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1 Migration – Internationale Perspektive - Beispiele Rainer Münz Migration – Integration Perspektiven für eine Europäische Migrationspolitik 14. – 15. Mai 2007 St. Virgil, Salzburg

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Migration – Internationale Perspektive - Beispiele

Rainer Münz

Migration – IntegrationPerspektiven für eine Europäische

Migrationspolitik

14. – 15. Mai 2007St. Virgil, Salzburg

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Migration in Europa, Migration in der Welt

Rainer Münz

Vorgeschichte

Räumliche Bewegungen von Menschen gab es zu allen Zeiten. Während des größten Teils ihrer Vor- und Frühgeschichte waren die Menschen Nomaden. Daher wurde der Wechsel des Wohnsitzes erst mit der Sesshaft-Werdung von Menschen ab der Jungsteinzeit zu etwas Besonderem. Von der Antike bis zur frühen Neuzeit war Migration häufig gleichbedeutend mit Eroberung, „Landnahme“ oder Ausdehnung des Einflussbereichs einer bestehenden Kultur. Dies gilt beispielsweise für Kelten, Griechen, Römer, Germanen, Araber, Ungarn und Bulgaren.

In allen diesen Fällen – vom Vordringen germanischer Stämme und asiatischer Reiter-Nomaden in die antike Zivilisation bis zur Ausbreitung der Araber in den Mittelmeer-Raum und nach Mesopotamien handelte es sich um eine Mischung aus Eroberungs- und Siedlungs-migration. Aktiv waren daran im Höchstfall allerdings nur wenige 10.000 Personen beteiligt.

Die letzten Einwanderer in das mittelalterliche Europa waren im 14. Jahrhundert die osmanischen Türken. Ihre Vorfahren stammten ursprünglich ebenfalls aus Zentralasien. Sie selbst dehnten ihr Herrschaftsgebiet von Anatolien auf den Balkan aus. Von dort eroberten sie 1453 Konstantinopel und etablierten sich als europäische Großmacht.

Neuzeit: koloniale und demographische Expansion Europas

Seit Beginn der Neuzeit wurde das Wanderungsgeschehen von der militärischen und wirtschaftlichen Expansion der europäischen Seemächte nach Übersee geprägt. Auslösend dafür war zum einen die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Bartolomëu Diaz, der 1488 das Kap der Guten Hoffnung umsegelte, und durch Vasco da Gama, der 1497 tatsächlich die indische Küste erreichte. Zum anderen aber waren die Fahrt von Christoph Kolumbus im Jahr 1492 nach Amerika entscheidend. Spanien und Portugal beschlossen daraufhin mit dem Segen Papst Alexanders VI. in den Verträgen von Tordesillas (1494), die Welt unter sich aufzuteilen. In Konkurrenz dazu errichteten die Niederlande, England und Frankreich eigene Kolonien in Nordamerika, Afrika, Asien und Ozeanien.

In der frühen Neuzeit handelte es sich primär um eine militärische und ökonomische Expansion. Unter dem Schutz der Flotten ihrer Heimatländer errichteten einige wenige europäische Pionier-Wanderer „Brückenköpfe“, Handelsniederlassungen, befestigte Häfen, Garnisonen und Plantagen. Viele von ihnen hofften auf raschen Reichtum und eine Rückkehr nach Europa. Im Nordosten der heutigen USA entstanden allerdings schon im frühen 17. Jahrhundert Gesellschaften von Siedlern, die dort auf Dauer ein Leben als freie Bürger führen wollten. Sie waren Vorreiter der späteren europäischen Auswanderungsbewegung.

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Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde aus der Expansion Europas in größerem Umfang eine Siedlungskolonisation, die auch die Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerungen veränderte. Davor hatten die europäischen Kolonialmächte allerdings bereits Sklaven aus Westafrika nach Nord- und Südamerika sowie in die Karibik „verfrachtet“. Sie sollten die rasch schwindende Zahl indigener Arbeitskräfte ersetzen. Dadurch kamen zwischen dem 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts rund 11 – 12 Millionen Menschen als Sklaven nach Amerika.1 Sie bilden den Ursprung jener afro-amerikanischen Bevölkerungen, die es heute von Brasilien über die Karibik bis in die USA gibt.

Nach 1750 begann in Europa eine Phase stärkeren Bevölkerungswachstums. Sie bildete zugleich die demographische Grundlage der damals einsetzenden Massenwanderung. Wesent-lich verbesserte Transportbedingungen – vor allem die Etablierung von leistungsfähigen Schiffs- und Eisenbahnlinien – bildeten die andere Voraussetzung. Schließlich veränderte die industrielle Revolution auch die Natur der Wanderungen. Gefragt waren zunehmend nicht mehr agrarische Siedler, sondern Arbeitskräfte für die in Übersee entstehenden Manufakturen.

Im Gegensatz zur Spätantike und dem frühen Mittelalter handelte es sich bei der europäischen Migration nach Übersee nicht mehr um „Völkerwanderungen“, sondern um die Wanderung von Individuen und Familien. Etliche Europäer emigrierten aus religiösen oder politischen Gründen. Dies galt insbesondere für Reformierte und Anhänger protestantischer Freikirchen, ab dem späten 19. Jahrhundert auch für europäische Juden, die in einer Reihe von Staaten diskriminiert oder verfolgt wurden. Es galt für Liberale und Republikaner, in kleinerem Umfang auch für Exponenten der europäischen Linken. Es waren nicht zuletzt Flüchtlinge, die nach dem europäischen Revolutionsjahr 1848 emigrieren mussten. Manche von ihnen machten später in den USA Karriere. Für die Mehrzahl der Auswanderer standen jedoch wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Emigration war für viele Europäer die einzige Chance, der eigenen Armut, der Knappheit an Boden oder den Beschränkungen zünftischer Ordnungen zu entkommen.

Durch Intoleranz und Verfolgung erzwungene Wanderungen spielten allerdings auch im innereuropäischen Wanderungsgeschehen eine Rolle. Seit Beginn der Neuzeit gab es Hunderttausende, die als Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten verfolgt wurden und schließlich ins Ausland flohen: So mussten zum Beispiel im 16. Jahrhundert Juden aus Spanien und Portugal in die Niederlande und in die Türkei fliehen. Im 17. Jahrhundert wurden Hugenotten aus Frankreich nach Preußen vertrieben; im 18. und sogar noch Mitte des 19. Jahrhundert Protestanten aus Salzburg und dem Tiroler Zillertal sowie aus anderen Habsburgischen Ländern. Im 19. Jahrhundert betraf die Flucht vor allem osteuropäische Juden aus Russland, der heutigen Ukraine, dem heutigen Polen und dem Baltikum.

Unabhängig vom jeweils dominanten Motiv hatten die hier analysierten Wanderungen erhebliche demographische Auswirkungen. In Nordamerika und der Karibik, in Teilen

1 Weitere zwei Millionen Afrikaner wurden als Sklaven in arabische Länder verkauft.

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Südamerikas und in Australien wurden die indigenen Bewohner entweder ausgerottet, durch den Kontakt mit Kolonisatoren von Infektionskrankheiten dahingerafft oder von europäischen Siedlern weitgehend aus ihrem ursprünglichen Lebensraum verdrängt. Deshalb denken wir beim Stichwort „Indianer“ heute vor allem an Bewohner unwirtlicher Regionen im Südwesten der USA oder an Jäger und Sammler im brasilianischen Regenwald. Dass es indianische Hochkulturen (z.B. Azteken, Inka, Maya, Olmeken) gab, ist in unserem kulturellen Gedächtnis wenig verankert.

