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„Europa ein christliches Land“ Religion als Weltstifterin im Mittelalter? „Es 1 waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemein- schaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“ 2 Der sich diese Zeilen vorsagte – vielleicht den betörendsten Text, der je in unserer Sprache über die mittelalterliche Welteinheit im Zeichen des Christentums geschrieben wurde –, war ein aus Posen stammender deutscher Jude als Emigrant in den USA. Er war durch die Nazis schon vor Jahren von seinem Lehrstuhl für Geschichte in Frankfurt vertrieben worden und hatte in Berkeley begonnen, eine zweite Fachkarriere aufzubauen. Den Novalis memorierte allerdings Ernst H. Kantorowicz – denn um ihn handelte es sich – nicht in romantisierender Absicht, zu der schon seine Lebenslage keinen Anlass geboten hätte. 3 Im Gegenteil gab die dramatisch veränderte Welt seiner Zeit der alten aufgeklärten und klassizistischen Skepsis gegen den schönen Traum neue Nahrung. Man befand sich mitten in der Peripetie des Zweiten Weltkrieges; der deut- sche Angriff auf die Sowjetunion hatte England und Amerika zu „unnatürlichen Ver- bündeten“ Stalins gemacht, um den Albtraum von Hitlers „Neuen Ordnung“ Europas zu bannen. Der Historiker Kantorowicz konstatierte denn auch unter stillschweigender Rücksicht auf die aktuellen Ereignisse: „Wir müssen zugeben, dass das griechisch- slawische Gemeinwesen zu Europa gehört“, und er fügte illusionslos hinzu: Wir „er- ————————————— 1 Im Folgenden wird der Wortlaut eines Beitrags zur Berliner Ringvorlesung „Was hat uns das Christentum gebracht?“ am 30. Mai 2000 wiedergegeben, den der Verfasser zuvor nur leicht ver- ändert als Vortrag auch an der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau gehalten hatte (5. Mai 2000). Ergänzt sind lediglich die Anmerkungen. 2 Novalis, Die Christenheit oder Europa, in: Ders., Werke und Briefe. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Alfred Kelletat. München 1968, 389–408, hier 389. Hervorhebung im Original. 3 Zu Kantorowicz zuletzt: Johannes Fried, Einleitung, in: Ernst H. Kantorowicz, Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Hrsg. von Eckhart Grünewald / Ulrich Raulff. Stuttgart 1998, 7–45; Wolfgang Ernst / Cornelia Vismann (Hrsg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. München 1998; dazu Michael Borgolte, Zu Sternen sah er führerlos hinan. Wie Ernst Kantorowicz Orientierung suchte und gab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 1999, 53. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/4/14 1:10 PM

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„Europa ein christliches Land“

Religion als Weltstifterin im Mittelalter?

„Es1 waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eineChristenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemein-schaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichenReichs.“2 Der sich diese Zeilen vorsagte – vielleicht den betörendsten Text, der je inunserer Sprache über die mittelalterliche Welteinheit im Zeichen des Christentumsgeschrieben wurde –, war ein aus Posen stammender deutscher Jude als Emigrant in denUSA. Er war durch die Nazis schon vor Jahren von seinem Lehrstuhl für Geschichte inFrankfurt vertrieben worden und hatte in Berkeley begonnen, eine zweite Fachkarriereaufzubauen. Den Novalis memorierte allerdings Ernst H. Kantorowicz – denn um ihnhandelte es sich – nicht in romantisierender Absicht, zu der schon seine Lebenslagekeinen Anlass geboten hätte.3 Im Gegenteil gab die dramatisch veränderte Welt seinerZeit der alten aufgeklärten und klassizistischen Skepsis gegen den schönen Traum neueNahrung. Man befand sich mitten in der Peripetie des Zweiten Weltkrieges; der deut-sche Angriff auf die Sowjetunion hatte England und Amerika zu „unnatürlichen Ver-bündeten“ Stalins gemacht, um den Albtraum von Hitlers „Neuen Ordnung“ Europas zubannen. Der Historiker Kantorowicz konstatierte denn auch unter stillschweigenderRücksicht auf die aktuellen Ereignisse: „Wir müssen zugeben, dass das griechisch-slawische Gemeinwesen zu Europa gehört“, und er fügte illusionslos hinzu: Wir „er-

—————————————1 Im Folgenden wird der Wortlaut eines Beitrags zur Berliner Ringvorlesung „Was hat uns das

Christentum gebracht?“ am 30. Mai 2000 wiedergegeben, den der Verfasser zuvor nur leicht ver-ändert als Vortrag auch an der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau gehalten hatte(5. Mai 2000). Ergänzt sind lediglich die Anmerkungen.

2 Novalis, Die Christenheit oder Europa, in: Ders., Werke und Briefe. Hrsg. und mit einem Nachwortversehen von Alfred Kelletat. München 1968, 389–408, hier 389. Hervorhebung im Original.

3 Zu Kantorowicz zuletzt: Johannes Fried, Einleitung, in: Ernst H. Kantorowicz, Götter in Uniform.Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Hrsg. von Eckhart Grünewald / UlrichRaulff. Stuttgart 1998, 7–45; Wolfgang Ernst / Cornelia Vismann (Hrsg.), Geschichtskörper. ZurAktualität von Ernst H. Kantorowicz. München 1998; dazu Michael Borgolte, Zu Sternen sah erführerlos hinan. Wie Ernst Kantorowicz Orientierung suchte und gab, in: Frankfurter AllgemeineZeitung, 9. Februar 1999, 53.

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kennen aber eben dadurch, dass die Welteinheit zerbrochen ist“.4 Bezogen aufs Mittel-alter könne allenfalls Westeuropa „von einem sehr entfernten Gesichtspunkt gesehen alseine Einheit“ erscheinen, trotz ernster und gefährlicher Risse. Doch werde sich „derHistoriker energisch weigern, die vielgepriesene Einheit der Sprache, Literatur undGelehrsamkeit anzuerkennen, der Sitten, Bildung und des Kreuzzugsgeistes oder auchnur der kirchlichen Angelegenheiten, sobald er das Gemeinwesen der griechisch-slawischen Nationen mit seinem Zentrum Byzanz berücksichtigt. Das heißt“, fuhrKantorowicz fort, [1062] „die faszinierende Vorstellung von mittelalterlicher Weltein-heit fällt in sich zusammen, und eine Fata Morgana löst sich auf, wenn die Kuppel derHagia Sophia am Horizont auftaucht.“5 Trotzdem war der Weg zurück seit der „strangealliance“ der angelsächsischen Mächte mit der UdSSR verstellt. Der Mediävist urteiltedeshalb auch entschlossen: „Der heutige Historiker kann Byzanz nicht als geistigeRanderscheinung abtun. Er wird das Europa jenseits des Adriatischen Meeres nichtunberücksichtigt lassen noch eine Grenze ziehen oder in Venedig einen geistigen Zoll-hafen einrichten oder die Existenz Südosteuropas ignorieren, um den Glauben an die‚mittelalterliche Welteinheit‘ zu bewahren (…) Byzanz gehört zu ‚unserer Welt‘, ob-wohl die Disparität zwischen dem römisch-germanischen Westen und dem griechisch-slawischen Osten jede Anstrengung zur Konstruktion einer Welteinheit zunichtemachen mag. Es gibt keine Einheit östlicher und westlicher Sitten oder Wertvorstel-lungen; es gibt keine Einheit der Sprache und Literatur oder gemeinsame Grundlagender Bildung (…). Selbst die Einheit der Kirche ist eine höchst problematische unddelikate Angelegenheit, ganz zu schweigen von einer Einheit in politischen Dingen.“Was Kantorowicz unter dem Druck der Zeitgeschichte und seines Lebensschicksals

erkannte: Die Ungleichförmigkeit der Welt, die eine ganze ist ohne Einheit, könnteheutige Historiker veranlassen, die Beziehungen zwischen den Teilen zu erforschenoder eher noch die heikle Balance von Einheiten und Differenzen der Geschichte durchOperationen des Vergleichs zu testen.6 Kantorowicz ging aber einen anderen Weg, alser das „Problem mittelalterlicher Welteinheit“ abhandelte. Seine Einsicht, dass dieVorstellung einer mittelalterlichen Welteinheit nichts sei als ein Mythos, führte ihn zur

—————————————4 Ernst H. Kantorowicz, Das Problem mittelalterlicher Welteinheit, in: Ders., Götter in Uniform (wie

Anm. 3), 148–154, hier 149; (zuerst: Ders., The Problem of Medieval World Unity, in: AnnualReport of the American Historical Association. For the year 1942, 1944, 31–37).

5 Kantorowicz, Das Problem mittelalterlicher Welteinheit (wie Anm. 4), 148f. Hier auch die folgen-den Zitate.

6 Vgl. Michael Borgolte, Perspektiven europäischer Mittelalterhistorie an der Schwelle zum 21. Jahr-hundert, in: Ders. (Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwan-zig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik.(Europa im Mittelalter, Bd. 1.) Berlin 2001, 13–27; Ders., Vor dem Ende der Nationalgeschichten?Chancen und Hindernisse für eine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift272, 2001, 561–596 [ND in diesem Bd., 31–59]; Ders., Europäische Geschichten. Modelle undAufgaben vergleichender Historiographie, in: Marc Löwener (Hrsg.), Die „Blüte“ der Staaten desöstlichen Europa im 14. Jahrhundert. (Quellen und Studien, Bd. 14.) Wiesbaden 2004, 303–328.

