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Einleitung. Im vorliegenden Beitrag geht es um Spuren rassenkundlicher Untersuchungen auf dem Gebiet Schleswig-Holsteins und des heu- tigen Hamburgs sowie Niedersachsens während der späten Weimarer Republik und der ersten Jahre der NS-Zeit. Er dokumentiert – exemplarisch und ohne Anspruch auf Voll- ständigkeit –, wie eine angebliche Höherwertigkeit der hier vermu- teten eingesessenen „nordischen“ Bevölkerung bewiesen werden sollte. Aus regionalgeschichtlicher Perspektive handelt es sich nicht um eine umfassende Untersuchung und Bewertung der „Suche nach dem Nordischen Menschen“ 1 , sondern um Fundstücke, die hier nur kursorisch eingeordnet, in ihrer Argumentation angedeutet und in ihren Ergebnissen im zeitgenössischen Urteil reflektiert werden können. Der Beitrag wirft ein Schlaglicht auf rassenkundliche Akti- vitäten, die aus heutiger Sicht fast skurril anmuteten, würden sie nicht vor dem Hintergrund des sich formierenden Nationalsozialis- mus in der Region und in ihrer menschenverachtenden Anlage so beklemmend wirken. Während der NS-Diktatur wurden Millionen Menschen ermor- det, weil sie angeblich einer minderwertigen Menschenrasse an- gehörten. Tausende wurden durch Zwangssterilisationen verstüm- melt, weil sie vermeintliche Erbkrankheiten in sich tragen sollten. Die ausführenden Institutionen des NS-Staates bezogen sich dabei nicht zuletzt auf wissenschaftliche Legitimationsstrukturen von An- thropologen, Ethnologen, Erbbiologen und Medizinern. Diese hat- ten zum Teil bereits lange vor 1933 damit begonnen, an staatlichen Einrichtungen wie Universitäten die Erbanlagen der deutschen Be- völkerung zu untersuchen und in rassenkundlichen Massenuntersu- chungen nach Merkmalen der „nordischen Rasse” zu suchen, dem menschlichen Idealtypus der NS-Ideologie. Diesen vermuteten sie ihrer inneren Logik folgend in Norddeutschland, wie die hier vorge- stellten Untersuchungen bezeugen. Die Vorstellung, dass sich die Weltbevölkerung aus „Rassen“ von unterschiedlichem Wert zusammensetzt, ist alt. 2 Als Beispiel mag dafür der europäische Antisemitismus dienen. Eine Vielzahl von Autoren setzte sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Thema auseinander, wie man die europäische Bevölkerung vor einer Ras- sendurchmischung schützen und damit vor dem vermeintlich dro- henden Untergang bewahren könne. Die breite populäre Rezeption dieser Autoren, die sich durchaus in einem internationalen Diskurs bewegten, ist erklärbar dadurch, dass sie Ängste vor einem gesell- schaftlichen Zerfall reflektierten, die auf der Erfahrung des radika- len Wandels der sozialen Welt durch die Industrialisierung gründe- ten. 1853 erschien das Werk des französischen Diplomaten Arthur de Gobineau „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen”, das 1898 auch auf deutsch herauskam. Er setzte gewissermaßen Rasse mit Zivilisation gleich und ging davon aus, dass die hohen zivilisato- Michael Plata „Die Süderdithmarscher sind kaum mehr schmalgesichtig …” 143 Michael Plata: „Die Süderdith- marscher sind kaum mehr schmalgesichtig, aber mehr lang- nasig als die Fehmaraner.” Rassenkundliche Unter- suchungen 1925-1935 in Norddeutschland Arthur de Gobineau (Quelle: Wikipedia) Kiel Hamburg 1 So der Titel der jüngst erschienenen Un- tersuchung zur Geschichte der deutschen Rassenanthropologie als Wissenschaft von Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassebanthropologie in der modernen Welt. Bielefeld 2015, die grundlegend für das Thema ist. Der vorliegende Beitrag be- zieht die Ergebnisse nach Möglichkeit mit ein, obwohl er bereits vor geraumer Zeit angelegt wurde. 2 Vgl. zur Begriffsgeschichte das umfang- reiche Lemma „Rasse” in: Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des National- sozialismus. Berlin/New York 2007 2 , S. 481-491. 05 Plata 23.03.2016 2:28 Uhr Seite 143

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Einleitung. Im vorliegenden Beitrag geht es umSpuren rassenkundlicher Untersuchungen aufdem Gebiet Schleswig-Holsteins und des heu-tigen Hamburgs sowie Niedersachsenswährend der späten Weimarer Republik undder ersten Jahre der NS-Zeit. Er dokumentiert– exemplarisch und ohne Anspruch auf Voll-

ständigkeit –, wie eine angebliche Höherwertigkeit der hier vermu-teten eingesessenen „nordischen“ Bevölkerung bewiesen werdensollte. Aus regionalgeschichtlicher Perspektive handelt es sich nichtum eine umfassende Untersuchung und Bewertung der „Suche nachdem Nordischen Menschen“1, sondern um Fundstücke, die hier nurkursorisch eingeordnet, in ihrer Argumentation angedeutet und inihren Ergebnissen im zeitgenössischen Urteil reflektiert werdenkönnen. Der Beitrag wirft ein Schlaglicht auf rassenkundliche Akti-vitäten, die aus heutiger Sicht fast skurril anmuteten, würden sienicht vor dem Hintergrund des sich formierenden Nationalsozialis-mus in der Region und in ihrer menschenverachtenden Anlage sobeklemmend wirken.

Während der NS-Diktatur wurden Millionen Menschen ermor-det, weil sie angeblich einer minderwertigen Menschenrasse an-gehörten. Tausende wurden durch Zwangssterilisationen verstüm-melt, weil sie vermeintliche Erbkrankheiten in sich tragen sollten.Die ausführenden Institutionen des NS-Staates bezogen sich dabeinicht zuletzt auf wissenschaftliche Legitimationsstrukturen von An-thropologen, Ethnologen, Erbbiologen und Medizinern. Diese hat-ten zum Teil bereits lange vor 1933 damit begonnen, an staatlichenEinrichtungen wie Universitäten die Erbanlagen der deutschen Be-völkerung zu untersuchen und in rassenkundlichen Massenuntersu-chungen nach Merkmalen der „nordischen Rasse” zu suchen, demmenschlichen Idealtypus der NS-Ideologie. Diesen vermuteten sieihrer inneren Logik folgend in Norddeutschland, wie die hier vorge-stellten Untersuchungen bezeugen.

Die Vorstellung, dass sich die Weltbevölkerung aus „Rassen“von unterschiedlichem Wert zusammensetzt, ist alt.2 Als Beispielmag dafür der europäische Antisemitismus dienen. Eine Vielzahlvon Autoren setzte sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Themaauseinander, wie man die europäische Bevölkerung vor einer Ras-sendurchmischung schützen und damit vor dem vermeintlich dro-henden Untergang bewahren könne. Die breite populäre Rezeptiondieser Autoren, die sich durchaus in einem internationalen Diskursbewegten, ist erklärbar dadurch, dass sie Ängste vor einem gesell-schaftlichen Zerfall reflektierten, die auf der Erfahrung des radika-len Wandels der sozialen Welt durch die Industrialisierung gründe-ten.

