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Botho Strauß Mikado ISBN-10: 3-446-20808-9 ISBN-13: 978-3-446-20808-7 Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser.de/978-3-446-20808-7 sowie im Buchhandel

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Botho Strauß

Mikado

ISBN-10: 3-446-20808-9ISBN-13: 978-3-446-20808-7

Weitere Informationen oder Bestellungen unterhttp://www.hanser.de/978-3-446-20808-7

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Mikado Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während einesMessebesuchs entführt worden war, kehrte nach Zahlung eines hohenLösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nichtentführt worden war. Als die Beamten sie ihm erleichtert und stolznach Hause brachten, stutzte er und erklärte: Es ist Ihnen ein Fehlerunterlaufen. Dies ist nicht meine Frau. Die ihm Zu-, jedoch nichtZurückgeführte stand indessen hübsch und ungezwungen vor ihm,wachsam und eben ganz neu. Außerdem schien sie schlagfertig undgeistesgegenwärtig zu sein. Den Beamten, die betreten unter sichblickten, gab sie zu verstehen, ihr Mann habe unter den Strapazen dervergangenen Wochen allzusehr gelitten, er sei von der Ungewißheitüber das Schicksal seiner Frau noch immer so durchdrungen undbesetzt, daß er sie nicht auf Anhieb wiedererkenne. Solch eineVerstörung sei bei Opfern einer Entführung und ihren Angehörigennichts Ungewöhnliches und werde sich bald wieder geben. Daraufnickten die Beamten verständnisvoll, und auch der tatsächlichverwirrte Mann nickte ein wenig mit. Aus seinen dunkelsten Stundenwar also unversehens diese völlig Fremde, diese helle und munterePerson aufgetaucht, die den übernächtigten Fabrikanten von seinenschlimmsten Befürchtungen zwar ablenkte, diese aber keinesfallszerstreute. Schon am nächsten Morgen – sie schlief im Gästezimmer– fand er sie in der Garage vor einem am Drahtseil aufgehängtenFahrrad, dem kaum benutzten Fahrrad ihrer Vorgängerin. Sie hattedie Reifen abmontiert, die Schläuche geflickt, die Felgen geputzt unddie Pedale geölt. Eine Fahrradflickerin! dachte der Mann, der ihr eineWeile bei den Verrichtungen zusah. Eine gelehrte Frau habe ichverloren und dafür eine Fahrradflickerin bekommen! Aber dannspekulierte er für den Bruchteil einer Sekunde, was die Zukunft wohlfür sie beide bereithalte und ob er je mit ihr auf große Tour gehenwerde. Neben den flüchtigen erbaulichen Momenten bewegten ihnaber Zweifel, ob die Anwesenheit dieser einfühlsamen Unbekanntennicht ein tückischer Hinterhalt sein könnte. Ob die Entführer nichtaus reinem Zynismus und nur um die Liebe zu seiner geraubten Frau,der gelehrten, zu verhöhnen, ihm diese naive, bedenkenlos patenteHeimwerkerin geschickt hätten. Als zusätzliche Marter, aber auch zurVorbereitung neuer Erpressungen. Ganz verstehe ich es immer nochnicht, sagte er auf einmal mit entwaffnender Unbeholfenheit. Sielächelte hinter flimmernden Speichen und sagte: Genau wie seinerzeit