In Nord- und Südamerika sowie in der Karibik bilden die Nachfahren europäischer Einwan-derer und afrikanischer Arbeitssklaven heute fast überall die Mehrheit. Auch Australien und Neuseeland haben Gesellschaften, in denen Einwohner ursprünglich europäischer Herkunft dominieren. Ähnliches gilt für Sibirien, den Norden Kasachstans und den Nordteil des Fernen Ostens, wo seit dem späten 18. Jahrhundert Russen und Auswanderer aus anderen Teilen Europas angesiedelt wurden. Einige gelangten auf diesem Weg sogar bis nach Alaska, das erst 1865 von Russland an die USA verkauft wurde.

Siedlungskolonisation gab es auch im südlichen Afrika, im Maghreb und seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Palästina. Im früheren Rhodesien (heute Sambia und Zimbabwe) sowie in Südafrika, Angola und Moçambique waren die europäischen Siedler und ihre Nachfahren zwar politisch und wirtschaftlich tonangebend. Doch demographisch blieben sie in der Minderheit. In Algerien mussten fast alle französischen Siedler und ihre Nachfahren am Ende eines blutigen Kolonialkrieges das Land verlassen, als dieses 1961 unabhängig wurde.

Im Gegensatz zu Amerika, Australien und dem südlichen Afrika spielten europäische Siedler in anderen Kolonialgebieten europäischer Mächte zahlenmäßig keine Rolle. In West- und Zentralafrika, Ostafrika, Süd- und Südostasien sowie im Pazifik und in Teilen der Karibik beschränkte sich die Präsenz der Kolonialmächte auf Soldaten, Verwaltungsbeamte sowie eine schmale Schicht von Unternehmern, Plantagenbesitzern und Abenteurern.

Innereuropäische Wanderungen zwischen industrieller Revolution und Weltwirtschaftskrise

Mit der Industrialisierung entstanden moderne Formen der Arbeitskräftewanderung. Migrantinnen und Migranten fanden Arbeit in Gewerbe und Industrie. Einige gründeten früher oder später eigene Betriebe. Nach 1850 gewannen die – in Summe beträchtlichen – innereuropäischen Migrationsbewegungen an Bedeutung.

Im 19. Jahrhundert setzte eine massive Zuwanderung in die neuen Zentren der Eisen- und Stahlindustrie ein. Dazu gehörten vor allem die britischen Midlands, Lothringen und das Ruhrgebiet, aber auch einige Industriegebiete der Schweiz. Zugleich wurden einige europäi-sche Metropolen damals durch Zuwanderung binnen weniger Jahrzehnte zu Millionenstädten – darunter London, Paris, Berlin, Wien und Budapest. Die Möglichkeit, in eine dieser

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wirtschaftlich und kulturell prosperierenden Metropolen zu ziehen, erschien vielen als Alternative zur Auswanderung nach Übersee.

Nach den Ersten Weltkrieg verringerte sich in Europa die Arbeitskräftewanderung und in den USA die Einwanderung generell. Ursache dafür war, dass die meisten Nationalstaaten – auch klassische Einwanderungsländer wie die USA – seit Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise die Zuwanderung ausländischer Staatsbürger einschränkten. In Mitteleuropa sowie auf dem Balkan reduzierte zudem die Gründung neuer Nationalstaaten jene Mobilität, die zuvor innerhalb des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns und der Osmanischen Türkei möglich gewesen war. Am Ende der 1920er Jahre kam es mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise schließlich zur völligen Abschottung nationaler Arbeitsmärkte in Europa.

Deportation, Flucht und ethnische Säuberung

Im 20. Jahrhundert wanderte weltweit die bislang größte Zahl von Menschen. Zu einem beträchtlichen Teil handelte es sich dabei um unfreiwillige Wanderungen: also um Flucht, Vertreibung oder staatlich erzwungenen Austausch von Bevölkerungen. Allein in Europa waren im 20. Jahrhundert fast 45 Millionen Menschen von Flucht, Deportation und ethnischer Säuberung über Landesgrenzen betroffen. Auslöser von Massenflucht und Vertreibung waren zum Beispiel der Erste Weltkrieg (die Armenier-Massaker in der osmanischen Türkei); die russische Oktoberrevolution von 1917 (1,5 Millionen Flüchtlinge) und der türkisch-griechische Krieg von 1922. Im anschließenden Frieden von Lausanne (1923) beschlossen Sieger und Besiegte die wechselseitige Aussiedlung von 1,5 Millionen griechisch-orthodoxen Christen aus der Türkei und von rund 500.000 Muslimen aus Griechenland. Großbritannien und Frankreich gaben dazu ihren Segen.

Auch während der Zeit des Nationalsozialismus, des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs

dominierten in Europa Flucht und Vertreibung, kollektive Umsiedlung, Deportation und

Zwangsarbeit. In Summe dürfte das NS-Regime rund 8,5 Millionen Zwangsarbeiter zur

Aufrechterhaltung von Land- und Kriegswirtschaft genötigt haben. In einem Teil der Fälle

Teil verbanden sich Deportationen und Genozid. Dies betraf vor allem Juden sowie Sinti und

Roma in Mittel- und Osteuropa (6 Millionen KZ- und Genozid-Opfer). Es betraf schließlich

eine große Zahl von Opfern stalinistischer Deportationen in der Sowjetunion durch die rund

20 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen im eigenen Land wurden.

Durch die politische Neuordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieben Flucht und Vertreibung während der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Tagesordnung. In Europa waren davon in erster Linie 12 Millionen Ost- und die sogenannten Volksdeutschen betroffen. Opfer staatlich verordneter Zwangsumsiedlung wurden aber auch 1,5 Millionen Polen sowie Hunderttausende Ukrainer, Italiener und Ungarn. Auch diese Zwangsmaßnahmen erfolgten

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überwiegend mit Zustimmung oder sogar im Auftrag der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs.

Außerhalb Europas führten die Gründung Indiens und Pakistans 1947 in beträchtlichem Umfang zu unfreiwilliger Migration. Schätzungen gehen von 11 Millionen vertriebene Moslems, Hindus und Sikhs aus. Gleiches gilt für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Sie führte zur Flucht und Vertreibung von 0,8 Millionen Palästinensern.

Nach 1950 kam es zum Massenexodus aus kommunistisch regierten Ländern; insbesondere

aus der DDR , Ungarn , Kuba , Polen, der Tschechoslowakei und Viet Nam. Nachdem

Tschiang Kai-schek mit seiner Armee den chinesischen Bürgerkrieg verloren hatte und nach

Taiwan floh, folgte ihm eine größere Zahl von Militärs und Zivilisten. Bulgarien setzte mit

seinen Zwangsmaßnahmen zur Assimilation ethnischer Türken und anderer Moslems zweimal

– nämlich um 1950 und ab Mitte der 1980er Jahre – eine halb freiwillige, halberzwungene

Massenauswanderung Richtung Türkei in Gang. Das Ceauşescu-Regime „verkaufte“ in den

1970er und 1980er Zehntausende seiner deutschsprachigen Bürger an die Bundesrepublik

Deutschland. Nach dem Zusammenbruch kommunistischer Regime auf dem Balkan kam es

zu Massenauswanderungen in den Westen: aus Bulgarien (1989-1990), Rumänien (1990-

1991) und aus Albanien (ab 1990). In der Zeit des Kalten Kriegs wurden diese Migranten im

Westen als politische Flüchtlinge anerkannt, obwohl bei vielen wirtschaftliche Motive im

Vordergrund standen.

Im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert führten Bürgerkriege und gewaltsame politische Konflikte unter anderem in Afghanistan, Bosnien, dem Kosovo, dem Irak, Ruanda, dem Sudan und in Tschetschenien zu erheblichen Flüchtlingsströmen.