1853 erschien das Werk des französischen Diplomaten Arthur deGobineau „Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen”, das1898 auch auf deutsch herauskam. Er setzte gewissermaßen Rassemit Zivilisation gleich und ging davon aus, dass die hohen zivilisato-

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Michael Plata:„Die Süderdith-marscher sindkaum mehrschmalgesichtig,aber mehr lang-nasig als dieFehmaraner.”Rassenkundliche Unter-suchungen 1925-1935in Norddeutschland

Arthur de Gobineau (Quelle: Wikipedia)

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1 So der Titel der jüngst erschienenen Un-tersuchung zur Geschichte der deutschenRassenanthropologie als Wissenschaft vonThomas Etzemüller: Auf der Suche nachdem Nordischen Menschen. Die deutscheRassebanthropologie in der modernenWelt. Bielefeld 2015, die grundlegend fürdas Thema ist. Der vorliegende Beitrag be-zieht die Ergebnisse nach Möglichkeit mitein, obwohl er bereits vor geraumer Zeitangelegt wurde.2 Vgl. zur Begriffsgeschichte das umfang-reiche Lemma „Rasse” in: CorneliaSchmitz-Berning: Vokabular des National-sozialismus. Berlin/New York 20072,S. 481-491.

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rischen Fähigkeiten der weißen Rasse im Wesentlichen nicht sozialerlernt, sondern genetisch vererbt wurden. Ihm folgten im 20. Jahr-hundert viele andere Autoren wie Houston Stewart Chamberlain,Karl Ludwig Schemann und Hans F. K. Günther, um nur eine Aus-wahl der bekanntesten Namen zu nennen. Günthers Buch „Rassen-kunde des deutschen Volkes”3 sollte den Rassegedanken in die Köp-fe der deutschen Bevölkerung tragen wie kein anderes. Bis 1942 er-schienen in 16 Auflagen 113 000 Exemplare. Eine Kurzfassung, die„Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes” brachte es bis 1943 garauf 295 000 Stück.

Dabei handelte es sich bei keinem der genannten Autoren umWissenschaftler im eigentlichen Sinn. Es waren Publizisten mit derFähigkeit, komplizierte Vorgänge anschaulich in Worte zu fassen.Hierin erklärt sich ihr Erfolg – auch und nicht zuletzt bei den Natio-

Hans F.K. Günther(Quelle: Wikipedia)

Titelblatt der auflagenstarken „Rassenkun-de des deutschen Volkes” von Hans F.K.Günther

3 Hans F.K. Günther: Rassenkunde desdeutschen Volkes. München 1922.

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nalsozialisten und ihren Anhängern, die sich vielfach auf sie bezie-hen konnten, denn für die NS-Rassenideologie war dies hochan-schlussfähig, sofern sie nicht ohnehin darauf basierte.

All dies besitzt auch Gültigkeit für die wissenschaftliche Diszi-plin der Rassenanthropologie, deren Vertreter wie ihre publizisti-schen Flügelmänner bzw. Vorläufer versuchten, mit biologischenAnsätzen soziale Zusammenhänge zu erläutern, nur dass sie danachstrebten, dies auf empirischer Basis zu tun.

Trotz einiger wichtiger Kontinuitäten entwickelte die Anthropo-logie, also die physische Lehre vom Menschen, mit dem Wechselvom 19. ins 20. Jahrhundert eine völkische Ausrichtung. Die Vor-stellung, den Menschen vermessen und anhand der statistisch zu er-mittelnden Unterschiede nach Rassen einteilen zu können, wurdezunehmend durch den Wunsch nach einer Bewertung geprägt undauf diese Weise politisch und damit auch rassistisch aufgeladen.4

Die Verbindung der Vererbungslehre mit der Anthropologie ent-wickelte die Dynamik, mit der nicht nur die Beschreibung von Ras-sen erfolgte, sondern vor allem die Entwicklung von Rassen nun-mehr wissenschaftlich untersucht werden sollte.

In den gleichen Zeitraum fällt der Aufbau einer institutionellenWissenschaftsstruktur der Anthropologie mit Instituten in München(1886), Berlin (1900) und Breslau (1900), besonders jedoch nachdem Ersten Weltkrieg, als neben verschiedenen Instituten auch nochzahlreiche Lehrstühle für Rassenkunde und Erbbiologie hinzuka-men, die wissenschaftlichen Nachwuchs ausbildeten und nun wis-senschaftlich empirisch in Angriff nehmen wollten, was zuvor zu-meist nur publizistisch vermutet werden konnte, nämlich die geo-grafische Verteilung der Menschenrassen.5

Eine zentrale Funktion übernahm der Mediziner und Anthropo-loge Eugen Fischer, der ab 1927 das neu gegründete Kaiser-Wil-helm-Institut für Anthropologie in Berlin leitete.6 Unter FischersHerausgeberschaft wurde 1929 die Schriftenreihe „Deutsche Ras-senkunde” aufgelegt, in der auch die meisten norddeutschen Unter-suchungen veröffentlicht wurden, zumeist mit finanzieller Unter-stützung der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft”, derVorläuferorganisation der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“.

Im ersten Band dieser Schriftenreihe schrieb Fischer in seinemGeleitwort: „ Mit diesem Band beginnt eine hoffentlich lange underfolgreiche Reihe von Arbeiten, in denen die 'Rassenkunde desDeutschen Volkes' dargestellt werden soll. […] Das ursprünglich Ei-gene und das von außen Hereingekommene an Rasse, an Erbgut undVolkstum soll in allen Lebensäußerungen und Ergebnissen dargelegtwerden. […] Zu diesem großen, auf Jahre hinaus berechneten Unter-nehmen haben sich alle deutschen Fachgenossen auf dem Gebiet derAnthropologie zusammengefunden. Nach gemeinsamem Plan, mitverabredeter Technik, aber mit voller Selbständigkeit jedes Einzel-nen sollen die verschiedenen Landesteile bearbeitet werden […].”7

Diese Initiative von Fischer hatte zur Folge, dass in den peripherenGebieten des Deutschen Reiches Dutzende von kleinräumigen ras-

Bilder oben und unten: Eugen Fischer; das untere Bild zeigt ihn (Bildmitte) aufeiner Veranstaltung 1934 in der BerlinerUniverität (Quelle: Wikipedia)

4 Vgl. hierzu Etzemüller: Auf der Suche,S. 77-86.5 Vgl. hierzu ebd., S. 123ff.6 Vgl. Michael Vetsch: Ideologisierte Wis-senschaft. Rassentheorien in der deut-schen Anthropologie zwischen 1918 und1933. Universität Bern (Lizenziatsarbeit)2003, S. 38f. Vgl. zu Fischers Vita das„Biogramm“ bei Etzemüller: Auf der Su-che, S. 249.7 Eugen Fischer: Geleitwort. In: WilhelmKlenck und Walter Scheidt: Geestbauernim Elb-Weser-Mündungsgebiet (Börde Lam-stedt). Jena 1929; Reihe: Deutsche Ras-senkunde. Forschungen über Rassen undStämme, Volkstum und Familien im Deut-schen Volk, hrsgg. von Dr. Eugen Fischer,Bd. I: Niedersächsische Bauern, S. V.