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in Madrid. Du erinnerst dich? Ich hatte doch immer dies lähmendeVorausgefühl. In Madrid? fragte der Mann, schon mit einem Anklangvon gewöhnlicher Ehegattennachfrage. Ja, als wir mit dem ganzenClub, unseren besten Freunden auf der Plaza Mayor – Natürlich. Icherinnere mich. Meine Handtasche war gerade noch da. Und hättemich nicht dies lähmende Vorausgefühl ergriffen, daß sie mir imnächsten Augenblick gestohlen würde, dann hätte ich besseraufgepaßt. Schon war sie weg! Und das am Morgen deinesdreißigsten Geburtstags! Ausgerechnet. Man lädt die besten Freundeein, und irgendein Dieb ist immer darunter. Aufhören! rief der Mannungehalten. Schluß mit dem Falschspiel! Du kannst das nicht wissen.Nicht du! Na, so war’s aber. War’s nicht so? So war’s doch aber. AmNachmittag war er mit einem guten Freund verabredet. Er traf ihn inder Hoffnung, einen Zeugen dafür zu gewinnen, daß man ihm diefalsche Frau nach Hause gebracht hatte. Es stellte sich jedoch heraus,daß dieser echauffierte Mensch auf einmal über alles anders dachte,als er bisher gedacht hatte – über Politik, Geld, seine Kinder undseine Vergangenheit. Mit einem Schlag hatte sein Geist die Farbe,den Geschmack, die Richtung und sogar die Geschwindigkeitgewechselt. Da dachte der Mann der Entführten: Es muß doch wohlan mir liegen. Die Menschen wechseln offenbar ihr Inneres genausoschnell wie ihr Äußeres. Sie stülpen sich um und bleiben dochdieselben! Mir scheint, ich habe da eine bestimmte Entwicklung nichtganz mitbekommen. Also wäre die junge Fahrradflickerin am Endedoch niemand anderes als meine umgestülpte Frau, ja, sie ist wohl diemeine, wie sie’s immer war. Ich habe weit mehr als mein Vermögenfür sie geopfert. Da sitzt sie nun auf meinem Bett, hübsch und rund:mein Schuldenberg. Es bleibt mir keine andere Wahl, ich mußnehmen, was sich bietet, ich könnte nie ein zweites Lösegeldbezahlen. Da trat aus seinem Inneren ein Bild hervor, und er sah dieEntführte in ihrem Kellerloch, in ihrer Haft. Ein Stuhl, ein Schlafsackund ein Campingklo. Und gänzlich ohne Bücher. So sah er dieGelehrte, und so verharrte sie in der Gefangenschaft. Eines Tageswürde sich alles klären. Oder aber es würde sich niemals klären. Zubeidem war er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zuleben. Nur eine Entscheidung zwischen dem einen und dem anderenkonnte er sich nicht abringen. Am Abend lud er die Geschickte zueinem Mikadospiel mit kostbaren, uralten japanischen Stäben, die er

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seit Jahren einmal am Tag auswarf und zusammen mit seiner Frauauflas. Nur um füreinander die Fingerspitzen ein wenig zusensibilisieren – so hatte es stets geheißen, wenn seine Frau ihn zumSpiel bat und sich mit dem schiefen Lächeln der Gelehrten einedezente Anzüglichkeit erlaubte. Dieselbe Bemerkung kam nun vonder Geschickten, und sie lächelte dazu vollkommen ungezwungen.Die Stäbchen aus lackiertem Zedernholz lagen auseinandergefallenauf dem hellen Birnbaumtisch. Da rieb sich der Mann die Hände undsagte in einem ver änderten, aufgeräumten Ton: Nur zu, du kleinesRätsel. Nun zeig, was du kannst! Dazu gab er ihr einen burschikosenKlaps auf die Schulter. Sie entgegnete mit einem unterdrücktenFluch, da sie den Arm gerade zum Spiel ausgestreckt hatte. Ihreruhige Hand löste nun etliche Stäbe aus labilster Lage, ohne anderezu bewegen. Seine unruhige hingegen war nicht einmal fähig,freiliegende Spitzen zu drücken, ohne daß sich im Stapel etwasrührte. Schließlich lüpfte die ruhige Hand den ranghöchsten Stabohne die geringste Einwirkung auf die kreuzenden undüberliegenden. Sie nahm ihn in beide Hände und zerbrach denMikado in stillem Unfrieden. Das Spiel mit den wertvollen Stäbenwar für immer zerstört. Die unruhige Hand ergriff zitternd einen deruntergeordneten Stäbe und hielt ihn wie einen Spieß umklammert.Der Mann betrachtete die nadelfeine Spitze. Er hatte kein anderesEmpfinden mehr, als diese Spitze durch die linke Wange der Frau zustoßen, durch ihre Zunge zu bohren und aus der rechten Wangewieder hinaus. Gestoßen und gestochen. Nicht jetzt. Aber einesMorgens, ja. Eines Morgens bestimmt. Eines Morgens wird es zueinigen sich überstürzenden Ereignissen kommen … Man wird sichim nachhinein fragen, wie es überhaupt so lange hat dauern können,daß nichts geschah.

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