24
Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters die Erfahrung der Fremde steuerte Aktionsradius und Erfahrungsraum der lateinischen Christen des Mittelalters waren sehr beschränkt. 1 Sie übertrafen zwar die Menschen des Altertums darin, dass sie ganz Europa durchdrungen hatten, aber im Westen mussten sie doch den Wassern des Atlan- tiks den Rücken zukehren. Afrika war ihnen durch seine geologische Struktur und die muslimische Eroberung fast unzugänglich. Die Wege nach Asien zu Lande blockierten Nomaden und Byzantiner; und was den Transit auf dem Meer angeht, hielten wiederum Herrschaften des Islam die Schlüsselpositionen zwischen Mediterraneum und Indi- schem Ozean besetzt. Den Fernhandel vom Roten Meer und Persischen Golf bis nach Indien und Ostasien wickelten deshalb meist andere als die Westeuropäer ab, vor allem Araber, Perser und Inder; Chinesen sind nur einmal mit großem Aufwand, aber ohne nachhaltige Wirkung mit eigenen Schiffen bis an die Küste Afrikas vorgestoßen. Ihre euromediterrane Enge hätten die katholischen Christen aufbrechen können, wenn es ihnen gelungen wäre, die ägyptische Hafenstadt Alexandria zu erobern, wie es einst Oktvian für das Reich der Römer gelungen war; dazu waren sie aber nicht in der Lage, ihre Kreuzzüge folgten keinen globalen Aspirationen, sondern religiösen Zwecken in regionaler Beschränkung. Das, was den Europäern aus China, Indien und Persien, in gewissem Umfang auch aus Afrika zufloss, Naturalien, Erzeugnisse des Handwerks, nicht zu vergessen: gelehr- tes Wissen und technisches Können, verdankten sie also anderen und vor allem Nicht- christen. Weite Reisen unternahmen die Juden. Der Generalpostmeister des Kalifats von Bagdad hat bereits Ende des neunten Jahrhunderts vier Land- und Seerouten jüdischer Kaufleute zwischen dem Frankenreich im Westen und Indien beziehungsweise China [592] im Osten beschrieben; 2 man weiß allerdings nicht, ob die Händler wirklich selbst ————————————— 1 Zum Folgenden: Michael Borgolte, Kommunikation: Handel, Kunst und Wissenstausch, in: Walter Demel / Johannes Fried / Ernst-Dieter Hehl u. a. (Hrsg.), Weltdeutungen und Weltreligionen, 600– 1500. (WBG-Weltgeschichte, Bd. 3.) Darmstadt 2010, 17–56 [ND in diesem Bd., 493–532]. 2 Jürgen Jacobi, Die Rādānīya, in: Der Islam 47, 1971, 252–264, hier 252–264 (deutsche Überset- zung). Vgl. Michael Borgolte, Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und mit den Patriarchen von Jerusalem. (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung, Bd. 25.) München 1976, 33f.; Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communi- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen

Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelaltersdie Erfahrung der Fremde steuerte

Aktionsradius und Erfahrungsraum der lateinischen Christen des Mittelalters waren sehrbeschränkt.1 Sie übertrafen zwar die Menschen des Altertums darin, dass sie ganzEuropa durchdrungen hatten, aber im Westen mussten sie doch den Wassern des Atlan-tiks den Rücken zukehren. Afrika war ihnen durch seine geologische Struktur und diemuslimische Eroberung fast unzugänglich. Die Wege nach Asien zu Lande blockiertenNomaden und Byzantiner; und was den Transit auf dem Meer angeht, hielten wiederumHerrschaften des Islam die Schlüsselpositionen zwischen Mediterraneum und Indi-schem Ozean besetzt. Den Fernhandel vom Roten Meer und Persischen Golf bis nachIndien und Ostasien wickelten deshalb meist andere als die Westeuropäer ab, vor allemAraber, Perser und Inder; Chinesen sind nur einmal mit großem Aufwand, aber ohnenachhaltige Wirkung mit eigenen Schiffen bis an die Küste Afrikas vorgestoßen. Ihreeuromediterrane Enge hätten die katholischen Christen aufbrechen können, wenn esihnen gelungen wäre, die ägyptische Hafenstadt Alexandria zu erobern, wie es einstOktvian für das Reich der Römer gelungen war; dazu waren sie aber nicht in der Lage,ihre Kreuzzüge folgten keinen globalen Aspirationen, sondern religiösen Zwecken inregionaler Beschränkung.Das, was den Europäern aus China, Indien und Persien, in gewissem Umfang auch

aus Afrika zufloss, Naturalien, Erzeugnisse des Handwerks, nicht zu vergessen: gelehr-tes Wissen und technisches Können, verdankten sie also anderen und vor allem Nicht-christen. Weite Reisen unternahmen die Juden. Der Generalpostmeister des Kalifats vonBagdad hat bereits Ende des neunten Jahrhunderts vier Land- und Seerouten jüdischerKaufleute zwischen dem Frankenreich im Westen und Indien beziehungsweise China[592] im Osten beschrieben;2 man weiß allerdings nicht, ob die Händler wirklich selbst—————————————1 Zum Folgenden: Michael Borgolte, Kommunikation: Handel, Kunst und Wissenstausch, in: Walter

Demel / Johannes Fried / Ernst-Dieter Hehl u. a. (Hrsg.), Weltdeutungen und Weltreligionen, 600–1500. (WBG-Weltgeschichte, Bd. 3.) Darmstadt 2010, 17–56 [ND in diesem Bd., 493–532].

2 Jürgen Jacobi, Die Rādānīya, in: Der Islam 47, 1971, 252–264, hier 252–264 (deutsche Überset-zung). Vgl. Michael Borgolte, Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und mitden Patriarchen von Jerusalem. (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung,Bd. 25.) München 1976, 33f.; Michael McCormick, Origins of the European Economy. Communi-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 2: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

338 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

die ganze Tour absolvierten oder ihre Waren auf Zwischenstationen verkauften.3 Saiso-nal wechselnde Monsune bedingten im Indischen Ozean das Reisen in Etappen, sodasssich hier ein Geflecht von Emporien formierte.4 Die Güter, die Juden oder Orientalenbis ans Mittelmeer transportierten, wurden von Schiffen lateinischer Christen aufge-nommen und nach Europa gebracht.5

Natürlich war die intensive Reisetätigkeit der Juden erst in zweiter Linie durch wirt-schaftliche Interessen bedingt und primär Ergebnis ihrer Geschichte; seit der Zerstörungdes Zweiten Tempels war das Volk staatenlos geworden und lebte in der Zerstreuung,neben einer politischen fehlte ihm auch eine religiöse Hierarchie.6 Nur durch unent-wegte Begegnungen auf Reisen konnte mit Gebet, dem Studium der Heiligen Schriftenund dem Austausch gelehrten Wissens die Einheit des Judentums realisiert werden, undauch Heiraten von Gläubigen verschiedener Heimat stifteten den inneren Zusammenhaltder Exilierten.7 Ein eindrucksvolles Zeugnis der jüdischen Selbstbezogenheit hat Benja-min aus der Stadt Tudela in Navarra hinterlassen; vor 1173 hat er mehrere Jahre hin-durch die Gemeinden der Mittelmeerländer und in Vorderasien besucht.8 In seinem„Buch der Reisen“ notierte Benjamin in der Art einer Volkszählung [593] akribisch die

—————————————cations and Commerce, A. D. 300–900. Cambridge 2001, 688–693, mit Datierung der Quelle auf885 / 886 (nach P. G. Bul’gakov, 1958).

3 Vgl. McCormick, Origins of European Economy (wie Anm. 2), 689f.4 Rainer F. Buschmann, Oceans in World History. Boston u. a. 2007, 11–37; Dietmar Rother-mund / Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeerals Kultur- und Wirtschaftsraum. Wien 2004; André Wink, Al-Hind. The Making of the Indo-Islamic World. 3 Bde. Leiden / New York 1996–2004; Janet L. Abu-Lughod, Before EuropeanHegemony. The World System A. D. 1250–1350. New York / Oxford 1989 [Paperback-AusgabeNew York / Oxford 1991], 251–351.

5 Vgl. Peter Feldbauer / Gottfried Liedl / John Morrissey (Hrsg.), Mediterraner Kolonialismus. Ex-pansion und Kulturaustausch im Mittelalter. (Expansion, Interaktion, Akkulturation. HistorischeSkizzen zur Europäisierung Europas und der Welt, Bd. 8.) Essen 2005; Michael Mitterauer / JohnMorrissey, Pisa. Seemacht und Kulturmetropole. (Expansion, Interaktion, Akkulturation. Histori-sche Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt, Bd. 13.) Essen 2007.

6 Zur mittelalterlichen Geschichte vgl. Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erbender Antike und der Aufstieg des Abendlandes, 300 bis 1400 n. Chr. (Siedler Geschichte Europas.)München 2006, 57–96; Christoph Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter. Beiträge eines in-ternationalen Symposiums in Speyer vom 20.–25. Oktober 2002. Trier 2004. – Zum Mythos desjüdischen Exils jetzt kritisch: Shlomo Sand, Comment le peuple juif fut inventé. De la Bible ausionisme. Paris 2008.

7 Hierzu: Shelomoh D. Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the World asPortrayed in the Documents of the Cairo Geniza, bes. Bd. 3: The Family. Berkeley / Los Angeles /London 1978.

8 Vgl. Jerome Mandel, Art. Benjamin of Tudela (?–1173), in: John Block Friedman / Kristen Moss-ler Figg (Hrsg.), Trade, Travel, and Exploration in the Middle Ages. An Encyclopedia. (The Rout-ledge Encyclopedias of the Middle Ages, Bd. 5.) New York / London 2000, 59f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 3: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 339

Anzahl der Juden von Ort zu Ort.9 Rechnet man alle Angaben zusammen, ergibt sicheine Summe von über 700.000 Gläubigen. In Konstantinopel sollen es 2.000 rabbini-sche Juden und 500 Karäer gewesen sein, in Damaskus etwa 3.000 Angehörige derGemeinden, in Jerusalem aber nur noch 200, ungefähr 40.000 in Bagdad und teilweisenoch viel mehr in persischen Städten; in Rom traf Benjamin angeblich auf 200 Juden,darunter Bedienstete des Papstes und bedeutende Gelehrte.10 Obzwar er beiläufig auchBemerkungen über die Geschichte und Lebensumstände der Nichtjuden einfließen lässt,konzentriert sich Benjamin ganz auf seine Glaubensgenossen, die Rabbiner und Ge-lehrten, die Kaufleute, Handwerker, Bauern und Krieger.11 Offenbar wollte er nachwei-sen, wie Juden von Ort zu Ort reisen konnten, ohne die Gastfreundschaft von Christenoder Muslimen in Anspruch zu nehmen. Obgleich er den Zweck seiner Tour gar nichtnennt, stellt er schon durch die Reise selbst und sein verschriftlichtes Itinerar Verbin-dungen zwischen den Verstreuten her. Vielleicht wollte er auch Handelswege und neueAusweichquartiere erkunden; seine Heimatstadt gehörte zwar zu einem christlichenKönigreich, doch bedrohte die neue Herrschaft der Almohaden im muslimischen An-dalusien religiöse Minderheiten mit Verfolgung.12 [594]

—————————————9 Benjamin von Tudela, Buch der Reisen (Sefär Ha-Massa’ot), Bd. 1: Text. Ins Deutsche übertr.

von Rolf P. Schmitz. (Judentum und Umwelt, Bd. 22.) Frankfurt am Main u. a. 1988.10 Vgl. Benjamin von Tudela, Buch der Reisen (wie Anm. 9), cap. 19–24 (Konstantinopel); 46–48