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senkundlichen Untersuchungen stattfanden. Zu diesem Zeitpunktwaren rassenkundliche Untersuchungen in 75 Orten des DeutschenReiches geplant, in Arbeit oder bereits abgeschlossen.8

Rassenkundliche Institute an den Universitäten. Kiel bekam 1924 ein „An-thropologisches Institut”. Es bezog zunächst Räume des Anatomi-schen Instituts, die sich aber nach kurzer Zeit als unzulänglich er-wiesen. Nach dem Umzug ins „Esmarchhaus”, den ehemaligenWohnsitz des berühmten Chirurgen Friedrich von Esmarch, verfügtedas Institut über zwei Etagen und einen Keller, in dem Tierställe,Leichentank und Tierfutter untergebracht waren. In den Oberge-schossen befanden sich ein Hörsaal mit 86 Sitzplätzen, zwei Räumefür Sammlungen, ein Laboratorium mit 16 Arbeitsplätzen für Stu-dierende, mehrere Laboratorien und Büros für Direktor, Assistentenund Schreibkräfte, ein Kurssaal mit 24 Arbeitsplätzen, eine moderneingerichtete Dunkelkammer, eine Auskleidekabine und ein Rönt-genzimmer.9

Institutsleiter wurde Otto Aichel, der gleichzeitig den dazu-gehörigen Lehrstuhl übernahm. Seine Assistenten, welche die ras-senkundlichen Untersuchungen vor Ort durchführten, waren KarlSaller und Friedrich Keiter. Nachdem Aichel 1935 gestorben war,übernahm Hans Weinert neben dem Lehrstuhl auch das Institut undleitete es bis zur Bombardierung des Gebäudes im Jahr 1944.10

In Hamburg gab es bereits ab 1906 eine anthropologische Abtei-lung am Museum für Völkerkunde unter dessen Direktor ChristianThilenius, der auch an der Universität dozierte. Thilenius assistierteauch bei den rassenkundlichen Untersuchungen im Elbe-Weser-Mündungsgebiet und auf der Elbinsel Finkenwerder, die von WalterScheidt durchgeführt wurden. 1924 übernahm Scheidt die Leitungder anthropologischen Abteilung, die 1933 in ein „Rassenbiologi-sches Institut” der Hamburger Universität umgewandelt wurde.

Neuerscheinungen zum Thema „Rassen-kunde” im Deutschen Reich 1919-1943;ab 1933 stieg die Zahl der Veröffentli-chungen sprunghaft an. Erfasst wurden nurAusgaben, deren Titel das Wort „Rassen-kunde” enthält. Die Untersuchung erhebtkeinen Anspruch auf Vollständigkeit (nach GBV, Stichtag 24. 10. 2014)

Otto Aichel war von 1924 bis zu seinemTod 1935 Leiter des AnthropologischenInstituts an der Christian-Albrechts-Univer-sität zu Kiel.(Quelle: Wikipedia)

8 Vgl. Etzemüller: Auf der Suche, S. 127.9 Vgl. Otto Aichel: Das neue Kieler Anthro-pologische Institut, in: AnthropologischerAnzeiger, Jg. VI. Heft 3, Stuttgart 1930,S. 249-252. Vgl. zur Gründung des Insti-tuts Karl-Werner Ratschko: Kieler Hoch-schulmediziner in der Zeit des Nationalso-zialismus. Die Medizinische Fakultät derChristian-Albrechts-Universität im „DrittenReich“. Essen 2014, S. 121-144.10 Vgl. Ratschko: Kieler Hochschulmedizi-ner, S. 144ff. sowie 440-449; Beate Mey-er: Hans Weinert, (Rasse)Anthropologe ander Universität Kiel von 1935 bis 1955.In: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl(Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus,Bielefeld 2003; S. 193-203, hier:S. 195f.

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Im „Esmarchhaus” belegte das Anthropolo-gische Institut das erste und zweite Ober-geschoss und weitere Räume im Keller.Das Institut für „Physiko-chemische Medi-zin” nutzte die übrigen Räume. 1944 wurde das Gebäude ausgebombt.

Der Hörsaal im ersten Obergeschoss mitaufsteigendem Gestühl bot Sitzplätze für86 Personen.

Der Kurssaal im zweiten Obergeschoss hat-te 24 Arbeitsplätze und diente zugleich alsFotoatelier, zu diesem Zweck war er miteiner Auskleidekabine ausgestattet.

(Quelle: Aichel, Otto: Das neue Kieler An-thropologische Institut, in: Mollison/Giese-ler: Anthropologischer Anzeiger, München1930, S. 249-252)

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Neben Hör- und Kurssaal bot das „Es-marchhaus” zahlreiche Arbeitsräume fürInstitutsleitung, Assistenten und Sekreta-riat sowie einen Raum für die Sammlun-gen.

(Quelle: Aichel, Otto: Das neue Kieler An-thropologische Institut, in: Mollison/Gie-seler: Anthropologischer Anzeiger, Mün-chen 1930, S. 249-252)

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Scheidt wurde Institutsleiter und erhielt ein Ordinariat für Rassen-und Kulturbiologie an der Universität.11

Rassenkundliche Untersuchungen an den Universitäten Kiel und Hamburg. Anden Anthropologischen Instituten in Kiel und Hamburg wurden ab1925 rassenkundliche Untersuchungen an lebenden Menschen vor-genommen. Mitglieder von alteingesessenen Familien aus demländlichen Raum wurden nach Rassenmerkmalen untersucht. Vor-rangiges Ziel war es offenbar herauszufinden, in welchem Maße dieuntersuchten Personen Merkmale der „nordischen Rasse” aufwie-sen. Besondere Aufmerksamkeit wurde deshalb auf die Vermessungder Schädel gerichtet. Ein länglicher, schmaler Schädel galt als typi-sches Merkmal der nordischen Rasse.

Das Verfahren war standardisiert. Zunächst wurden mit Hilfevon Pastoren, Lehrern oder anderen ortskundigen Personen anhandder Kirchenbücher Familien ausgewählt, die seit möglichst vielenGenerationen ortsansässig waren. Bevorzugt wurden Bauernfamili-en, denn von ihnen erhoffte man sich ein bodenständiges Heiratsver-halten, das die Einmischung ortsfremder Erbanlagen erschwerte.Damit verbunden war offenbar die Suche nach einer Ursprünglich-keit und Reinrassigkeit, an deren Existenz schon Gobineau in seinerUntersuchung über die Menschenrassen geglaubt hatte.