Von den Flüchtlingen und Vertriebenen des 20. Jahrhunderts konnte später nur eine kleine Minderheit wieder in die alte Heimat zurückkehren. Der größere Teil blieb im Ausland; viele lebten über Jahre und manche sogar über Jahrzehnte in Flüchtlingslagern. Das UN-Hoch-kommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) schätzt, dass es im Jahr 2006 rund 10 Millionen internationale Flüchtlinge gab. Die überwiegende Mehrzahl der anerkannten Flüchtlinge hatte in einem ärmeren Land der Welt Aufnahme gefunden. Hinzu kommt die inzwischen auf mehrere Millionen Menschen angewachsene palästinensische Flüchtlings-Bevölkerung, die nicht unter das Mandat des UNHCR fällt.

Wichtigste Aufnahmeländer waren in den vergangenen Jahren: der Iran, Pakistan, Deutsch-land sowie einige ostafrikanische Länder. Insgesamt wurden in West- und Mitteleuropa zwischen 1989 und 2006 rund 7,5 Millionen Asylanträge gestellt. Hier gibt es seit Ende des Kalten Kriegs allerdings eine klare Tendenz, Asylbewerber und Bürgerkriegsopfer nicht mehr automatisch als politische Flüchtlinge anzuerkennen, sondern allenfalls befristet zu dulden. Im Gegensatz dazu hat sich die Zahl der in ärmeren Ländern Asiens und Afrikas aufgenom-menen Flüchtlinge nach 1980 deutlich erhöht. Ärmere Länder in der Nachbarschaft von

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Krisenregionen tragen somit heute die Hauptlast bei der Bewältigung von Flüchtlingsproble-men.

Zu den unfreiwilligen Migranten gehören auch die Binnenvertriebenen. Von ihnen gab es im frühen 21. Jahrhundert weltweit rund 24 Millionen (2006). Die meisten waren und sind Opfer von zurückliegenden oder noch andauernden Bürgerkriegen. Vielfach handelt es sich um Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten sowie um Sympathisanten unterlegener Fraktionen, vielfach um Teile der von einer der Kriegsparteien terrorisierten Zivilbevölke-rung.

Entkolonialisierung und postkoloniale Wanderung

Bis 1960 war Europa ein Auswanderungskontinent. Erst seit den späten 1950er und 1960er Jahren gibt es auch eine nennenswerte Zuwanderung aus anderen Regionen der Welt nach Europa. In Ländern wie Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und später auch Portugal hatte dies mit dem Rückzug dieser Länder aus ihren Kolonien zu tun. Am Ende europäischer Kolonialherrschaft in Afrika, im Nahen Osten, in Süd- und Südostasien sowie in der Karibik wanderten in Summe mehrere Millionen zuvor für die Kolonialverwaltung tätige Beamte und Soldaten sowie Siedler europäischer Herkunft in die jeweiligen Mutterländer. In einigen Fällen war die Auswanderung „weißer“ Siedler explizit oder implizit Teil der Vereinbarungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und neu entstehenden Nationalstaaten. So sah etwa der Vertrag von Évian zwischen Frankreich und der algerischen Befreiungsbewegung FLN die vollständige Absiedlung von rund 1 Million Algerienfranzosen – so genannten Piéds noirs – ins französische „Mutterland“ vor. Auch die in den 1990er Jahren erfolgte Rückwanderung von rund 5 Millionen ethnischen Russen aus Zentralasien, dem Kaukasus und dem Baltikum nach Russland kann man letztlich als Folge eines Prozesses der Entkolonialisierung interpretieren.

Den „Kolonialrückkehrern“, von denen viele zuvor nie in den jeweiligen europäischen Mutterländern gelebt hatten, folgten in großer Zahl auch Einheimische aus ehemaligen Kolonien. Nach Großbritannien kamen vor allem Inder, Pakistanis und Anglo-Karibier, nach Frankreich vor allem Algerier, Tunesier und Marokkaner sowie Vietnamesen und Westafrika-ner. In die Niederlande kamen sowohl christliche und moslemische Bürger Indonesiens als auch Surinamer und Bewohner der Niederländischen Antillen. In den 1970er Jahren migrier-ten schließlich Bewohner Angolas, Moçambiques und der Kapverden in größerer Zahl nach Portugal. Sie alle kamen auf der Suche nach Arbeit und besseren Bildungschancen nach Europa. Manche wollten auch nach der Entkolonialisierung ausgebrochenen Bürgerkriegen und politischer Repression im jeweiligen Herkunftsland entfliehen. Gefördert wurde diese Migration von der zunehmenden Nachfrage nach billigen, weniger qualifizierten Arbeitskräften in Europa.

Die postkolonialen Wanderungen wurden anfangs dadurch erleichtert, dass die Mutterländer Bewohnern ihrer ehemaligen Überseegebiete die Staatsbürgerschaft zuerkannten oder sie zu-

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mindest als bevorzugte Einwanderer behandelten und diese meist schon Englisch, Franzö-sisch, Niederländisch oder Portugiesisch sprachen. Gerade in den ehemaligen Kolonialmäch-ten entstanden dadurch neue ethnische Minderheiten, die heute vor allem das Bild der großen städtischen Metropolen Westeuropas prägen. Bis heute stößt die ökonomische und soziale Integration dieser Minderheiten auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Zuwanderer aus ehemaligen Kolonialgebieten und inzwischen unabhängigen Staaten der „Dritten Welt“ bilden heute an vielen Orten neue Unterschichten der „Ersten Welt“. Mancherorts etablierten sich allerdings auch neue ethnische Eliten.

Arbeitsmigration

Die Rekrutierung von Arbeitskräften fand schon unter kolonialen Vorzeichen. Innerhalb des britischen Empire wurden Inder seit dem 19. Jahrhundert als Arbeitskräfte nach Mauritius, Ost- und Südafrika, in die Karibik, Guyana und auf die Fiji-Inseln gebracht. In Südostasien rekrutierten Briten und Niederländer in größerer Zahl chinesische Arbeitskräfte für die rasch wachsende Plantagenwirtschaft. Aber auch im westlichen Teil der USA und Kanadas wurden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert chinesische Migranten

In Nordamerika begann die gezielte Rekrutierung von Arbeitsmigranten bereits im späten 19. Jahrhundert, als man Chinesen in den Westen der USA und Kanadas holte. Sie wurden beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnen sowie als Holzarbeiter eingesetzt. Später kamen temporäre Arbeitskräfte vor allem aus Mexiko. Zwischen 1942 und 1964 erfolgte die Rekru-tierung von Mexikanern auf Basis des so genannten "Bracero-Programs". Im Gegensatz zu regulären Immigranten war bei diesen Arbeitskräften keine dauerhafte Niederlassung in den USA vorgesehen. Auch nach 1964 kamen in größerer Zahl irreguläre Migranten vor allem aus Mexiko und Südamerika in die USA. Viele von ihnen konnten ihren Status 1986 – 1989 legalisieren. Im Jahr 2006 ergab eine Schätzung, dass erneut 10-13 Millionen irreguläre Arbeitsmigranten in den USA lebten; unter ihnen vor allem Arbeitskräfte aus Mexiko und anderen Staaten Lateinamerikas, aber auch eine wachsende Zahl von Asiaten.

In Europa verfügen Frankreich und die Schweiz über eine bis ins 19. Jahrhundert zurück reichende Tradition der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. In den späten 1950er und in den 1960er Jahren begannen auch andere Länder Westeuropas– darunter Belgien, Deutsch-land und Österreich –, wenig qualifizierte Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren. Wichtigste Herkunftsländer waren Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und die Türkei sowie Marokko und Tunesien, später auch Jugoslawien. Darüber hinaus spielte in Schweden die Zuwanderung aus Finnland, in Großbritannien jene aus Irland, in Deutschland und der Schweiz auch jene aus Österreich eine Rolle.

In ihrer Mehrzahl kehrten die Arbeitsmigranten jener Zeit wieder in ihr Herkunftsland zurück. Eine ansehnliche Minderheit blieb jedoch und wurde sesshaft. Sie und ihre Kinder bildeten den Kern neuer, durch Arbeitskräftewanderung entstandener Minderheiten, mit denen Europa heute konfrontiert ist. Auslöser war der Anwerbestopp zu Beginn der 1970er Jahre. Den

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Anfang machte 1972 die Schweiz; Deutschland, Österreich und Schweden folgten 1973-1974 diesem Beispiel. Damit wollten die reicheren Länder Westeuropas signalisieren: Wir benötigen Euch nicht mehr; kehrt bitte wieder heim. Viele Betroffene verstanden dieses Signal jedoch als gegenteilige Botschaft: Anders als bis dahin solle man nun auch bei schlechter Arbeitmarktlage nicht ins Herkunftsland zurückkehren, weil eine spätere Wiederkehr kaum noch möglich schien.

Durch den Anwerbestopp verlagerte sich das Wanderungsgeschehen von der Arbeitsmigration zum Familiennachzug. Jene, die zum Bleiben entschlossen waren, holten nun ihre Ehepartner und ihre Kinder nach. Man hielt dies anfangs für einen Prozess, der bald abgeschlossen sein würde. Doch davon kann keine Rede sein. Denn viele Zugewanderte gründen erst im Zielland eine Familie – allerdings häufig mit einer Partnerin oder einem Partner aus der eigenen Herkunftsregion, oft sogar aus der eigenen Verwandtschaft. Gleiches gilt für in Westeuropa geborene Kinder von Zuwanderern. Auch von ihnen holen sich etliche die Partnerin oder den Partner aus dem Herkunftsland und der Herkunftsgruppe der Eltern. Deshalb dauern diese Formen der Familienwanderung bis heute an. In vielen Ländern Europas bilden sie inzwischen die wichtigste Möglichkeit legaler Zuwanderung. Man könnte auch sagen: Mangels anderer legaler Optionen nützen etliche die Möglichkeit der Heiratsmigration.

Erst mit dem Familiennachzug und der Gründung neuer Familien im Zielland stellte sich für viele Länder Europas das Problem der sozialen und politischen Integration von Zuwanderern. Spracherwerb und Vermittlung demokratischer Werte, Schulbesuch ausländischer Kinder und Erwerb der Staatsbürgerschaft. Mehrere EU-Staaten – darunter Dänemark, Deutschland, die Niederlande und Österreich – führten inzwischen verpflichtende Sprach- und Integrationskurse für Neuzuwanderer aus Drittstaaten ein.

Außerhalb Europas und Nordamerikas findet Arbeitsmigration derzeit vor allem aus Süd- und Südostasien in die arabischen Golf-Staaten, aus angrenzenden Staaten des südlichen Afrika nach Südafrika, innerhalb Südostasiens nach Malaysia und Singapur sowie innerhalb Südamerikas aus ärmeren Andenstaaten nach Brasilien und Argentinien statt.

Politische Flüchtlinge und ethnisch privilegierte Migranten

Mit der Spaltung Europas und dem Kalten Krieg entstand eine neue Form der Ost-West-Wanderung. In beträchtlicher Zahl versuchten Bürger kommunistisch regierter Länder in den Westen zu gelangen. Am größten war dieser Wanderungsstrom zwischen Ost- und West-deutschland, bis die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer die letzte Lücke im Eisernen Vor-hang schloss. In anderen Ländern Ostmitteleuropas kam es jeweils in Krisenjahren des kommunistischen Herrschaftssystems zu spontaner Massenauswanderung: 1956 aus Ungarn; 1968 aus der Tschechoslowakei; 1980 aus Polen; 1989 aus der DDR. In Westeuropa wurden jene, die aus einem Land „hinter“ dem Eisernen Vorhang emigrierten, bis 1990 in der Regel als politische Flüchtlinge anerkannt. Dass bei vielen auch wirtschaftliche Motive eine Rolle spielten, war damals kein Thema.

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Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zuwanderung von Asylbewerbern zu einem Problem. Denn ihre Zahl nahm nach dem Ende der politischen Spaltung Europas nicht ab, sondern zu. Dies hatte mit dem Wegfall der Reisebeschränkungen, aber auch mit wirtschaftlichen Transformationskrisen und dem Ausbruch gewaltsamer ethnischer Konflikte nach 1989 zu tun. Dies gilt insbesondere für Bosnien, das Kosovo und Tschetschenien. Darüber hinaus stammte nach 1992 der Grossteil der Asylbewerber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und der Türkei.

Die Länder Westeuropas reagierten auf diese Entwicklung mit der Wiedereinführung der Visumpflicht für etliche benachbarte Länder sowie mit einer Verschärfung ihrer Asylgesetze. Zudem entstand zwischen den EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten eine enge Kooperation in Asyl- und Visumfragen.

Etliche Staaten haben spezielle Einwanderungs- oder jedenfalls Begünstigungsprogramme für Angehörige ihrer „eigenen“ ethnischen oder religiösen Diaspora. Bekanntestes Beispiel ist Israel, wo alle Personen jüdischer Abstammung bzw. jüdischen Glaubens einwandern dürfen (1948-2006: 3,0 Millionen). Auch in Europa gibt es zahlreiche Migranten, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Recht auf Zuwanderung in einen der europäischen National-staaten hatten bzw. noch haben. Größte Gruppe sind ethnische Deutsche, die nach 1945 in Polen, Rumänien und der Sowjetunion verblieben waren. Sie und ihre Familienangehörigen fanden in großer Zahl Aufnahme in Deutschland (1950-2006: 4,5 Millionen). Allerdings versucht die Bundesrepublik seit den 1990er Jahre, diesen Zuzug zu bremsen.

Privilegierten Zugang gab es darüber hinaus in Griechenland für Pontus-Griechen aus Ost-mitteleuropa und dem Schwarzmeerraum, in Ungarn für ethnische Ungarn aus Siebenbürgen, der serbischen Vojvodina und der Westukraine, in Polen für ethnische Polen aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, schließlich auf dem Balkan für ethnische Serben in Serbien, ethnische Kroaten in Kroatien sowie ethnische Türken und andere Moslems in der Türkei. Auch Russland akzeptierte während der 1990er Jahre die Zuwanderung von Bürgern anderer Nachfolgestaaten der UdSSR (1990-2000: rund 5 Millionen), darunter mehrheitlich ethnische Russen.

Irreguläre Zuwanderung nach Europa

Seit den späten 1980er Jahren gewann die irreguläre Zuwanderung in Europa quantitativ an Bedeutung. Wichtigste Herkunftsländer waren zum einen Polen, Rumänien, Moldawien, die Ukraine und Albanien, zum anderen Marokko und Tunesien sowie einige Staaten Westafrikas und Lateinamerikas. Auslöser dieser Zuwanderung waren zum einen der Fall des Eisernen Vorhangs und die erleichterten Reisemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger Ostmittel- und Osteuropas. Zum anderen spielten die Entstehung und Ausweitung informeller Arbeitsmärkte in Westeuropa sowie der ökonomische Aufschwung in Südeuropa eine entscheidende Rolle.

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Beschäftigung fanden und finden irreguläre Migrantinnen und Migranten in erster Linie in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, als Haushaltshilfen und Pflegekräfte sowie im Gastgewerbe. Zu den in diesen Bereichen gezahlten Stundenlöhnen stehen Einheimische in vielen Regionen nicht mehr zur Verfügung; oder es mangelt generell an einheimischen Arbeitskräften. Mehrere Länder Europas – insbesondere Belgien, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien – reagierten auf diesen Zustrom an Arbeitskräften in Mehrjahresabständen mit groß angelegten „Amnestie“-Programmen. Insgesamt erhielten zwischen 1995 und 2006 im Rahmen solcher Programme in der EU und in der Schweiz mehr als 3,2 Millionen irreguläre Zuwanderer eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.

Zugleich bewirkten die EU-Osterweiterungen der Jahre 2004 und 2007 eine Legalisierung des Aufenthalts hunderttausender Bürgerinnen und Bürger Ostmitteleuropas, die schon davor in einem der „alten“ EU-Staaten vorübergehenden Auenhalt gefunden hatten. Länder wie Groß-britannien, Irland und Schweden öffneten für neue EU-Bürger gleich ihren Arbeitsmarkt; Finnland, Griechenland, Italien, die Niederlande und Spanien folgten 2006-07 diesem Beispiel. Im Gegensatz dazu haben Zuwanderer aus neuen EU-Mitgliedsstaaten in Deutschland oder Österreich zwar nun prinzipielles Aufenthaltsrecht, aber keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt.

Migration von Eliten und von Menschen im Ruhestand

Durch die Globalisierung von Ökonomie und Bildungssystemen vergrößerte sich in den letzten Jahrzehnten auch die Zahl von Managern, Spezialisten, Forschern und Studierenden, die innerhalb Europas und der Welt in ein anderes Land wechselten oder von ihren Firmen dorthin geschickt werden. Hauptziel von Forschern und Studierenden waren und sind die USA. Gleichzeitig wächst die Zahl ausländischer Studierender an europäischen Hochschulen. Schließlich erhöhte sich die Zahl europäischer, amerikanischer und nun auch asiatischer Firmen, die in mehr als einem Land tätig sind; und damit auch die Zahl jener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die innerhalb derselben Firma, aber im Laufe ihrer Karriere in unterschiedlichen Ländern tätig sind.

Zum Teil umfasst die Elitenwanderung auch Steuerflüchtlinge, die sich bevorzugt an Orten niederlassen, wo der Steuersatz niedrig ist oder ein Teil der jeweiligen Einkünfte bzw. Vermögenswerte nicht deklariert werden muss.

Von wachsender Bedeutung für Europa ist schließlich die Migration von Personen ab 50 Jahren, die ihren Lebensabend in einem anderen Land zubringen wollen. Hauptziel waren und sind bisher die Küstenregionen des westlichen Mittelmeers und der iberischen Halbinsel. Hier siedeln sich vor allem Briten, Deutsche und Skandinavier im Ruhestand an. Wesentlich kleiner war bisher der Zuzug von Ruheständlern nach Griechenland. Im Anstieg begriffen ist dagegen ihre Zahl an der türkischen Südküste. Mittlerweile hat sich die Reichweite dieser Art von „Ruhestands-Wanderung“ von Rentnern deutlich erhöht, und man findet sich schon in Sri Lanka und sogar auf indonesischen Inseln. Es ist nicht selten eine Art saisonaler Wanderung,

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und man wird an die seinerzeitige Transhumanz mancher Bevölkerungsgruppen zwischen niedrig gelegenem Winter- und höher gelegenen Sommer-Wohnsitz erinnert.

Parallel dazu gibt es eine Rückkehr ehemaliger Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer. Auch dies betrifft Personen im Ruhestand, in wachsender Zahl aber auch Personen, die in ihrem Herkunftsland bzw. in dem ihrer Eltern beruflich tätig werden.

Bis vor wenigen Jahren war dieses Phänomen vor allem aus den USA bekannt. Dort sind Florida und der Südwesten bevorzugte Ziele von älteren Menschen im Ruhestand. Im Gegensatz zur Situation in Europa sind die ausgewanderten Rentnerinnen und Rentner der USA jedoch Binnen-Migranten im eigenen viel größeren Land.

Weltweite Migration im 20. und frühen 21. Jahrhundert

Siedlungskolonisation – also Landnahme zur Errichtung von Dörfern und der landwirtschaft-lichen Nutzung vorhandenen Bodens – war für internationale Wanderungen nur bis ins 19. Jahrhundert typisch. In der Gegenwart spielt politisch motivierte und oft gewaltsame Siedlungskolonisation eine untergeordnete Rolle. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Landnahme durch jüdische Siedler auf dem Golan und im Westjordanland sowie die Massenansiedlung von Bewohnern Javas auf anderen Inseln Indonesiens. Stattdessen dominierten im 20. und frühen 21. Jahrhundert die klassische Arbeitsmigration, der Nachzug zu bereits ausgewanderten Familienmitgliedern, ethnische und – im abnehmendem Maß – postkoloniale (Rück-)Wanderung, Wanderung zu Studien- und Ausbildungszwecken, durch Not, politische Verfolgung oder ökologische Katastrophen ausgelöste Flucht, schließlich in nicht geringem Umfang: staatlich angeordnete Aussiedlung in ein anderes Land, gewaltsame Vertreibungen und so genannte „ethnische Säuberungen“.

In den 1960er Jahren gab es – nach Schätzungen der UN-Bevölkerungsforscher – weltweit etwa 75 Millionen internationale Migranten. Sie machten damals 2,5 % der Weltbevölkerung aus. In den Industrieländern lag der Zuwandereranteil damals bei 3,4 %; in weniger entwickelten Ländern bei 2,1 % der Bevölkerung. Die Mehrzahl der internationalen Migranten und Flüchtlinge lebte damals in der Dritten Welt; weniger als die Hälfte in einem der reicheren Industriestaaten. Letzteres hatte vor allem damit zu tun, dass Europa bis in die 1960er Jahre selbst eher eine Auswanderungsregion war, während die USA zwischen 1921 und 1965 – im Vergleich zu den Perioden davor und danach – nur wenige Zuwanderer ins Land ließen.

Bis Mitte der 1970er Jahre wuchs die Weltbevölkerung schneller als die Zahl der Migranten. 1970 gab es weltweit 82 Millionen Migranten. Das waren bloß 2,2 % der Weltbevölkerung. Ihr Anteil blieb eine Zeitlang stabil (1990: 120 Millionen Migranten bzw. 2,3 %). Allerdings erhöhte sich der Anteil der zugewanderten Bevölkerung in reicheren Ländern und Regionen (1990: 4,3 %).

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Nach 1990 wuchs die Zahl internationaler Migranten schlagartig. Dies hatte zwei ganz ver-schiedene Ursachen: Zum einen wechselten wesentlich mehr Menschen freiwillig oder gezwungen ihren Wohnort. Dies hatte dies mit ethno-politischen Konflikten und Bürgerkrie-gen (z.B. in Afghanistan, Bosnien, dem Kosovo, Ruanda und Tschetschenien), mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit einer gewachsenen Nachfrage qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften zu tun. Hauptziele der internationalen Migration waren Westeuropa, Nordamerika (USA, Kanada), die Golfstaaten und Russland, aber auch die unmittelbaren Nachbarregionen der Konfliktzonen.

Zum anderen handelte es sich beim Anstieg der Zahlen um einen statistisch-administrativen Effekt. Denn durch den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei erhöhte sich 1991–1993 „auf dem Papier“ die Zahl der internationalen Migranten. Binnenwanderer aus der Zeit davor wurden nun nachträglich zu internationalen Wanderern. Dabei dürfen wir allerdings eines nicht übersehen: Für die Betroffenen hatte dieser „statistische Effekt“ oft ganz handfeste Auswirkungen. Viele Menschen wurden über Nacht staatenlos, weil sie der „falschen“ ethnischen Gruppe angehörten: darunter hundert-tausende ethnische Russen, die zu sowjetischer Zeit nach Estland und Lettland gekommen waren; aber auch zehntausende slowakische Roma, die schon länger im tschechischen Landesteil lebten. Sie verloren damit ihre bürgerlichen und politischen Rechte. Gleiches galt vielfach auch für ihre bereits im Land geborenen Kinder. Andere ehemalige Binnenwanderer mit „falscher“ ethnischer Herkunft blieben zwar auf dem Papier Staatsbürger der neu gegrün-deten Nationalstaaten; aber sie wurden zu Minderheiten im eigenen Land und galten häufig als „unerwünscht“. Dazu gesellten sich ein massiver Assimilationsdruck, aber auch die mehr oder weniger nachdrückliche Aufforderung zur „Auswanderung“ – in Anführungszeichen, weil hier oft auch Menschen betroffen waren, die bereits im Land geboren waren.

2005 gab es weltweit rund 191 Millionen Menschen, die nicht mehr in ihrem Geburtsland

lebten. Sie machten knapp 3 % der Weltbevölkerung aus. Von ihnen lebten 116 Millionen in

Industrieländern. Hier machen sie im Schnitt bereits ein Zehntel der Bevölkerung aus (2005:

9,5 %). Immerhin 75 Millionen internationale Migranten lebten in weniger entwickelten

Ländern (Anteil: 1,4 %). Gerade unter ihnen sind viele Vertriebe und Flüchtlinge.

Über ein Drittel aller internationalen Migranten leben in Europa (34 %). Hier gibt es zwei Zentren der Zuwanderung: Mehr als Fünftel aller Migranten lebt im einem der 27 EU-Mit-gliedsstaaten (21%), insbesondere in den EU-Staaten im Nordwesten und Süden Europas. Zweiter großer Pol der Zuwanderung in Europa ist Russland, wo derzeit etwa 8 % aller Migranten der Welt ihren Wohnsitz haben. In den frühen 1990er Jahren kamen vor allem ethnische Russen aus anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Seit 1998 dominiert die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Nachbarländern.

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Mehr als ein Viertel aller internationalen Zuwanderer (28%) leben in Asien; vor allem in den Golf-Staaten, in Indien sowie in ost- und südostasiatischen „Tigerstaaten“.2 Dies sind die wichtigsten Zielländer von Arbeitsmigranten, die aus ärmeren Ländern Asiens stammen. In Israel dominiert die jüdische Zuwanderung. Groß ist die Zahl der Migranten schließlich in Pakistan, im Iran und in Usbekistan, wo sich mehrere Millionen afghanischer Flüchtlinge aufhalten.

Fast ein Viertel aller Migranten (23 %) lebt in Nordamerika. Hier sind die USA (20 %) das weltweit mit Abstand wichtigste Ziel internationaler Wanderer. Kanada (3 %) spielt eine geringere Rolle. Wichtige Ziele von Zuwanderern waren und sind darüber hinaus Australien und Neuseeland, der Republik Südafrika, in Libyen sowie einige westafrikanische Staaten. Bürgerkriege und ethnische Säuberungen bescherten darüber hinaus mehreren Staaten in Zentral- und Ostafrika große Flüchtlingspopulationen.

Etwas mehr als die Hälfte aller internationalen Migranten sind nach Schätzungen der ILO erwerbstätig.

Tabelle 1: Zahl und Verteilung internationaler Zuwanderer, 1960-2005

Jahr Welt Hoch entwickelte Länder (1) (absolut)

Anteil (in %) Entwicklungs- und Schwellenländer

(absolut)

Anteil (in %)

1960 75 32 43 43 57

1970 81 38 47 43 53

1980 99 47 47 52 53

1990 (2) 120 56 47 64 53

1995 (2) 165 95 58 70 42

2000 177 105 59 72 41

2005 191 116 61 75 39

Quelle: United Nations/Population Division (2006): International Migration Data Base

(1) Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland, Japan, UdSSR/GUS.

(2) Durch den Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei erhöhte sich nach 1990 die Zahl der internationalen Migranten, weil dadurch auch Binnenwanderer aus der Zeit davor nachträglich zu internationalen Migranten wurden.

Tabelle 2: Anteil internationaler Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung, 1960-2000

Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung (in %)

der Welt der hoch entwickelten Länder (1)

der Entwicklungs- und Schwellenländer

1960 2,5 3,4 2,1

2 Süd-Korea, Hong Kong, Taiwan, Malaysia, Singapore.

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1970 2,2 3,6 1,6

1980 2,3 4,2 1,6

1990 (2) 2,3 4,3 1,8

1995 (2) 2,9 8,1 1,6

2000 2,9 8,8 1,5

2005 2,9 9,5 1,4

Quelle: United Nations/Population Division (2006): International Migration Data Base

(1) Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland, Japan, UdSSR/GUS.

(2) Durch den Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei erhöhte sich nach 1990 der Anteil der internationalen Migranten, weil dadurch auch Binnenwanderer aus der Zeit davor nachträglich zu internationalen Migranten wurden.

Tabelle 3: Zahl, Anteil und regionale Verteilung internationaler Migranten, 2005

Zuwanderer

Region Absolut (in Mio.)

Anteil an der Bevölkerung (in %)

Verteilung nach Regionen (in %)

Afrika 17 1,9 9

Asien 53 1,4 29

Europa 64 8,8 32

Lateinamerika und Karibik 7 1,2 3

Nordamerika 44 13,5 23

Australien/Pazifik 5 15,2 3

Total 191 2,9 100

Zuwanderer in „klassischen“ Einwanderungsländern

In den USA, Kanada und Australien in geben Volkszählungen schon seit über 150 Jahren regelmäßig Auskunft über die zugewanderte Bevölkerung. Deshalb lassen sich Veränderungen über einen längeren Zeitraum verfolgen.

USA

Nordamerika war im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Hauptziel europäischer Auswande-rung. Zwischen 1820 und 1920 betrug die Zahl der Einwanderer insgesamt 31 Millionen. Auf Grund einer längeren Periode mit restriktiver Migrationspolitik sanken Zahl und Anteil der zugewanderten Bevölkerung in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei spielte auch die Rückwanderung nach Europa eine Rolle.

1950 lebten in den USA nur 10,1 Millionen im Ausland geborene Personen (6,9 % der Bevölkerung). Von ihnen stammten fast alle aus Europa. Bis 1970 fiel die Zahl der

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Zugewanderten weiter auf 9,6 Millionen und ihr Anteil sank auf 4,7 %. Danach wirkte sich immer stärker eine Gesetzesreform aus dem Jahr 1965 aus, welche die Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern erleichterte. Seither erfolgt Zuwanderung in die USA vor allem aus Lateinamerika und zunehmend auch aus Asien. Und die Zahl der Zuwanderer stieg beträchtlich. 2005 lebten in den USA bereits über 38 Millionen legale und irreguläre Migranten. Dies waren fast 13 % der US-amerikanischen Bevölkerung. Absolut stieg die eingewanderte Bevölkerung zwischen 1965 und 2005 auf das Vierfache.

Kanada

Nach Kanada waren zwischen 1820 und den 1920er Jahren rund 7 Millionen Menschen ein-gewandert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Zugewanderten in Kanada kontinuierlich: von 2,1 Millionen (=14,7 % der Bevölkerung) im Jahr 1951 auf 6,1 Millionen (18,9 %) im Jahr 2005. Absolut stieg die eingewanderte Bevölkerung zwischen 1951 und 2005 auf das Dreifache. Zugleich veränderte sich ihre Zusammensetzung. An die Stelle europäischer Auswanderer traten auch hier zunehmend Migranten aus Asien, Nordafrika und Lateinamerika. Kanada rekrutiert einen Teil seiner Zuwanderer über ein Punktesystem.

Australien

In Australien erreichte der Anteil der zugewanderten Bevölkerung Ende des Zweiten Weltkriegs mit ca. 9 % ihren niedrigsten Wert. Danach stiegen Zahl und Anteil wieder an: von 1,0 Millionen (11,9 %) im Jahr 1951 auf 4,0 Millionen (23,6 %) im Jahr 1991. Seither ist die zugewanderte Bevölkerung in Summe stabil, während ihr Anteil sinkt, weil die Gesamtbevölkerung weiter wächst (2005: 4,1 Millionen; 20,6 %). Bis in die frühen 1970er Jahre durften fast nur Personen „europäischer Herkunft“ nach Australien einwandern. Nach der Abschaffung dieser Beschränkungen, setzte eine stärkere Zuwanderung aus Asien ein. Auch Australien rekrutiert einen Teil seiner Zuwanderer über ein Punktesystem.