(Damaskus); 34–36 (Jerusalem); 54–64 (Bagdad); 8–11 (Rom); 81f. (Medien, Persien).11 Vgl. Michael Harbsmeier, Reisen in der Diaspora. Eigenes in der Fremde in der jüdischen Reise-

literatur des Mittelalters, in: Folker Reichert (Hrsg.), Fernreisen im Mittelalter. (= Das Mittelalter3.2) Berlin 1998, 63–80, hier bes. 66–73; 67f.: „Benjamin von Tudela ist oft mit anderenReisenden wie Marco Polo, Ludovica de Varthema oder Ibn Baṭṭūṭa verglichen worden. In einemPunkt aber unterscheidet er sich deutlich von den berühmten oder auch weniger berühmtenReisenden des islamischen, christlichen oder auch chinesischen Mittelalters: in der Aufmerksam-keit, die er, wo immer er sich bewegt, den eigenen Glaubensgenossen, den jüdischen Gemeindenalso und deren Führern und Vertretern, widmet“; verallgemeinernd ebd., 72f.: „Nicht nur Ben-jamin von Tudela, sondern auch viele andere jüdische Reisende des Mittelalters haben in ersterLinie jüdische Gemeinden aufgesucht, um – zweitens – an die Grabstätten zu gelangen, die dasZiel ihrer Pilgerfahrt waren. Drittens schließlich galt ihre Aufmerksamkeit den verlorenen Stäm-men am Rande der Welt. Gegenstand der jüdischen Reiseliteratur waren also nicht so sehr diefremden und anderen Welten, die wir mit Namen wie Mandeville und Marco Polo verbinden, alsvielmehr die Erforschung der eigenen Welten, der durch die Verschiedenheit der jeweiligen Um-welten geographisch wie auch historisch um so variableren jüdischen Binnenwelten. – Diesesrelativ geringe Interesse an fremden und anderen Welten zeigt sich nicht nur in der geringenAnzahl und dem vergleichsweise bescheidenen Umfang der Schilderungen fremder Kulturen,sondern auch daran, daß diesen fremden Völkern, wie im Falle der Kuffar al-Turk, nur eine Ne-benrolle in der Auseinandersetzung der Juden mit ihren persischen (sic!) Widersachern zugestan-den wird.“

12 Vgl. Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250. (Europa im Mittelalter,Bd. 3.) Stuttgart 2002, 168–170; 182f.; Sarah Stroumsa, Maimonides und die Kultur des Mittel-meerraums, in: Cluse (Hrsg.), Europas Juden im Mittelalter (wie Anm. 6), 109–120, hier 110f.;Juan Carrasco, Navarra. Juden als die „andere Buchreligion“ (ca. 1000–1498), in: Ebd., 180–192,

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 4: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

340 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

Auch die Muslime, die in der Levante den Verkehr zwischen Europa und Asien kon-trollierten, waren nicht nur als Kaufleute oder Gesandte mobil. Denn ähnlich wie dieJudenheit mussten sie sich als religiöse Gemeinschaft ohne umfassende Organisationwie bei der christlichen Kirche durch die Reise (rihla) konstituieren.13 Neben demHaddsch (hağğ), der Pilgerfahrt nach Mekka und Medina, unterscheidet man die Devo-tion vor örtlich oder regional bedeutenden Schreinen (ziyārāt), die Fahrt auf der Suchenach dem religiösen Wissen (talab al-ʿilm) und die Hidschra (hiğra), die sich von derAuswanderung Mohammeds und seiner Gemeinde von Mekka nach Medina (622)ableitete und eine Auswanderung aus religiösen Gründen bezeichnet. Natürlich gab esaber auch hybride Formen. So hat der berühmteste Muslim auf Reisen, der marokkani-sche Rechtsgelehrte Ibn Baṭṭūṭa, seine Pilgerfahrt nach Mekka zum Anlass für weitrei-chende Exkursionen nach Asien genutzt, die ihn auch zu anderen Gelehrten und in dieKonvente mystisch bewegter Sufis führten.14 Er selbst suchte wohl in der Ferne eineangemessene Beschäftigung, die er jahrelang als qādī beim Sultan von Delhi und späternoch einmal auf den Malediven gefunden hat. Ibn Baṭṭūṭa war zunächst von 1325 bis1349 unterwegs und nahm auf einer Reise, die ihn unter anderem nach Mesopotamien,Persien und Oman, Kleinasien, Transoxanien und Chorasan sowie über Indien undSumatra bis China führte, dreimal an einem Haddsch teil. Nach seiner Heimkehrmachte er sich nochmals auf nach al-Andalus und Mali in Afrika. Im Ganzen hat erknapp 120.000 Kilometer zurückgelegt. Seinen ausführlichen Reisebericht diktierte erauf herrscherliche Anregung 1356; wie der schöne Titel „Ein wertvolles Geschenk fürdiejenigen, die an den Wundern der Städte und den Merkwürdigkeiten des Reisensinteressiert sind“, verheißt, quillt das opulente Werk geradezu über an lebensnahenBeobachtungen, Anekdoten und Legenden, an Beschreibungen von Landschaften,Siedlungen und Menschen, und trotz eines Hangs zur Askese hat man dem großen

—————————————hier bes. 181 zu Tudela („wichtigste jüdische Gemeinde des Königreichs“); Klaus Herbers, Ge-schichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Stutt-gart 2006, 178–181; Gudrun Krämer, Geschichte des Islam. München 2005, 150–153; Mark R.Cohen, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. München 2005, bes. 184–186.

13 Vgl. Dale F. Eickelman / James Piscatori (Hrsg.), Muslim Travellers. Pilgrimage, Migration, andthe Religious Imagination. Berkeley / Los Angeles 1990. Zum Folgenden bereits Michael Bor-golte, Christliche Welt und muslimische Gemeinde in Kartenbildern des Mittelalters, in: Chris-toph Markschies / Ingeborg Reichle / Jochen Brüning (Hrsg.), Atlas der Weltbilder. (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungs-berichte, Bd. 25.) Berlin 2011, 118–131.

14 Ross E. Dunn, The Adventures of Ibn Battuta. A Muslim Traveler of the 14th Century. Berkeley /Los Angeles / London ²2005; Richard van Leeuven, Art. Ibn Battūtta, Abu Abdallah (1304–1368), in: Friedman / Figg (Hrsg.), Trade, Travel, and Exploration (wie Anm. 8), 269f. – Engl.Übers.: The Travels of Ibn Battūta, A. D. 1325–1354. Translated with Revisions and Notes fromthe Arabic Text edited by C. Defrémery and B. R. Sanguinetti by Hamilton A. R. Gibb / CharlesF. Beckingham. 4 Bde. (The Hakluyt Society. Second Series.) Cambridge bzw. London 1958–1994; Bd. 5: Index. Compiled by Adrian D. H. Bivar. London 2000.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 5: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 341

Reisenden zu Recht doch eine „authentische Wanderlust“ und viel Lebensfreude zuge-schrieben.15

Mit ihm wird immer wieder der Venezianer Marco Polo verglichen, der zwischen1271 und 1295 nach China gereist, also fast ebenso weit und ebenso lang unterwegs[595] gewesen war wie Ibn Baṭṭūṭa selbst.16 Den Weg Marcos hatten zwei neue Ent-wicklungen seit dem frühen dreizehnten Jahrhundert geebnet. Zum einen hatte dielateinische Eroberung Konstantinopels von 1204 den westeuropäischen Kaufleuten denZugang zum Schwarzen Meer und von da zu den innerasiatischen Seidenstraßen eröff-net;17 zum anderen begünstigte die Errichtung des mongolischen Reiches durch Dschin-gis Khan (gest. 1227) und seine Nachkommen einen ungestörten Verkehr und Handel,da ihnen viele andere und kleinere Reiche zum Opfer fielen.18 Die mongolische Herr-schaft von Osteuropa und Mesopotamien bis China bot den Händlern Sicherheit, zumaldie Khane zu religiöser Duldung bereit waren, und versprach bessere Gewinne, dawiederholte Zollabgaben entfielen. Angeblich richteten die Mongolen an ihren gutgeschützten Fernwegen alle 25 bis 30 Meilen Stationen mit frischen Pferden, Unter-künften und Verpflegung ein. Marcos Vater und Onkel gehörten zu den Pionieren deslateinischen Direkthandels mit China und hatten sich schon in den sechziger Jahren amHof des Großkhans Kublai aufgehalten.19 Der Mongole, der sich eher als Kaiser vonChina darstellte, beauftragte sie mit Gesandtschaften zum Papst, und als Gesandte derRömischen Kirche kehrten sie, nun in Begleitung des jungen Marco, nach China zu-rück. Weshalb die Älteren dann so lange blieben, ist nicht ganz klar,20 aber Marcoempfahl sich nach dem Wortlaut seines Berichts dem Großkhan als kluger, aufmerksa-mer und eloquenter Gesandter in eigene Provinzen und weit entfernte Länder;21 aufdiese Weise wurde er geradezu zu einem „kulturellen Grenzgänger, möglicherweiseauch zu einem kulturellen Überläufer“.22 Als Kublai den Polos 1292 die Rückkehr nach—————————————15 van Leeuven, Art. Ibn Battūtta (wie Anm. 14), 269.16 Vgl. Karte der beiden Reisen in: Jerry H. Bentley / Herbert F. Ziegler, Traditions & Encounters.

A Global Perspective on the Past. Boston u. a. 42008, 568f.17 Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugen-

berichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 2000, hier bes. 50–54; Dies., Marco Polo. Lebenund Legende. München 1998, bes. 27–32; Folker F. Reichert, Begegnungen mit China. Die Ent-deckung Ostasiens im Mittelalter. (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters,Bd. 15.) Sigmaringen 1992, 69–88, hier bes. 84.

18 Michael Weiers, Geschichte der Mongolen. Stuttgart 2004; Gudrun Ziegler / Alexander Hogh(Hrsg.), Die Mongolen. Im Reich des Dschingis Khan. Stuttgart 2005.

19 Reichert, Begegnungen mit China (wie Anm. 17), 82; Münkler, Marco Polo (wie Anm. 17), 37–46.

20 Münkler, Marco Polo (wie Anm. 17), 46–54.21 Marco Polo. Il Milione. Übers. aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von

Elise Guignard. Frankfurt am Main / Leipzig 2003, 23f., cap. 16f. Vgl. Folker Reichert, Erfah-rung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter. Stuttgart / Berlin / Köln 2001,193–197.

22 Münkler, Marco Polo (wie Anm. 17), 51.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 6: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

342 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

Italien gestattete, machte er sie wiederum zu Gesandten und gab ihnen Botschaften anden Papst und mehrere Könige der Christenheit mit. Sie reisten diesmal aus Sicher-heitsgründen übers Meer und erreichten über Sumatra, Sri Lanka, Indien und Arabien1295 wieder Venedig; Marcos berühmter, ungemein anschaulicher, erlebnisnaher undfaktenreicher (wenn [596] auch nicht unumstrittener) Bericht über die Reise nach Asienentstand wenige Jahre später, angeblich in Genueser Gefangenschaft.23

Marco Polo, der Christ und Kaufmannssohn aus Venedig, und Ibn Baṭṭūṭa, der Mus-lim und Rechtskundige aus Tanger, haben auf ihren Reisen nicht nur eine einzige Rollegespielt; sie waren Pilger und Richter, Unterhändler und Berichterstatter, und nochmanches mehr. Zweifellos trugen aber nicht bloß die verschiedenen Funktionen, son-dern auch die Freude am Abenteuer zur jahrzehntelangen Dauer ihrer Fahrten bei.Gerade im letzten Punkt scheint sich aber doch auch eine deutliche Differenz zwischenihnen zu ergeben. Ein Orientalist hat dies vor wenigen Jahren so formuliert: „MarcoPolo war ein Entdecker, Ibn Battūta ein Reisender. Marco Polo stieß in Gebiete vor, diefür das Abendland völlige terra incognita waren, Ibn Battūta blieb, obwohl er (…) eineweit längere Strecke als Marco Polo zurücklegte, immer im Bereich dessen, was mus-limischen Geographen schon lange vor ihm bekannt war. Er bewegte sich fast aus-schließlich im islamischen Herrschaftsbereich und auch dort, wo er ihn überschritt, fander umfangreiche muslimische Kolonien vor, so daß er nur selten das Gefühl habenmußte, ein Fremder zu sein. Er entsprach also mehr dem Angehörigen einer modernenkosmopolitischen high society, der sich überall zu Hause fühlen und auch nach adven-ture trips wieder in den Schoß eines Fünf-Sterne-Hotels zurückkehren kann.“24 In derTat können die jeweiligen Berichte dieses Urteil bestätigen. Zwar schildert Ibn Baṭṭūṭaohne Bedenken, wie er sich zum ersten Mal aus dem dār al-islām löste, als ihn Kon-stantinopel anlockte,25 und er notierte auch, dass ihm der Sultan von Delhi eine Ge-sandtschaft nach China gerade deshalb übertragen habe, weil er seine Vorliebe fürReisen und Sehenswürdigkeiten kannte.26 Aber so aufmerksam Ibn Baṭṭūṭa die christ-liche Kaiserstadt durchstreifte und das Leben der Hindus in Indien oder den Dämonen-

—————————————23 Münkler, Marco Polo (wie Anm. 17), 54–65.24 Ewald Wagner, Subjektive und objektive Wahrheit in islamischen Reiseberichten, in: Xenja von

Ertzdorff / Dieter Neukirch (Hrsg.), Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der FrühenNeuzeit. (Cloe. Beiträge zum Daphnis, Bd. 13.) Amsterdam / Atlanta (Ga.) 1992, 43–65, hier 46;ebenso Dunn, Adventures of Ibn Battuta (wie Anm. 24), 6f., vgl. Borgolte, Christliche Welt undmuslimische Gemeinde (wie Anm. 13), 130.

25 The Travels of Ibn Battūta 2 (wie Anm. 14), 497–514. Die Authentizität der Reise nach Konstan-tinopel wird teilweise bestritten, siehe van Leeuven, Art. Ibn Battūtta (wie Anm. 14), 269, vgl.aber Dunn, Adventures of Ibn Battuta (wie Anm. 24), 170.

26 The Travels of Ibn Battūta 3 (wie Anm. 14), 767: „When I presented myself before the Sultan, heshowed me greater favour than before, and said to me: ‚I have expressly sent for you to go as myambassador to the king of China, for I know your love of travel and sightseeing.‘“

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 7: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 343

glauben in Schwarzafrika beobachtete,27 suchte er doch immer, wo er konnte, dieBezirke und Häuser seiner Glaubensgenossen auf; dabei kam ihm, im Unterschied zuMarco Polo, die Verbreitung seiner Religion in der fernen Fremde entgegen. Geradeseine Reise nach China hat er deshalb kritisch resümiert: „Obwohl es in China sovielSchönes gibt, [597] gefiel es mir nicht. Im Gegenteil, meine Gedanken gerieten ganzdurcheinander wegen des Heidentums, das dort herrschte. Sobald ich aus meinemQuartier ging, sah ich viele mißbilligenswerte Dinge, und das schlug mir so sehr aufsGemüt, daß ich beständig zu Hause blieb und nur hinausging, wenn es unbedingt nötigwar. Wenn immer ich einen Muslim sah, war es, als ob ich ein Familienmitglied odereinen Verwandten getroffen hätte.“28 Gewiss war Ibn Baṭṭūṭa überaus stolz darauf, denRadius aller ihm bekannten Reisenden weit übertroffen zu haben, doch wäre es ihmkaum je wie Marco Polo eingefallen, als Gesandter für einen heidnischen Herrschertätig zu werden.29

Polos Mentalität war ganz anders; was er über sich aufschreiben ließ, war eitel, recht-fertigt sich jedoch auch durch sein „Divisament dou Monde“ selbst. Als Schlüsselereig-nis seiner Reise stellte er die Bestellung zum Botschafter der Mongolen dar; der Groß-khan habe „diejenigen Gesandten, die bei ihrer Rückkehr aus fernen Ländern nur überihren Auftrag und nichts über Land und Leute berichteten, für dumm und beschränkt“gehalten; wichtiger seien ihm „Nachrichten über Zustände, Ereignisse und Lebensge-wohnheiten in den bereisten Gebieten“ gewesen.30 Da er erkannte, dass Marco einaufmerksamer Beobachter und guter Berichterstatter war, habe er ihn siebzehn Jahrehindurch als Gesandten beschäftigt. Dieser habe sich deshalb „auf seiner Botschaftstourjede Neuigkeit und jede Besonderheit gut“ eingeprägt, um dem Herrscher ausführlichdarüber erzählen zu können.31 Marco nutzte also, wie es heißt, „die Gelegenheit, diefremden Gebiete besser auszukundschaften als jeder Sterbliche vor ihm. Wie kaum je-mand war er darauf bedacht, seine Kenntnisse zu vermehren.“32 Wenn wir der Darstel-

—————————————27 The Travels of Ibn Battūta 3 (wie Anm. 14), 593–767, bes. 614–617; The Travels of Ibn Battuta 4

(ebd.), 773–821, bes. 774f.; 788–790; 795f.; 948.28 Übersetzung hier nach Wagner, Subjektive und objektive Wahrheit (wie Anm. 24), 53; vgl. The

Travels of Ibn Battūta 4 (wie Anm. 14), 900; Borgolte, Christliche Welt und muslimische Ge-meinde (wie Anm. 13), 130.

29 Zum Vergleich: Die Könige von Aragón haben im dreizehnten, vierzehnten Jahrhundert gelegent-lich einheimische Muslime als Gesandte herangezogen; umgekehrt wählten muslimische Herr-scher von Nordafrika wiederholt Christen für diplomatische Aufgaben: Nikolas Jaspert, Interreli-giöse Diplomatie im Mittelmeerraum. Die Krone Aragón und die islamische Welt im 13. und 14.Jahrhundert, in: Claudia Zey / Claudia Märtl (Hrsg.), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie.Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zürich2008, 151–189, hier 179; 181.

30 Marco Polo, Il Milione (wie Anm. 21), 23, cap. 16.31 Ebd.32 Ebd., 24, cap. 17.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 8: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

344 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

lung glauben dürfen, hat der Venezianer die Fremde vorbehaltlos gesucht, während derMarokkaner sie nur im Kokon des Eigenen genießen konnte.Worauf man die Vorbehalte Ibn Baṭṭūṭas zurückführen muss, ist gut bekannt; sie

wurzelten in der Frühgeschichte der Gläubigen. Aus der religiösen Grunderfahrung derAussiedlung von 622 wurde die Verpflichtung für jeden Muslim abgeleitet, Länder zuverlassen, in denen sich die religiöse Praxis des Islams nicht entfalten konnte. Unter denGelehrten der verschiedenen Rechtsschulen herrschte zwar nie Einigkeit darüber, wanndie Glaubensgenossen in der Diaspora wirklich zur Hidschra verpflichtet waren, aber[598] die Frommen focht es doch an, wenn sie sich länger unter „Ungläubigen“ aufhal-ten oder deren Gebiete bereisen mussten.33

Solche Bedenken hegten die Christen nicht; im Gegenteil mussten sie, dem Mis-sionsbefehl Christi folgend, Fremden aufgeschlossen sein und die Ungläubigen suchen.Trotzdem gab es massive Vorbehalte gegen eine Weltzuwendung, wie sie Marco Polounbekümmert artikuliert. Augenlust und Welterfahrung drohten nach der Traditionchristlichen Denkens mit Selbst- und Heilsverlust einherzugehen.34 „Habt nicht lieb dieWelt noch was in der Welt ist“, schrieb schon der Verfasser des ersten Johannesbriefes,und fuhr fort: „Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lustund hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergehtmit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.“35 Diese War-nung hatte insbesondere der heilige Augustinus aufgegriffen und im Katalog seinerSünden die concupiscentia und voluptas oculorum, die Begehrlichkeit des Schauens,eindringlich analysiert.36 Die Augenlust sei nicht nur eine Sünde des Fleisches, sondern

—————————————33 Dale F. Eickelman / James Piscatori, Social Theory in the Study of Muslim Societies, in: Dies.

(Hrsg.), Muslim Travellers (wie Anm. 13), 3–25, hier 5f.; Muhammad Khalid Masud, The Obli-gation to Migrate. The Doctrine of hijra in Islamic Law, in: Ebd., 29–49; Patricia Crone, Medie-val Islamic Political Thought. Edinburgh 2004, 359–362. – Siehe auch unten Anm. 109.

34 Vgl. jetzt: Klaus Krüger (Hrsg.), Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittel-alter und früher Neuzeit. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15.) Göttingen2002, hier bes. Christian Kiening, Ordnung der Fremde. Brasilien und die theoretische Neugierdeim 16. Jahrhundert, 59–109, hier 67.

35 I Joh 2,15–16.36 Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übers. und erläutert von Joseph

Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück. Frankfurt am Main 1987, 566–578,lib. X.34–35. Dazu Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte undüberarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, Teil 3. Frankfurt am Main 1973,106–121; Lorraine Daston / Katherine Park, Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750.Berlin 1998, 144–146; Lorraine Daston, Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichenWissenschaft, in: Krüger (Hrsg.), Curiositas (wie Anm. 34), 147–175, hier 155–158; GuntherBös, Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas vonAquin. (Münchener Universitäts-Schriften. Katholisch-Theologische Fakultät. Veröffentlichun-gen des Grabmann-Institutes. N. F., Bd. 39.). Paderborn u. a. 1995, 91–129; Heiko AugustinusOberman, Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel undWeltall. (Theologische Studien, Bd. 113.) Zürich 1974, 19–22.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 9: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 345

befriedige auch den Erkenntnistrieb, eine andere Form der Versuchung. Beschwörendbetet Augustin zu seinem Gott: „Ich widersetze mich den Verführungen durch dieAugen, damit meine Füße, mit denen ich meinen Weg zu Dir gehe, sich nicht verfan-gen, und ich erhebe unsichtbare Augen zu Dir, auf dass Du, ja Du, ‚vom Strick los-machest meine Füße‘.“37 Bis weit in die Neuzeit hinein wirkten diese Verdikte nach,38

aber im [599] Hochmittelalter suchte ein Gelehrter wie Thomas von Aquin auch, dercuriositas, der lasterhaften Neugier, die studiositas als disziplinierte Hingabe an dasintellektuelle Wissen gegenüberzustellen.39 Der Streit um die Neugier entzündete sichimmer wieder an der Bewegung im Raum, da curiositas als eine Art der Wanderungaufgefasst wird.40 Der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux schrieb dem Neugierigeneinen vagabundus animus zu, und Papst Innozenz III. (gest. 1216) griff Reisen zurErforschung der Natur, darunter das Besteigen der Berge und das Ergründen des Oze-ans, als fruchtlose Unternehmungen an.41 Wo es Gefahren abzuwehren und den Glau-ben zu fördern galt, war pragmatisches Wissenwollen aber erlaubt. Innozenz IV.schickte 1245 erste Gesandte zum Khan der Mongolen mit einem Fragenkatalog, derdie Methode moderner Wissenschaft, der scholastischen Inquisition, anwandte.42 Baldnach 1300 sollten christliche Reisende unbedenklich über Bergbesteigungen berichten,und Jerusalempilger rühmten sich, die Pyramiden von Gizeh erklommen zu haben, weilsie ausprobieren wollten, wie weit sie sehen konnten.43 Lange noch wirkten trotzdemdie alten Skrupel weiter. Petrarca entdeckte bekanntlich auf dem Mont Ventoux dieEitelkeit seines Unternehmens und stieg beschämt und den Blick zum Boden gewandt

—————————————37 Augustinus, Bekenntnisse (wie Anm. 36), 569, lib. X.34,52.38 Vgl. Daston / Park, Wunder (wie Anm. 36); Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst

des Reisens 1550–1800. Wien / Köln / Weimar 2002.39 Daston / Park, Wunder (wie Anm. 36), 146; Bös, Curiositas (wie Anm. 36), 176–225; Oberman,

Contra vanam curiositatem (wie Anm. 36), 29–31.40 Christian K. Zacher, Curiosity and Pilgrimage. The Literature of Discovery in Fourteenth-

Century England. Baltimore 1976, 34.41 Zacher, Curiosity and Pilgrimage (wie Anm. 40), 36.42 Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische

Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243, 1986, 287–332; Feli-citas Schmieder, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Johannes von Plano Carpini, Kunde von den Mon-golen. 1245–1247. (Fremde Kulturen in alten Berichten, Bd. 3.) Sigmaringen 1997, 7–37, hier14–23. – Verschiedene Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen bei einem mittelalterlichen Rei-sebericht unterscheidet erhellend Juliane Schiel, Der „Liber Peregrinationis“ des Ricoldus vonMonte Croce. Versuch einer mittelalterlichen Orienttopografie, in: Zeitschrift für Geschichtswis-senschaft 55, 2007, 5–17. – Die Apodemik, die sowohl die Wissenschaft und Theorie des Reisens,ihre Praxis und Methodik, als auch die dazu gehörende Gattung des Reiseberichts umfasst, ent-stand erst seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts: Justin Stagl, Ars Apodemica. Bildungs-reise und Reisemethodik von 1560 bis 1600, in: von Ertzdorff / Neukirch (Hrsg.), Reisen undReiseliteratur im Mittelalter (wie Anm. 24), 141–189; Ders., Geschichte der Neugier (wieAnm. 38), 94–106.

43 Zacher, Curiosity and Pilgrimage (wie Anm. 40), 38.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 10: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

346 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

wieder ab.44 Und was ließ sein Zeitgenosse Dante den Odysseus im „Inferno“ berich-ten? Durch hunderttausend Gefahren sei er mit seinen Gesellen nach Westen gesegelt,um an den Säulen des Herkules vorbei „sinnliche Erfahrung der unbewohnten Welt“ zugewinnen. Doch endete die „Suche nach Erkenntnis“, ja die „Lust“, in einem Wirbel,der das Schiff zum Kentern brachte: „Dann schloss sich langsam über uns das Was-ser.“45 [600]Marco Polo war weder Kleriker noch Mönch, sodass er von gelehrten Bedenken ge-

gen curiositas und Augenlust kaum beeindruckt war, aber ein Muslim wie Ibn Baṭṭūṭamusste nicht studiert haben, um zu wissen, welche Gefahren ihm im Land der Ungläu-bigen drohten. So signifikant indessen die Unterschiede in der Welterfahrung zwischendem Christen und dem Muslim erscheinen, so komplex erweist sich aber auch dieGeschichte der Neugier, die nach einer jüngeren Darstellung erst im Humanismus ihrenDurchbruch erzielt haben soll.46 In dieser Geschichte kann man den welthistorischenAufstieg des Westens gespiegelt sehen, doch wären noch eingehende vergleichendeStudien erwünscht. Die Forschung steht hierbei wirklich noch am Anfang; dies zeigtsich beispielsweise daran, dass erst vor wenigen Jahren behauptet worden ist, die Erfah-rung der eigenen Welt sei typisch für jüdische Reisende und ihre Berichte, währendMuslime ebenso wie Christen auf fremde und andere Welten neugierig gewesen seien.47

Ich möchte mich im Folgenden einem interkulturellen Vergleich widmen, der paral-lel zu Ibn Baṭṭūṭa und Marco Polo einen Muslim und einen lateinischen Christen mit-einander konfrontiert. Der besondere Reiz der Betrachtung liegt darin, dass beideinnerhalb eines Jahrzehnts vom Westen in den Vorderen Orient reisten und dabeiteilweise die gleiche Route wählten und dieselben Stätten aufsuchten. Der Muslimunternahm wiederum eine Pilgerfahrt nach Mekka, während der Christ als politischerGesandter unterwegs war. Der arabische Bericht ist wesentlich umfangreicher und fastebenso berühmt wie die „Rihla“ von Ibn Baṭṭūṭa; den lateinischen kennt selbst die

—————————————44 Zacher, Curiosity and Pilgrimage (wie Anm. 40), 38f.45 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Deutsch von Karl Vossler. München 1962, 119f.:

Inferno, 26. Gesang; vgl. Zacher, Curiosity and Pilgrimage (wie Anm. 40), 35. – Im späten Mit-telalter wurden christliche Pilger kritisiert, sie leite eher curiositas als pietas, und auch die Ein-wände von Humanisten und Reformatoren warf die Frage nach einer neuen Legitimation ihrerReisen auf , siehe Stagl, Geschichte der Neugier (wie Anm. 38), 71. Die Entdeckung Amerikasführte zu dem Vorwurf, die Erkundung neuer Länder sei „närrisch und sinnlos angesichts derAufgabe, die Bürde der Sterblichkeit und die Gefahren des Daseins durch Weisheit zu bewäl-tigen“: Kiening, Ordnung der Fremde (wie Anm. 34), 68f.; vgl. Jan-Dirk Müller, Alte Wissens-formen und neue Erfahrungen. Amerika in Sebastian Francks „Weltbuch“, in: Horst Wenzel(Hrsg.), Gutenberg und die Neue Welt. München 1994, 171–193, bes. 174–177; Ders., ‚Erfarung‘zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos, in: Daphnis. Zeitschrift fürMittlere Deutsche Literatur 15, 1986, 307–342, hier bes. 312–314.

46 Stagl, Geschichte der Neugier (wie Anm. 38).47 Vgl. oben das Urteil von Harbsmeier in Anm. 11.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 11: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 347

Fachwissenschaft kaum.48 Leider bieten die verschiedenen Überlieferungen hier amEnde abweichende [601] und in ihrer Authenzität umstrittene Versionen.49 Der Christunternahm die Fahrt über das Mittelmeer zuerst. Es war ein Wirtschaftsbeamter undGeistlicher des Bistums Straßburg namens Burchard, den Kaiser Friedrich I. Barbarossazu Sultan Saladin von Ägypten schickte und der am 6. September 1175 von Genua ausin See stach;50 wann genau er heimkehrte, ist nicht bekannt, aber dies dürfte noch imselben oder im folgenden Jahr der Fall gewesen sein. Zum Dienstpersonal gehörte auchder andere Orientfahrer. Er hieß Ibn Ğubair und war der Sekretär des maurischenGouverneurs von Granada; er bestieg ebenso ein genuesisches Schiff, aber von Ceuta in—————————————48 Darüber wunderte sich schon Paul Scheffer-Boichorst, Der kaiserliche Notar und der Strassburger

Vitztum Burchard, ihre wirklichen und angeblichen Schriften, in: Zeitschrift für die Geschichtedes Oberrheins 43, 1889, 456–477, hier 474, Anm. 2. Zuletzt sind die beiden Biographen Fried-richs I. auf diese Gesandtschaft gar nicht eingegangen: Vgl. Ferdinand Opll, Friedrich Barba-rossa. Darmstadt 1990, 297; Johannes Laudage, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. Hrsg. vonLars Hageneier / Matthias Schrör. Regensburg 2009. Fehlanzeige auch bei der Laudages nachge-lassene Lebensgeschichte des Kaisers ergänzenden Studie von Johannes Laudage, Alexander III.und Friedrich Barbarossa. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Bei-hefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 16.) Köln / Weimar / Wien 1997, sowie bei Knut Gö-rich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im12. Jahrhundert. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Lite-ratur und Kunst.) Darmstadt 2001. Auch in neueren Sammelwerken wird die Gesandtschaft nichtbehandelt, siehe: Friedrich Barbarossa und sein Hof. Mit Beiträgen von Caspar Ehlers u. v. m.(Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst, Bd. 28.) Göppingen 2009; Stefan Weinfurter(Hrsg,), Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barba-rossas. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 9.) Stuttgart 2009; Bernd Schneidmüller / Ders. (Hrsg.),Konfrontation der Kulturen? Saladin und die Kreuzfahrer. Mainz am Rhein 2005; Alfred Haver-kamp (Hrsg.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischenKaisers. (Vorträge und Forschungen, Bd. 40.) Sigmaringen 1992; Evamaria Engel / BernhardTöpfer (Hrsg.), Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau, Aspekte seiner Politik, Wirkung.(Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 36.) Weimar 1994. – Im Folgenden gehe ichnicht ein auf die mit Barbarossas Gesandtschaften zu Saladin offenbar eng in Verbindung ste-hende Gesandtschaft Bischof Konrads von Worms zu Kaiser Manuel I. Komnenos und vor allemauf die „Pilgerfahrt“ Heinrichs des Löwen nach Jerusalem, die diesen über Konstantinopel undKonya führte, dazu jetzt: Joachim Ehlers, Heinrich der Löwe. Eine Biographie. München 2008,197–211. – Spezialliteratur unten in Anm. 50.

49 Vgl. Franz-Josef Worstbrock, Art. Burchard von Straßburg, in: Die deutsche Literatur desMittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1. Berlin / New York 1978, Sp. 1118f. (freundlicher Hinweisvon Prof. Dr. Felix Heinzer, Freiburg). Siehe unten Anm. 65.

50 Zur Identität des Gesandten: Scheffer-Boichorst, Kaiserlicher Notar (wie Anm. 48), bes. 474,Anm. 1. Zur Gesandtschaft: Hannes Möhring, Saladin und der Dritte Kreuzzug. AiyubidischeStrategie und Diplomatie im Vergleich vornehmlich der arabischen mit den lateinischen Quellen.(Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 21.) Wiesbaden 1980, 134f.; Ders., Sultan Saladinund Kaiser Friedrich Barbarossa, in: Alfried Wieczorek / Mamoun Fansa / Harald Meller (Hrsg.),Saladin und die Kreuzfahrer. Mannheim / Mainz am Rhein 2005, 151–155, hier 153f.; WolfgangGeorgi, Friedrich Barbarossa und die auswärtigen Mächte. Studien zur Außenpolitik 1159–1180.(Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Bd. 442.) Frankfurt am Main u. a. 1990, 242–244.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 12: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

348 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

Nordafrika aus, und zwar am 24. Februar 1183, und landete wie Burchard acht Jahrezuvor in Alexandria. Nach seinem Haddsch und der Rückreise über den Irak, Syrienund das Land der Kreuzfahrer führte ihn eine gefahrenreiche Segeltour bis Ende April1185 heimwärts nach Granada.51

Beide Reisen fielen nicht bloß zeitlich fast zusammen, sondern gehörten tatsächlichder gleichen historischen Phase an.52 Der sunnitische Kurde Saladin hatte das [602]Kalifat der ismailitischen-schiitischen Fatimiden in Kairo beseitigt und versuchte seit1174 auch Syrien zu unterwerfen. Damit drohte er das christliche Königreich Jerusalemzu umklammern und die wichtigste Bastion der Kreuzfahrer einzunehmen, nachdemden Lateinern schon 1144 ihr erster Staat verloren gegangen war. Auf einem Zug nachdem Norden bis zum Herbst 1176 nahm Saladin die wichtige Stadt Damaskus ein,andererseits dehnte er seine Herrschaft in Nordafrika bis an die Grenzen des mächtigenReichs der radikal-islamischen Almohaden aus, die auch das spanische al-Andalus ein-genommen hatten. Bedroht fühlte er sich durch Überfälle der Normannen aus Sizilien,aber auch durch den Kaiser von Byzanz. Mit diesem hatte sich der lateinische Königvon Jerusalem verbündet, nachdem Papst und Könige des Westens seinen Hilfsappellennicht gefolgt waren. Barbarossa selbst waren durch Konflikte in Italien und mit Romlange die Hände gebunden; allerdings hatte er eigene Orienterfahrungen, da er seinenOnkel König Konrad III. auf dem erfolglosen zweiten Kreuzzug begleitet hatte.53

Saladin begann seine Vorstöße auf das christliche Königreich 1177; fünf Jahre späterverließ er Ägypten für immer und vollendete bald darauf die Einnahme Syriens. Nacheiner entscheidenden Schlacht in der Sommerhitze 1187 zog er in Jerusalem ein; andem neuen Kreuzzug, den dieser schwere Verlust für die Christen auslöste, beteiligtesich auch Kaiser Friedrich; er erreichte jedoch Jerusalem nicht mehr und ertrank beimBaden 1190 in Kleinasien.Als sich sein Gesandter Burchard 1175 auf den Weg machte, waren diese Katastro-

phen noch nicht absehbar; ganz im Gegenteil machte man sich am Stauferhof offenbarHoffnungen, den dynamischen Sultan diplomatisch einbinden und politisch-militärischdomestizieren zu können. Schon unmittelbar nachdem sich Saladin in Ägypten durch-gesetzt hatte, hatte Friedrich im Sommer 1172 einen Unterhändler entsandt, der demMuslim die Freundschaft des Christen anbieten sollte; Saladin hatte zugestimmt und

—————————————51 The Travels of Ibn Jubayr. Translated from the original Arabic by Ronald J. C. Broadhurst.

London [1952], hier 15f.; 26; 365; Alauddin Samarrai, Art. Ibn Jubayr (1145–1217), in: Fried-man / Figg (Hrsg.), Trade, Travel, and Exploration (wie Anm. 8), 270f.

52 Zum Folgenden zusammenfassend: Hannes Möhring, Muslimische Reaktionen. Zangi, Nuraddinund Saladin, in: Wieczorek / Fansa / Meller (Hrsg.), Sultan Saladin und die Kreuzfahrer (wieAnm. 50), 83–100; Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge. München ²1997, 667–702.

53 Reg. Imp. IV.2,1, Nrn. 32–43. In Akkon, Jerusalem und vor Damaskus April–Juli 1148 (ebd.,Nrn. 37–40); vgl. Laudage, Friedrich Barbarossa (wie Anm. 48), 31–33.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 13: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 349

eine Gegengesandtschaft geschickt.54 Seinen Boten namens Abū Tahir instruierte erausdrücklich, im Westen die Stärke seines Heeres, aber auch seine Vertragstreue undWahrheitsliebe herauszustreichen.55 Die Stimmung war so gut, dass ein Kölner Chronistsogar meinte, Saladin wolle seinen Sohn mit einer [603] Tochter des Kaisers vermähltsehen und mit seinem ganzen Reich das Christentum annehmen56 – ein Zeichen, wieschwer man sich damit tat, Politik und Religion der „Sarazenen“ realistisch einzuschät-zen. Bemerkenswert ist indessen, dass Friedrich I. Abū Tahir und seine Delegationungefähr ein halbes Jahr bei sich behielt und den Muslimen erlaubte, „die einzelnenStädte und die Lebensweise [im deutschen Reich] eingehend zu studieren“.57 Zweifelloslegte er Wert darauf, seinen Gästen zu imponieren.58 Wenn die Gesandtschaft Saladins,wie anzunehmen ist, mit dem Hof unterwegs war, feierte sie mit dem Kaiser Weih-nachten 1173 in dem von den Staufern geförderten Erfurt;59 zu Ostern präsentierte sich

—————————————54 Georgi, Friedrich Barbarossa (wie Anm. 50), 230f.;Möhring, Sultan Saladin (wie Anm. 50), 151–

155, hier bes. 152; Ders., Saladin und Dritter Kreuzzug (wie Anm. 50), 129–131.55 Vgl. Möhring, Saladin und Dritter Kreuzzug (wie Anm. 50), 131f.; Ders., Sultan Saladin (wie

Anm. 50), 152 (nach den arabischen Instruktionen). Vgl. das lateinische BeglaubigungsschreibenSaladins für seinen Gesandten: Reinhold Röhricht, Zur Geschichte der Kreuzzüge, in: Neues Ar-chiv 11, 1886, 571–579, hier 575–577, sowie den (inhaltsleeren) Brief Saladains an Friedrich:Martin Wagendorfer, Eine bisher unbekannte (Teil-)Überlieferung des Saladin-Briefs an KaiserFriedrich I. Barbarossa, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 65, 2009, 565–584.

56 Chronica regia Coloniensis (Annales Maximi Colonienses) cum continuationibus in monasterio S.Pantaleonis scriptis aliisque historiae Coloniensis monumentis. Ed. Georg Waitz (MGHSS rer. Germ. [18].) Hannover 1880, 124, ad ann. 1173: Illis diebus legati regis Babyloniae adimperatorem venerunt, rara et preciosa munera deferentes. Legatio talis erat, quod idem rexpeteret, ut filio suo filia imperatoris matrimonio iungeretur, ea conditione, ut ipse rex cum filio etomni regno suo christianitatem susciperet et omnes captivos christianos relaxeret. Imperator veroeosdem legatos honorifice secum per dimidium fere annum detinuit et singulas civitates et ritusdiligenter notare et inspicere concessit.

57 Siehe Quellenzitat in Anm. 56. Zur Übersetzung von ritus siehe Scheffer-Boichorst, KaiserlicherNotar (wie Anm. 48), 473, mit Anm. 3.

58 Anders Möhring, Sultan Saladin (wie Anm. 50), 151, nach dem die Gesandten aus dem Orient nurein deutsches Reich in Tristesse kennengelernt hätten. Möhring übersieht hierbei sowohl dieAachener Festkrönung von Ostern 1174 als auch die Abreise nach dem festlichen RegensburgerHoftag zum Johannesfest, unten Anm. 60 und 61. – Nicht überzeugend ist auch Möhrings Deu-tung der Kölner Königschronik, bei dem hier behaupteten Heiratsplan handele es sich um eine„Schutzbehauptung (…), um dem Vorwurf vorzubeugen, der Kaiser als Schutzherr der Christen-heit pflege mit Feinden des Christentums freundschaftliche Beziehungen“ (ebd., 152). Bekannt-lich ist es ja nicht die Realität, die das Denken und Handeln der Menschen steuert, sondern dieVorstellungen, die sich diese von jener machen. So mag einfach Wunschdenken, wie es der An-näherung zwischen Friedrich und Saladin entsprach, in die Behauptung eingeflossen sein.

59 Reg. Imp. IV.2,3, Nr. 2049. Vgl. Michael Gockel, Art. Erfurt, in: Max-Planck-Institut für Ge-schichte (Hrsg.), Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigenAufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters, Bd. 2: Thüringen, Lfg. 2.Göttingen 1984, 102; 113–148, hier 146: „Die Staufer haben E[rfurt] in der Auseinandersetzungmit den Welfen zu ihrem Hauptstützpunkt in Thüringen ausgebaut (…). Unter Friedrich Barbaros-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 14: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

350 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

ihnen Friedrich zusammen mit Kaiserin Beatrix und seinem Sohn Heinrich VI. imfestlichen Schmuck der Krone,60 und als er sie zum Johannesfest, also Ende Juni 1174,in Regensburg entließ, waren fast alle deutschen Fürsten und eine Gesandtschaft desbyzantinischen Kaisers [604] zugegen.61 Das Freundschaftsbündnis dürfte abgeschlos-sen gewesen sein, das Friedrich erst 1188, also nach dem Fall Jerusalems, wiederlöste.62

Die Verständigung zwischen Friedrich I. und Saladin erregte in Jerusalem große Be-fürchtungen und veranlasste den dortigen König sofort zu einer eigenen Gesandtschaftzum Kaiser des Westens, die ihm wohl die Pflicht zum Schutz des Heiligen Landes vorAugen hielt.63 Andererseits scheint sich Saladin seiner Sache nicht sicher gewesen zusein; in einem Schreiben an den Kalifen von Bagdad äußerte er sich nämlich besorgtüber die Möglichkeit eines militärischen Angriffs Friedrichs auf sein Land.64 Saladinmuss deshalb allen Anlass gesehen haben, Burchard, den neuen Gesandten ausDeutschland, bei seiner Ankunft in Alexandria zuvorkommend zu behandeln.Burchard war zweifellos kein versierter Diplomat; vermutlich war sein Bericht nicht

einmal für den Kaiser bestimmt, da er gar nichts Politisches enthält und seine Be-obachtungen keinem vorgegebenen Zweck und Fragenkatalog, sondern offenbar sub-jektiv wechselnden Interessen des Autors folgten.65 Ob Burchard Saladin überhaupt

—————————————sa, der hier schon auf dem Umritt Station gemacht hatte, gehörte Erfurt nach Worms, Würzburg,Regensburg und Ulm mit 11 (12) Aufenthalten zu den meistbegangenen Plätzen überhaupt.“ ImJuni 1170 setzten die glanzvollen Hoftage und Festfeiern Friedrichs I. und seines Sohnes Hein-richs VI. in Erfurt ein.

60 Annales Aquenses. Ed. Georg Waitz, in: MGH SS 24. Hannover 1879, 33–39, hier 38, ad ann.1174: Imperator in pascha Aquis coronatus est, et filius eius et imperatrix, sub presentia nunti-orum Salahdin; Chronica regia Coloniensis. Ed. Waitz, 125, ad ann. 1174: (…) in pascha veroAquisgrani curiam celebrem habuit; vgl. Reg. Imp. IV.2,3, Nr. 2063.

61 Chronica regia Coloniensis (wie Anm. 56), 125, ad a. 1174: Post haec in nativitate sancti Iohan-nis [baptiste] Ratisponam venit, ubi nuncii regis Grecorum eum iterum adierunt pro coniunctionefiliae eius filio imperatoris. – Imperator legatos regis Babiloniae cum magno honore et multis do-nis remittit; weitere Quellennachweise in: Reg. Imp. IV.2,3, Nr. 2081; vgl. Georgi, FriedrichBarbarossa (wie Anm. 50), 241.

62 Chronica regia Coloniensis (wie Anm. 56), 140, ad ann. 1188; vgl. Möhring, Saladin und DritterKreuzzug (wie Anm. 50), 133; Georgi, Friedrich Barbarossa (wie Anm. 50), 241.

63 Reg. Imp. IV.2,3, Nr. 2105; Möhring, Sultan Saladin (wie Anm. 50), 153.64 Möhring, Sultan Saladin (wie Anm. 50), 152.65 Bis heute fehlt eine kritische Edition des Berichts. Bekannt sind zwei Handschriften aus Wien und

Rom sowie Fragmente, aus denen sich immerhin ergibt, dass sich der Verfasser Burchardus vice-dominus Gentinensis nannte und 1175 auf Befehl Kaiser Friedrichs zu den „Sarazenen“ reiste(vgl. Scheffer-Boichorst, Kaiserlicher Notar [wie Anm. 48], 474, Anm. 4). Den Text hat Arnoldvon Lübeck am Beginn des dreizehnten Jahrhunderts in seiner Slawenchonik inseriert: ArnoldiChronica Slavorum. Ed. Johann Martin Lappenberg. (MGH SS rer. Germ. [14].) Hannover 1868,264–277, cap. VII.8. Er hat aber am Beginn die Erzählerperspektive ausgetauscht (vgl. Tabulaecodicum manu scriptorum praeter Graecos et orientales in bibliotheca Palatina Vindobonensiasservatorum. Ed. Academia Caesarea Vindobonensis. Wien 1864–1899, 54, ad Cod. 362, fol.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 15: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 351

getroffen [605] hat, bleibt offen; als er in Alexandria eintraf, weilte der Sultan aufKriegszügen in Syrien,66 und hierhin, nach Damaskus, führte Burchard sein Weg. Voneiner herrschaftlichen Demonstration, wie sie Friedrich dem Abū Tahir vorführte,konnte bei Saladin keine Rede sein, aber er muss für Burchard doch eine Begleitungabgeordnet haben, die diesen in seinem Reich herumführte. Heilige Stätten konnte derBote des römischen Kaisers jedenfalls nur in muslimischen Gebieten aufsuchen, wäh-rend er an Jerusalem vielleicht sogar vorbeigezogen ist.67

Burchards Beobachtungen68 waren zunächst bestimmt durch seine heimischen Erfah-rungen als Verwalter.69 Er registriert, welcher Landbau und wo nur Viehzucht betrieben—————————————

36a–38b: Anno incarnationis domini MCLXXV Fridericus Romanorum Imperator misit me Bur-chardum […]) und setzte offenbar fälschlich den Namen Gerhard ein (Arnoldi Chronica Slavo-rum, 264: Anno dominice incarnationis 1175 domnus Frithericus Romanorum imperator etaugustus misit domnum Gerardum Argentinensem vicedominum in Egyptum ad Salahadinumregem Babylonie). Arnold bemerkt ausdrücklich, dass er mit dieser eingefügten Erzählung vonder historia regum abweiche, und am Schluss, dass er zum ordo historie zurückkehre (ebd., 264;277). Obwohl Arnold seine Chronik mit der Orientreise Heinrichs des Löwen begonnen hatte undauch sonst großes Interesse am Geschick des Heiligen Landes zeigte, ist es ihm nicht gelungen,den autobiographischen Bericht des Strassburger Viztums in seiner historischen Erzählung selbstzu verarbeiten. Er wollte sein Insert (nur) als ein Stück nützlicher Unterhaltung verstanden wissenund zitierte zur Legitimation aus Horazens Ars Poetica (v. 333): Aut prodesse volunt aut delectarepoete (ebd., 264). Zu Arnold und seinem Werk (hier im Hinblick auf die „Pilgerfahrt“ Heinrichsdes Löwen) zuletzt Ehlers, Heinrich der Löwe (wie Anm. 48), 199f., und vor allem JohannesFried, Jerusalemfahrt und Kulturimport. Offene Fragen zum Kreuzzug Heinrichs des Löwen, in:Joachim Ehlers / Dietrich Kötzsche (Hrsg.), Der Welfenschatz und sein Umkreis. Mainz amRhein 1998, 111–137. Nach den (inzwischen verbrannten) Münchener Fragmenten und unterBerücksichtigung der Wiener und der Vatikanischen Hss. edierte den Text Paul Lehmann, in:Paul Lehmann und Otto Glauning, Mittelalterliche Handschriftenbruchstücke der Universitäts-bibliothek und des Georgianum zu München. Leipzig 1940, 61–74; danach ergeben sich vor allemam Ende erhebliche Differenzen zu Arnolds Version. Im Allgemeinen zitiere ich nach der besserzugänglichen Edition von Arnolds Slawenchronik.

66 Siehe oben nach Anm. 52; vgl. Scheffer-Boichorst, Kaiserlicher Notar (wie Anm. 48), 474f.67 Darauf deutet jedenfalls die knappe Bemerkung in Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65),

275, hin: Item a Damasco per Tyberiam usque Accaron ivi, et inde usque Ierosolymis, ab Iero-solymis vero usque Aschalonam; Lehmann, Mittelalterliche Handschriftenbruchstücke (wie Anm.65), 69: Item a Damascho per Thabariam usque Achon 4or sunt diete et 3 usque Iherusalem et aJherusalem usque Aschalonam II diete.

68 Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 265: Der Erzähler (Burchard) versichert in klassi-scher Weise Authentizität und Auswahl des Berichteten: Quecunque ibi, michi commissa lega-tione, vidi vel veraciter percepi, que habitabili nostre terre rara vel extranea videbantur per mareet per terram, scripto commendavi.

69 Sein Itinerar ist im Ganzen nachvollziehbar, Angaben über Entfernungen und sonstige geographi-sche Größen (z. B. der Inseln Sardinien und Sizilien oder der Stadt Alexandria) konzentrieren sicheher auf den Beginn, vgl. Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 265f.; 267; 268; 271; 273.Auf dem Meer (von Genua nach Alexandria?) will er 47 Tage unterwegs gewesen sein: Ebd., 266;die Größe der Wüste sei nicht auszumessen: Ebd., 272. Vgl. bereits Scheffer-Boichorst, Kaiser-licher Notar (wie Anm. 48), 475: „Die meisten Beobachtungen (…) passen nicht übel zu dem

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 16: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

352 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

wird,70 und notiert die Anzahl der Ernten und die Geburtenfrequenz bei Schafen undZiegen;71 dass sich Esel auch von Pferden besteigen ließen, wundert ihn, und Unbe-kanntes, wie fliegende Fische, Krokodile oder den Balsamgarten, erwähnt er oder [606]beschreibt er genau.72 Neben Flora und Fauna73 interessiert er sich besonders für dieWasserwirtschaft74 und die städtische Lebensqualität.75 Er staunt über die Händler ausIndien am Nil76 und den Reichtum Ägyptens trotz fehlender Metallvorkommen.77

Besonders erwecken die Anderen und Fremden seine Aufmerksamkeit,78 darunter dieSchwarzen in Nordafrika, die fast nackt und unbewaffnet waren und – angeblich – unterfreiem Himmel lebten.79 Je länger die Reise dauerte, desto mehr spitzte sich BurchardsInteresse aber auf die Muslime, ihre Lebensweise und ihre Religiosität sowie ihr Ver-

—————————————Geschäfte Burchards, des ersten Beamten für die Land- und Geldwirtschaft.“ Allerdings hatScheffer-Boichorst völlig an der Auseinandersetzung Burchards mit der fremden Religionvorbeigesehen, dazu im Text weiter unten.

70 Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 265f. (Sizilien); 266 (Pantelleria); 268; 272 (Ägyp-ten); 273 (Damaskus); 274 (Assassinen).

71 Ebd., 268 (Ägypten).72 Ebd., 268 (Vermischung von Eseln und Pferden, vom Hörensagen); 266 (Fische); 270f.

(Krokodil); 269 (Balsamgarten).73 Vgl. ebd., 265 (keine Wölfe auf Sardinien); 265 (Vögel auf Korsika); 271 (Pferde, viele Papa-

geien, importiert aus Nubien, und Hühnchen in Ägypten); 272 (Flora und Fauna in der Wüste);275 (wilde Esel und Ochsen an der Straße nach [Neu-]Babylon).

74 Ebd., 267f. (über Alexandria, mit Salzgewinnung): Aquam dulcem hec civitas non habet, nisiquam per aqueductum supradicti Nili uno tempore anni in cisternis suis colligit (…). Vidi iuxtaAlexandriam, ubi Nilus per parvum spatium terre a proprio alveo educebatur in campum, et ibisine omni labore vel ingenio humano stans per aliquot tempus in sal purissimum et optimum con-vertebatur. Solet enim Nilus annuatim excrescere, et totam Egyptum irrigare et fecundare, quiarara ibi est pluvia. Incipit autem excrescere in medio Iunio usque ad festum sancte crucis et exin-de decrescere usque ad epiphanium Domini. Nota, quam cito aqua in decrescendo transit,ubicunque terra apparet, ibi statim rusticus aratrum figit et semen mittit. Vgl. ebd., 269–271. –Ebd., 273: Damascus est civitas nobilissima (…), aquis decurrentibus, fontibus et aqueductibusextra et interius per varia loca (…). Habet enim irriguum intra et extra pro voluntate hominumquasi ad modum paradise terreni.

75 Ebd., 267 (über Alexandria): Hec civitas valde sana est, plurimos etiam centenarios et senes in earepperi; 273 (über Damaskus): Et nota, quod Damascus sanissima est civitas, multos senes nutrithomines.

76 Ebd., 268f.: Nova vero Babylonia super Nilum sita est in plano, et fuit aliquando maxima civitaset adhuc satis egregia et populosa, omni bono terre fecunda, a solis mercatoribus inhabitata, adquam naves, onerate speciebus de India, passim veniunt per Nilum, et inde in Alexandriamducuntur. Im Folgenden ebd. Bemerkung über Korn- und Gemüsemärkte auf dem Lande. Ebd.,266f.: Händler auf Sizilien und in Alexandria.

77 Ebd., 271: Item per totam Egyptum neque aurum neque argentum neque aliquod genus metallicolligitur, et tamen auro terra superabundat.

78 Vgl. ebd., 265f., schon die (vergleichenden) Bemerkungen über die Bewohner Korsikas, Sardi-niens, Siziliens und der Insel Pantellaria. Später besonders über die Assassinen (ebd., 274f.).

79 Ebd., 266.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 17: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 353

hältnis zu den Christen, zu. Schon in Alexandria gebe es mehrere Kirchen, darunter denMarkusdom des Patriarchen, und auch auf dem Lande habe fast jedes Dorf ein christ-liches Gotteshaus.80 In Kairo, wo sich der königliche Palast mit den Wohnungen vonFürsten und Militärs befinde, lebten wie in Alexandria doch Sarazenen, Juden undChristen miteinander und folgten je ihrem eigenen Gesetz.81 [607] Wiederholt stellteBurchard fest, dass Muslime und Christen dieselben heiligen Stätten verehrten. ImBalsamgarten bei Kairo fand er eine Quelle, an der Maria mit dem Heiland auf derFlucht vor Herodes Rast gemacht, sich eine Zeit lang verborgen und die Kleider desJungen gewaschen habe.82 Bis heute brächten die Sarazenen Kerzen und Weihrauchdorthin, besonders an Epiphanie ströme eine große Menge von überall her zusammenund wasche sich. Maria gelte den Muslimen als Jungfrau, die von einem Engel ge-schwängert worden und mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren sei, nicht aberals Gottesmutter. Auch eine Palme am Nil hielten die Anhänger des Propheten in Ehren,von deren Datteln sich Maria einst ernährt habe.83 Bei Damaskus sei ebenfalls einMarienheiligtum; ein aus Konstantinopel stammendes Bildnis spende in einem christ-lichen Kloster unablässig duftendes Öl, das Christen, Muslime und Juden von Krank-heiten heile. An Mariä Himmelfahrt und dem Fest Mariä Geburt strömten dort alleSarazenen der Provinz mit den Christen zum Gebet und Opfer zusammen.84 Die religiö-sen Rituale, Glaubenssätze und Lebensnormen der Muslime vermerkte Burchard offen-bar ohne Vorkenntnisse. Er weiß, dass die Muslime an den Schöpfergott glaubten, abernicht an die Gottessohnschaft und das Erlösungswerk Christi;85 er kennt die VerehrungMohammeds auf Pilgerfahrten und beschreibt genau die rituellen Waschungen, notiertdie Gebetszeiten für die Männer und den Ruf des Muezzins, der die Glocken der christ-lichen Kirchen ersetze.86 Besonders fasziniert war er von den Frauen, die in Leinen-tüchern verhüllt einhergingen, niemals die „Tempel“ beträten, von Eunuchen bewachtwürden und nur in Begleitung männlicher Verwandter außer Haus seien.87 Dem Saraze-nen stünden sieben Ehefrauen zu, und auch der Verkehr mit Sklavinnen oder Dienerin-nen sei bei ihnen keine Sünde; fromme Sarazenen begnügten sich aber mit einer Ehe-frau. Wer von ihnen im Kampf sterbe, könne im Paradies gar zehn Jungfrauen sein

—————————————80 Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 267f. Zu den Christen (auf dem Lande?) hier auch die

Bemerkung: Ipsum autem genus hominum miserrimum est et misere vivit.81 Ebd., 269 (Kairo); 267 (Alexandria).82 Ebd., 269f. (auch das Folgende).83 Ebd., 270, verallgemeinernd: Sunt alia loca diversa, ubi beata Virgo habitabat, in Egypto a chris-

tianis et Sarracenis venerata. Vgl. ebd. auch: Credunt [sc. Sarraceni] etiam apostolos prophetasfuisse et plures martyres et confessores in veneratione habent.

