ist oft-mals klarer als im alten Kerngebiet, was Europaausmacht: demokratische Rechtsstaatlichkeit, star-ke Institutionen und klare Sicherheitsgarantien.

Oliver Jens Schmitt, in Basel geboren, ist Professor fürosteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Zu-letzt ist 2016 bei Zsolnay erschienen: «Capitan Codreanu.Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers».