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PRESSE Nach der Veröffentlichung der ersten gesundheitsbezogenen Aussagen (Health Claims), die die EU-Kommis- sion genehmigen will, verschärft sich die Kritik der Wirtschaft. Die Verord- nung 1924/2006/EG verletze die Eu- ropäische Verfassung und das deut- sche Grundgesetz, klagt der Verband mittelständischer europäischer Her- steller und Distributoren von Nah- rungsergänzungsmitteln & Gesund- heitsprodukten (NEM). Der Verband werde den ersten ge- eigneten Fall nutzen, um mit allen ju- ristischen Mitteln gegen die Verord- nung vorzugehen, kündigt Thomas Büttner als Lebensmittelrechtlicher Beirat des Verbands an. Wenn sich das Regelwerk nicht mehr ganz zu Fall bringen lasse, dann solle ihm der Eu- ropäische Gerichtshof (EuGH) zumin- dest die Spitzen nehmen. Bei der kommenden Abstimmung im Parlament über die Gemeinschafts- liste wird die Wirtschaft versuchen Einfluss zu nehmen. Die Abgeordne- ten könnten die Umsetzung der Ver- ordnung noch stoppen, wenn sie diese Liste mit 222 von 44 000 beantragten Health Claims komplett ablehnten. Die Kritik an einzelnen oder auch zahlreichen Zulassungen reicht dafür jedoch nicht, es müssen grundsätzli- che Bedenken angeführt werden. Davon sehen NEM und andere Ver- bände genug: Der EU fehle die gesetz- geberische Kompetenz für den Ge- sundheitsschutz, dem die Verordnung zweifellos diene. Außerdem werde durch die Verbotstatbestände der Ver- ordnung in die Grundrechte der Mei- nungs- und der Berufsausübungsfrei- heit eingegriffen. Bei der Abwägung zwischen den Rechten der Industrie und dem Verbrau- cherschutz, so Büttner, habe der EuGH schon zweimal gegen pauschale Werbe- verbote entschieden: Sowohl das öster- reichische Verbot von gesundheitsbezo- genen Angaben für Lebensmittel als auch ein belgisches Verbot jeglicher Schlankmacherwerbung wurden ge- kippt. Lebensmittelrechtler stört vieles: Die Verordnung verbietet nicht nur zahl- lose Health Claims, weil diese an den strengen Prüfkriterien scheitern, son- dern auch solche, die sachlich durchaus zutreffen. Das gilt etwa für das Totalver- bot solcher Aussagen für Getränke mit mehr als 1,2 Prozent Alkohol. Und die besten klinischen Studien helfen nichts, wenn sie sich auf die Reduzierung eines Krankheitsrisikos beziehen, denn jeder Krankheitsbezug ist per se verboten. Die Abgrenzung zwischen gesund- heitsbezogenen Aussagen und sol- chen, die das allgemeine Wohlbefin- den betreffen, macht sogar den Bun- desgerichtshof ratlos. Für die Definiti- on von Nährwertprofilen im Sinne der Verordnung findet sich bis heute keine wissenschaftliche Grundlage. Dass die Verordnung umgekehrt Werbeaussagen für Stoffe erlaubt, die hierzulande als Medikament einge- stuft sind, darauf macht der Münchner Lebensmittelrechtler Alfred Meyer aufmerksam. Darf Milchpulver mit Melatonin künftig als Einschlafhilfe beworben, dann aber nicht frei ver- kauft werden? Das wäre nach Ansicht vieler Juristen nicht die einzige Absur- dität. Christoph Murmann/lz 06-21 Melatonin und Zink geadelt Erste Liste erlaubter gesundheitsbezogener Werbeaussagen entfacht neue Kritik an Health-Claims-Verordnung Brüssel/Laudert. Die Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln und Gesundheitsprodukten halten die europäische Health-Claims-Verord- nung für verfassungswidrig. Zudem sehen sich die mittelständischen Unternehmen durch die Genehmi- gungspraxis gegenüber der für Kon- zerne massiv benachteiligt. FOTOS: HANS-RUDOLF SCHULZ/HERSTELLER Gesund: Weltkonzerne wie mittelständische Hersteller haben Schwierigkeiten mit der Health-Claims-Verordnung, „Nachtmilch“ dagegen verschafft sie freie Bahn. .net Zum Download: Die ganze Health-Claims-Liste Lebensmittelzeitung.net/liste Christoph Murmann /lz 06-21

Melatonin und Zink geadelt

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Erste Liste erlaubter gesundheitsbezogener Werbeaussagen entfacht neue Kritik an Health-Claims-Verordnung

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Presse

Nach der Veröffentlichung der erstengesundheitsbezogenen Aussagen(Health Claims), die die EU-Kommis-sion genehmigen will, verschärft sichdie Kritik der Wirtschaft. Die Verord-nung 1924/2006/EG verletze die Eu-ropäische Verfassung und das deut-sche Grundgesetz, klagt der Verbandmittelständischer europäischer Her-steller und Distributoren von Nah-rungsergänzungsmitteln & Gesund-heitsprodukten (NEM).

Der Verband werde den ersten ge-eigneten Fall nutzen, um mit allen ju-ristischen Mitteln gegen die Verord-nung vorzugehen, kündigt ThomasBüttner als LebensmittelrechtlicherBeirat des Verbands an. Wenn sich dasRegelwerk nicht mehr ganz zu Fallbringen lasse, dann solle ihm der Eu-ropäische Gerichtshof (EuGH) zumin-dest die Spitzen nehmen.

Bei der kommenden Abstimmungim Parlament über die Gemeinschafts-

liste wird die Wirtschaft versuchenEinfluss zu nehmen. Die Abgeordne-ten könnten die Umsetzung der Ver-ordnung noch stoppen, wenn sie dieseListe mit 222 von 44 000 beantragtenHealth Claims komplett ablehnten.Die Kritik an einzelnen oder auchzahlreichen Zulassungen reicht dafürjedoch nicht, es müssen grundsätzli-che Bedenken angeführt werden.

Davon sehen NEM und andere Ver-bände genug: Der EU fehle die gesetz-geberische Kompetenz für den Ge-sundheitsschutz, dem die Verordnung

zweifellos diene. Außerdem werdedurch die Verbotstatbestände der Ver-ordnung in die Grundrechte der Mei-nungs- und der Berufsausübungsfrei-heit eingegriffen.

Bei der Abwägung zwischen denRechten der Industrie und dem Verbrau-cherschutz, so Büttner, habe der EuGHschon zweimal gegen pauschale Werbe-verbote entschieden: Sowohl das öster-reichische Verbot von gesundheitsbezo-genen Angaben für Lebensmittel alsauch ein belgisches Verbot jeglicherSchlankmacherwerbung wurden ge-

kippt. Lebensmittelrechtler stört vieles:Die Verordnung verbietet nicht nur zahl-lose Health Claims, weil diese an denstrengen Prüfkriterien scheitern, son-dern auch solche, die sachlich durchauszutreffen. Das gilt etwa für das Totalver-bot solcher Aussagen für Getränke mitmehr als 1,2 Prozent Alkohol. Und diebesten klinischen Studien helfen nichts,wenn sie sich auf die Reduzierung einesKrankheitsrisikos beziehen, denn jederKrankheitsbezug ist per se verboten.

Die Abgrenzung zwischen gesund-heitsbezogenen Aussagen und sol-chen, die das allgemeine Wohlbefin-den betreffen, macht sogar den Bun-desgerichtshof ratlos. Für die Definiti-on von Nährwertprofilen im Sinne derVerordnung findet sich bis heute keinewissenschaftliche Grundlage.

Dass die Verordnung umgekehrtWerbeaussagen für Stoffe erlaubt, diehierzulande als Medikament einge-stuft sind, darauf macht der MünchnerLebensmittelrechtler Alfred Meyeraufmerksam. Darf Milchpulver mitMelatonin künftig als Einschlafhilfebeworben, dann aber nicht frei ver-kauft werden? Das wäre nach Ansichtvieler Juristen nicht die einzige Absur-dität. Christoph Murmann/lz 06-21

Melatonin und Zink geadeltErste Liste erlaubter gesundheitsbezogener Werbeaussagen entfacht neue Kritik an Health-Claims-Verordnung

Brüssel/Laudert. Die Anbieter vonNahrungsergänzungsmitteln undGesundheitsprodukten halten dieeuropäische Health-Claims-Verord-nung für verfassungswidrig. Zudemsehen sich die mittelständischenUnternehmen durch die Genehmi-gungspraxis gegenüber der für Kon-zerne massiv benachteiligt.

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Gesund: Weltkonzerne wie mittelständische Hersteller haben Schwierigkeiten mit der

Health-Claims-Verordnung, „Nachtmilch“ dagegen verschafft sie freie Bahn.

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