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I. Einleitung »Das Interesse an der Melancholie ist heute lebhafter denn je. Sollte der Grund nicht darin bestehen, daß der Gegenstand jenseits aller historischen Bedeutung Probleme aufwirft, die den Menschen von heute in besonderer Weise berüh- ren?« Mit dieser Frage eröffnet Raymond Klibansky im Jahre 1988 die deutsch- sprachige Übersetzung seines gemeinsam mit Erwin Panofsky und Fritz Saxl verfaßten Buches >Saturn und Melancholien Diese Monographie, die seit ihrer Erstpublikation in den sechziger Jahren zum vielbewunderten Klassiker gedie- hen ist, markiert den Beginn der modernen Melancholieforschung, die sich bis in die aktuelle Gegenwart hinein einer ungebrochenen Aufmerksamkeit er- freut. Gelehrte Abhandlungen und populärwissenschaftliche Darstellungen bedienen ebenso wie zusammenfassende Querschnitte und detailorientierte Einzelstudien das breite Interesse einer kontinuierlich anwachsenden Leser- schaft. Wo aber liegen die Ursachen für die stetig steigende Aufmerksamkeit, die der Melancholie und ihrer komplexen Diskursgeschichte von vielen Seiten entgegengebracht wird? Wie die von Raymond Klibansky formulierte Frage bereits nahelegt, gründet das immense Interesse vor allem in der Aktualität der Melancholie, in ihrer zeithistorischen Relevanz am Ende des zwanzigsten Jahr- hunderts. Die Melancholie, die ein breites Spektrum psychischer Verhaltens- modi umfaßt und in traurigem Lebensüberdruß oder depressiver Angst konkrete Gestalt annehmen kann, scheint sich vor allem in der modernen Lei- stungs- und Konsumgesellschaft auszubreiten, die hinter der Fassade eines ra- sant wachsenden Wohlstandes oft zu persönlicher Vereinsamung und existen- tiellem Orientierungsverlust führt. Die Melancholie - so haben renommierte Gesellschaftskritiker wiederholt erklärt - ist der zu zahlende Preis für den be- schleunigten Fortschritt der Zivilisation. Sie ist die schleichende Krankheit mo- derner Gesellschaften. Das gegenwärtige Interesse an der Melancholie ist zwar größer als je zuvor, die kritische Auseinandersetzung mit ihr reicht jedoch bis in die Antike zu- rück. Bereits im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert untersuchen bedeutende Mediziner und Philosophen den geheimnisvollen Einfluß der schwarzen Galle auf die psychische Konstitution des Menschen. In der Spätan- tike gesellen sich dann weitere Wissenschaften hinzu, die Theologie sowie die Astrologie. Auch die Künste entdecken schon früh die Schwermut als darstel- lungswürdigen Gegenstand. Die Bewertung der Melancholie - und das ist ι Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 1/10/14 8:33 AM

Melancholie im Werk Goethes (Genese - Symptomatik - Therapie) || I. Einleitung

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I. Einleitung

»Das Interesse an der Melancholie ist heute lebhafter denn je. Sollte der Grund nicht darin bestehen, daß der Gegenstand jenseits aller historischen Bedeutung Probleme aufwirft , die den Menschen von heute in besonderer Weise berüh-ren?« Mit dieser Frage eröffnet Raymond Klibansky im Jahre 1988 die deutsch-sprachige Übersetzung seines gemeinsam mit Erwin Panofsky und Fritz Saxl verfaßten Buches >Saturn und Melancholien Diese Monographie, die seit ihrer Erstpublikation in den sechziger Jahren zum vielbewunderten Klassiker gedie-hen ist, markiert den Beginn der modernen Melancholieforschung, die sich bis in die aktuelle Gegenwart hinein einer ungebrochenen Aufmerksamkeit er-freut. Gelehrte Abhandlungen und populärwissenschaftliche Darstellungen bedienen ebenso wie zusammenfassende Querschnitte und detailorientierte Einzelstudien das breite Interesse einer kontinuierlich anwachsenden Leser-schaft. Wo aber liegen die Ursachen für die stetig steigende Aufmerksamkeit, die der Melancholie und ihrer komplexen Diskursgeschichte von vielen Seiten entgegengebracht wird? Wie die von Raymond Klibansky formulierte Frage bereits nahelegt, gründet das immense Interesse vor allem in der Aktualität der Melancholie, in ihrer zeithistorischen Relevanz am Ende des zwanzigsten Jahr-hunderts. Die Melancholie, die ein breites Spektrum psychischer Verhaltens-modi umfaßt und in traurigem Lebensüberdruß oder depressiver Angst konkrete Gestalt annehmen kann, scheint sich vor allem in der modernen Lei-stungs- und Konsumgesellschaft auszubreiten, die hinter der Fassade eines ra-sant wachsenden Wohlstandes oft zu persönlicher Vereinsamung und existen-tiellem Orientierungsverlust führt. Die Melancholie - so haben renommierte Gesellschaftskritiker wiederholt erklärt - ist der zu zahlende Preis für den be-schleunigten Fortschritt der Zivilisation. Sie ist die schleichende Krankheit mo-derner Gesellschaften.

Das gegenwärtige Interesse an der Melancholie ist zwar größer als je zuvor, die kritische Auseinandersetzung mit ihr reicht jedoch bis in die Antike zu-rück. Bereits im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert untersuchen bedeutende Mediziner und Philosophen den geheimnisvollen Einfluß der schwarzen Galle auf die psychische Konstitution des Menschen. In der Spätan-tike gesellen sich dann weitere Wissenschaften hinzu, die Theologie sowie die Astrologie. Auch die Künste entdecken schon früh die Schwermut als darstel-lungswürdigen Gegenstand. Die Bewertung der Melancholie - und das ist

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zweifellos das Fesselndste an ihrer langen Diskursgeschichte - erweist sich da-bei von Anfang an als äußerst ambivalent. Während die hippokratische Medi-zin die Melancholie als schädigenden Körpersaft analysiert, der die Gesundheit des Menschen extrem gefährdet, deutet sie der bekannte Aristoteles-Schüler Theophrast im vierten vorchristlichen Jahrhundert als konstitutive Vorausset-zung für ingeniöse Schöpferkraft und außerordentliche intellektuelle Leistun-gen. Natürlich räumt auch Theophrast ein, daß von der Melancholie eine be-sondere Gefahr für das seelische Gleichgewicht des Menschen ausgehe. Ent-scheidend ist für ihn jedoch die inspirierende Kraft der Melancholie, die im Rahmen der antiken Humoraltheorie keinem anderen Körpersaft zugeschrie-ben wird. Die wissenschaftliche und künstlerische Deutung der Melancholie ist bis in die Neuzeit hinein von dieser Dialektik geprägt. Auf der einen Seite be-tont man ihre lähmende und zerstörerische Gewalt, ihre zersetzende und jeden Seelenfrieden untergrabende Macht; auf der anderen Seite akzentuiert man ihre inspirierende Wirkung sowie die durch sie ermöglichten Einsichten, die den Bereich des Empirischen überschreiten. Vor allem während des achtzehnten Jahrhunderts kommt es zu einer scharfen und extrem polarisierenden Ausein-andersetzung um die beiden widersprüchlichen Seiten der Melancholie: Wäh-rend die Repräsentanten der Aufklärung die Melancholie kritisieren und als wi-dervernünftige Schwärmerei oder weitabgewandte Traurigkeit diskreditieren, verehren die Anhänger der Empfindsamkeit in ihr eine edle Seelenstimmung, die nur den sensiblen Gefühlsmenschen auszeichne, der sich den gesellschaftli-chen Verwendungsansprüchen weitgehend entziehe und ein erfülltes Dasein jenseits aller Verhaltensnormierung erträume.

Die Melancholie impliziert unter positiven wie negativen Vorzeichen eine Vielzahl psychischer Symptome und umfaßt nicht nur Depressionen im streng medizinischen Sinne, sondern auch leichtere Grade der Trauer sowie zur Krea-tivität animierende Gemütszustände. Ganz unabhängig davon, ob man die Me-lancholie als Krankheit moderner Gesellschaften, als humoralphysiologisch zu erklärende Schädigung der menschlichen Psyche oder aber als eine die Zeiten überdauernde Auszeichnung des künstlerischen Genies ansieht: Immer ist et-was Dunkles und Bizarr-Abgründiges im Spiel, etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses, das Interesse weckt und zur Auseinandersetzung anregt. An der Relevanz des Melancholiebegriffs für die europäische Kulturgeschichte kann seit den umfangreichen Forschungen von Raymond Klibansky, Erwin Panof-sky und Fritz Saxl kein Zweifel mehr bestehen. In jahrzehntelanger Kleinarbeit haben sie die Melancholie in ihren verschiedenen Schattierungen sowie weit-verzweigten Traditionssträngen untersucht und die Ergebnisse ihrer Arbeit in dem bereits oben erwähnten Buch >Saturn und Melancholie< zusammengetra-gen. Da sich die kulturhistorischen Forschungen von Klibansky, Panofsky und Saxl auf den Zeitraum zwischen Antike und früher Neuzeit beschränken, ha-ben andere Wissenschaftler den Weg der Melancholie inzwischen weiterver-

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folgt - von der Aufklärung über die Romantik bis in die Gegenwart hinein. Die Diskursgeschichte der Melancholie und ihre literarische Rezeption während der letzten dreihundert Jahre ist mittlerweile relativ gut erforscht. Das dichteri-sche Werk Goethes hingegen blieb in diesem Kontext bislang weitgehend unbe-achtet, was insofern besonders erstaunlich ist, als gerade Goethe die unter-schiedlichen europäischen Melancholietraditionen sehr gut kannte und seine bedeutendsten Werke unverkennbar in ihren Horizont stellte. Goethe und die Melancholie - das ist die Forschungslücke, die von der vorliegenden Studie ge-schlossen werden soll.

ι . Melancholie und Melancholiker im Werk Goethes

Immer wieder rückt Goethe ausgesprochene Melancholiker ins Zentrum seiner Dichtungen. Werther und Tasso, Faust und Wilhelm, Mignon und der Harfner, Eduard und Ottilie - sie alle und noch viele andere erweisen sich als mehr oder weniger melancholisch veranlagte Protagonisten, die freilich unter ganz ver-schiedenartigen Formen der Melancholie zu leiden haben. Ihre Charaktere sind nach unterschiedlichen Melancholiekonzepten modelliert. In seinem ersten Roman etwa rekurriert Goethe auf ein psychopathologisches Konzept, das die Melancholie als lähmende und zerrüttende Seelenkrankheit begreift. Wenn Werther während seines heftigen Disputs mit Albert von der hoffnungslosen >Krankheit zum Tode< spricht, dann bezieht er sich exakt auf jene Tradition, der zufolge die Melancholie eine seelische Erstarrung verursacht und eine jeden Le-benswillen untergrabende Schwermut herbeiführt. Werther unterzieht sich im Verlauf des Romans einer ganzen Anzahl verschiedener Therapieversuche, die aber schließlich alle scheitern, so daß er seinen letzten Ausweg im Suizid er-blickt. Der Suizid indes wird seit den pseudoaristotelischen >Problemata< als Folge einer schweren und ruinösen Melancholie diagnostiziert.

Im >Tasso< greift Goethe auf die seit der italienischen Renaissance immer wieder neu exponierte Vorstellung einer kreativen Dichtermelancholie zurück. Der geniale Dichter verdankt seine über jedes Normalmaß hinausgehende Schöpferkraft den Wirkungen der Melancholie, zugleich aber muß er für diese Gabe mit jenen Leiden bezahlen, die sich in Isolation, Handlungsohnmacht so-wie fortschreitendem Realitätsverlust konkretisieren. Im >Tasso< verschränken sich zwei Melancholietraditionen - das bereits im >Werther< hervortretende psychopathologische Modell wird mit einem inspirationstheoretischen Kon-zept verbunden. Ein dem Tassodrama in vielerlei Hinsicht verwandtes Gedicht umkreist ebenfalls die von der italienischen Renaissancephilosophie nobilitier-te Künstlermelancholie. Es handelt sich um den Vierzeiler >Zart Gedicht, wie Regenbogens den Goethe in die zwischen 1 8 1 2 und 1815 entstandene Samm-lung >Sprichwörtlich< integriert hat. In diesem Vierzeiler wird das vollendete

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Gedicht mit einem Regenbogen verglichen, der bereits in antiken Mythen als Symbol universaler Harmonie gedeutet wird. Wie aber der Regenbogen nur am dunklen Himmelsgewölbe erscheint, so entspringt auch das vollendete Gedicht allein einer melancholischen Seelenverfassung: »Zart Gedicht, wie Regen-bogen, / Wird nur auf dunklen Grund gezogen; / Darum behagt dem Dichter-genie / Das Element der Melancholie« (FA 2, 395).

Im >Werther< wie im >Tasso< dominiert die tragische und letztlich unabwend-bare Gefährdung, die von der Melancholie ausgeht. In dem weniger bekannten Singspiel >Lila< hingegen stellt Goethe eine erfolgreiche Therapie dar, die zur Uberwindung der Melancholie und zur vollständigen seelischen Genesung führt. Lila ist wie Werther von Natur aus eine Melancholikerin. Sie neigt zur Schwermut und vergräbt sich immer wieder in »tiefen Melancholien«, wie aus den Worten des Grafen Friedrich hervorgeht. Als sie eines Tages die Unglücks-botschaft vom vermeintlichen Tod ihres Gatten erhält, verschärft sich die schwärmerische Melancholie, die zuletzt in depressive Wahnvorstellungen um-schlägt. Herbeigerufene Ärzte, deren Behandlungsmethoden auf den traditio-nellen Lehren der Humoralpathologie beruhen, können nicht helfen. Allein der Arzt Verazio weiß Rat: Er inszeniert ein dramatisches Feenspiel, in dem Li-las Wahnphantasien nachgestellt und dadurch schließlich geheilt werden. Ve-razio wendet die Heilmethode des >Psychodramas< an, das Goethe - allerdings unter anderem Namen - aus den medizinischen Schriften seiner Zeit vertraut war.

Auch in anderen Werken thematisiert Goethe die existentielle Gefährdung sowie die zuweilen gelingende Heilung melancholischer Charaktere. In den >Lehrjahren< begegnen gleich mehrere von der Melancholie gezeichnete Figu-ren - Wilhelm Meister, Aurelie und Mignon, der Harfner und Sperata. Wilhelm Meister vertieft sich auf seinem langen Bildungsweg wiederholt in den >Klassi-ker< der melancholischen Literaturgeschichte. Früh entdeckt er seine besonde-re Affinität zu Shakespeares Hamlet, dessen Rolle er während seines Theater-engagements bei Serlo mehrfach zu spielen versucht. Wilhelm Meister über-windet schließlich seine Melancholie, indem er sich dem Tätigkeitspostulat der Turmgesellschaft unterstellt. Mignon und der Harfner jedoch zerbrechen eben-so wie Aurelie auf tragische Weise an der Melancholie. Ihr Tod bildet den dunk-len Hintergrund, von dem sich Wilhelms Lebensweg als ein Weg der Heilung und Genesung abhebt.

Im >Faust< aktualisiert Goethe das seit Rufus von Ephesos etablierte Kon-zept der Gelehrtenmelancholie. Der Wissenschaftler, der ständig hinter dicht bedruckten Folianten hockt, über komplexe Zusammenhänge reflektiert und dadurch seine vitalen Bedürfnisse vernachlässigt, verfällt schließlich den An-fechtungen der Melancholie. Ebenso überwältigt ihn die Schwermut, wenn er sich der Spekulation hingibt und nach absoluter Erkenntnis strebt, die ihm letztlich doch immer verschlossen bleibt. Wie die Goethe-Philologie bereits

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mehrfach nachweisen konnte, korrespondiert die Eingangsszene des >Faust< über weite Strecken mit dem berühmten Kupferstich Albrecht Dürers, der be-reits zu Beginn des 16. Jahrhunderts die melancholischen Leiden des Gelehr-tendaseins ins Bild setzt. Goethe hat der Anfangspartie des >Faust< jedoch noch weitere Melancholietraditionen eingeschrieben. So verfällt nach mittelalterli-cher und frühneuzeitlicher Vorstellung der Mensch dem Teufel, wenn er seine Melancholie nicht bezwingen und überwinden kann. In den >Tischgesprächen< Luthers etwa heißt es: »Ein melancholisches Haupt ist ein Badehaus des Teu-fels«. Wenn sich nun Faust im Verlauf der ersten Szenen in immer depressivere Gemütszustände hineinsteigert und in der zweiten Studierzimmer-Szene sogar die höchsten menschlichen Ideale verflucht, so begibt er sich gewissermaßen in den Machtbereich des Teufels, der in Gestalt Mephistos sogleich zur Stelle ist und mit Faust den bekannten Pakt abschließt.

Auch in den > Wahlverwandtschaften, dem vielleicht abgründigsten Werk Goethes, dominiert die Melancholie. Vor allem die beiden Protagonisten Edu-ard und Ottilie sind von ihr gezeichnet. Deutlich wird dies unter anderem, wenn man die subtile Symbolsprache des Romans entschlüsselt und die ver-streuten Hinweise zur Psychologie der Figuren zusammenträgt. Eduard und Ottilie nehmen wiederholt die topische Melancholiker-Haltung ein, indem sie ihren Kopf seitlich in die Hand legen und diese auf den Ellenbogen stützen. Auch andere Gesten und Verhaltensweisen demonstrieren die melancholische Veranlagung der Protagonisten - die mehrfach erwähnten Kopfschmerzen, un-ter denen Eduard leidet, die häufig exponierte Langsamkeit und Schweigsam-keit Ottiliens sowie ihr ausgeprägter Hang zum Fasten. Ottilie verrät bereits zu Beginn des Romans eine Tendenz zur Weltflucht und zur Aufhebung ihrer kör-perlichen Existenz, die durch das unglückliche Verhältnis mit Eduard in hohem Maße forciert wird und schließlich in einer tödlich endenden Nahrungsverwei-gerung kulminiert. Auch Charlotte und der Hauptmann sind nicht frei von me-lancholischen Verstimmungen, wenngleich sie diese besser zu beherrschen wis-sen. Kennzeichnend sind ihre auffälligen Versuche, alles an Vergänglichkeit und Tod Erinnernde aus dem Bezirk des Landschlosses zu eliminieren. Eine gleichsam melancholiefreie Zone läßt sich hierdurch dennoch nicht schaffen. Im Gegenteil: Das obsessiv Verdrängte bricht mit umso größerer Gewalt über die Bewohner des adeligen Landsitzes herein.

Goethe greift zwar wiederholt auf die unterschiedlichen Melancholiekon-zepte der europäischen Kulturgeschichte zurück, zugleich aber modifiziert und funktionalisiert er sie auch, um eine eigene dichterische Aussage formulie-ren zu können. Wenn Goethe im >Tasso< etwa das inspirationstheoretische Konzept einer kreativen Künstlermelancholie aktualisiert, dann tut er dies in erster Linie, um so das spezifische Los des modernen Dichters darzustellen, der seine besondere Begabung mit psychischer Labilität, gesellschaftlicher Hand-lungsohnmacht und krankhafter Wahnbildung bezahlen muß. Wenn Goethe

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im ersten Teil des >Faust< schließlich die alte Tradition der Gelehrtenmelancho-lie aufgreift, dann wiederum, um so die verzweifelte Situation des modernen Gelehrten zu rekonstruieren, der unter der Sterilität seines Forscherdaseins lei-det, unter dem von Generationen angehäuften Wissensballast zusammenbricht und in einer schmerzlich empfundenen Entfremdung von der Natur lebt. Ab-schließend bleibt festzuhalten, daß sich die Melancholie bei Goethe im Rahmen ihrer tradierten Konzepte auf einen klar bestimmbaren Ursachenkomplex zu-rückführen läßt. Zu diesem gehören vor allem folgende Eigenschaften und Ver-haltensweisen: die Unfähigkeit, Phantasie und Realität, reiche Innerlichkeit und defizitäre Außenwelt miteinander zu vermitteln; hypertrophe Einbil-dungskraft und eskapistische Flucht in einen weltlosen Subjektivismus; fort-währende Introspektion und steriler Narzißmus; Rückzug in einsame Gegen-den und weltverneinende Entgrenzungssehnsucht; persönliche Traumata, die in sexuellen Konflikten gründen und zu obsessiver Triebabwehr führen; exi-stentieller Orientierungsverlust, der Lebensüberdruß und Todessehnsucht aus-löst.

2. Goethe als Melancholiker

Die meisten literarhistorischen Uberblicksdarstellungen operieren mit dem Konzept einer dialektischen Kulturbewegung: Sie begreifen die Entwicklung der Literatur als fortwährenden Widerstreit konkurrierender Tendenzen und analysieren die Abfolge unterschiedlicher Epochen als antagonistischen Dauerreflex. Blickt man aus dieser Perspektive auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, so provoziert der Rationalismus der Aufklärungszeit den Irra-tionalismus des Sturm und Drang; dieser wird seinerseits durch die Klassik mit ihrem Bekenntnis zur Ordnung und harmonischen Gesetzmäßigkeit abgelöst, bevor dann die Romantik einen erneuten Richtungswechsel vollzieht und an die Stelle des rein innerweltlichen Kräfteausgleichs die Ausrichtung auf ein uto-pisches und allein in unendlicher Progression erreichbares Ideal setzt. Eine sol-chermaßen kategorisierende Literaturbetrachtung erliegt häufig der Gefahr, einzelne Autoren dem übergeordneten Paradigma entsprechend zu klassifizie-ren und damit wesentliche Charakterzüge der Persönlichkeit sowie markante Kennzeichen des Werkes zu ignorieren. Auch im Fall Goethes hat eine allzu schematisch vorgehende Literaturwissenschaft für lange Zeit zentrale Aspekte übersehen. Betrachtete man die Frühromantiker ebenso wie die Anhänger des Sturm und Drang als soziale Außenseiter und weltlose Phantasten, die mit in-nerer Notwendigkeit an den unüberwindbaren Widersprüchen ihrer eigenen Existenz zugrunde gingen, so galt Goethe über Generationen hinweg als klas-sisch-vorbildlicher Autor, der den Hiat zwischen Kunst und Leben zu über-brücken vermochte. Dieses verklärende und zugleich äußerst langlebige Por-

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trät des >Dichterfürsten< geistert auch heute noch durch literaturwissenschaftli-che Arbeiten, insbesondere durch jene Monographien, die den wiederholten Selbststilisierungen des >klassischen< Goethe kritiklos folgen und die aufgesetz-te Maske für das authentische Gesicht nehmen.

Wer sich von der Erhabenheit des dichterischen Selbstbildnisses nicht blen-den läßt, der entdeckt in jedem Lebensabschnitt Goethes dunkle Verschattun-gen und pathologische Abgründe, die mehr als einmal suizidale Gedanken her-aufbeschwören. Goethe hat zeit seines Lebens unter schweren Depressionen gelitten, wovon nicht nur Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, sondern auch zahlreiche Dichtungen zeugen, die auf bemerkenswerte Weise immer wieder um die Melancholie, ihre Ursachen und Konsequenzen kreisen. Autobiogra-phischen Äußerungen zufolge litt Goethe bereits als Fünfzehnjähriger unter melancholischen Verstimmungen. Im Zusammenhang mit einer freilich nur am Rande erwähnten Verwicklung in »schlechte Gesellschaft« sowie einer prekä-ren Liebesbeziehung ist erstmals von länger anhaltenden Depressionen die Re-de: »Ich empfand nun keine Zufriedenheit«, notiert Goethe rückblickend, »als im Wiederkäuen meines Elends und in der tausendfachen imaginären Verviel-fältigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch die-se Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. [...] So verbrachte ich Tag und Nacht in großer Unruhe, in Rasen und Ermat-tung« ( H A 9, 21 jf.). Diese kurze Textpassage aus >Dichtung und Wahrheit<, für deren Authentizität zahlreiche Indizien sprechen, versammelt einige hervorste-chende Eigenschaften, die unverkennbar auf den Symptombereich der Melan-cholie verweisen: die extremen Stimmungswechsel, die vorsätzlich forcierten Seelenqualen sowie die obsessive Fixierung auf das eigene Elend. Das »Wieder-käuen« der peinigenden Notlage wird übrigens auch Werther ( H A 6, 7) und Wilhelm Meister (FA 9, 65) charakterisieren - und zwar wortwörtlich.

Im Oktober 1765 verläßt Goethe seine Heimatstadt Frankfurt, um in Leip-zig auf Wunsch des Vaters Jura zu studieren. Die Rechtswissenschaft interes-siert den Studienanfänger nur wenig. Umso mehr fesselt ihn das literarische Le-ben in der sächsischen Kulturmetropole, die nach den verheerenden Katastro-phen des Siebenjährigen Krieges einen rasanten Modernisierungsschub erlebt. Die frühen Briefe aus Leipzig zeugen von Goethes künstlerischem Selbstver-trauen und seiner Zuversicht, den Anforderungen der galanten Lebenskultur schon bald genügen zu können. Der optimistische Ton verliert sich jedoch rasch. Bereits im Frühjahr 1766 leidet Goethe erneut unter depressiven Ver-stimmungen, die sich auf unterschiedliche Ursachen zurückführen lassen, wo-bei die wachsenden Zweifel am eigenen dichterischen Talent besonders schwer wiegen. In einem auf englisch verfaßten Brief an seine Schwester Cornelia kon-statiert Goethe, indem er die topische Motivik des empfindsamen Melancholie-kults imitiert: »Many time I become a melancholical one. [...] Then I go in

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woods, to streams, I look on the pyed daisies on the blue violets, I hear the nightingales, the larks, the rooks and daws, the cukow; And then a darkness comes down my soul, a darkness as thik as fogs in the October are« (FA 28,46). In seinen Leipziger Briefen erwähnt Goethe immer wieder melancholische Ver-stimmungen, wobei die Grenzen zwischen authentischer Empfindung und lite-rarischer Selbststilisierung oft fließend sind. Von einsamen Spaziergängen ist die Rede, von elegischen Naturimpressionen und dunklen Gemütsstimmun-gen. Goethe wandert freilich nicht nur während seiner Leipziger Zeit, sondern auch während späterer Lebensabschnitte im dichten Nebel der Depression. Vor allem krisenhafte Liebesbeziehungen stürzen ihn mehrfach in melancholische Krankheiten, von denen er sich nur zögerlich erholt. Das Verhältnis zu Char-lotte Buff, die Beziehung zu Lili Schönemann, die auf platonische Seelen-freundschaft fixierte Verbindung mit Charlotte von Stein - all diese Bekannt-schaften münden in existentielle Krisensituationen ein, die Goethe nur mit Hil-fe zweier Therapeutika zu überwinden vermag: der literarischen Verarbeitung des Erlebten sowie der räumlichen Trennung durch ausgedehnte Reisen.

Auch der >klassische< Goethe hat in Abständen unter Depressionen gelitten, so in den Jahren der wachsenden gesellschaftlichen Isolierung nach der Italieni-schen Reise, in den wiederholten Schaffenskrisen nach dem Tod des Freundes Schiller, nach dem qualvollen Ende seiner Frau Christiane, nach der Begegnung mit Ulrike von Levetzow. Goethes Leben steht über weite Strecken unter dem Signum der Melancholie, die ihn vor allem in jungen Jahren auch mehrfach der Gefahr des Suizids aussetzt. Als Zelters Stiefsohn im Dezember 1812 Selbst-mord begeht, zeigt sich der alternde Goethe tief betroffen. Er erinnert sich sei-ner eigenen jugendlichen Suizidneigung und erklärt in einem persönlichen Brief (HA 6, 539):

Wenn das >taedium vitae< den Menschen ergreift, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt >Werther< wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengun-gen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus man-chem spätem Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte.

Und dann fügt Goethe noch einen weiteren Satz hinzu, um dem Eindruck ent-gegenzuwirken, die frühere Melancholie sei inzwischen überwunden: »Ich ge-traute mir«, erklärt er fast trotzig, »einen neuen >Werther< zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehn sollten als über den ersten« (HA 6, 539). Wenn Goethe über die eigene Melancholie oder über die seiner Weggefährten und Zeitgenossen spricht, so kommt er immer wieder zurück auf den >Werther<, da sich in ihm die melancholische Gefährdung des sensiblen Subjekts am deutlichsten artikuliert. Bis ins hohe Alter hinein fürchtet sich Goethe vor dem eigenen Jugendroman, den er aus Gründen des Selbstschutzes nur selten in die Hand nimmt. In einem Gespräch mit Eckermann am 2. Januar

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1824 bekennt er seine psychischen Affinitäten zur Werthergestalt: »Das ist auch so ein Geschöpf, [...] das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines ei-genen Herzens gefüttert habe. [...] Es sind lauter Brandraketen! - Es wird mir unheimlich dabei und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durch-zuempfinden, aus dem es hervorging« (FA 39, 528).

Man hat sich an die Selbststilisierungen des späten Goethe gewöhnt, der sei-ne autobiographischen Werke bewußt unter das Motto der klassischen Heiter-keit gestellt und die Melancholie in äußerst eng umrissene Grenzen verwiesen hat. Es ist freilich entscheidend, daß man diese Form der klassischen Selbststili-sierung als bewußt gewähltes Korrektiv zu jenen Seelenleiden begreift, die Goethe ein Leben lang verfolgt und gequält haben. Die klassischen ebenso wie die späten Werke Goethes stehen fast alle in der Spannung zwischen melancho-lischer Trauer und ihrer freilich oft nur oberflächlichen Bewältigung. Nichts als »Mühe und Arbeit« sei sein Leben gewesen, gesteht Goethe im hohen Alter. »Und ich kann wohl sagen«, resümiert er, »daß ich in meinen fünf und siebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt« (FA 39, 84).

3. Melancholie als Zeiterscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts

Wenn die Melancholie im Werk Goethes einen hohen Stellenwert besitzt, dann läßt sich dies nicht nur auf die individuelle Situation des Dichters zurückfüh-ren, sondern auch auf sein besonderes Interesse an der psychischen Verfassung seiner Zeitgenossen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Mit bemerkens-wertem Scharfblick diagnostiziert Goethe bereits in jungen Jahren die melan-cholische Grundstimmung seiner Generation, die mit besonderer Leidenschaft die literarischen Werke der Empfindsamkeit rezipiert, um nach ihnen das eige-ne Lebensgefühl zu modellieren. Die Melancholie verbindet sich mit der Mode des >joy of grief < und wird von vielen als Ausweis einer besonderen Sensibilität geschätzt. Man kultiviert die eigene Schwermut als elegische Seelenstimmung, die von der pathologisch ausartenden Melancholie zu unterscheiden ist, auch wenn sie freilich in diese oftmals einmündet. Goethe lernt die empfindsame Form der Melancholie aus allernächster Nähe kennen, als er sich 1772 dem Darmstädter Freundeskreis um Johann Heinrich Merck anschließt. Hier wer-den elegische Gefühle und larmoyante Stimmungen nach literarisch präfor-mierten Mustern ausgelebt. Sentimentale Verirrungen gibt es zuhauf: Die H o f -dame Louise von Ziegler beispielsweise, die im Kreis der empfindsamen Freun-de den Namen >Lila< trägt, legt sich in ihrem Garten unter Rosenlauben ein Grab an, in das sie oft hineinsteigt, um das Gefühl des Sterbens in vollen Zügen auszukosten.

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Was Goethe in der Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen< erlebt, begeg-net ihm auch andernorts: Man verschreibt sich mit Emphase einem empfindsa-men Zeitgeist, der die Melancholie als traurig-sanfte Seelenstimmung nobili-tiert. Der soziale Nährboden für diese Zeitströmung kann an dieser Stelle nicht genauer betrachtet werden, die literarische Grundlage hingegen muß zur Spra-che kommen, da Goethe selbst in >Dichtung und Wahrheit< ausführlich auf sie eingeht. Der Katalysator der schwermütigen Zeitstimmung ist die englische Li-teratur des 18. Jahrhunderts. Ohne ihren Einfluß - so Goethe in freilich mono-kausaler Verkürzung - hätte sich die Melancholie »in den Gemütern deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können« (HA 9, 579). Das signifi-kanteste Kennzeichen der englischen Literatur ist für Goethe ein sentimentaler Lebensüberdruß, der bisweilen die Gefahr birgt, die bloß sanfte und gefühlvoll abgedämpfte Schwermut in eine krankhaft ausartende Melancholie umschla-gen zu lassen. »Selbst ihre zärtlichen Gedichte«, erklärt er im Hinblick auf die englischen Autoren, »beschäftigen sich mit traurigen Gegenständen. Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, [...] und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene be-kannten Melodien wieder anstimmt, so kann er versichert sein, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln« (HA 9,5 8 if.). Goethe nennt mehrere englische Autoren, die seines Erachtens die melancholische Tendenz in Deutschland seit etwa 1765 befördern: allen voran natürlich Edward Young, Oliver Goldsmith sowie James Macpherson, dessen schwermütige Ossian-Dichtung das gesamte Inventar melancholischer Naturtopik aufbietet - dunkle und dichte Nebelschwaden, bemooste Grabhügel, leblose Baumstümpfe, ein-sam umherirrende Mädchen und tragisch endende Helden inmitten tosender Sturmwinde.

In »Dichtung und Wahrheit< betont Goethe mit Nachdruck, daß der Wer-therroman aus jener melancholischen Zeitstimmung hervorgegangen sei und potenzierend auf sie zurückgewirkt habe. »Diese Gesinnung«, erklärt er im Hinblick auf den empfindsamen Melancholiekult, »war so allgemein, daß eben >Werther< deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das In-nere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte« (HA 9,583). Die entschiedene Pathologisierung der Empfindsamkeit mit ihrer Aff i -nität zur Melancholie ist kennzeichnend für Goethes Dichtungen sowie für sei-ne wiederholten Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Schriftstellern. Die Kritik an der Empfindsamkeit und ihren zentralen Tendenzen bestimmt Goethes Werk ebenso wie die verbissene Fehde gegen die Romantik, die im er-sten Dezennium des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. In beiden lite-rarischen Bewegungen erkennt Goethe all jene Gefahren, die ihn selbst bis ins hohe Alter bedrohen und gegen die er sich nur unter äußerster Kraftanstren-gung zu behaupten vermag. Empfindsamkeit und Romantik führen seines Er-achtens aus einer sanften unweigerlich in eine ruinöse Melancholie. Sie nehmen

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ihren Ausgang im übersteigerten Einsamkeitskult sowie im eskapistischen Rückzug auf die eigene Innerlichkeit, in der narzißtischen Selbstbespiegelung sowie in der Lust an elegischen Gefühlen und morbiden Stimmungen; ihre un-vermeidlichen Konsequenzen sind Realitätsverlust, soziale Desintegration und pathologische Todessehnsucht. Mit klarem Blick hat Goethe die eigene Melan-cholie sowie die seiner Zeitgenossen analysiert und die Befunde dem eigenen Œuvre eingeschrieben. Goethes Werk trägt über weite Strecken die Signatur der Melancholie - sowohl in bezug auf ihre epochale Relevanz als auch im Hin-blick auf die Bedrohung der eigenen Persönlichkeit.

4. Goethe und die Melancholie im Fokus der Literaturwissenschaft

Die fundamentale Bedeutung der Melancholie für Goethes Dichtung ist in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt ins Blickfeld der Kulturwissenschaften getreten. Vereinzelte Detailanalysen stellten diverse Aspekte der Melancholie in Goethes umfangreichem Œuvre heraus, ohne jedoch den zentralen Stellen-wert zu erkennen, der der Melancholie als einer das gesamte Werk bestimmen-den Grundstruktur zukommt. Zur Melancholie in Goethes >Werther< finden sich bislang nur einige verstreute Hinweise, die weder dem komplexen Tradi-tionszusammenhang des Melancholiebegriffs noch dem poetischen Werk in seiner ästhetischen Eigengesetzlichkeit gerecht werden. Ein anschauliches Bei-spiel für diesen inadäquaten Umgang mit Goethes Jugendroman bietet die erst kürzlich neu aufgelegte Studie des Berliner Soziologen Wolf Lepenies, die Me-lancholie in erster Linie als ein sozial bedingtes Phänomen begreift. Lepenies geht in seiner Untersuchung von der gesellschaftspolitischen Ohnmacht des kulturell aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert aus. Vor diesem Hin-tergrund erklärt er, daß das bürgerliche Spannungsverhältnis zwischen kultu-rellem Selbstbewußtsein und gesellschaftspolitischer Unmündigkeit zur Aus-bildung einer melancholischen und ganz auf die eigene Innerlichkeit konzen-trierten Gefühlskultur beigetragen habe. In Goethes Jugendroman sieht Lepe-nies diesen soziokulturellen Vorgang auf paradigmatische Weise dargestellt: Der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Werther strebe nach gesell-schaftlicher Anerkennung, werde aber vom Hofadel zu Machtverzicht und po-litischer Untätigkeit genötigt, was zu Melancholie und Weltflucht führe. In dem Verweis aus der adeligen Soirée laufen für Lepenies die Fäden zusammen: »Entmachtung des Bürgers, Demütigung durch den Adel, Flucht in die Natur und Literatur«. 1 Es ist zweifellos richtig, Werthers distanziertes Weltverhältnis

1 Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie, Frankfurt a.M. 1998, S. 199.

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auf ein melancholisches Bewußtsein zurückzuführen. Es entspricht jedoch nicht der kompositorischen Anlage des Romans, wenn Lepenies Werthers Me-lancholie und die damit einhergehende Weltflucht auf eine unfreiwillige Hand-lungshemmung zurückführt. Werther erscheint nicht erst nach dem demüti-genden Verweis aus der Adelsgesellschaft, sondern bereits in den ersten Briefen als Melancholiker par excellence (HA 6, io). Die These von der Beziehung zwi-schen gesellschaftspolitischer Ohnmacht und melancholischer Gefühlskultur des Bürgertums soll hier keineswegs angefochten werden. Es verbietet sich je-doch, Goethes Briefroman zur Fundierung dieser These heranzuziehen. Wer-thers Melancholie kann ebenso wie sein Eskapismus nur unter Berücksichti-gung der künstlerischen Brechungen auf gesellschaftliche Prozesse bezogen werden. Eine reine Soziogenese, die die individualpsychologischen Besonder-heiten des Protagonisten ignoriert, führt unweigerlich in die Irre.2

Zur Bedeutung der Melancholie für Goethes /Torquato Tasso< existieren ei-nige wenige Untersuchungen, die jedoch, wenngleich sehr innovativ, über eine skizzenhafte und thesenartige Aufzählung der hervorstechendsten Melancho-lie-Symptome bislang nicht hinausgegangen sind. Hier ist vor allem an die Aus-führungen von Hans-Jürgen Schings in dessen Monographie >Melancholie und Aufklärung< zu denken sowie an die einschlägigen Analysen von Dieter Borch-meyer.5 Aufschlußreich ist auch die gegen Ende der neunziger Jahre publizierte Baudelaire-Studie von Karl Heinz Bohrer, die unter anderem einen kurzen Ex-kurs zur Melancholie in Goethes >Tasso< enthält. Bohrer reduziert den Melan-choliebegriff indes auf eine spezifisch geschichtsphilosophische Bedeutungs-nuance, so daß die wesentlich weitergehende Fragestellung der hier vorliegen-den Arbeit von seinen Ausführungen nicht berührt wird.4

Das im ersten Weimarer Jahrzehnt verfaßte und während der Italienischen Reise überarbeitete Singspiel >Lila< ist bislang von der Forschung vernachlässigt

z Während Werthers Melancholie in den meisten Studien allenfalls am Rande themati-siert wird, nimmt sie in einem aspektreichen Aufsatz von Gerhard Kurz bereits brei-teren Raum ein. G . Kurz: Werther als Künstler. In: Herbert Anton (Hg.): Invaliden des Apoll . Motive und Mythen des Dichterleids, München 1982, S. 9 5 - 1 1 2 . Vgl. auch die ältere und inzwischen überholte Studie von Hubertus Teilenbach: Gestalten der Melancholie. In: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische A n -thropologie 7 (1960), S .9-26.

J Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 264-268. Dieter Borchmeyer: Tasso oder Das Unglück, Dichter zu sein. In: Dieter Kimpel u. Jörg Pompetzki (Hg.): Allerhand Goethe. Seine wissenschaftliche Sendung aus A n -laß des 150. Todestages und des 50. Namenstages der Johann-Wolfgang-Goethe-Uni-versität in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1985, 8.67-88, hier S .75 -77 . Ders.: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 169.