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Suche nach den Wurzeln dieses Mythos im Mittelalter selbst; wie er erkannte, warendie Ursprünge dem Osten und Westen gleichermaßen eigen. Vor allem in den Kirchenbeider Hemisphären sei der große Mythos der Einheit stets gepflegt worden trotz tief-greifender Unterschiede zwischen den Ritualen. Die östliche wie die westliche Kirchehabe gebetet: „Sei eingedenk, o Herr, Deiner heiligen katholischen und apostolischenKirche, welche besteht von Ewigkeit zu Ewigkeit.“7 Doch über dieser gedachten Einheitder Kirche habe man die große Vielfalt der Kirchen nicht übersehen, die römisch odergallikanisch, byzantinisch, syrisch, ägyptisch, armenisch oder anderswie ausgeprägtwaren. Deshalb seien auch gleichzeitig Gebete gesprochen worden „für den Frieden derganzen Welt und für das Wohlergehen der heiligen Kirchen Gottes und die Einheit(‘ένωσις) von ihnen allen“. Zwar habe man im Mittelalter also die Vielzahl der Kirchenwahrgenommen, darüber aber die Einheit aller eschatologisch antizipiert: „Die Visionder kommenden Einheit erwies sich als stärker denn die Wahrnehmung der bestehendenDisparität, und allgemeine Konvention machte es leicht, geistig zu etablieren, wasmateriell nicht existierte.“8 Die Einheit der mittelalterlichen christlichen Welt war alsoein Mythos, der uns Heutigen, nehmen wir die Einsichten von Kantorowicz ernst, indoppelter Weise fremd sein muss: Zum einen verdeckt er die tatsächliche Zersplitterungvon Christen- [1063] tum und Kirche in eine Mehrzahl von Glaubensgemeinschaften,zum andern setzt er als Erfahrung des Mittelalters selbst eine Nähe zur Transzendenzvoraus, die den meisten Zeitgenossen schlicht unverständlich geworden sein dürfte.Wir Menschen im Jahr 2000 nach Christus sehen das mittelalterliche Christentum

zweifellos ähnlich an wie Kantorowicz und anders als Novalis. Auch wir müssenanerkennen, dass der slawisch-griechische Osten ein Bestandteil unserer Welt ist, sounklar im Einzelnen sein mag, wie Russland und Serbien, Bulgarien oder Griechenlanddem werdenden Europa in politischer, wirtschaftlicher, kultureller, rechtlicher undsozialer Hinsicht zuzuordnen sind.9 Über Kantorowicz hinaus bestimmt uns sogar eineErfahrung von Pluralität, die auch das Mittelalter widersprüchlicher und zerklüftetererscheinen lässt als je zuvor. Wir können heute nicht mehr ignorieren, dass es wie in derGegenwart so auch im Mittelalter Ungläubige gab10 und dass im christlichen Europaebenfalls Juden, Muslime und andere religiöse Gemeinschaften lebten. Wenn es aberdiesen doppelten Pluralismus gibt – den auf der Seite der Gegenwart genauso wie

—————————————7 Kantorowicz, Das Problem mittelalterlicher Welteinheit (wie Anm. 4), 152. Hier auch das

folgende Zitat.8 Kantorowicz, Das Problem mittelalterlicher Welteinheit (wie Anm. 4), 154.9 Vgl. Michael Borgolte, War Karl der Große wirklich groß? Europa ist heute nicht mehr die

Christenheit. Was die Einigung des Kontinents für die Mediävistik bedeutet, in: Frankfurter All-gemeine Zeitung, 4. März 1999, 56 [ND in: Ein Büchertagebuch. Besprechungen aus der Frank-furter Allgemeinen Zeitung 1999. Frankfurt am Main 1999, 490–494].

10 Vgl. František Graus, Pest, Geissler, Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. (Veröffent-lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 86.) Göttingen 1987, 84f.

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denjenigen aufseiten der Geschichte – wie sollen wir dann unser Thema verstehen undbewältigen?In dieser Ringvorlesung wird gefragt: „Was hat uns das Christentum gebracht?“ Ge-

wiss könnte eine Antwort jede Referentin und jeder Referent für sich geben und damitauch dem einen oder anderen Hörer zur Klärung seiner eigenen Lage verhelfen. Aberoffenbar soll es hier doch noch um mehr gehen, um eine kollektive Identität nämlichund um die Zukunft des Christentums bei deren Fortentwicklung. Nur wenige von unsdürften noch wie Novalis 1799 die Religion – der Dichter meinte genauer: den Katholi-zismus – als „neue Weltstifterin“ erwarten oder gar herbeisehnen.11 Aber von wemsprechen wir eigentlich, wenn wir von „uns“ reden? Wir dürfen doch sicher sein, dassunter uns Atheisten, Agnostiker und Angehörige anderer Bekenntnisse ebenso sitzenwie Christen. Diesen verschiedenen Gruppen in Diagnose und Therapie einen gleich-mäßigen Anteil des Christentums zuzumessen, wäre offenkundig verfehlt, wenn nichtgefährlich. Dazu kommt, dass die gestellte Aufgabe das Fach Geschichte als Wissen-schaft schlicht überfordert. Natürlich sind wir alle als Europäer, so oder so, Erben desmittelalterlichen Christentums, aber wir haben dieses Erbe doch nicht direkt empfan-gen. Zwischen dem Medium Aevum und uns liegen Reformation und Konfessionalisie-rung, Aufklärung und Säkularisierung, glaubensfeindlicher Totalitarismus und Aggior-namento.12 Kein Impuls der Geschichte bleibt sich stets gleich, sondern er ist, wie[1064] alles, was existiert, dem ständigen historischen Wandel unterworfen.13 Boni-fatius hat die Donarseiche nicht für uns gefällt, und wenn seine Tat gegenwärtigenMenschen etwas bedeutet, so nur deshalb, weil sie durch ungezählte Generationen inmehr als tausend Jahren affirmiert, adaptiert und in ihrem Bedeutungsgehalt verändertwurde. In der Geschichte ist es wohl möglich, begrenzte Handlungsimpulse zu isolierenund deren Wirkungen eine Zeitlang zu beobachten, bevor sie sich freilich untrennbarmit anderen Faktoren vermischen oder ganz verlieren; komplexe Systeme wie dasChristentum lassen sich in ihrem Wandel über lange Zeit hin aber schlechthin nicht mit

—————————————11 Novalis, Werke und Briefe (wie Anm. 2), 340: „Daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist und

grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergangzu vollenden drohten, die günstigsten Zeiten ihrer Regeneration geworden sind, dieses kanneinem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungs-element der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neueWeltstifterin empor.“ – Zur Kritik des Novalis vgl. Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittel-alter, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen mo-derner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Darmstadt 1992, 7–28, hier 15f.

12 Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 757: „Magdas Mittelalter vielleicht nicht die uns am stärksten prägende Religionsepoche gewesen sein – daswar das konfessionelle Zeitalter –, gewiß war es die am meisten von Religion durchtränkte.“

13 Zur Kritik des Entwicklungsgedankens in der Geschichtsdeutung, an dessen Stelle die Idee deshistorischen Wandels treten müsse, vgl.Michael Borgolte, Mittelalterforschung und Postmoderne.Aspekte einer Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43, 1995, 615–627,hier 623.

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sich selbst als identisch erfassen. Das Problem: „Was hat uns das mittelalterliche Chris-tentum gebracht?“ ist wissenschaftlich nicht zu lösen, weil wir das Christentum nur alsein gegenwärtiges erfahren können, in dem sich alte Motive längst zu anderen ver-wandelt haben. Wer sich über diese Einsicht hinwegsetzen wollte, würde den Mythosbefördern, den alten Gegner und Konkurrenten der Historiographie.14

Wonach wir historisch fragen können, ist: Was hat das Christentum jeder seiner Zei-ten gebracht, so auch dem Mittelalter? Wie hat es die Gesellschaften verändert, die esvorgefunden hatte? Geht man solchen Fragen nach unter reflektiertem Bezug auf dieProblemlagen der eigenen Gegenwart, kann sich der Frageansatz unserer Vorlesungsehr wohl als nützlich erweisen. Zwar geht es dann nicht darum, Kontinuitäten heraus-zuarbeiten, die gegen jede historische Erfahrung sanktioniert werden sollen, wohl aberlässt sich aus den Analogien der Geschichte Erfahrungswissen gewinnen, das derZukunft nützlich werden könnte. In diesem Sinne möchte ich mich im Folgenden in derTradition von Kantorowicz der mittelalterlichen Welt in ihrer Pluralität zuwenden, umdie Wirkungen von Christentum und Kirche zu eruieren. Dabei richte ich die Behaup-tung des Novalis von der Religion als „Weltstifterin“ als Frage an die Vergangenheit.Um meine Aufgabe zu lösen, wähle ich im Sinne von Kantorowicz das ganze Europaals räumlichen Bezug, vor allem aber versuche ich zu analysieren und darzustellen, wasdas Christentum den Menschen Europas zu einem bestimmten Zeitpunkt des Mittel-alters gebracht und bedeutet hat. Dieses Verfahren ist natürlich an unserer eigenenWirklichkeitswahrnehmung orientiert; wir können ja ziemlich gut überschauen, was injedem Teil des gegenwärtigen Europa geschieht, wo die Gesellschaften verwandt undwo sie different sind, wie die Völker und Staaten kommunizieren und kooperieren undwo sie sich voneinander scheiden. Eine solche Perspektive war dem Mittelalter natür-lich verstellt, und was ich im Folgenden darlegen kann, war der Einsicht jedes Zeitge-nossen entzogen. Aber eben dieser Kunstgriff soll uns ermöglichen, den Vergleich dermittelalterlichen mit der gegenwärtigen Welt zu vollziehen. Den chronologischen Fix-punkt hätte ich fast beliebig wählen können, da das Christentum zu jeder Zeit des Mit-telalters [1065] gewirkt hat, wenn auch je verschieden. Meine Wahl ist auf das Jahr1000 gefallen, aus naheliegenden Gründen.15 Die folgenden Erörterungen stehen alsounter der Frage: Was hat das Christentum den Menschen Europas vor tausend Jahren—————————————14 Ausschau nach „dem Bleibenden des Mittelalters, das bis heute weiterwirkt und in unseren Le-

bensbestand eingegangen ist“, hielt jüngst etwa Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittel-alter (wie Anm. 12), 756f. Er nannte Individualismus und zugleich Universalismus sowie Sozial-verantwortung (nach Ernst Troeltsch), rationale bzw. innerweltliche Askese (nach Max Weber),die Person-Idee und die Idee des Fortschritts (nach Thomas Nipperdey und Aaron Gurjewitsch).Zum Problem des Mythos vgl. Michael Borgolte, Historie und Mythos, in: Mario Kramp (Hrsg.),Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung, Bd. 2. Mainz2000, 839–846.