Durch diese Vorauswahl der Personengruppe, deren Körper dannnach Merkmalen der „nordischen Rasse” untersucht werden sollten,war es eigentlich schon unmöglich, ein repräsentatives Ergebnisnach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu erzielen. Es ist zu ver-muten, dass dieses Verfahren gewählt wurde, weil von vornherein zuerwarten war, dass die Trefferquote sehr gering ausfallen würde,dass also die Wahrscheinlichkeit, Menschen mit Merkmalen der„nordischer Rasse” in der Bevölkerung zu finden, als äußerst geringeingeschätzt wurde.

11 Vgl. zur Vita Walter Scheidts das „Bio-gramm“ bei Etzemüller: Auf der Suche,S. 254.12 Vgl. Hans-Werner Prahl: Die Hochschu-len und der Nationalsozialismus. In: ders.(Hrsg.): Uni-Formierung des Geistes. Uni-versität im Nationalsozialismus Bd. 1, Kiel1995, S. 7-50, hier: S. 40.13 Dazu Hans Weinert:„ Als zusammen-hängendes größeres Gebiet wurde seit1935 die Bevölkerung der Insel Helgolandanthropologisch aufgenommen. […] Diewesentlichen Ergebnisse legte Dr. Bauer-meister jetzt in seiner Habilitationsschriftnieder. […] Die umfangreiche Arbeit mitdem Titel: Helgoland, Eiderstedt u. Dith-marschen. Untersuchungen an Schlesw.-Holst. Westküste erschien in: Veröffentli-chungen des Instituts für Volks- und Lan-desforschung an der LandesuniversitätKiel, Verlag von S. Hirzel in Leipzig.” HansWeinert: Rassenkundliche Erhebungen underbbiologische Untersuchungen an der Be-völkerung Schleswig-Holsteins. In: KielerBlätter (1941), S. 65-68.

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Quellenlage: Die Suche nach Aufzeichnungen über diese Unter-suchungen stellte sich schwieriger heraus als gedacht. Das his-torische Archiv der Universität Kiel, heute im LandesarchivSchleswig-Holstein verwahrt, enthält über das Anthropologi-sche Institut nur ein paar Briefblätter mit Gesuchen um För-dergelder. Über die rassenkundlichen Forschungen des Insti-tuts ist dort nichts erhalten. Schon Hans-Werner Prahl hatte1995 bei der Herausgabe seiner Aufsatzsammlung über die„Universität Kiel im Nationalsozialismus” festgestellt, dassdie Quellenlage schwierig sei und sich oft nur die gedrucktenPublikationen der Lehrenden finden lassen.12 Bei meiner Su-che stellte sich jedoch heraus, dass sogar unter den gedrucktenWerken Lücken sind, selbst eine als bereits gedruckt angekün-digte Habilitationsschrift ist heute verschollen.13

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Bei den folgenden Untersuchungen gingen die Anthropologenmit ihren Messinstrumenten von Hof zu Hof, um eine Vielzahl vonKörpermaßen aufzunehmen. In zwei Regionen wurden auch dieBlutgruppen ermittelt. Die untersuchten Personen wohnten in einemUmkreis von bis zu 10 verschiedenen Dörfern. Die Anzahl der ver-messenen Personen variierte zwischen 338 (Elbmarschen) und 2205(Schwansen und Schlei).

Im Elb-Weser-Mündungsgebiet. Eines der ersten Gebiete, in denen inNorddeutschland rassenkundliche Forschungen durch Vermessungvon lebenden Personen durchgeführt wurden, waren mehrere nie-dersächsische Dörfer, die zu den Kirchspielen Bederkesa, Bremer-vörde und Börde Lamstedt gehörten. Dort wurde im August 1925begonnen, 1000 Erwachsene auf ihre körperlichen Rassenmerkmalezu untersuchen, davon 502 Männer und 498 Frauen. 1929 wurdendie Forschungsergebnisse von Wilhelm Klenck und Walter Scheidtveröffentlicht.14

Um welche Dörfer es sich im Einzelnen handelte, geht nur ausder Danksagung der Autoren hervor, die in ihrem Vorwort die Perso-nen und ihre Herkunftsorte aufzählen, welche ihnen bei ihren For-schungen vor Ort geholfen haben: Bartels sen. und Bartels jun.(Armstorf), Becker (Abbenseth), Brandt (Nordahn), Brackhahn(Dornsode), Sparkassenrendant Mangels (Lamstedt), Henning(Stintstedt), Wipperling (Mittelstenahe), W. Baak (Alfstedt) und H.Hagenah (Bevern). Weiter werden genannt Pastor Bartels aus Lam-stedt, der die Kirchenbücher zugänglich machte und deren Bearbei-tung förderte, sowie der Direktor des Hamburger Völkerkundemu-seums, Prof. Georg Thilenius, und Prof. Eugen Fischer, Direktor desKaiser-Wilhelm-Instituts. Ebenso gedankt wird dem regionalen Hei-matverein der „Männer vom Morgenstern”, dem Landrat Knöpflerund dem Staatsarchiv Hannover. Beteiligt bei den Untersuchungenwaren Repräsentanten der Kirche, der Wissenschaft, der Wirtschaftund der kulturellen und staatlichen Institutionen. Da die Kirchen-bücher durchgesehen wurden, lässt sich vermuten, dass auch hiervor der eigentlichen Untersuchung alteingesessene Familien ausge-sucht wurden, von denen man annahm, dass ihre lebenden An-gehörigen relativ ursprüngliche, unvermischte Erbanlagen trugen.

Die Messungen ergaben, dass die untersuchten Personen einenbesonders großen „Hauptdurchmesser des Kopfes” hatten, ein Er-gebnis, dass den 1925/26 vorgenommenen Untersuchungen an derBevölkerung Finkenwerders15 entsprach, jedoch vom „landläufigenBild der nordischen Rasse” abwich, so die Autoren selbst zu dem er-klärungsbedürftigen Ergebnis ihrer Untersuchungen.16

Die Elbinsel Finkenwerder17. Rassenkundliche Untersuchungen wurdenum 1930 zumeist an den Peripherien des Deutschen Reiches durch-geführt, weit abgelegen von den industriellen Metropolen der Groß-städte, in denen sich, angelockt durch ein relativ gutes Angebot anArbeitsplätzen, Menschen aus vielen Regionen sammelten und ver-

Abbildungen rechts:Ergänzend zu den Körpermessungen fer-tigten die Anthropologen Porträtfotografi-en an, die zum Teil auch in den gedruck-ten Veröffentlichungen abgebildet wurden;hier Aufnahmen von drei Männern ausdem Elbe-Weser-Mündungsgebiet.Diese und die folgenden Porträtaufnah-men sollten womöglich den Eindruck er-wecken, es handele sich um Abbildungenvon Bewohnern mit einem regionaltypi-schen Aussehen.

14 Wilhelm Klenck und Walter Scheidt:Geestbauern im Elb-Weser-Mündungsge-biet, Jena 1929.15 Walter Scheidt: Bevölkerungsbiologieder Elbinsel Finkenwärder vom dreißig-jährigen Krieg bis zur Gegenwart, Jena1932.16 Vgl. Klenck/Scheidt: Geestbauern,S. 74.17 Vgl. hierzu Etzemüller: Auf der Suche,S. 127-135. Bis 1937 war für den Ham-burger Teil die Schreibweise „Finkenwär-der“ üblich, danach die bis heute gültige.Vgl. Franklin Kopitsch/Daniel Tilgner:Hamburg-Lexikon. Hamburg 1998,S. 158.

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mischten. Da mag es zunächst verwundern, dass die Wahl des An-thropologen Walter Scheidt auf die Bevölkerung der zum Stadtge-biet Hamburgs gehörenden Elbinsel Finkenwerder fiel. Hamburghatte bereits ab 1910 mehr als eine Million Einwohner und wuchsbeständig weiter.

Scheidts 1932 veröffentlichte Untersuchung der BevölkerungFinkenwerders18 schloss an eine „rassenkundlich-volkskundliche”Arbeit von ihm und Hinrich Wriede an, die 1927 veröffentlicht wor-den war.19 Auf der damals noch rein landwirtschaftlich strukturiertenInsel, die von der Industriemetropole durch den breiten Arm derNorderelbe getrennt ist, wurden wieder zunächst die Kirchenbüchernach besonders alteingesessenen Familien durchgesehen und sowird auch der Titel „Bevölkerungsbiologie der Elbinsel Finkenwär-der vom dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart” verständlich,denn gewöhnlich gehen die Kirchenbücher in der Region bis auf dieZeit des dreißigjährigen Krieges zurück. Das aus den Kirchen-büchern gewonnene Material bot reichlich Aussicht auf den Fundvon altem, unvermischtem Erbgut in der Bevölkerung, und so er-klärt sich auch die Wahl des Forschungsgebietes unmittelbar vor denToren der Großstadt. Für die Herstellung einer aus 28 000 Zettelnbestehenden Kartei wurde im Vorwort des Verfassers wiederum Ge-org Thilenius gedankt, dem Direktor des Hamburger Museums fürVölkerkunde. Weiterhin dankte man Pastor Wecken und SchulrektorReinstorf für ihre Hilfe.

Zur Anthropologie der Nordfriesen. Im Sommer 1928 unternahm KarlSaller20 rassenkundliche Untersuchungen an der Bevölkerung zwei-er Harden in Nordfriesland.21 Es handelte sich um die Wietinghardemit den Dörfern Rodenäs, Klanxbüll, Neukirchen, Horsbüll undEmmelsbüll und die Böckingharde mit den Dörfern Dagebüll, Fah-retoft, Risum, Lindholm und Stedesand. Ortskundliche Hilfe fandder Verfasser bei Dr. Michelsen (Christian-Albrechts-Koog), PastorMichelsen (Deezbüll), Pastor Damm (Rodenäs), Pastor Katt (Hors-büll), Dr. med. Hattesen (Neukirchen), Prof. Feddersen (Kleiseer-koog), Pastor Magaard (Stedesand), Lehrer Clausen (Lindholm),Redakteur Dr. Hahn (Niebüll) und bei fast allen Lehrern des unter-suchten Gebiets. Gemessen wurden neben der erwachsenen Bevöl-kerung auch die Schulkinder.

Die Untersuchungsergebnisse zeigten im Wesentlichen Ähnlich-keiten mit denen aus Süderdithmarschen (s.u.). Die Kopfmaße be-schrieb der Autor als sehr lang und breit, langförmiger als die ande-rer schleswig-holsteinischer Gruppen, allerdings runder als ost- undwestfriesische. Die Augen- und Haarfarbe seien sehr hell.

Saller widmete sich in dieser Arbeit ausführlich dem ThemaBlutgruppenbestimmung. Bei den untersuchten Schulkindern stellteer einen extrem niedrigen Prozentsatz von Trägern der Blutgruppe Bfest. Das veranlasste ihn dazu, in einer Fußnote auf einen Zeitungs-artikel der „Kieler Neuesten Nachrichten” (KNN) vom 24.7.1929 zuverweisen, den er wohl beim Verfassen seines Berichts gerade gele-

Abbildungen links:Aufnahmen von drei Frauen aus dem Elbe-Weser-Mündungsgebiet.

18 Scheidt: Bevölkerungsbiologie.19 Walter Scheidt/Hinrich Wriede: DieElbinsel Finkenwärder. München 1927.20 Vgl. zu Sallers Vita Etzemüller: Auf derSuche, S. 205f. sowie das „Biogramm“,S. 253f.21 Karl Saller: Zur Anthropologie derNordfriesen. In: Jahrbuch des nordfriesi-schen Vereins (1929), S. 119-139.

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sen hatte.22 Darin wurde eine Korrelation zwischen Kriminalismusund Trägern der Blutgruppe B festgestellt. Im Zuchthaus zu Rends-burg sollten laut KNN 91,5 Prozent der Schwerverbrecher die Blut-gruppe B tragen, Mörder sogar zu 100 Prozent. Wollte Saller mitdieser Fußnote suggerieren, dass seine nach Rassemerkmalen unter-suchten Schulkinder wegen ihres besonders niedrigen Prozentsatzesan Trägern der Blutgruppe B vor Kriminalismus weitgehend gefeitseien? In jedem Fall ist ein solcher Exkurs in und Belege aus der Ta-gespresse im wissenschaftlichen Zusammenhang wohl als eher un-gewöhnlich zu bezeichen.

Die Fehmaraner. Die wohl umfangreichste Arbeit über regionale ras-senkundliche Untersuchungen in Schleswig-Holstein veröffentlichte1930 Karl Saller.23 Im März 1928 hatte er auf Fehmarn „möglichstalle über 6 Jahre alten Mitglieder alteingesessener Familien”24 ver-messen, außerdem auch alle Schulkinder. Die Fehmaraner stelltensich, „mit wenigen Ausnahmen, in liebenswürdiger Weise”25 für dieMessungen zur Verfügung. Der Verein für Familienforschung aufFehmarn leistete mit seinem gesammelten Material Hilfestellung,um die im Sinne der Forschung interessanten alteingesessenen Fa-milien zu ermitteln. Die Untersuchung sollte einen Beitrag zu einerumfassenden wissenschaftlichen Rassenkunde Deutschlands leisten.Welche Maße genommen und wie bei den Messungen vorgegangenwurde, schildert beispielhaft für andere Untersuchungen ein 25Punkte umfassendes Protokoll, nach dem sich erahnen läßt, wie einesolche Messung durchgeführt wurde (s. Messbogen S. 156/157).26

16 der insgesamt 25 zu erfassenden Körpermaße waren danacham Kopf zu messen, dem offenbar wichtigsten Körperteil zur Be-stimmung der Rassenmerkmale. Mit Ausnahme der Beinlänge inter-essierten die Größen unterhalb der Gürtellinie überhaupt nicht.