84 Ebd., 273f. – Erwähnt wird auch eine Kirche in Ägypten, deren Brunnen am jährlichen Patronats-fest reiches Wasser spende, offenbar nur für Christen: Ebd., 271.

85 Ebd., 276; 270.86 Ebd., 276.87 Ebd., 276f. (auch zum Folgenden).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 18: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

354 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

Eigen nennen;88 Burchard kommt über deren Schicksal ins Grübeln: „Als ich zu erfah-ren suchte, was mit den Frauen geschehe, die dort nun sind, oder wohin die Jungfrauenkämen, die täglich von ihnen verbraucht würden, konnten sie mir nichts antworten.“89

Trotzdem ist unverkennbar, dass ihm, der einmal sogar die Lage eines [608] öffentli-chen Bordells bezeichnet,90 die Freiheiten der Muslime und der Reichtum des LandesBewunderung und Neid erregten.Der Schluss von Burchards Bericht ist in verschiedenen Fassungen überliefert, die

jedoch erkennen lassen, wie der Reisende selbst oder die Bearbeiter seines Textes seineErfahrungen der Fremde in das christliche Weltbild einordneten. In der kürzeren Ver-sion kommentiert Burchard die Polygynie der Muslime mit dem lakonischen Satz: „Sieleben und herrschen mit dem Teufel von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“91 Bei allerFaszination, die die muslimische Lebensweise den Christen bot, wussten diese doch umderen Sündhaftigkeit und Verworfenheit. Die heilsgeschichtliche Einordnung des Erleb-ten bietet die längere, möglicherweise nicht von Burchard selbst stammende Versionnoch expliziter.92 Die Milde des Erlösers sei so groß, heißt es dort, dass er Gerechte undUngerechte reich beschenke; die Demütigen und Ruhigen, die seine Reden fürchteten,würden den Preis des ewigen Lebens erlangen, den Ungerechten aber erlaube er, „indiesem tödlichen Leben an zeitlichen Gütern zu ewiger Verdammnis Überfluss zuhaben. Daraus ergibt sich, dass die Unguten die besten Länder halten, an Getreide,Wein und Öl Überfluss haben und frohlocken über Gold, Silber, Edelsteine und Seiden-gewänder und sich suhlen in Aromastoffen, Farben und Balsam (…).“ Mit Exempelnund Worten der Schrift trösten sich der Straßburger Kleriker oder seine Bearbeiter:„Liebet Eure Feinde, tut ihnen Gutes, die Euch hassen, damit Ihr Söhne Eures Vatersseid, der im Himmel ist und der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt und esregnen lässt über Gerechte und Ungerechte.“ Obgleich sich der Straßburger Bote in ire-nischer Stimmung durch Saladins Land hatte führen lassen und vieles von dem, was ersah, genossen hatte, wird hier den Fremden als Feinden ihr Platz in der Heilsgeschichtezugewiesen; sie sind Geschöpfe Gottes, die am Ende aber ein Ort ewiger Verdammniserwartet.Im Unterschied zu Burchard hat Ibn Ğubair seinen Bericht schon während seiner

Reise verfasst; er bezeichnet ihn mehrfach selbst als Tagebuch, und tatsächlich hat erseine Erlebnisse, Beobachtungen und Reflexionen in kurzen Abständen mit genauen

—————————————88 Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 271.89 Ebd., 271f.: Cumque requirerem, quid de mulieribus istis contingat, que nunc sunt, vel quo

deveniant virgines, que cottidie secundum eos corrumperentur, mihi respondere ignorabant.90 Ebd., 275f.91 Lehmann, Mittelalterliche Handschriftenbruchstücke (wie Anm. 65), 69: Qui vivunt et regnant

cum dyabolo in secula seculorum. Amen.92 Arnoldi Chronica Slavorum (wie Anm. 65), 276f. – Nach Lehmann, Mittelalterliche Handschrif-

tenbruchstücke (wie Anm. 65), 71, passt diese Version „nach Stil und Inhalt gar nicht zu Bur-chard“.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 19: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 355

Daten festgehalten.93 Wir wissen deshalb, dass er etwa ein Drittel seiner Pilgerreise beiUngläubigen, also Christen, zugebracht hat, davon allein sieben Monate während derlebensbedrohenden Überfahrten nach Alexandria und von Akkon zurück nach Spa-nien.94 [609] Was er aufschrieb, hatte er gehört,95 das meiste aber gesehen. Dabei hin-derte ihn nicht, dass Muslime zu verhüllen pflegen, was ihnen wertvoll ist, und erstrecht lief das Spionage-Verbot des Koran bei ihm ins Leere.96 Natürlich stand das Zielseiner Pilgerschaft, der Haram von Mekka, ganz im Vordergrund seines Interesses; erhat dort acht Monate verweilt und nur an drei Tagen, wie er akribisch bemerkt, seinenBlick von der kaʿba abgewandt.97 Seine umfassenden und präzisen Aufzeichnungenüber Kultgebäude, Rituale und Begegnungen mit Glaubensgenossen von überallher,nicht zu vergessen das Warenangebot des internationalen Handels, sind von höchstemhistorischen Wert. Seine Bewunderung und schriftstellerischen Fähigkeiten fordertenaber auch die Werke der Alten und selbst der Christen heraus. Vom antiken Alexandriaist er hingerissen,98 wenngleich er das große Wunder des Leuchtturms nur deshalb rechtwürdigen kann, weil sich an seiner Spitze eine Moschee befand, in der er betenkonnte.99 Auch die Pyramiden waren ihm ein wunderbarer Anblick, aber weil er nichtwusste, wer da begraben lag, konnten sie seine Aufmerksamkeit nicht wirklich fes-seln.100 Hingegen überforderten Ausmaß, Konstruktion, Malereien und Plastiken einesTempels in Unterägypten seine Kunst der Beschreibung; nur Gott, so tröstete er sich,könne alles Wissen über das Gebäude ganz umfassen.101 Den Ehrentitel des großar-

—————————————93 Vgl. The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 25: „The writing of this chronicle was begun on

Friday the 30th of the month of Shawwal, 578 at sea, opposite Jibal Shulayr“; 164; 171; 311:„this journal“; 313: „this diary“.

94 Ibn Ǧubair errechnet selbst eine Gesamtreisezeit von zwei Jahren und dreieinhalb Monaten (TheTravels of Ibn Jubayr [wie Anm. 51], 366); er brach am 3. Februar 1183 in Granada auf (ebd.,25) und kam am 25. April 1185 dort wieder an (ebd., 365), benötigte also 26 Monate und 22Tage. Den dār al-islām verließ er durch Besteigen des genuesischen Schiffes in Ceuta am 28.Februar (ebd., 26) und erreichte wieder muslimisches Land in Alexandria am 26. bzw. 31. März,wie er schreibt nach dreißigtägiger Seefahrt (ebd., 29). Die Kreuzfahrerstaaten betrat er wohl am15. September 1184 (ebd., 315, vgl. 313), bestieg wiederum ein genuesisches Schiff am 6. Okto-ber (ebd., 325; vgl. ebd., 327) und erreichte den Hafen des muslimischen Denia in Spanien amAbend des 15. April 1185 (ebd., 365).

95 Z. B. The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 27; 39; 240; 267; 302–304; 321; 341f. u. ö. –Gelegentlich konsultierte er, gewiss nachträglich, auch Bücher: Ebd., 272; 286.

96 Vgl. ebd, 56.97 Ebd., 75 (Ankunft in Mekka am 4. August 1183); 188 (Abreise am 5. April 1184); 189 (nur drei

Tage ohne Anblick des verehrten Hauses). – In Medina hielt er sich hingegen nur fünf Tage auf(16.–21. April 1184; ebd., 196–212).

98 Ebd., 32–36. Dagegen urteilte er harsch über Bagdad: Ebd., 226; 234; siehe aber 238.99 Ebd., 33.100 Ebd., 45f. (mit falscher Anzahl der Pyramiden und falscher Angabe über die Blickrichtung der

Sphinx).101 Ebd., 53–55.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 20: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

356 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

tigsten Tempels oder Bauwerks der Welt vergab er gleich mehrfach, auf Sizilien auchan die Kirche La Martorana von Palermo.102

Unter den Lebenden gehörte sein höchster Respekt Saladin; überall betätige sich derSultan als Bauherr für Moscheen, Schulen, Hospitäler und Brücken und vor allem alsFörderer der Pilger, besonders auch für diejenigen aus dem Westen.103 In Kairo, wo erangeblich seine Residenz nehmen wollte, ließ er gerade von unzähligen christlichenSklaven Marmorblöcke zersägen, riesige Steinblöcke zuschneiden und eine neueStadtmauer errichten.104 Ibn Ğubair konnte Saladin weder in Alexandria [610] noch inDamaskus persönlich beobachten, da sich der Sultan auf Kriegszug gegen die Ungläu-bigen befand;105 aber die zweite, wiederum vergebliche Belagerung der strategisch hochbedeutenden Kreuzfahrerburg Kerak durch Saladin im Herbst 1184 hat der Pilger ausAndalusien fast hautnah miterlebt.106 In Damaskus bewunderte er wenigstens denSultanspalast; besonders zwei nahegelegene Reitbahnen haben ihn begeistert, die grünwie von Seidenbrokat waren: „Der Sultan geht dahin, um Sawalajan [eine Art Polo] zuspielen und seine Pferde rennen zu lassen“, berichtet der Reisende aus Spanien: „Es gibtkeinen anderen Ort, an dem die Augen [so gern] umherwandern würden.“107

Ibn Ğubair war aber nicht der Mann, den sinnliche Eindrücke letztlich befriedigten.Deshalb lobt er Damaskus vor allem als unvergleichlichen Platz für das Studium amBuch des Großen und Ruhmreichen Gottes. Welcher junge Mann aus dem Maghrebsein Glück suche, solle auf der Suche nach dem Wissen dorthin fahren, wo er alleHilfen finden werde. „Wir sprechen hier nur zu den Eifrigen (…). Wohlan, das Tornach Osten ist offen, strebsame Jugend tritt in Frieden ein und ergreife die Gelegenheitzu einem ungestörten Studium und zu Abgeschiedenheit, bevor Euch eine Ehefrau undKinder in Beschlag nehmen und Ihr im Hader über die Zeit, die Ihr verloren habt, mitden Zähnen knirscht! Gott ist der Helfer und der Führer. Es gibt keinen anderen Gott alsIhn.“108

Keineswegs aber ist Ibn Ğubair unkritisch. Er entsetzt sich besonders in Ägypten undim Ḥiǧāz über zahlreiche Schismatiker, die die religiösen Normen nicht ernst neh-men.109 Bei allem Respekt vor Saladin ist er davon überzeugt, dass nur die radikalenAlmohaden, das Herrscherhaus seiner Heimat, den wahren Islam vertreten und die Welt

—————————————102 The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 349; vgl. ebd, 305f.; 308.103 Ebd., 33–35; 44f.; 48f.; u. ö.104 Ebd., 43.105 Ebd., 72; 314.106 Ebd., 300; 311; 313f.; vgl. Runciman, Geschichte der Kreuzzüge (wie Anm. 52), 742.107 The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 301f.108 Ebd., 298f. (Zitat: 299).109 Ebd., 64–66; 71–73f., vgl. ebd., 264; 291f. – Ibn Ǧubair geht in seiner Kritik an der religiösen