15 Zur ersten Jahrtausendwende zuletzt besonders Johannes Fried, Ritual und Vernunft – Traum undPendel des Thietmar von Merseburg, in: Lothar Gall (Hrsg.), Das Jahrtausend im Spiegel derJahrhundertwenden. Berlin 1999, 15–63.

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gebracht? Natürlich werde ich die Befunde, die ich zu erzielen hoffe, mit der Gegenwartnicht in einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang bringen, der, wie gesagt,eine problematische Anstrengung wäre. Aber diese Befunde werden sich eignen füreinen Vergleich mit der Situation heute, über den ich selbst freilich nur wenig sagenwill, um ihn umso mehr der Reflexion von Hörern und Lesern zu überlassen.

*An der ersten Jahrtausendwende waren fast alle Völker Europas mit dem Christentumin Berührung gekommen oder gar bekehrt worden.16 Nur rechts der Elbe hatten dieOttonen gerade mit einem Christianisierungsversuch bei den Slawen einen Fehlschlagerlitten, und kurz darauf war der Missionar Adalbert durch den Speer eines heidnischenPriesters niedergestreckt worden, als er die Prussen noch weiter im Osten missionierte.Die ostelbischen Slawen sowie die Pommern, Balten und ostseefinnischen Völkersollten dann erst Jahrhunderte später für das Evangelium gewonnen werden; mit derTaufe seines Fürsten vollzog Litauen 1253 als letztes großes Reich Europas die Hin-wendung zum christlichen Monotheismus. Andererseits war die Zeit um 1000 dieerfolgreichste Epoche der Christianisierung, seitdem sich die Germanen bei ihrer Völ-kerwanderung mit dem römischen Reich auseinanderzusetzen hatten. In den sechzigerJahren des 10. Jahrhunderts hatten die Herrscher der Dänen und Polen bereits entschei-dende Schritte zur Konversion ihrer Völker getan, bald darauf waren Vladimir vonKiew, die Fürsten von Ungarn, König Olaf Tryggvason von Norwegen sowie der Königvon Schweden gefolgt; und genau im Jahr 1000 geschah es, dass die Bewohner dernordatlantischen Inseln Island und Färöer das Christentum annahmen.Um die Jahrtausendwende bildete sich also im Norden und Osten Europas eine neue

Christenheit heraus, die entlang den Segelrouten der Wikinger den Kern des Kontinentsumgriff. Die alte Christenheit Europas war freilich auch selbst keineswegs homogen.Da das Christentum ursprünglich der antiken Mittelmeerwelt angehörte und demnacheine städtische Religion war, blieb die Grenze des Imperium Romanum in der Christen-heit mancherorts lange als Kulturscheide erkennbar. Andererseits haben die verschiede-nen Invasionen des Römerreiches – die Einfälle der Germanen, Slawen und Araber –bereits vorhandene kirchliche Strukturen zerstört, die Rückkehr zum Heidentum oderdie Konversion zum Islam befördert und noch den christlichen Neuaufbau nachhaltiggeprägt. Die unterschiedlichen ethnischen Voraussetzungen und Siedlungsvorgänge

—————————————16 Im Folgenden greife ich besonders zurück auf: Gilbert Dagron / Pierre Riché / André Vauchez

(Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054). (Die Geschichte des Christentums, Bd. 4.)Freiburg / Basel / Wien 1994; Michael Borgolte, Die mittelalterliche Kirche. (Enzyklopädie deut-scher Geschichte, Bd. 17.) München 1992; Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. biszum frühen 12. Jahrhundert. (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 2., Lfg. F 1) Göttingen 1988;Hans-Georg Beck, Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich. (Die Kirche inihrer Geschichte, Bd. 1., Lfg. D 1) Göttingen 1980; LThK3; LMA. Einzelnachweise und Spezial-literatur werden im Apparat dieses Beitrags nur sparsam angeführt.

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„Europa ein christliches Land“ 141

ließen, verbunden mit jeweils [1066] anderen kulturellen Wechselwirkungen der ein-heimischen mit der zuwandernden Bevölkerung, überall differente christliche Weltenentstehen; bestimmte Grundmuster der kirchlichen Ordnung und religiösen Orientie-rung lassen sich zwar von Region zu Region immer wieder erkennen, doch seltenüberall zur gleichen Zeit und nie in der gleichen Mischung mit anderen. Im Jahr 1000war beispielsweise Deutschland – oder was später so genannt werden sollte – lückenlosin Diözesen und weitgehend auch in Pfarrsprengel eingeteilt, ein Organisationsschemader westlichen Kirche, das auf Dauer am sichersten Erfolg versprach bei dem Bemühen,das Leben der Einzelnen christlich zu machen. Allerdings reichten die Wurzeln dieserReligion in unserem Land weiter zurück als das Prinzip der bischöflichen Leitung.Schon Ende des 2. Jahrhunderts dürfte es nämlich an der Rheingrenze des Römerreicheschristliche Gemeinden unter der Führung von Priestern und Diakonen gegeben haben.Weniger Soldaten, als zugewanderte Handwerker, Kaufleute und Beamte aus dem süd-lichen Gallien, aus Italien und aus dem Orient sind wohl die ersten Christen an Rhein,Mosel oder Donau gewesen. Eine planmäßige Mission hatte es damals nicht gegeben,die Fortschritte des Christentums vollzogen sich „wie zufällig: der einzelne Christgewann den einzelnen Heiden“ (Albert Hauck).17 In Trier wurde wohl noch im drittenJahrhundert auch die erste Bischofskirche gegründet, denen andere nach der kaiser-lichen Approbation des Christentums folgten. Nicht so sehr Bischöfe als Großgrund-besitzer, die in den römischen Provinzstädten als Amtsleute wirkten, haben das Chris-tentum auch aufs Land getragen, indem sie dort für ihre Häuser und die Siedler derNachbarschaft Kirchen errichteten. Die Bedrohung durch die Germanen hat dann aberdie Grenzprovinzen verödet und das religiös-christliche Leben gestört, bevor der Fallder Limites endgültig viele Bischofssitze verwaisen ließ. Allerdings waren viele dereindringenden Germanen bereits Christen, z. B. durch Konversion im römischen Heer,aber sie unterschieden sich konfessionell meist von den Römern. Denn die Goten undandere ihnen folgende Völker hatten das sogenannte arianische Christentum angenom-men, sie bestritten also den römischen Katholiken die Gleichrangigkeit von Christus mitGottvater.18 Die Franken allerdings waren noch Heiden, als sie Gallien von Nord nachSüd eroberten; ihr Reichsgründer Chlodwig konvertierte wohl 498 zum Katholizis-mus.19 Unter seinen Nachfolgern wurde das Königtum zum entscheidenden Träger derChristianisierung, unterstützt von irischen und angelsächsischen Missionaren; dabeiwurde das römische Prinzip der Diözesenbildung um bischöfliche Hauptorte in dasniemals romanisierte Gebiet rechts des Rheins und nördlich der Donau hineingetragen.

—————————————17 Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 1. Berlin / Leipzig 71952, 23.18 Vgl. Rowan D. Williams, Art. Arius, Arianismus, in: LThK3 1, 981–989; Gisbert Greshake, Art.

Homöer – Homöusianer, in: LThK3 5, 251; Charles Kannengiesser / Gisbert Greshake, Art. Ho-mo(o)usios, in: LThK3 5, 252f.; Manlio Simonetti / Raoul Manselli, Art. Arius, Arianismus,Arianer, in: LMA 1, 949–951; Herwig Wolfram, Art. Ulfila, in: LMA 8, 1189f.

19 Zuletzt: Die Franken, Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren. König Chlodwig und seine Erben.Katalog-Handbuch in zwei Teilen. Mainz 1996.

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Der letzte große Erfolg der königlichen Kirchenpolitik war die Integration der Sachsen,die Karl der Große nach einem jahrzehntelangen Missionskrieg, also gewaltsam, be-wirkte. Die Erzbistümer Hamburg-Bremen und Magdeburg sollten nach dem Willenihrer karolingischen bzw. ottonischen Gründer auch den skandinavischen Raum und dieSclavinia jenseits der Reichsgrenzen erfassen, doch sind diese Pläne jeweils gescheitert.Im Jahr 1000 genau hat Otto III. [1067] stattdessen die Errichtung einer eigenen polni-schen Kirchenprovinz in Gnesen unterstützt, und wenig später wird sich das Gleiche inUngarn mit dem Erzbistum Gran wiederholen.20

Wie zwischen Mosel, Rhein und Elbe stießen auch auf den britischen Inseln altrömi-sche und nicht romanisierte Gebiete aneinander, ohne dass sich damit die je verschie-dene Geschichte der Christianisierung im frühen Mittelalter hinreichend erklären ließe.England war bekanntlich bis zum Antoniuswall an der Clyde-Forth-Landenge von denRömern erobert worden, während kein römischer Legionär seinen Fuß auf den BodenIrlands setzte. Anfang des 4. Jahrhunderts war die lateinische Bistumsorganisation inEngland eingeführt, bevor die Angelsachsen bei ihrer Landnahme die Christen in denWesten abdrängten, nach Devon und besonders in das schwer zugängliche Berglandvon Wales. Etwa zur selben Zeit wurde Irland von Missionaren aus Gallien aufgesucht,erste Glaubensboten jenseits der alten Reichsgrenzen. Auch sie scheinen Bistümererrichtet zu haben, wie sie ihnen aus ihrer Heimat bekannt waren.21 Irland war aber eineInsel ohne Städte und wohl zu weitab vom Kontinent, als dass sich diese Kirchenorga-nisation hätte behaupten können. Dagegen ließen sich Klöster offenbar besser derherrschenden Eigentumsordnung und Sippenstruktur des Volkes einordnen. So ver-drängten Mönchsgemeinschaften die Bischofssitze als Zentren des kirchlichen Lebens,auch der Seelsorge, und Äbte machten Bischöfe mit ihrer Weihegewalt von sich abhän-gig. Das religiöse Leben der Iren war so lebendig, dass Wanderasketen schon im6. Jahrhundert nach Schottland übersetzten, um die stammverwandten Pikten zu bekeh-ren; von hier aus begannen sie auch die Angelsachsen zu missionieren. Merkwürdiger-weise hatten es nämlich die christlichen Kelten in Wales versäumt, die Ankömmlingefür ihren Glauben zu gewinnen. Andererseits hat Papst Gregor der Große von Kent, alsovom Süden der Insel aus die Mission aufgenommen und zwei Erzbistümer geplant. Derrömischen Dynamik fiel das irische Bekehrungswerk vom Norden her zum Opfer. Nochim 7. Jahrhundert entsandte der Papst einen Griechen als Erzbischof nach Canterbury,der die englischen Bischofskirchen unter seiner Suprematie organisierte und auch eine

—————————————20 Zuletzt: Alfried Wieczorek / Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur

Geschichte, Kunst und Archäologie, 2 Bde. Stuttgart 2000; Dies. (Hrsg.), Europas Mitte um 1000.Katalog. Stuttgart 2000; Michael Borgolte (Hrsg.), Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. DieBerliner Tagung über den „Akt von Gnesen“. (Europa im Mittelalter, Bd. 5.) Berlin 2002; Johan-nes Fried, Der hl. Adalbert und Gnesen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 50,1998, 41–70; Hans Hermann Henrix (Hrsg.), Adalbert von Prag. Brückenbauer zwischen demOsten und Westen Europas. (Schriften der Adalbert-Stiftung, Bd. 4.) Baden-Baden 1997.

21 Jüngst: Dáibhí Ó Cróinín, Early Medieval Ireland. 400–1200. London / New York 1995.

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Pfarrorganisation schuf. Die englische Kirche erwies sich als stabil genug, um dieEinfälle der Wikinger zu überstehen und die heidnischen Eindringlinge sogar zurAnnahme des Christentums zu bewegen. So kommt es, dass in England angesiedelteund konvertierte Nordmänner um das Jahr 1000 zur Reichsbildung und Christianisie-rung nach Skandinavien heimkehrten.22 Die irische Kirche hingegen, die keine Hierar-chie kannte, befand sich damals im Niedergang, zumal die reichen Klöster von denWikingern schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Auch spätere Reformenhaben archaische Gewohnheiten der irischen Christen nicht beseitigt, ähnlich, wie es beiden Walisern und bei den Schotten der Fall war.An den beiden Südflanken Europas, der Iberischen Halbinsel also und dem Kaiser-

reich von Byzanz, wurde das Christentum antiker Wurzel jeweils von zwei Seiten herbedroht. In Spanien hatten arianische Westgoten im 6. Jahrhundert ein Reich mit einereigenen Kirchenorganisation errichtet, die neben die katholische Kirche der Provinzial-römer trat. [1068] Erst allmählich begriffen die germanischen Könige hier die Nachteiledes ethnisch-konfessionellen Gegensatzes und nahmen den römischen Glauben an. Diewestgotische Tradition wurde zum Mythos, ja zum handlungsleitenden Motiv derChristen, als muslimische Araber und Berber ihr Land im 8. Jahrhundert eingenommenund das Reich al-Andalus gegründet hatten. Sofern sie nicht zum Islam übergetretenwaren, fassten die Christen an ihren Rückzugsbasen im Norden den Plan, die fremdenHerren einer anderen Religion wieder zu vertreiben. Allerdings waren sie durch dieAraber vom übrigen Europa, besonders von Rom, weitgehend abgeschnitten.23 Um dasJahr 1000 konnte freilich noch niemand daran denken, dass die Reconquista gelingenwürde; im Gegenteil hatte das Kalifat von Córdoba erst seinen Höhepunkt erreicht. DerPalastmeister al-Manṣūr überzog mehr als fünfzig Mal die Christenstaaten um Barce-lona, León und Santiago mit Krieg, und erst nach seinem Tod konnte sich das Blattallmählich wenden.24 Byzanz hingegen hatte die größte Bedrohung seiner Geschichteim 7. Jahrhundert erlitten, als Slawen und Awaren auf dem Balkan sowie Araber imSüden und im asiatischen Teil des Reiches gleichzeitig angriffen. Wie bei der Invasionder Germanen im Okzident kam es auch im byzantinischen Reich zur Aufgabe vonBischofssitzen und zur Flucht der Amtsinhaber, aber Slawen und nachrückende Völker—————————————22 Den englischen Einfluss betont die neueste Forschung gegen die traditionell deutsche Sicht, die

auf Adam von Bremen zurückgeht: Jerzy Kłoczowski, Die Ausbreitung des Christentums von derAdria bis zur Ostsee. Christianisierung der Slawen, Skandinavier und Ungarn zwischen dem 9.und dem 11. Jahrhundert, in: Dagron / Riché / Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser(wie Anm. 16), 883–920, hier 907; 911.

23 Vgl. Rachel Arié, España musulmana. (siglos VIII-XV). (Historia de España, Bd. 3.) Barcelona1993; Vicente Álvarez Palenzuela / Luis Suárez Fernández, La España musulmana y los inicios delos Reinos Cristianos. 711–1157. Madrid 1991; Alexander Pierre Bronisch, Reconquista undHeiliger Krieg. Die Deutung des Krieges im christlichen Spanien von den Westgoten bis ins frühe12. Jahrhundert. Münster 1998; Ludwig Vones, Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter(711–1480). Sigmaringen 1993.

24 Vgl. Hans-Rudolf Singer, Art. al-Mansur bi-Ilah, in: LMA 6, 202.

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wurden doch im Laufe der Zeit christianisiert, vor allem die gefährlichen Bulgaren. DenMuslimen war hingegen der ganze christliche Osten zugefallen mit Palästina, Syrien,Mesopotamien und Ägypten, also auch mit den Patriarchensitzen von Antiochien undAlexandrien, vor allem aber mit Jerusalem, zugleich freilich Gebiete von Christen, diesich von der Orthodoxie schon länger getrennt hatten. Mit den riesigen Verlusten an dieAraber haben sich die Byzantiner niemals abgefunden, obschon sie durch die Dauer vonJahrhunderten sanktioniert zu werden schienen. So vollzog sich gerade um die Jahr-tausendwende eine Reconquista weit größeren Ausmaßes als viel später in Spanien. DerFeldherr und Kaiser Nikephoros Phokas, dem 960/961 die Wiedereroberung Kretas ge-lang, betrachtete den Kampf gegen die Muslime sogar als heiligen Krieg, in dem denGefallenen die Ehre des Martyriums zustünde. Seine Nachfolger gewannen Antiochienund Palästina zurück und griffen bis zum anderen Iberien am Kaukasus aus. Basilei-os II. konnte gar planen, das muslimische Sizilien zurückzugewinnen, nachdem Otto II.,der Kaiser des Westens, in Unteritalien unrühmlich vom Heer eines Emirs geschlagenworden war; der Tod hinderte ihn aber an diesem Ausgriff, der wohl auch schwere Pro-bleme für das Gleichgewicht der christlichen Reiche und Kirchen im Mittelmeerraummit sich gebracht hätte.Wieso, muss man fragen, wurde Europa um das Jahr 1000 trotz gegenläufiger Ent-

wicklungen und retardierender Momente hie und da im Ganzen ohne Zweifel christ-licher? Warum nahmen insbesondere die Völker im Norden und Osten damals die neueReligion an? Zu unterscheiden sind hier exogene und endogene Faktoren. Zum einenwaren fromme Mönche und Wanderbischöfe bereit, um der Bekehrung der Ungläubigenwillen ihre Heimat zu verlassen und bei der Verkündigung des Evangeliums ihr Lebenaufs Spiel zu [1069] setzen; besonders haben aber von außen christliche Herrscher derNachbarreiche die Mission vorangetrieben, zu der sie sich durch das Ethos ihres Amtesund aus einer Tradition verpflichtet fühlten, die auf die christlichen Kaiser der Antikezurückverwies. Da andererseits die staatlich gelenkte Bekehrung heidnischer Stämmeetwa bei Karl und Otto dem Großen mit der Ausweitung des eigenen HerrschaftsraumesHand in Hand gehen sollte, begriffen die fremden Fürsten sehr bald, dass ihnen eineAnnahme des Christusglaubens Schutz vor unerwünschten Invasionen versprach. Auchhatten sie bei den Nachbarn oder auf ihren Fahrten als Wikinger bei entfernteren Rei-chen eine christliche Kultur kennengelernt, die eng mit Formen weiterentwickelterStaatlichkeit verbunden war. Die ersten bekehrten Könige von Norwegen beispiels-weise waren an den Höfen englischer Könige oder normannischer Herzöge erzogenworden und suchten in ihre Heimat mit dem Christentum Züge modernster Zentralver-waltung ihrer Gastländer zu übertragen.25 Der Christenglaube ermöglichte den konver-sionswilligen Herrschern aber vor allem, ihre werdenden Reiche durch die Verehrungeines einzigen Gottes zu einen. In allen Missionsgebieten ging es ja beim Übergang von

—————————————25 Vgl. Sverre Bagge, Art. Hákon Athalsteinsfóstri, in: LMA 4, 1868; Harald Ehrhardt, Art. Olaf

Tryggvason, in: LMA 6, 1384f.; Beatrice La Farge, Art. Olaf Haraldsson, in: LMA 6, 1384f.

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der Stammesgesellschaft zum Staat oder Reich um die Integration mehrerer Ethnien.Wo sich diese Gemeinschaften mit eigenen Gottheiten voneinander abgegrenzt hatten,erlaubte das Christentum die Überwindung der Gegensätze und zugleich die Aufwer-tung des neuen Gesamtherrschers.26 Als Grundlage der europäischen Nationen sonder-ten sich zwar die neuen Reiche wieder voneinander ab, sie waren aber selbst im Zeicheneiner universalen Religion entstanden, die sie untereinander gemeinsam hatten. Übri-gens musste die Beseitigung der Stammesverfassung im Zeichen des Christentums nichtautomatisch zur Reichsbildung führen; in Irland verhalf der Monotheismus zwar zurAbschaffung der Stammesgottheiten, doch zerfiel das Land danach in Dutzende lokalerKleinstreiche, die von Klösterverbänden überwölbt wurden.27

Die jungen Völker wurden, wie die alten, durch den konstantinischen Typ desChristentums geprägt28, zuerst durch eine herrschaftlich gelenkte Bekehrung und danndurch die Verfassung einer Landeskirche unter Leitung des Fürsten. Wie vorher bei denGermanen, so wurde jetzt bei den Slawen, Ungarn oder Bulgaren das Christentum alsAdels- und Herrschaftsreligion aufgenommen und weitergegeben29; mit der antikenMissionsmethode, die beim Einzelnen angesetzt hatte, brach das frühe Mittelalter durchMassenkonversionen. Zwar galt die Forderung des Kirchenvaters Augustinus weiter,dass der Taufentschluss je freiwillig sein müsse, doch konnte man die innere Bekehrungund gar einen zeitraubenden Katechumenat des Einzelnen nicht mehr abwarten.30 DieTaufe, jetzt nur noch durch rudi- [1070] mentäre Belehrungen vorbereitet, galt schlecht-hin als entscheidendes Ziel missionarischer Arbeit, sie wurde geradezu mit dem Akt derChristianisierung gleichgesetzt. Die kirchliche „Nacharbeit“ stützte sich dann auchweniger auf Lehre und Verkündigung, als auf die Einbindung der Menschen in denVollzug der Riten und liturgischen Bräuche. Wenn allerdings die Taufe zwar mit Machterzwungen werden konnte, wäre es nicht möglich gewesen, eine christianisierte Herr-schaft auf Gewalt zu errichten. Tatsächlich haben sich die von oben bekehrten Völkerjahrhundertelang gegen den neuen Glauben gewehrt31; nicht nur bei den resistentenSlawen östlich der Elbe, sondern selbst bei den beachtlichen Reichsbildungen der Polenund Ungarn kam es zu heidnischen Reaktionen. Vor allem Söhne und andere Verwand-te christlicher Herrscher setzten sich im Kampf um die Nachfolge gern an die Spitze—————————————26 Kłoczowski, Die Ausbreitung des Christentums (wie Anm. 22), 887.27 Peter Harbison / Dáibhí Ó Cróinín / Gearóid Mac Niocaill, Art. Irland, in: LMA 5, 655; vgl. Ó

Cróinín, Early Medieval Ireland (wie Anm. 21); Francis John Byrne, Irish Kings and High-Kings.London / Prescot ³1996.

28 Vom „konstantinischen Typ“ des Christentums bei den neuen Staaten Skandinaviens und Ost-europas sprach Vladimir Vodoff, Naissance de la chrétienté russe. La conversion du prince Vladi-mir de Kiev (988) et ses conséquences (XIe-XIIIe siècles). (Nouvelles études historiques) Paris1988, 365; zitiert in: Kłoczowski, Die Ausbreitung des Christentums (wie Anm. 22), 889,Anm. 20.

29 Knut Schäferdiek, Art. Germanisierung des Christentums, in: TRE 12, 522.30 Borgolte, Die mittelalterliche Kirche (wie Anm. 16), 4–6.31 Kłoczowski, Die Ausbreitung des Christentums (wie Anm. 22), 883–887.

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antichristlicher Verschwörungen. Zu früh triumphierte Harald Blauzahn von Dänemark,als er auf dem großen Stein in Jelling Christus als Sieger über „das große Tier“ ein-meißeln ließ und in Runenschrift verkündete: „König Harald ließ dieses Denkmalmachen nach Gorm, seinem Vater, und nach Thyre, seiner Mutter, jener Harald, der fürsich gewann ganz Dänemark und Norwegen und der die Dänen christlich machte“;32

denn es war Haralds Sohn Sven Gabelbart, dem eine neue Begünstigung des Heiden-tums zugeschrieben wird.33

Nur bei der Konversion Islands im Jahr 1000 ist ein Glaubenswechsel bezeugt, derzwar unter äußerem Druck und kollektiv, aber ohne herrschaftlichen Oktroi und durchKonsensbildung vollzogen wurde und der sich wohl gerade deshalb als erstaunlicherfolgreich erwies.34 Die Insel war bis 930 vorwiegend von Norwegern besiedelt wor-den, die sich unter Leitung größerer Grundherren genossenschaftlich organisierten undjährlich Belange allgemeinen Interesses im Althing, der Versammlung ihrer Goden,regelten. Als um 995 der in England getaufte Olaf Tryggvason in Norwegen eine Kö-nigsherrschaft errichtete, die zum ersten Mal mehrere Landesteile vereinte, verlangte erauch von den Isländern die Konversion. Die Insel im Atlantik wäre sonst als Basisheidnischen Widerstandes gegen Olaf von Norwegen in Betracht gekommen, zumalbeide Länder noch immer durch Verwandtschaftsbeziehungen verbunden waren. Islandselbst, das kaum andere Außenbeziehungen unterhielt, war hingegen auf den Handelmit Norwegen angewiesen. Trotzdem taten sich die Isländer schwer mit der Entschei-dung. Mehrere Missionare scheiterten, und erst als Olaf drohte, als Geiseln genommeneInselbewohner zu verstümmeln oder zu töten, wurde es ernst. Beim Althing im Sommereinigten sich die zerstrittenen Parteien darauf, dem Richter und Goden Thorgeirr Thor-kelsson den Entscheid zu überlassen, den alle mittragen wollten; denn wenn das Rechtgeteilt würde, so wusste man, würde auch der Friede zerbrechen. Thorgeirr bereitetesich rituell vor, indem er sich tagsüber und die ganze Nacht hindurch [1071] unter eineDecke legte; über seinen Spruch berichtet Ari der Gelehrte um 1120 in seiner berühm-ten Frühgeschichte des Landes, der volkssprachlichen Íslendingabók: „Dann wurde das

—————————————32 Wikinger, Waräger, Normannen. Die Skandinavier und Europa 800–1200. Katalog. (Kunst-

ausstellung des Europarates, Bd. 22.) Berlin 1992, 279, Nr. 193.33 So berichtet jedenfalls Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte. Ed. Bernhard

Schmeidler. (MGH SS rer. Germ. [2].) Hannover / Leipzig ³1917, 87–100, lib. II.27–39. Dagegenjetzt: Kloczowski, Die Ausbreitung des Christentums (wie Anm. 22), 907; nach Birgit Sawyer /Peter Sawyer / Ian Wood (Hrsg.), The Christianization of Scandinavia. Report of a SymposiumHeld at Kungälv, Sweden, 4–9 August 1985. Alingsås 1987; zusammenfassend: Birgit Sawyer /Peter Sawyer, Medieval Scandinavia. From Conversion to Reformation, ca. 800–1500. (The Nor-dic Series, Bd. 17.) Minneapolis / London 1993, 100–105.

34 Das Folgende nach Jesse L. Byock, Medieval Iceland. Society, Sagas, and Power. Berkeley (CA) /Los Angeles / London 1988, 137–164; ferner Kirsten Hastrup, Culture and History in MedievalIceland. An Anthropological Analysis of Structure and Change. Oxford 1985, 179–189; DagStrömbäck, The Conversion of Iceland. London 1975; Jón Jóhannesson, A History of the OldIcelandic Commenwealth. Íslendinga Saga. Winnipeg 1974, 124–138.

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Gesetz gemacht, dass das ganze Volk christlich werden sollte und dass diejenigen, diehier im Lande noch nicht die Taufe empfangen hatten, getauft werden sollten. Aber wasdie Aussetzung von Kindern betrifft, sollten die alten Gesetze weiter gelten, und ebensosollte es geschehen mit dem Recht, Pferdefleisch zu essen. Wenn es das wollte, solltedas Volk privat den alten Gottheiten opfern, aber dies wäre weniger verdammenswert,wenn es unter Zeugen geschehe. Aber ein paar Jahre darauf wurde dieser heidnischeBrauch überwunden, wie es auch mit den anderen geschah.“ Der einstimmige Beschlusswar also auch deshalb schnell umgesetzt worden, weil man zunächst heidnischesBrauchtum weiter duldete. Den Altgläubigen wurde sogar erlaubt, Zeitpunkt und Ortihrer Taufe selbst zu bestimmen; so entschieden sich einige gegen das kalte Wasserbeim Althing, um die neue Religion erst auf ihrem Heimweg in den heißen Quellenanzunehmen. In der folgenden Zeit landeten fremde Priester und Bischöfe in Island,drei von diesen angeblich gar aus Armenien. Erst seit Mitte des 11. Jahrhunderts wurdeallmählich eine eigene Kirche aufgebaut, bei der die Goden, also die einflussreichstenHerren der vorchristlichen Zeit, die Bischofsämter übernahmen. In der Forschung hatman deshalb geradezu geurteilt, dass in Island die Kirche in die Gesellschaft integriertworden sei; doch sollte auch beachtet werden, dass bald nach der formellen Konversiondie Sitte der Kindesaussetzung – und damit Kindestötung – überwunden war, das neueMenschenbild des Christentums seine Wirkung also nicht ganz verfehlt haben kann.35

Jedes Volk, das mit seinen europäischen Nachbarn in Frieden leben, ja zu Europagehören wollte, musste durch seine Herrscher um die Jahrtausendwende offenbar dieKonversion zum Christentum vollzogen haben. Der heidnische Polytheismus wie einePluralität monotheistischer Religionen waren wohl unerträglich geworden in einerTradition von Staatlichkeit, die schon in der Antike durch die Einheit von Kaiser, Reichund Kirche geprägt worden war. Dabei hatte es noch im 10. Jahrhundert in Europaselbst eine alternative Ordnung gegeben. Das immer noch halbnomadisch lebendeTurkvolk der Chasaren hatte westlich der Wolga und im Norden der Krim ein mächti-ges Reich geschaffen, das spätestens um 800 von einem jüdischen Herrscher und einerjüdischen Oberschicht geführt wurde.36 Stolz ordnete sich das Khaganat als dritteWeltmacht neben dem christlichen Byzanz und dem muslimischen Kalifat ein, und dieszu einer Zeit, als Alkuin Karl den Großen als vornehmste Person der Welt noch vorPapst und Basileus gepriesen hat. Wie arabische Quellen des 10. Jahrhunderts zeigen,

—————————————35 Zur sozialhistorischen Deutung der Kindesaussetzung und der Sitte, Pferdefleisch zu essen, siehe

Hastrup, Culture and History (wie Anm. 34), 174; Vgl. auch Birgit Sawyer, Women and the Con-version of Scandinavia, in: Werner Affeldt (Hrsg.), Frauen in Spätantike und Frühmittelalter.Lebensbedingungen – Lebensnormen – Lebensformen. Beiträge zu einer internationalen Tagungam Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, 18. bis 21. Februar 1987.Sigmaringen 1990, 263–281, hier 276.

36 Dieter Ludwig, Art. Chazaren, in: LMA 2, 1783–1788; Swetlana Alexandrowna Pletnjowa, DieChasaren. Mittelalterliches Reich an Don und Wolga. Leipzig 1978, hier bes. 114f.; DouglasMorton Dunlop, The History of the Jewish Khazars. Princeton (NJ) 1954, bes. 89–170.

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bekannten sich die meisten Chasaren freilich zum Islam oder zum Christentum, nichtzur Überlieferung der Juden; daneben hingen manche noch dem alten köktürkischenGlauben an den Himmelsgott Tängri an. Mindestens in der Hauptstadt Atil an derunteren Wolga soll es Schulen gegeben haben, die von den verschiedenen Religionsge-meinschaften unterhalten wurden. 965 hatte allerdings Svjatoslav von Kiew das [1072]Chasarenreich angegriffen, das weder in Byzanz noch beim muslimischen Reich vonChoresmien entscheidende Hilfe fand und bald darauf untergegangen ist.Bei der Reichsbildung der skandinavischen Rurikiden zwischen Nowgorod und Kiew

haben die Erfahrungen der Chasaren dann eine entscheidende Rolle gespielt. AlsSvjatoslavs Sohn Vladimir 980 Großfürst von Kiew geworden war, sah er sich wie an-dere Herrscher seiner Zeit vor die Aufgabe gestellt, verschiedene Völker unter seinemRegiment zu einen, vor allem Stämme der Slawen. Den Pluralismus der Chasarennachzuahmen, empfahl sich kurz nach dem Zusammenbruch dieses Reiches kaum. Vla-dimir soll aber verschiedene andere Lösungen ausprobiert haben.37 Zunächst erbaute eroben auf den Hügeln von Kiew einen Tempel, der den Gottheiten der verschiedenenBevölkerungsgruppen gewidmet war; offenbar wollte er durch dieses Pantheon dieNordmänner, Slawen, Finnen, Iraner und Poljanen seines Herrschaftsbereichs gleicher-maßen zur Loyalität verpflichten und wohl auch die Gunst der verschiedenen Göttergewinnen. Aus unbekanntem Grund brach der Russenfürst diesen Versuch jedoch ab. Erentschied sich stattdessen für den Monotheismus, soll aber unsicher gewesen sein,welcher Religion er den Vorzug geben sollte. Das Christentum byzantinischer undlateinischer Prägung war in seiner Familie bereits bekannt, die Großmutter Olga hattesich schon taufen lassen und in Kiew die Kathedrale des heiligen Elias errichtet. Trotz-dem zog Vladimir auch Judentum und Islam in Betracht. Nach einer legendarischenErzählung, die freilich die historischen Alternativen Vladimirs ins rechte Licht rückendürfte, ließ der Großfürst die verschiedenen Optionen durch Kundschafter genau prü-fen. Den Islam soll er dann zurückgewiesen haben, weil Muslimen der Genuss vonAlkohol verboten sei, der Gott der Juden überzeugte ihn nicht, weil er von seinem Volkden Verlust des eigenen Landes nicht abzuwenden vermocht hatte, bei den „germani-schen“, also westlichen Kirchen störte ihn die Glanzlosigkeit der Zeremonien. Als dieBoten Vladimirs aber nach Konstantinopel gekommen und durch den Kaiser in dieGotteshäuser geführt worden waren, seien sie sprachlos vor Staunen gewesen: „Wirwussten nicht, ob wir im Himmel oder auf der Erde waren“, so informierten sie denFürsten und seinen Hof. Deshalb habe sich Vladimir, den man später „den Heiligen“nannte, wohl 988 für das östliche Christentum entschieden.Europa, so hat es den Anschein, war um das Jahr 1000 tatsächlich auf dem besten

Weg, ein christliches Land zu werden. Allerdings träfe dies im weiteren Sinne zu als bei—————————————37 Janet Martin, Medieval Russia. 980–1584. (Cambridge medieval textbooks.) Cambridge 1995, 1–

11; Christian Hannick, Die neue Christenheit im Osten. Bulgarien, Russland und Serbien, in:Dagron / Riché / Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (wie Anm. 16), 921–952, hier938–950.

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Novalis, nämlich über den katholischen Westen hinaus mit Einschluss der Byzantinerund Ostslawen. Und der Einwand von Ernst H. Kantorowicz, dass eine christlicheWelteinheit im Mittelalter nicht wahrgenommen werden könne unter Rücksicht auf denOsten, gälte eigentlich erst seit dem späten 11. Jahrhundert mit vollem Gewicht; denntrotz der Hinwendung Roms zu Franken und Deutschen und der zunehmenden Ent-fremdung gegenüber der griechischen Kirche war es doch erst die Verselbständigungund Zentralisierung des Papsttums seit der Reformzeit, die eine Übereinkunft mitKonstantinopel unmöglich werden ließ. Wie die Kiewer Rus’ konnten um die Jahrtau-sendwende auch Kroaten und Serben noch in der Frage ihrer kirchlichen Einordnungnach Westen oder Osten schwanken, so, wie es vorher zeitweise bei Mähren und Bulga-ren der Fall gewesen war. Und König Stephan I., der Reichsgründer Ungarns, errichtetezwar sechs, acht oder zehn Bischofssitze katholischer [1073] Konfession, duldete aberin seinem Land auch mehrere griechische Bistümer.38 Neben Klöstern lateinischer Ob-servanz werden zwei griechische nach der Regel des heiligen Basilius auf ihn zurück-geführt, und bemerkenswerter Weise förderte Stephan mit Hospizen die Pilgerfahrtennach Ravenna und Rom ebenso wie nach Konstantinopel und Jerusalem. Was aberUnteritalien betrifft, das zwischen den Patriarchaten von Rom und Konstantinopel um-stritten war, konnten wenigstens die byzantinischen Herrscher einige Kathedralen derLateiner fördern.39

Die immer noch bestehende, wenn auch nicht ungestörte Einheit der Kirche war fürdie Entstehung Europas von unschätzbarem Gewicht. Man muss sich, um ihren histori-schen Rang zu erfassen, nur einmal vorstellen, was es zu bedeuten gehabt hätte, wennalle Germanen nach dem Beispiel der Goten den Arianismus angenommen und gegendas nizänische Glaubensbekenntnis Roms und Konstantinopels behauptet hätten. Kon-trafaktische Spekulationen sind ja nicht unnütz, wenn sie helfen, der tatsächlichenGeschichte Profil zu verleihen. Arianische Kirchen, die sich von Goten, Vandalen,Burgundern und Langobarden ausgehend auch bei Franken, Angelsachsen und späterbei den Deutschen durchgesetzt hätten, wären gewiss Landeskirchen geblieben, wohlnur mit schwachen Bindungen untereinander und vor allem ohne Zusammenhang mitdem Orbis Romanus. Die Synthese zwischen den Resten der antiken Mittelmeerweltund dem nördlichen Europa wäre unter diesen Umständen unmöglich gewesen, dasmittelalterliche Europa hätte zumindest seinerzeit gar nicht entstehen können.40

—————————————38 János M. Bak, Art. Stephan I. d. Hl., in: LMA 8, 112–114; Jerzy Kloczowski, Die Ausbreitung des

Christentums (wie Anm. 22), 901–905; György Györffy, King Saint Stephen of Hungary.New York 1994, 151–155.