Einwanderungskontinent Europa

Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten Kriegsflüchtlinge und Vertriebene unfreiwillig die größte Gruppe internationaler Wanderer. Arbeitsmigranten gab es anfänglich nur in Frankreich und der Schweiz. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass 1950 in der westlichen Hälfte Europas nur 3,8 Millionen Ausländer lebten. Die Mehrheit dieser Ausländer waren Arbeitsmigranten. Stationierte ausländische Truppen sind in dieser Zahl allerdings nicht enthalten.

Erst seit Mitte der 1960er Jahre gibt es in den heutigen 27 EU-Staaten in Summe mehr Zuwanderung als Auswanderung. Seither stiegen auch in Europa Zahl und Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung: zuerst in Westeuropa, später auch in Südeuropa, in jüngerer Zeit auch in Teilen Ostmitteleuropas. Seit den 1990er Jahren wurde darüber hinaus auch

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Russland zu einem bedeutenden Ziel internationaler Zuwanderung, vor allem aus anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.

Heute leben in der EU-27, Norwegen und der Schweiz zusammen etwas über 500 Millionen Menschen. Von ihnen sind rund 42 Millionen Zuwanderer, haben also ihren Geburtsort in einem anderen europäischen oder in einem außereuropäischen Land. Die Zahl beruht zum Teil auf Schätzungen, denn einige Länder Europas unterscheiden in ihrer Statistik nicht detailliert zwischen den im eigenen Land und den anderswo Geborenen, sondern nur zwischen In- und Ausländern.

Trotzdem ist klar: Heute leben in West- und Mitteleuropa in Summe mehr Zuwanderer als in den USA. Zieht man allerdings die Wanderungsbewegungen zwischen den EU-Staaten ab, liegen die USA weiterhin vor West- und Mitteleuropa. Eine derartige Wanderung entspräche in den USA der dortigen Binnenwanderung. Trotzdem gibt es einen entscheidenden Unterschied: Wer von New York nach Kalifornien übersiedelt, bleibt Bürger im eigenen Land. Wer hingegen von Italien oder Bulgarien nach Deutschland oder Österreich übersiedelt, ist hierzulande zwar EU-Bürger, aber Ausländer mit eingeschränkten Rechten. Noch weniger Rechte haben all jene, die aus einem Drittstaat in die EU einwandern.

Wichtigstes Zielland der Zuwanderung nach West- und Mitteleuropa war in den letzten Jahr-zehnten die Bundesrepublik Deutschland. Heute leben hier etwa 10,1 Millionen Zuwanderer. Weltweit ist dies – nach den USA und Russland – die drittgrößte zugewanderte Bevölkerung der Welt. Danach folgen Frankreich (6,5 Millionen), Großbritannien (5,4 Millionen), Spanien (4,8 Millionen) und Italien (2,5 Millionen). Auch in der Schweiz (1,7 Millionen), den Niederlanden (1,6 Millionen), Österreich (1,3 Millionen), Schweden (1,1 Millionen) und in Griechenland (1,0 Millionen) ist ein beträchtlicher Teil der Einwohner im Ausland geboren.

Der Anteil der Zuwanderer liegt im europäischen Durchschnitt bei etwa 8,5 %. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist dieser Anteil der Zuwanderer in Kleinstaaten wie Luxemburg (37 %) und Liechtenstein (34 %) am größten. Unter den Flächenstaaten Europas hat die Schweiz mit rund 23 % den größten Zuwandereranteil. Deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegen auch Österreich (15 %), Irland (14 %), Schweden (12 %), Deutschland (12 %) und Spanien (11 %). Ein Sonderfall ist Zypern. Der Nord- und Ost-Teil der Insel ist seit 1974 von türkischen Truppen besetzt. Zuwanderer aus Anatolien machen dort zusammen mit den türki-schen Truppen mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Bei jeder politischen Lösung stellt sich die Frage, was aus diesen Siedlern werden soll. Zugleich gibt es seit Jahren eine ganz beträchtliche Zuwanderung in den griechischen Süd-Teil der Insel.

Untypisch ist die Situation auch in den Baltischen Staaten. In Lettland (20%) und Estland (15%) haben einen sehr großen Anteil an Zuwanderern. Doch der größte Teil dieser im heutigen Ausland geborenen Bevölkerung kam zu sowjetischer Zeit als Binnenwanderer ins Land. Diese Menschen wurden erst durch den Zerfall der Sowjetunion und die Wieder-Gründung unabhängiger Staaten im Baltikum zu internationalen Migranten – und zu

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Ausländern im eigenen Land. Gleiches gilt für viele Slowaken in der Tschechischen Republik sowie für Personen bosnischer, kroatischer oder serbischer Herkunft in Slowenien.

Europa und Amerika im Vergleich

„Klassische Einwanderungsländer“, zu denen wir heute die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zählen, zu denen historisch aber auch Länder wie Argentinien, Chile oder Brasilien gehörten, unterscheiden sich von europäischen Nationalstaaten in einem wesentlichen Punkt: Schon seit dem 19. Jahrhundert besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus Zuwanderern und deren Nachfahren. Es gibt so etwas wie einen nationalen Gründungsmythos, der auf die Zuwanderung des 17. bis 19. Jahrhunderts verweist.

Sieht man sich bloß die Zahl der im Ausland zur Welt gekommenen Einwohnerinnen und Einwohner an, dann bestehen etwa zwischen Deutschland und den USA keine großen Unterschiede. Die zehn Millionen Einwohner Deutschlands mit Geburtsort im Ausland machen etwa 12 % der Bevölkerung aus. Rund 38 Millionen Zuwanderer in den USA stellen einen ähnlich großen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung dar. In absoluten Zahlen hat Deutschland wesentlich mehr Zuwanderer als Kanada oder Australien.

Nicht so sehr die Zahl der Zuwanderer ist also für das Selbstverständnis entscheidend, sondern der Gründungsmythos oder das Grundverständnis der jeweiligen Gesellschaft aussieht. Dabei spielt Sesshaftigkeit in der Vorstellung der Deutschen eine wichtigere Rolle als in den USA oder in Kanada. Dort haben die meisten Einwohner – auch jene, die selbst nicht zugewandert sind – die Herkunft ihrer Vorfahren aus einer europäischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Gesellschaft im Bewusstsein und leiten daraus einen Teil ihrer Identität ab. Dagegen verstehen sich Deutschland, Österreich und die meisten anderen Länder Europas in erster Linie als Nationen derer, die „ursprünglich schon da“ waren.

Ganz offensichtlich ist es für Zuwanderer schwieriger, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, die sich selbst als kompakte Abstammungsnation verstehen. Etwas leichter ist dies in Gesellschaften, in denen Differenz in höherem Maße akzeptiert wird. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Zuwanderer in vielen Ländern Europas in überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind, weniger attraktive Positionen bekleiden, schlechter bezahlt werden und sich mit schlechteren Wohnungen zufrieden geben müssen als die Mehrzahl der Einheimischen. Dies setzt sich häufig in der nächsten Generation fort. Kinder von Zuwanderern besuchen seltener eine weiterführende Schule, brechen ihre Ausbildung häufiger ab, haben schlechte Aufstiegschancen und sind ebenfalls überdurchschnittlich häufig arbeitslos.

Deutlichster Hinweis für die mangelnde Integration vieler Zuwanderer ist, dass es in Europa 50 Jahre nach Beginn der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in der Nachkriegszeit eine beträchtliche Zahl von Zuwanderern gibt, die bereits lange hier leben, aber nicht eingebürgert wurden. In Summe besitzen mehr als die Hälfte aller Zugewanderten – insgesamt rund 24 Millionen – nur die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes. Damit sind Migrantinnen und

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Migranten zwar den Gesetzen des Landes unterworfen, in dem sie leben. Sie sind als fremde Staatsangehörige jedoch im Prozess der politischen Willensbildung und der Gesetzgebung nicht repräsentiert.