Nach der Feststellung der durchschnittlichen Maße von Männernwie Frauen wurden in zahlreichen Tabellen Korrelationen berechnet.Die Wichtigste darunter war der Längenbreitenindex, der die Breitedes Schädels im Verhältnis zu seiner Länge in Prozent angab. Warder Schädel relativ lang, so glaubte man, ein Exemplar der nordi-schen Rasse vor sich zu haben. Bei einem relativ breiten Schädel be-fürchtete man Einflüsse der slawischen Rasse.

Bei der Untersuchung auf Fehmarn stieß man auf unterschiedli-che Ergebnisse bei zwei Bevölkerungsgruppen. Während die altein-gesessene Bauernbevölkerung zu den größtgewachsenen nordischenPopulationen gehörte, die man bislang überhaupt gemessen hatte,erwies sich die Arbeiterschicht als „kleiner gewachsen, relativschmalköpfiger, breiterstirnig, mehr schmalgesichtig und schmalna-sig als die Bauernbevölkerung.”27

Die alteingesessene Bauernbevölkerung Fehmarns wies diemeisten Ähnlichkeiten mit den Bewohnern von Finkenwerder auf,während sie sich von der Bevölkerung Schwedens, Jütlands und deseuropäischen Nordens jedoch wesentlich unterschied.28

Abbildungen rechts:Aufnahmen von drei Einwohnern der InselFehmarn

22 Vgl. ebd., S. 136f., Anm. 1.23 Vgl. Karl Saller: Die Fehmaraner. Eineanthropologische Untersuchung aus Ost-holstein, Jena 1930.24 Ebd., S. 14.25 Ebd., Vorwort, o.S.26 Vgl. ebd., S. 15.27 Vgl. ebd., S. 228.28 Ebenda, S.231

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Schwansen und Schlei. Nach der rassenkundlichen Untersuchung deralteingesessenen Bevölkerung von Fehmarn durch den ersten Assis-tenten des neugeschaffenen Anthropologischen Instituts der Univer-sität Kiel, Karl Saller, setzte der ihm nachfolgende zweite Assistent,Friedrich Keiter, die Forschungsreihe mit einer Untersuchung derBevölkerung in Schwansen und an der Schlei fort.29

Den Danksagungen im Vorwort können wir wiederum die unter-suchten Orte und die beteiligten Personen aus der Region entneh-men: Propst Stoltenberg (Schleswig), Pastor Lucht sen. (Karby),Pastor Lucht jun. (Klein-Waabs), Hasselmann (Sieseby), Peters(Rieseby), Schuldirektor W. Jessen (Eckernförde), Schuldirektor P.Erichsen (Schleswig-Altstadt), Lehrer Mainz (Bohnert), LehrerSothmann (Grödersby), die Amtsträger der Fischervereine (Eckern-förde, Maasholm, Schleswig) und Alfred Klein (Eckernförde). DesWeiteren wurde gedankt Prof. Scheel (Kiel)30 und P.v. Hedemann-Heespen (Deutsch-Nienhof).

Vermessen wurden 1.353 Erwachsene und 852 Kinder31 in denMonaten August bis Oktober 1929. Um gegebenenfalls ganze Sip-pen erfassen zu können, ging das aus drei Personen bestehende For-scherteam von Haus zu Haus. Erfasst wurden nur Menschen, derenEltern und zumindest ein Teil der Großeltern als Schleswig-Holstei-ner angegeben wurden. Auch ganze Schulen wurden vermessen, mit

Vorangehende Seiten:Messbogen als Grundlage für die Untersu-chungen auf Fehmarn; 24 Körpermaßemussten erhoben werden.

Bild rechts:Mit dem Tasterzirkel konnten Kopflängeund -breite ermittelt werden, die wichti-gen Maße zur Ermittlung des Schädel-index.(Quelle: Günther, Hans F.K: Rassenkundedes des deutschen Volkes, München192910, S.31)

Rechte Seite:Neun Profile von untersuchten Personenaus der Region Schwansen und Schlei.

29 Keiter, Friedrich: Schwansen und dieSchlei. Schleswigsche Bauern und Fischer,Jena, Fischer, 193130 Gemeint ist offenbar der Lehrstuhlin-haber für Schleswig-Holsteinische Ge-schichte sowie Nordische und Reformati-onsgeschichte in Kiel, Prof. Dr. OttoScheel. Spannend wäre zu ermitteln, wor-in die Unterstützung bestanden hatte.31 Vgl. ebd., S. 44f.

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Ausnahme von Schülern, deren Eltern nicht in Schleswig-Holsteingebürtig waren. Der Autor betont in seiner Einleitung das „fast im-mer freundliche Entgegenkommen der Bevölkerung und die Anteil-nahme an unserer wissenschaftlichen Aufgabe”.32

In Erweiterung des bisherigen Messschemas kamen bei den Un-tersuchungen des Anthropologischen Instituts nun noch einige Erhe-bungen hinzu. Außerdem wurden von allen gemessenen Personendrei Porträtfotos auf 6x9-Packfilm gemacht: Frontal, im Halbprofilund im Ganzprofil. Einige von ihnen waren, auf hochwertigemKunstdruckpapier gedruckt, dem Buch angefügt. Vermutlich hattendiese Abbildungen die Ausgaben von Hans F. K. Günthers „Rassen-kunde des deutschen Volkes” zum Vorbild.

Die Auswertung der Messungen ergab nach Meinung der Auto-ren ein sehr differenziertes Bild. Autor Keiter erblickte nach seinenForschungsergebnissen einen „nordischen Grundstock”33 in der Be-völkerung Schwansens. Sein Institutsleiter Otto Aichel bezweifeltedies jedoch, indem er in seinem Vorwort auf „die Möglichkeit we-sentlicher ostbaltischer Beimischung”34 hinwies. Die Kopfmaße wa-ren „sehr lang und sehr breit, brachycephal”35, also rundköpfig undnicht langköpfig, wie es für die Zugehörigkeit zur nordischen Rasseerforderlich gewesen wäre. Zudem war die Körpergröße mit 170Zentimeter (Männer) relativ gering.