4 Karl-Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietz-sche, Benjamin, Frankfurt a.M. 1996, 8.360-399.

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worden. Von Goethe selbst als Gelegenheitsstück bezeichnet, hat es die A u f -

merksamkeit der Philologen nur selten wecken können. Zu Unrecht eigentlich,

denn gerade die wiederholte Umgestaltung des Stückes über einen Zeitraum

von mehr als ι o Jahren hinweg zeigt, daß Goethe diesem Singspiel mehr G e -

wicht beimaß, als er Freunden gegenüber zugeben wollte. Die Untersuchungen

zur >Lila< lassen sich bislang an einer Hand abzählen und sind bis auf wenige

Ausnahmen zu vernachlässigen. Die einzige weiterführende Studie stammt von

Gott fr ied Diener, der die drei unterschiedlichen Fassungen des Singspiels ana-

lysiert und überdies auch auf das psychopathologische Schrifttum um 1800 ein-

geht, dem Goethe einige Anregungen für die Melancholie-Thematik seines

Stückes entnehmen konnte. Die traditionsreichen Melancholiekonzepte je-

doch, die sich in Goethes >Lila< ebenfalls manifestieren, werden nicht eigens

thematisiert.5

Die literaturwissenschaftlichen Studien zu Goethes >Wilhelm Meister< las-

sen sich im Gegensatz zu den Arbeiten über >Lila< nicht mehr an einer Hand ab-

zählen. Hier wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahllose Spezialuntersu-

chungen angehäuft. Sozialhistorische, mentalitätsgeschichtliche und diskurs-

analytische Ansätze versuchten sich ebenso zu behaupten wie poststrukturali-

stische und systemtheoretische Modelle. Angesichts dieses weitgefächerten

Methodenspektrums verwundert es, daß die zentrale Bedeutung der Melan-

cholie im >Wilhelm Meister< bislang kaum beachtet wurde. Lediglich Hans- Jür-

gen Schings hat wiederholt auf den Stellenwert der Melancholie in den >Lehr-

jahren< hingewiesen - zunächst in diversen Aufsätzen, zusammenfassend dann

im umfangreichen Kommentar der Münchner Goethe-Ausgabe. 6 Schings hat

mehrfach betont, daß die Melancholie einen unverzichtbaren Schlüssel zum tie-

feren Verständnis des >Wilhelm Meister< biete, gleichwohl fehlt bislang eine zu-

verlässige Werkanalyse, die diese These auch konkret am Text zu verifizieren

vermag.

Z u r Melancholie in Goethes >Wahlverwandtschaften< liegt eine Untersu-

chung von Bernhard Buschendorf vor, die sich auf die Dechif fr ierung all jener

Melancholiesymbole konzentriert, die das Handlungsgeschehen auf einer f igu-

rativen Ebene kommentierend begleiten. Die um die Mitte der achtziger Jahre

5 Gottfried Diener: Goethes >Lila<. Heilung eines >Wahnsinns< durch >psychische Kur<. Vergleichende Interpretation der drei Fassungen. Mit ungedruckten Texten und No-ten und einem Anhang über psychische Kuren der Goethe-Zeit und das Psychodra-ma, Frankfurt a.M. 1971.

6 Hans-Jürgen Schings: Agathon - Anton Reiser - Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklä-rung bis zur Restauration, Tübingen 1984, S. 42-68, hier S. 52-68. Ders.: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141-206, hier S. 145-185.

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veröffentlichte Monographie hat sich in diesem Bereich zweifellos große Ver-dienste erworben. Die psychologische Dimension der Melancholie rückt in Buschendorfs Untersuchung jedoch so gut wie nie ins Blickfeld, so daß die Protagonisten in ihren Konflikten zwischen leidenschaftlicher Emotionalität und nüchterner Rationalität konturlos bleiben und keine psychologische Tie-fenschärfe gewinnen.7

Die Bedeutung der Melancholie für Goethes >Faust< ist in der langen und wechselvollen Wirkungsgeschichte des Dramas wiederholt hervorgeho-ben worden. Die zentrale Relevanz der Melancholie für die Konzeption des >Faust I< hat jedoch erst Jochen Schmidt in einer unlängst publizierten Studie systematisch herausgearbeitet.8 Schmidt demonstriert, wie konsequent Goethe die Melancholie als strukturbildendes Element jener Szenensequenz zugrunde gelegt hat, die sich vom Eingangsmonolog bis zum Abschluß von Pakt und Wette erstreckt. Trotz dieser bereits weitreichenden Einsichten ist der Stellen-wert der Melancholie im >Faust< bislang noch nicht vollständig erfaßt worden. Erst eine konsequente Einbeziehung der weitverzweigten und bis ins 18. Jahr-hundert fortlebenden Melancholietraditionen vermag etwa Fausts therapeuti-sche Anstrengungen nach dem Osterspaziergang in ihrer zeitgeschichtlichen Relevanz sichtbar zu machen.

Der Literaturüberblick hat zeigen können, daß die zentrale Bedeutung der Melancholie im Werk Goethes bislang nur punktuell thematisiert wurde und eine umfangreiche sowie systematisch kategorisierende Studie noch fehlt. Die folgenden Ausführungen sind diesem Forschungsdesiderat verpflichtet. Sie führen zunächst den Nachweis, daß Goethe sowohl mit den europäischen Me-lancholietraditionen als auch mit den psychopathologischen Diskursen des 18. Jahrhunderts vertraut war. Sodann belegen sie in detaillierten Werkanalysen, daß seine Dichtungen von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der Me-lancholie, ihren Ursachen, Symptomen und Konsequenzen geprägt wurden. Wer heutzutage eine wissenschaftliche Studie über Goethes literarisches Œuvre vorlegt, der setzt sich fast unweigerlich dem Verdacht aus, nur alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten. »Wer kann was Dummes, wer was Kluges den-ken, / Das nicht die Vorwelt schon gedacht?« - so spottet bereits Mephisto im zweiten Teil des >Faust< über jenen Baccalaureus, der glaubt, mit ihm erst gehe die Sonne der Wissenschaft auf (V. 68opf.). Die vorliegende Arbeit ist dem von Generationen erreichten Wissensstand in vielen Bereichen verpflichtet. Den-noch erhebt sie den Anspruch, aufgrund der neu gewählten Perspektive Ein-

7 Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der Wahl-verwandtschaften«, Frankfurt a.M. 1986, S. 123-263.

8 Jochen Schmidt: Faust als Melancholiker und Melancholie als strukturbildendes Ele-ment bis zum Teufelspakt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 125-139.

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sichten zu gewinnen, die Goethes literarisches Werk in einen bislang vernach-lässigten Gesamthorizont einordnen und dadurch auch zu einem besseren Ver-ständnis einzelner Dichtungen beitragen.

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