Verwahrlosung gerade in der Umgebung der Heiligen Stätten von Mekka so weit, dass er Ver-ständnis für diejenigen Rechtsgelehrten aufbringt, die dafür plädieren, die Pilgerschaft als reli-giöse Pflicht aufzuheben: Ebd., 72.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 21: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 357

seines Glaubens retten können;110 den Bau neuer Brücken am Nil, das fürchte dortschon das Volk, werde den Almohaden einen Eroberungszug erleichtern.111

Den Ernst der muslimisch-christlichen Konflikte konnte Ibn Ğubair nicht verkennen;immer wieder begegnete er versklavten Christen oder auch umgekehrt, schon bei seinerAnreise auf Sardinien, gefangen genommenen Muslimen.112 Seit er sich auf seinerHeimfahrt am Libanongebirge der Grenze zu den Kreuzfahrerstaaten näherte,113 wurdeer aber mit Beobachtungen konfrontiert, die ihn schlicht überforderten. Er [611]wunderte sich, dass Christen muslimische Einsiedler mit Lebensmitteln versorgten, weilsie deren Gottesverehrung erkannten.114 Und unfasslich war ihm erst recht, dass derHandel zwischen Muslimen und Christen ungestört weiterging, während Saladin mitgroßem Heer gegen die Ungläubigen zog.115 Wie konnte es sein, dass die Kaufmanns-karawanen der Christen von entgegenkommenden bewaffneten Muslimen unbehelligtblieben und muslimische Kaufleute ebenso ungestört ihren Geschäften auf dem Bodender Christenreiche nachgingen?116 Allmählich ergriff Ibn Ğubair Sorge, ja Panik; Glau-bensabfall drohte.117 Als er in Akkon auf ein Schiff nach dem Westen wartete, konnte ermit anderen Muslimen in Tyrus eine christliche Hochzeit beobachten. Nicht nur dieBraut mit ihrem goldenen Schleier und Diadem, die ganze Gesellschaft und ihr Festrissen ihn hin: „Wir alle hatten die Chance, diesen berückenden Anblick zu genießen –Gott bewahre uns vor dieser Versuchung!“118 Immer wieder wird er sich in den folgen-den Monaten, notgedrungen unter Christen lebend und ihr Schicksal auf dem Meereteilend, so zur Ordnung rufen. Noch in Tyrus hat er davon erfahren, dass Muslime nachder christlichen Eroberung der Stadt aus Liebe zur Heimat zurückgekehrt seien und jetztunter den Ungläubigen lebten. Ibn Ğubair will sie nicht verurteilen, doch dann bricht esaus ihm hervor: „Es gibt in den Augen Gottes keine Entschuldigung für einen Muslim,in irgendeinem Land der Ungläubigen zu bleiben, es sei denn, wenn er es durchquertbei Wegen, die im Ganzen in muslimischen Ländern liegen.“119 Dort drohten MuslimenErniedrigung und Not durch die Kopfsteuer, während die Unvermögenden zumindestdie Schmähungen Mohammeds ertragen müssten. Unter Christen gebe es nur Unrein-

—————————————110 The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 73.111 Ebd., 45.112 Ebd., 27; 51–53; 314.113 Ebd., 265.114 Ebd., 300.115 Ebd., 301; 313.116 Vgl. auch ebd., 313 (gemeinsame Landwirtschaft von „Franken“ und Muslimen); 316 (gutes

Leben muslimischer Bauern unter christlicher Herrschaft); 317 (muslimischer Verwalter, vonChristen eingesetzt); 317f. (fairer Handel) u. ö.

117 Ebd., 316; 320f. (siehe folgende Anm.); 322 (Zitat unten bei Anm. 119); 341 (unten bei Anm.126), 345; 349.

118 Ebd., 320f.: „God protect us from the seduction of the sight (…). We thus were given the chanceof seeing this alluring sight, from the seducement of which God preserve us.“

119 Ebd., 321f. Hier auch das Folgende.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 22: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

358 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

heit, man lebe dort unter Schweinen und belastet von zahlreichen anderen Miss-achtungen der Verbote. „Hüte Dich, hüte Dich, ihre Länder zu betreten! Möge Gott derAllmächtige Seine gnädige Verzeihung für diese Sünde gewähren, in die [unsere] Füßegeraten sind, aber Seine Vergebung wird nur sicher erlangt, wenn er unsere Bußeangenommen hat. Ruhm für Gott, den Herrn. Es gibt keinen Herrn als Ihn.“Schon auf der Reise von Damaskus zum Hafen von Akkon zog Ibn Ğubair mit

Christen und erfuhr von einem freigelassenen Muslim, der, vom Teufel versucht, zumApostaten und nach der Taufe sogar christlicher Mönch geworden war.120 Auf demSchiff [612] mit 2.000 christlichen Pilgern121 erlebte er mit den übrigen Muslimenfasziniert die Rituale des Allerheiligenfestes; fast jeder der Christen habe eine Kerze inden Händen gehalten, die Priester hätten Gebete gesprochen, gepredigt und den Glau-ben bekannt. In der dunklen Nacht sei das ganze Schiff „von der Spitze bis zum Boden“von entzündeten Kerzen erleuchtet worden.122

Als die gemischte Reisegesellschaft eine quälende Irrfahrt mit Schiffbruch beiMessina an der Küste Siziliens beenden musste,123 potenzierten sich die Gefahren. Dernormannische König Wilhelm II. habe die Muslime persönlich vor Versklavung be-wahrt;124 bevor nach langem Warten endlich ein Schiff heimwärts nach Spanien genom-men werden konnte, hatte Ibn Ğubair ausgiebig Gelegenheit, die Symbiose seinerGlaubensgenossen mit der andersgläubigen Mehrheit unter christlicher Herrschaft zustudieren.125 König Wilhelm ziehe muslimische Mediziner und Astrologen an seinenHof: „Möge Gott die Muslime in seiner Güte vor der Versuchung bewahren!“126 Aufdem Weg nach Palermo grüßte ihn eine Gruppe Christen zuerst und so höflich, dass ihrVerhalten, wie er sich klar machte, einfältige Seelen schwankend machen konnte.127

Die Duldung der Muslime durch die Christen war die größte Gefahr. Verwundertregistriert Ibn Ğubair in Trapani, dass eine Gemeinde das Ende des Fastenmonats miteiner Prozession unter freiem Himmel begehen durfte. Sein Kommentar: „Möge Gottjeden Fremden in seine Heimat zurückführen!“128 Wenn Muslime auch nicht überallungern gesehen wurden, so habe doch gerade einer der Vornehmen der Stadt Trapaniseine noch nicht geschlechtsreife Tochter einem Reisegenossen von Ibn Ğubair mit-gegeben, damit er sie außer Landes führe und so vor Apostasie bewahre.129 Andererseitserfuhr er dort von der sensationellen Konversion eines byzantinischen Fürsten in Klein-

—————————————120 The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 323.121 Ebd., 325.122 Ebd., 328.123 Ebd., 336f.124 Ebd., 337f.125 Ebd., 338–361.126 Ebd., 341.127 Ebd., 345.128 Ebd., 353.129 Ebd., 360.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 23: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

Augenlust im Land der Ungläubigen 359

asien zum Islam; zusammen mit seiner Geliebten habe dieser ein goldenes Kruzifix mitden Füßen zertreten: „Nach ihrer Art“, so der Tagebuchschreiber, „ist dies der sichersteWeg, um die christliche Religion zu leugnen und dem Islam Treue zu schwören.“130

Ibn Ǧubair hat, wie deutlich geworden ist, die Begegnung mit der Fremde ganz an-ders verarbeitet als der Straßburger Kleriker Burchard. Was er unter Christen sah undihn faszinierte, verbot er sich nachträglich als Versuchung zu Glaubensverrat undSünde. Er konnte nicht, wie seine christlichen Zeitgenossen, die Fremden in sein [613]Weltbild aufnehmen131 und ihre Verdammnis auf das Endgericht verschieben. DieParallele zu Ibn Baṭṭūṭa ist deutlich, doch hat er, anders als sein berühmter Nachfolger,auf dem Haddsch die kurzen Wege gesucht. Er war und blieb ein frommer Mann aufPilgerfahrt, Ibn Baṭṭūṭa wurde fast schon ein Tourist.Sein Zeitgenosse Burchard nahm, ganz ähnlich wie Marco Polo, als Gesandter die

Lizenz in Anspruch, die Augen offen zu halten, auch wenn sein Bericht vermutlichnicht für den Kaiser bestimmt war. Das Problem der Neugier haben aber zumindest dieBearbeiter seines Berichts erkannt. Als Burchard in der längeren Version des Schlussesseine Erfahrungen zusammenfasst und das Gottesgeschenk an Christen und Muslimevergleicht, schleicht sich nämlich das Vokabular des christlichen Diskurses über dieAugenlust in die Argumente ein. Der Erlöser werde einst, wie dargelegt wird, denGerechten, also den Christen, „mit dem höchsten Gut, das er selber ist, und durch denAnblick seines Glanzes auszeichnen“,132 während die Schlechten nichts von dem, wassie mit den Augen begehrten, ohne zu kosten vorübergehen ließen: (…) ipsi reprobi(…) nichil, quod oculis concupiscant, intemptatum relinquant.133 Das sind Worte wievon Augustin.134 Der Vergleich enthüllt hier eine Paradoxie: Burchard, der selbst unge-hemmt umherschaute, oder seine Bearbeiter diskreditieren die Muslime, weil diese ihrerAugenlust erlägen und sündig würden, während sich Ibn Ǧubair doch viel mehr als derStraßburger Kleriker der Gefahren aus dem Sehen bewusst war. Religiöse Normen derWelterfahrung, die den Muslim beschränkten, wenn nicht bestimmten, konnten unterden besonderen Umständen der Reise beim Christen im Bewusstsein zwar absinken,aber wirksam bleiben. Leicht war es, die Restriktionen im praktischen Lebenabzustreifen, aber schwer, die prinzipielle Freiheit zum Unbekannten zu gewinnen. Daslateinische Christentum, das stets durch das Wechselspiel von Weltzuwendung und

—————————————130 The Travels of Ibn Jubayr (wie Anm. 51), 355.131 Vgl. analoge Beobachtungen zur christlichen und muslimischen Kartographie des Mittelalters

im Vergleich bei Michael Borgolte, Christliche und muslimische Repräsentationen der Welt.Ein Versuch in transdisziplinärer Mediävistik, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wis-senschaften. Berichte und Abhandlungen, Bd. 14. Berlin 2008, 89–147 [ND in diesem Bd., 283–335]; Ders., Christliche Welt und muslimische Gemeinde (wie Anm. 13).

132 Chronica regia Coloniensis (wie Anm. 56), 276f.: Iustum quidem (…) premium vite eterneconcedens, summo bono, quod ipse est, et aspectu sue claritatis beatificat.

133 Chronica regia Coloniensis (wie Anm. 56), 277.134 Vgl. oben bei Anm. 36.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM

Page 24: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Augenlust im Land der Ungläubigen Wie Religion bei Christen und Muslimen des Mittelalters

360 Transkulturelle und globale Mittelalterforschung

Weltabwendung geprägt war, scheint seit dem hohen Mittelalter gegenüber Muslimen,aber auch im Vergleich mit Juden und Ostchristen, einen Vorsprung gewonnen zuhaben. Generelle Schlüsse im Sinne jener Meistererzählung, nach der der Ursprung derModerne im Mittelalter gelegen habe, sind freilich nicht angebracht; abgesehen davon,dass es noch viel zu wenige interkulturell-vergleichende Studien zur Welterfahrunggibt, war und ist der Gang der Geschichte, gar ihr Endziel, nie vorhersagbar.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/4/14 1:22 PM