39 Jean-Marie Martin, Die lateinischen Kirchen in Unteritalien (7.–11. Jahrhundert), in: Dagron /Riché / Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (wie Anm. 16), 832–838, hier 835.

40 Vgl. jetzt Ernst Pitz, Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters.Geschichte des mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indischem Ozean 270–812. (Europaim Mittelalter, Bd. 3.) Berlin 2001.

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150 Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter

Wie weit die Übereinstimmung der östlichen und der westlichen Kirchen aber auchgereicht haben mag, eine religiöse Geschlossenheit hatten sie dem Kontinent um dasJahr 1000 gewiss nicht gestiftet; mindestens die beiden anderen monotheistischenBekenntnisse behaupteten sich neben ihnen, wenn auch nur bei Minderheiten und inregionaler Beschränkung. Doch in historisch-anthropologischer Perspektive kommt esauf Quantitäten nicht an. In Sizilien und Unteritalien bewahrten die Muslime zwar nurnoch bis zur Reichsbildung der Normannen ihre Herrschaften, sie haben sich aber inSpanien bis gegen Ende des Mittelalters zäh verteidigt. Unschätzbar ist die Bedeutungihrer Gelehrsamkeit für das Abendland geworden. Es war nicht zuletzt Gerbert vonAurillac, also der Papst des Jahres 1000 selbst, der bei ihnen in die Schule ging; zwi-schen 967 und 970 hatte der gelehrte Mönch im katalanischen Kloster Ripoll Studienbesonders des Quadriviums getrieben, die ihm in Astronomie und Geographie durcharabische Vermittlung ganz neue Felder antiker Wissenschaft erschlossen.41 Man ver-mutet, dass sich Gerbert unter anderem Kenntnisse des Astrolabs aneignete und fürderen Verbreitung im lateinischen Westen sorgte, und hält ihn [1074] für einen derersten Gelehrten des Okzidents, der die arabischen Zahlzeichen verwendet hat. Fürdiese und andere Kenntnisse wurde ihm bald nach seinem Tod das Bündnis mit demTeufel zugeschrieben.42 Im Osten schuf der Sieg der Kaiser über die Muslime neueAufgaben. Auf Kreta nahmen Bußprediger das Werk der Rechristianisierung in Angriff;einer von ihnen ließ sich von seiner religiösen Begeisterung dazu hinreißen, andernortsauch die Vertreibung der Juden zu fordern, fand damit aber kein Verständnis.43 InKleinasien, wo Muslime getötet, versklavt oder vertrieben worden waren, siedelte dieReichsregierung die entvölkerten Landstriche durch Christen aus Syrien und Armenienauf, die freilich dogmatisch schon lange eigene Wege eingeschlagen hatten. So bildetenhier häretische Kirchen Kerne ethnischer Sonderungen, die den byzantinischen Staatbald vor das neue Problem eines Partikularismus von innen stellen sollten.44

—————————————41 Hans-Henning Kortüm / Uta Lindgren, Art. Gerbert von Aurillac, in: LMA 4, 1300–1303; Uta

Lindgren, Gerbert von Aurillac und das Quadrivium. Untersuchungen zur Bildung im Zeitalterder Ottonen. (Sudhoffs Archiv. Beihefte, Bd. 18.) Wiesbaden 1976; Werner Bergmann, Innova-tionen im Quadrivium des 10. und 11. Jahrhunderts. Studien zur Einführung von Astrolab undAbakus im lateinischen Mittelalter. (Sudhoffs Archiv. Beihefte, Bd. 26.) Stuttgart 1985, bes. 218–220; Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. (Kleine kulturwissen-schaftliche Bibliothek, Bd. 28.) Berlin 1990, 50f.

42 Karl Schulteß, Die Sagen über Silvester II. (Gerbert). (Sammlung gemeinverständlicher wissen-schaftlicher Vorträge. N. F., Ser. 7.) Hamburg 1893, bes. 18–31; Johnn Joseph Ignaz von Döllin-ger, Die Papst-Fabeln des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. München 1863, 155–159; Zu Gerbert zuletzt: Hans-Henning Kortüm, Gerbertus qui et Silvester. Papsttum um dieJahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 55, 1999, 29–62.

43 Gilbert Dagron, Die Zeit des Wandels (Ende 10. bis Mitte 11. Jahrhundert), in: Dagron /Riché / Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (wie Anm. 16), 314–365, hier 347f. mitAnm. 171.

44 Dagron, Die Zeit des Wandels (wie Anm. 43), 349–352.

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Solche Gefahren gingen von den Juden nicht aus, die seit der Zerstörung des ZweitenTempels in die Diaspora getrieben worden waren; außer in Byzanz mit Kleinasienlebten sie, was Europa betrifft, um die Jahrtausendwende in Spanien, Italien und Süd-frankreich, seit karolingischer Zeit auch weiter im Norden, in Mainz etwa, in Magde-burg, Merseburg, Regensburg, Köln und Worms.45 Unter muslimischer Herrschafthaben sie in Spanien mit den Christen eine vergleichsweise gute Rechtsstellung geteiltund konnten als Handwerker und Händler, ja selbst in öffentlichen Ämtern tätig wer-den.46 Ein jüdischer Arzt hatte am Kalifenhof sogar die Stellung eines leitenden Minis-ters erlangt; die Blüte der jüdischen Kultur ließ sogar das Lehrhaus von Córdoba zurKonkurrenz der Jeschiwah von Babylon heranreifen. Unter Christen lebten die Judenweniger komfortabel. Die kirchliche Gesetzgebung hatte schon seit der Spätantike aufdie Vermeidung sozialer Kontakte mit den Juden abgezielt, während sich die Anhängerdes mosaischen Glaubens umgekehrt rechtlich und durch ihre kultischen Vorschriftender Mehrheitsgesellschaft nur begrenzt annähern konnten. Mischheiraten, ja Ge-schlechtsbeziehungen mit Christen war den Juden verboten, die Speisegesetze ließenTischgemeinschaften kaum zu, der Zyklus von Fest- und Feiertagen divergierte undBeihilfe zum Götzendienst war unter Strafe gestellt;47 natürlich kam es trotzdem zunachbarschaftlichem Verkehr, wo Juden und Christen – wie zumeist im ostfränkisch-deutschen Reich – in Städten zusammenlebten. Aber der „Alltag der kulturellen An-leihe“ (Michael Toch)48 konnte zu einer echten Symbiose doch nie führen. Christen undJuden waren Angehörige religiöser Gemeinschaften mit eigenen Symbolen und Em-blemen, die mit [1075] ihrem jeweiligen Ausschließlichkeitsanspruch geradezu „Kon-frontationskulturen“ (Amos Funkenstein) ausbildeten.49 Schwere Konflikte, gar Verfol-gungen, hat es in Deutschland um die Jahrtausendwende zwar noch kaum gegeben,50

aber die Juden bildeten hier auch eine verschwindende demographische Größe. Man—————————————45 Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte,

Bd. 44.) München 1998, 1–6 u. ö.46 Eliyahu Ashtor, The Jews of Moslem Spain. 2 Bde. Philadelphia (PA) 1973 / 1979; Friedrich

Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nicht-jüdischen Umwelt Europas, Bd. 1. (Besondere wissenschaftliche Reihe.) Darmstadt 1990, 28–35;Ernst Schulin, Die spanischen und portugiesischen Juden im 15. und 16. Jahrhundert. Eine Min-derheit zwischen Integrationszwang und Verdrängung, in: Bernd Martin / Ernst Schulin (Hrsg.),Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München ³1985, 85–109, hier 87–90; Olivia RemieConstable (Hrsg.), Medieval Iberia. Readings from Christians, Muslim and Jewish Sources. (TheMiddle Ages Series.) Philadelphia (PA) 1997.

47 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 45), 40–43; Vgl. jetzt auch Ders., „DunkleJahrhunderte“. Gab es ein jüdisches Frühmittelalter? (Kleine Schriften des Arye-Maimon-Instituts, H. 4.) Trier 2001.

48 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 45), 138–142.49 Amos Funkenstein, Juden, Christen und Muslime. Religiöse Polemik im Mittelalter, in: Wolfgang

Beck (Hrsg.), Die Juden in der europäischen Geschichte. Sieben Vorlesungen. München 1992,33–50, hier 33.

50 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 45), 56.

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152 Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter

schätzt ihre Anzahl auf nur vier- bis fünftausend Menschen.51 In Byzanz hingegenhatten sich die Kaiser schon im 7. und 8. Jahrhundert scharf gegen die Juden gewendet.Herakleios ordnete Zwangstaufen an, und unter Kaiser Leon III. scheinen viele Juden inislamische Länder geflohen zu sein.52 Auch im 10. Jahrhundert wurden die Judenbedrängt, die nun ins Khaganat der Chasaren auswichen.53 Trotzdem bestanden Juden-gemeinden weiter, beispielsweise in Konstantinopel selbst, die sich sogar in verschie-dene Richtungen teilten.54 Konversionen von Christen zum Judentum sind im Westenwie im Osten bezeugt, kamen allerdings wohl nur selten vor.55

Religionen haben im Mittelalter die Lebenswelt der Einzelnen bestimmt – damit hatNovalis recht, wie unser Überblick zur ersten Jahrtausendwende gezeigt hat –, aller-dings nicht nur das Christentum oder gar dessen lateinische Ausprägung allein. Auchdort, wo keine der drei Formen des Glaubens an den einen Gott in Geltung war, dürftenandere Arten von Religion praktiziert worden sein. Ob und in welchem Ausmaß es umdas Jahr 1000 den Glaubensabfall ohne Konversion zu einer anderen Religion gegebenhat, kann ich nicht sagen.56 Aus späteren Zeiten des Mittelalters ist freilich die Ver-zweiflung am Sinn des Lebens durchaus bezeugt. So berichtet ein Chronist aus der Mit-te des 14. Jahrhunderts, wie ein vom Jammer des Daseins Überwältigter im Rhein denTod suchte und dabei mit drastischen Worten seiner trüben Stimmung Ausdruckverlieh: „Was ist dieses Leben der Welt denn anderes als Essen und Trinken, Schlafenund Beischlafen, am Abend Zubettgehen, am Morgen Aufstehen, öfters einen WindGehenlassen, Ausspeihen, Pissen und Arbeiten?“57

Wie hat nun aber das Christentum der Jahrtausendwende das Leben der Einzelnengeprägt oder ihm gar seine Richtung gegeben? Diese Frage ist drängend, aber wenn sieerst ans Ende des Beitrags gerückt wird, verrät dies schon, dass dazu nur wenig zusagen bleibt. Dafür gibt es gute oder schlechte Gründe, jedenfalls aber ausreichende,wie ich meine. Natürlich müsste ich in diesem Zusammenhang eingehen auf die mo-

—————————————51 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 45), 6.52 Gilbert Dagron, Byzantinische Kirche und byzantinische Christenheit zwischen Invasionen und

Ikonoklasmus (von der Mitte des 7. bis zum Beginn des 8. Jahrhunderts), in:Dagron / Riché / Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (wie Anm. 16), 3–96, hier 72–75.