Die extrem detailierten Beschreibungen des Gesichts sind oftvon einer unfreiwilligen Komik. So schreibt Keiter über die Nasen-form: „Die konkave Nase meist mit aufgeworfener Spitze […]. Plat-te Lochflächen mit von seitlich verdecktem Nasensteg nicht selten,besonders bei Frauen. Gelegentlich kleine Nasenlöcher mit dickenWeichteilen an der Spitze.”36

Auch bei den gesondert untersuchten Fischergruppen gibt es sol-che Stilblüten: „Die Eckernförder stechen durch große Ohrhöhe,Gesichtshöhe, Gesichtsbreite, Kieferwinkelbreite und Nasenhöhe[…] hervor. Die Maasholmer weisen geringere Körpergröße auf.Die Angeliter haben längere Köpfe […]. Sie sind relativ langbeini-ger als die Schwansener […].”37

Süderdithmarscher Geestbevölkerung. In der nur 52 Seiten umfassendenVeröffentlichung von Karl Saller38 über die rassenkundliche Unter-suchung von 324 männlichen und 276 weiblichen, also insgesamt600 Personen über 16 Jahren fehlen leider die Angaben über die un-tersuchten Orte.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden meist mit den Zah-len aus Fehmarn verglichen, die ebenfalls von Saller stammten. Sowiesen die untersuchten Süderdithmarscher Personen einen kleine-ren Körperwuchs als die Fehmaraner auf, sie waren jedoch mit172,5 Zentimeter deutlich größer als die Menschen aus dem GebietSchwansen und Schlei. Da die Kopflänge „sehr beträchtlich” unddie Kopfbreite „relativ gering” war, wies ihr Längenbreitenindexden geringsten Wert der bis dahin untersuchten Gebiete aus, was alsIndiz für die Zugehörigkeit zur nordische Rasse betrachtet wurde.39

Rechte Seite:Drei untersuchte Personen aus Süder-dithmarschen.

32 Ebd., S. 1.33 Friedrich Keiter: Schwansen und dieSchlei. Schleswigsche Bauern und Fischer,Jena 1931, S. VI.34 Ebd.35 Ebd., S. 92.36 Ebd., S. 92.37 Ebd., S. 93.38 Vgl. Karl Saller: SüderdithmarsischeGeestbevölkerung. Eine anthropologischeUntersuchung aus dem niedersächsischenSprachgebiet, Jena 1931.39 Vgl. ebd., S. 53.

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Auch dieser Autor läßt sich über die Physiognomien seiner un-tersuchten Klienten in einer Weise aus, die dem heutigen Leser nichtklar werden läßt, ob Ironie im Spiel ist. So schreibt er: „Die Süder-dithmarscher sind daher zwar kaum mehr schmalgesichtig, abermehr langnasig als die Fehmaraner.”40 Und über die Frisuren seinerKlienten scheint er sich aus heutiger Sicht geradezu lustig zu ma-chen: „Für die Haarform der Süderdithmarscher lassen sich sichereAngaben ebensowenig machen wie für diejenige der Fehmaraner, dabei der meist kurzen Haarform der Männer für diese und bei derkünstlichen Verunstaltung der Haarform durch die Frisur auch beiden Frauen sichere Daten nicht zu gewinnen waren.”41

Bauern aus den holsteinischen Elbmarschen. Die rassenkundliche Untersu-chung einiger Dörfer der holsteinischen Elbmarschen42 von WilhelmVoss ging wiederum von Walter Scheidt, dem Leiter des Rassenbio-logischen Instituts der Universität Hamburg aus. In seiner Einleitungdankte der Autor Pastor Jensen (St. Margarethen), der 1913 eine derersten Dorfgeschichten Schleswig-Holsteins vorgelegt hatte, fernerStudienassessor Dr. Nagel, Hauptlehrer Schmaljohann und LehrerKoopmann (Kudensee, Krummendiek, Bekdorf, Vorder-Neuendorf)in der Wilstermarsch und Lehrer Bielenberg und Pastor Lensch (bei-de Borsfleth) in der Krempermarsch.

Die rassenkundlichen Aufnahmen wurden von Voss in den Jah-ren 1927-29 selbst durchgeführt nach den Grundsätzen, die Scheidtunter anderem in seiner Untersuchung über die Bevölkerung derElbinsel Finkenwerder aufgestellt und angewandt hatte. Voss ver-mutete, dass das große Verständnis, das ihm bei der Untersuchungvon der Marschbevölkerung entgegengebracht wurde, nicht zuletzt

Die Tabelle über Messungen der männli-chen Bauernbevölkerung in den Kirchspie-len St. Margarethen und Borsfleth der hol-steinischen Elbmarschen weist weit weni-ger Messgrößen auf als die Untersuchun-gen in Fehmarn.

40 Ebd., S. 53.41 Ebd., S. 36f.42 Vgl. Wilhelm Voss: Bauern aus denholsteinischen Elbmarschen, Hamburg1934.

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auf seine Kenntnis der niederdeutschen Sprache zurückzuführenwar.

Voss untersuchte 338 Personen, davon 199 aus der Wilster-marsch und 139 aus der Krempermarsch. Seine Messtabelle weistnur 12 Größen auf:

AugenfarbeKörpergrößegrößte Länge des Kopfesgrößte Breite des KopfesLängenbreitenindexKopfhöheLängenhöhenverhältnisBreitenhöhenverhältnismorphologische GesichtshöheJochbogenbreiteBreitenhöhenverhältnis des GesichtesNasenhöhe, Nasenbreite, Nasenindex

Eine „engere Verwandtschaft der niederdeutschen Gruppen”43 konn-te Voss bei seiner Untersuchung nicht feststellen. Mit Ausnahme derFehmaraner und der Frauen der Bökingharde waren die Köpfe alleranderen Vergleichsgruppen schmaler als die der Elbmarschenleutegebaut. Allein bei der Nasenform sah er eine gewisse Ausnahme.Ein Zitat soll hier belegen, mit welcher Detailversessenheit der Au-tor sich diesem Körperteil widmete: „Die Nasenform der Elbmar-schleute ist also ausgesprochen schmal und hoch. Breitförmige Na-sen sind in beiden Geschlechtern selten […]. Die aus sehr hoher Na-senwurzel entspringende Nase der Elbmarschleute zeigt ebenso wiedie der beiden Untergruppen, von ganz wenigen Ausnahmen abgese-hen, einen scharfen, dachförmigen Nasenrücken, der nur außeror-dentlich selten bei den Männern, selten bei den Frauen eine schwachkonkave Form zeigt. Viel häufiger, bei den Männern sogar gehäuft,ist der in einem starken Bogen in gleichförmigem Schwunge sichbiegenden bis zu einer sanften, leicht konvexen Form. Nasen, dievon der Knochen-Knorpelgrenze einen mehr oder weniger starkenKnick aufweisen, fehlen nicht, sind aber seltener als die zuerst er-wähnten. Daneben kommen gerade und, verhältnismäßig häufig, ge-wellte Nasenrücken vor, die letzteren besonders häufig bei den Frau-en.”44 Aus der Arbeit geht nicht hervor, ob diese Beobachtungendazu beitragen konnten, die Elbmarschenbevölkerung zumindest einStück weit der nordischen Rasse zuzuordnen.