Dies führt dazu, dass in Europa – je nach Land – zwischen 3 % und 20 % der Bevölkerung von der politischen Willensbildung von vornherein ausgeschlossen sind. Auf kommunaler Ebene ist der Anteil der nicht-stimmberechtigten erwachsenen Bevölkerung oft noch deutlich höher. Umgekehrt räumen jedoch viele Staaten ihren im Ausland lebenden Staatsbürgern das Recht auf Beteiligung an Wahlen im Heimatland ein, selbst wenn diese Wählerinnen und Wähler, solange sie im Ausland bleiben, von den Folgen der Gesetzgebung des Herkunftslandes nur marginal betroffen sind.

Anders ist die Situation in den USA, Kanada und Australien. Dort ist die soziale Durchlässig-keit der jeweiligen Gesellschaft größer. Zuwanderer sind im Schnitt wirtschaftlich erfolgrei-cher als in Europa, schaffen eher den sozialen Aufstieg und sind nach einer gewissen zeit besser integriert. Bereits nach 3–5 Jahren können Zuwanderer die Staatsbürgerschaft dieser klassischen Einwanderungsländer beantragen.

Zweifellos sind die „klassischen“ Einwanderungsländer für viele potenzielle Migranten als Ziel attraktiver als die reichen Länder Europas. Dies gilt insbesondere für hoch qualifizierte, aufstiegsorientierte und stark motivierte Migranten. Dadurch haben die EU und ihre Mit-gliedsstaaten in der weltweiten Konkurrenz um qualifizierte Zuwanderer die schlechteren Karten. Und damit bekommt Europa auch weniger qualifizierte Zuwanderer als die USA, Kanada und Australien. Somit sind bei uns auch die Voraussetzungen für eine spätere Integration dieser Zuwanderer schlechter. Denn sie bringen in Europa im Schnitt weniger „Humankapital“ mit als in Nordamerika.

Ausblick ins 21. Jahrhundert

Die demographische Entwicklung der letzten Jahre macht zweierlei klar: Zum einen wächst in Europa die Zahl der Staaten, in denen mehr Menschen sterben als Kinder zur Welt kommen. Dadurch schrumpft zumindest die einheimische Bevölkerung. Ob die Einwohnerzahl zukünf-tig insgesamt schrumpft, hängt somit sehr wesentlich vom Ausmaß der Zuwanderung ab. Zum anderen haben inzwischen fast alle Länder West- und Mitteleuropas mehr Zuwanderung als Abwanderung. Dadurch wachsen Zahl und Anteil der zugewanderten Bevölkerung. Beide Entwicklungen zusammen führen dazu, dass die Bevölkerungen in vielen Ländern Europas nicht bloß durch die demographische Alterung „ergrauen“. Durch Zuwanderung werden sie zugleich ethnisch, kulturell und religiös immer „bunter“. Dadurch stellen sich Fragen der Zugehörigkeit neu. Es entstehen auch neue Konfliktlinien.

Es geht aus dieser Perspektive unterschiedlicher Herkünfte einerseits um Staatsbürgerschaft im engeren Sinne, also staatsrechtliche Zugehörigkeit und politische Rechte. Zum anderen geht es ganz konkret um die Frage, auf welche gemeinsamen Regeln und Wertvorstellungen

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sich Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft und Einheimische zukünftig verständigen können. Und es geht um die Frage, wie weit getrennte Identitäten möglich sind. Mit Blick auf die Religion vieler Zuwanderer ist jedenfalls klar. Zukünftig wird es in West- und Mitteleuro-pa auf Dauer größere muslimische und christlich-orthodoxe Minderheiten geben. Was Zuwan-derung für unser kulturelles Selbstverständnis als Europäer und für die zivilgesellschaftliche Zugehörigkeit von Einheimischen und Zuwanderern bedeutet, ist weniger klar. Denn anders als die USA und Kanada besitzen die meisten Gesellschaften Europas kein übergreifendes Selbstverständnis, das Zugewanderte und hier Geborene gleichermaßen mit einschließt. Damit wird unsere historische Identität durch „Fremde“, die zu uns kommen, eher in Frage gestellt. Zugleich sind damit sind die Grenzen der Integration bei uns enger definiert als in Nord-amerika. Amerikaner kann man als Zuwanderer im Laufe eines Lebens leicht werden, Europäer hingegen nicht ohne weiteres. Die terroristischen Anschläge muslimischer Extre-misten in New York, London und Madrid sowie gelegentliche Aufrufe zum Dschihad gegen alle Ungläubigen haben die Skepsis gegen außereuropäische Zuwanderer in West- und Mitteleuropa noch vergrößert.

Trotz einer skeptischen bis ablehnenden öffentlichen Meinung spricht heutiger Sicht fast alles für mehr Zuwanderung während der kommenden Jahrzehnte. Dafür gibt es mindestens drei handfeste Gründe:

Zum ersten werden die einheimischen Bevölkerungen fast überall in Europa altern und schrumpfen. In mehreren Ländern – darunter in Deutschland – hat diese Schrumpfung schon begonnen. Andere Länder werden folgen. In Summe würde sich die Zahl der Menschen zwischen 15 und 65 Jahren in der EU ohne Zuwanderung bis 2050 um 88 Millionen verrin-gern, während die Zahl der Menschen im Alter über 65 Jahren jedenfalls noch um 54 Millio-nen wachsen wird. Sinkende Geburtenzahlen führen dazu, dass zukünftig weniger junge Menschen mit frischem Wissen auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Damit entsteht früher oder später ein Mangel an jüngeren, qualifizierten Arbeitskräften. In manchen Branchen macht sich dies heute schon bemerkbar. Gleichzeitig wird die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften und nach persönlichen Dienstleistungen – insbesondere für ältere Menschen – automatisch wachsen wird. Mit anderen Worten: Alternde und schrumpfende Gesellschaften in reichen Gesellschaften Europas sind auf ein gewisses Maß an Zuwanderung angewiesen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Länder West- und Mitteleuropas eher früher als später von einer defensiven zu einer pro-aktiven Migrationspolitik übergehen werden.

Zum zweiten gibt es in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas Regionen mit niedrigem Einkommen, aber junger und rasch wachsender Bevölkerung. In Nordafrika und dem Nahen Osten wird die Zahl der 15- bis 65-Jährigen von heute 195 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 365 Millionen anwachsen und sich damit beinahe verdoppeln. Ähnliche Zuwächse sind in den angrenzenden Ländern des sub-saharischen Afrika zu erwarten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Europa dem in diesen Regionen vorhandenen Wunsch nach Auswanderung und

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besserem Leben ausschließlich durch technische und personelle Aufrüstung an seinen Grenzen begegnen kann.

Zum dritten wird es zukünftig neben politisch Verfolgten und Vertriebenen wahrscheinlich eine wachsende Zahl so genannter „Umweltflüchtlinge“ geben. Wichtigste Ursache dafür dürften die globale Erderwärmung und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels sein. Beides zusammen führt zur Ausbreitung von Wüsten, zur Versalzung bisher fruchtbaren Bodens und zur Überschwemmung bestehender Siedlungsgebiete. Zweifellos wird dies die Wanderungsströme nach Europa vergrößern; auch wenn es für die Aufnahme von Personen, deren Siedlungsraum durch Umwelteinflüsse zerstört wird, derzeit keinen geeigneten rechtlichen Rahmen und daher auch keine Entscheidungskriterien gibt. Migration wird in diesem Sinn zum Schicksal für die Menschheit insgesamt, insbesondere aber auch für die Einwohner hoch entwickelter Länder.

Autor

Rainer Münz leitet die Forschung und Entwicklung der Erste Bank, Wien, und ist Senior Fellow am Hamburgischen Weltwirtschafts-Institut (HWWI).

Kontakt: [email protected]; [email protected]