Weitere am Kieler Anthropologischen Institut entstandene rassenkundliche Un-tersuchungen. Die Liste der Untersuchungen muss hier leider unvoll-ständig bleiben, da weitere Forschungsarbeiten verschollen sindoder absichtlich vernichtet wurden. So erwähnte der Kieler Instituts-leiter Hans Weinert 1941 in einem Aufsatz in den Kieler Blättern45

eine Habilitationsschrift von Wolf Bauermeister über rassenkundli-che Untersuchungen auf Helgoland, Eiderstedt und Dithmarschen.46

Danach sei bereits 1935 die Helgoländer Bevölkerung aufgenom-

43 Ebd., S. 51.44 Vgl. ebd., S. 51f.45 Weinert: Rassenkundliche Erhebungen,S. 65-68.46 Wolf Bauermeister: Helgoland, Eider-stedt und Dithmarschen. Untersuchungenan Schleswig-Holsteins Westküste. Veröf-fentlichungen des Instituts für Volks- undLandesforschung an der LandesuniversitätKiel, Leipzig.

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men worden. Diese „umfangreiche” Habilitationsschrift ist jedochweder in gedruckter Form noch als Manuskript auffindbar. Von denumfangreichen Untersuchungen und Messungen sind nur die Aus-wertungen der Kirchenbücher erhalten. Dasselbe gilt für rassen-kundliche Untersuchungen, die Karl Saller nach eigener Aussage ander Bevölkerung in der Probstei vorgenommen hat.47 Auch diese Ar-beit ist verschollen.

Die Beingrube von Wesselburen48. Um eine rassenkundliche Untersu-chung ganz anderer Art handelt es sich bei der Aufnahme der imFrühjahr 1936 bei Bauarbeiten gefundenen Gebeine in Wesselburendurch Reimer Schulz, den damaligen Assistenten am ThüringischenAmt für Rassewesen. Dort stieß man bei Erdarbeiten für den Bau ei-ner Wasserleitung in unmittelbarer Nähe der Gastwirtschaft „Ton-halle” auf etwa 500 Schädel. Offensichtlich handelte es sich um diezufällig entdeckte alte Abraumgrube des Friedhofs. Das Alter derSchädel schätzte Schulz auf mindestens 300 bis 400 Jahre vor Anla-ge des „neuen” Kirchhofs von 1784.

Rechte Seite:Einer der in Wesselburen gefundenenSchädel, die „recht erhebliche Längen-werte” aufwiesen.(Quelle: Schulz, Reimer: Die Schädelfun-de der Beingrube von Wesselburen alsBeitrag zur Rassenkunde Schleswig-Hol-steins, Leipzig 1939, S. 72)

Bild unten:Grabungen in der Beingrube von Wessel-buren 1936(Quelle: Schulz: Schädelfunde, S. 3)

47 Vgl. Saller: Die Fehmaraner, Vorwort,o.S.; Saller berichtet hier über seine Mes-sungen in der Probstei. 48 Vgl. Reimer Schulz: Die Schädelfundeder Beingrube von Wesselburen (Dithmar-schen) als Beitrag zur RassenkundeSchleswig-Holsteins, Leipzig 1939.

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Es handelte sich um insgesamt 474 Schädel, davon 270 männli-che und 204 weibliche, die „recht erhebliche Längenwerte” aufwie-sen und sich dadurch von den Messungen der nordfriesischen Grup-pen in der Böking- und Wietingharde sowie Eiderstedt49 unterschie-den. Die mittelalterlichen Schädel aus Wesselburen hatten alsoGemeinsamkeiten mit Sallers Messungen der SüderdithmarscherGeestbevölkerung.

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Die Rassenkundler hattenursprünglich erhofft, in Schleswig-Holstein einen Menschentypusvorzufinden, der weitgehend der nordischen Rasse entsprach. Allen-falls hatte man befürchtet, im östlichsten Untersuchungsgebiet aufder Insel Fehmarn Merkmale der ostbaltischen Rasse anzutreffen,die durch slawische Einwanderer ins Land gekommen waren. An derWestküste erwartete man hingegen die Dominanz von nordischenRassenmerkmalen, insbesondere in der friesischen Bevölkerungs-gruppe.

Die Bilanz wird nicht nur für die beteiligten Forscher enttäu-schend gewesen sein. Als wichtigstes Merkmal eines Angehörigender „nordischen Rasse” galt ein langer schmaler Schädel. Die Kra-niometrie (Schädelvermessung) spielte deshalb bei den Untersu-chungen eine zentrale Rolle. 1868 wurden in der französischen Dor-dogne bei Cro-Magnon prähistorische Schädel mit extrem langenund schmalen Maßen gefunden. Viele Rassenforscher sahen in die-sen Funden Belege für den archetypischen „nordischen Menschen”.

Um den Schädelindex oder auch Längen-Breiten-Index zu be-stimmen, wird die Schädelbreite in Prozent der Schädellänge ange-geben. Langschädel haben einen Schädelindex von unter 75, Kurz-schädel liegen über 79. Die in Schleswig-Holstein vermessenen Per-sonen hatten jedoch einen durchschnittlichen Index von 82 bis 83.Damit waren sie überwiegend kurzköpfig (brachycephal). Ursachedafür war nach Ansicht der Kieler Institutsleitung ein „flaches Hin-terhaupt”, wodurch ein eigentlich langgschädliger Kopf zu einemkurzschädligen wurde. Auch der erste Institutsleiter Otto Aichel hat-te bereits diese Entdeckung gemacht und den fehlenden Hinterkopf-teil auf einen „dinarischen Einschlag” in der norddeutschen Bevöl-kerung zurückgeführt. Sein Nachfolger Weinert war sich jedoch mitseinem Assistenten Bauermeister einig, dass die Schädelform mitdem „abgesunkenen Hinterhaupt” eine „nordisch-fälische” Spielartder nordischen Rasse darstellte. Damit war die Theorie rehabilitiertund die schleswig-holsteinische Bevölkerung konnte weiterhin dernordischen Rasse zugerechnet werden.50

Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich bei der untersuchtenPersonengruppe ja nicht um einen repräsentativen Querschnitt durchdie schleswig-holsteinische Gesamtbevölkerung handelte, sondernnur um eine sehr kleine, bewusst ausgewählte Gruppe, in der dieWahrscheinlichkeit, nordische Rassenmerkmale zu finden, vielfachgrößer war, als bei einer Untersuchung ohne gezielte Vorauswahl.

Hans Weinert war ab 1935 Leiter desAnthropologischen Instituts an der KielerUniversität.(Quelle: Wikipedia)

49 Schulz konnte sich bei seiner Arbeitauf die Ergebnisse von BauermeistersForschungen beziehen, die heute ver-schollen sind.50 Weinert: Rassenkundliche Erhebun-gen, S. 65.

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Schädelzeichnung eines prähistorischenCro-Magnon-Menschen mit langem Hinter-haupt, wie es für die „nordische Rasse”als typisch arisch propagiert wurde.(Quelle: Wikipedia)

Profilporträt eines Inselfriesen von Helgo-land mit „dinarischem Einschlag”. DerSchädelindex beträgt 93 (Kurzschädel).(Quelle: Weinert, Hans: Entstehung derMenschenrassen, Stuttgart 1941, S. 299)

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Wie anhand der Veröffentlichungen in den Bibliothekskatalogenzu ersehen ist, wurden die Untersuchungen nach 1936 nicht mehrfortgeführt.

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