53 Ludwig, Art. Chazaren (wie Anm. 36), 1786.54 Evelyne Patlagean, Das byzantinische Kaiserreich von 1054 bis 1122, in: André Vauchez (Hrsg.),

Machtfülle des Papsttums (1054–1274). (Die Geschichte des Christentums, Bd. 5.) Freiburg / Ba-sel / Wien 1994, 3–32, hier 31f.; Dies., Die griechische Christenheit. Zerfall des Kaiserreichesund Herrschaft der Lateiner (1204–1274), in: Ebd., 716–753, hier 744f.

55 Patlagean, Das byzantinische Kaiserreich (wie Anm. 54), 31f.; Toch, Die Juden im mittelalter-lichen Reich (wie Anm. 45), 125f.

56 Vgl. Adam Seigfried / Heribert Heinemann, Art. Glaubensabfall, in: LThK3 4, 696–698.57 Die Chronik Johannes von Winterthur. Ed. Friedrich Baethgen / Carl Brun. (MGH SS rer. Germ.

N.S. 3.) Berlin 1924 [ND München 1982], 57f.; Vgl. Graus, Pest, Geissler, Judenmorde (wieAnm. 10), 85.

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„Europa ein christliches Land“ 153

nastische Reformbewegung, die sich in Frankreich, vor allem von Cluny aus, regte58

oder sich in Italien besonders in eremitischer Lebensweise darstellte.59 Ich könnte auchan berühmten und [1076] umstrittenen Beispielen die Art und Intensität der Religiositäterörtern: An dem jugendlichen Kaiser Otto III. etwa, der anscheinend bedrückt vonSchuld und Heilsangst tränenüberströmt zusammenbrach, ja die Welt verlassen wollteund barfuß in größter Demut das Grab der Märtyrer aufsuchte;60 oder an seinem Zeitge-nossen, dem König Robert von Frankreich, der als erster Herrscher seines Landes durchAuflegen der Hand und Schlagen des Kreuzes Wunden heilen konnte und von dem sichdiese magische Fähigkeit auf alle seine Nachfolger bis hin zur Aufklärungs- undRevolutionszeit übertragen haben soll;61 dabei müsste dann auch abgewogen werden,dass Robert, den man „den Frommen“ nannte, mehrere seiner Ehefrauen verstieß undals erster Herrscher des Mittelalters überhaupt Ketzer auf dem Scheiterhaufen hinrich-ten ließ.62 Als Kontrast zur mitteleuropäischen Religiosität könnte von der KöniginMargarete von Schottland die Rede sein, die – selbst westsächsischer Herkunft – vollEntsetzen die Bräuche ihrer neuen Heimat wahrnahm und zu verändern suchte: dieherrschende Polygamie unter Christen, den seltenen Empfang des Buß- und des Altar-sakramentes, die Missachtung der vier Fastenzeiten, die irreguläre Bestellung von Kle-rikern und Bischöfen, die Verehelichung der Priester und deren unvermeidliche Folge,die Vererbung kirchlicher Benefizien, usw.63 Vom begrenzten Erfolg der Reform-

—————————————58 Zuletzt Joachim Wollasch, Cluny – „Licht der Welt“. Aufstieg und Niedergang der klösterlichen

Gemeinschaft. Zürich / Düsseldorf 1996; Dietrich Poeck, Cluniacensis Ecclesia. Der cluniacensi-sche Klosterverband (10.–12. Jahrhundert). (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 71.) München1998.

59 Henrietta Leyser, Hermits and the New Monasticism, 1000–1150. London 1974; Karl SusoFrank, Art. Eremitentum, mittelalterliches, in: LMA 3, 2129.

60 Gerd Althoff, Otto III. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance.) Darmstadt 1996, 131;190–199; dagegen Fried, Der hl. Adalbert und Gnesen (wie Anm. 20), bes. 56, Anm. 54. Zu Alt-hoffs Buch und Ansatz ferner Michael Borgolte, Biographie ohne Subjekt, oder wie man durchquellenfixierte Arbeit Opfer des Zeitgeistes werden kann, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen249, 1997, 128–141; Ders., Der König weint fürs Publikum. War Konrad III. lediglich ein großerTragöde? Gerd Althoffs positivistischer Zweifel an den Berichten über mittelalterliche Emotio-nen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 6. 1997, 41.

61 Hans-Henning Kortüm, Robert II. (996–1031), in: Joachim Ehlers / Heribert Müller / BerndSchneidmüller (Hrsg.), Die französischen Könige des Mittelalters. Von Odo bis Karl VIII. 888–1498. München 1996, 87–98, hier 98; Marc Bloch, Die wundertätigen Könige. München 1998,bes. 75–77; abweichende (nicht überzeugende) Meinung bei Jacques Le Goff, Vorwort, in: Ebd.,23. Jetzt: Joachim Ehlers, Die wundertätigen Könige in der monarchischen Theorie des Früh- undHochmittelalters, in: Paul-Joachim Heinig / Barbara Krauß (Hrsg.), Reich, Regionen und Europain Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. (Historische Forschungen, Bd. 67.) Berlin2000, 3–19.

62 Kortüm, Robert II. (wie Anm. 61), 93–95; 96.63 Geoffrey W. S. Barrow, Kingship and Unity. Scotland 1000–1306. Edinburgh ²1989, 63f.; 77f.;

82f.

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154 Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter

bewegung Célí Dé in Irland könnte die Rede sein64 oder von der Not der Bewohner vonSparta/Lakedaimon auf dem Peleponnes, die unter der Heimsuchung durch eine Epide-mie Vergebung ihrer Sünden suchten und einen Reformprediger zu sich holten.65

Vielleicht, um das Bild aufzuhellen, könnte ich auch Hunderte von Runeninschriften anGräbern in Schweden auswerten, die schon im 10./11. Jahrhundert, also überraschendfrüh, die Rezeption elementarer Lehren des Christentums bezeugen.66 Immerhin ist hiervon Gott, Christus und dem Heiligen Geist ebenso die Rede wie von Maria und denHeiligen, vor allem aber von Sünde, Taufe und Gebet, den Werken der Barmherzigkeitund der Auferstehung der Toten. Diese neuen Christen Skandinaviens wären vielleichtzu konfrontieren mit denjenigen in den altbekehrten Ländern Europas, etwa mit Wibo-rada von St. Gallen.67 Die Heilige konnte ihr [1077] religiöses Leben bereits ausbildenim Spannungsfeld von Pfarrkirche und Kloster, in dem ihr Bruder Mönch war; unzu-frieden mit den eingeschränkten Möglichkeiten für Frauen zur conversio, wurde sieEinsiedlerin und praktizierte hier eine Religiosität, die an die Männern vorbehalteneMessliturgie erinnert. Jedenfalls ist bezeugt, dass Wiborada mit Kelch, Patene, Korpo-rale und Manipel das Opfer dargebracht hat.Was aber wäre gewonnen mit solchen Darlegungen und Erzählungen, abgesehen von

Anschaulichkeit und Lebensnähe, die gewiss nicht unterschätzt werden sollen? Werkönnte sagen, welcher Befund bei Einzelnen oder Gruppen repräsentativ wäre fürRegionen, Länder und Völker, gar für Europa im Ganzen?68 Offensichtlich niemand,vielleicht mit Ausnahme der Klosterreformbewegung. Und erst recht unklar müsste esbleiben, welches Ausmaß und welche Formen die Wechselwirkungen im religiösenBrauchtum und Denken zwischen Christentum, Judentum und Islam angenommenhaben.69 Die Erforschung religiöser Mentalitäten in deren Gruppenbindungen wie in derDurchmischung von Theoriebildung, vorreflektiertem Verhalten und bewusstem Han-

—————————————64 Harbison / Ó Cróinín / Mac Niocaill, Art. Irland (wie Anm. 27), 661; Peter O’Dwyer, Art. Célí

Dé, in: LMA 2, 1604f.65 Dagron, Die Zeit des Wandels (wie Anm. 43), 348.66 Birgit Sawyer, Scandinavian Conversion Histories, in: Omeljan Pritsak / Ihor Ševčenko (Hrsg.),

Proceedings of the International Congress Commemorating the Millenium of Christianity in Rus’-Ukraine. (= Harvard Urkrainian Studies 12/13) Cambridge (Mass.) 1988/89, 46–60, hier 58f.

67 Michael Borgolte, Conversatio cottidiana. Zeugnisse vom Alltag in frühmittelalterlicher Über-lieferung, in: Hans Ulrich Nuber / Karl Schmid / Heiko Steuer u. a. (Hrsg.), Archäologie und Ge-schichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland. (Archäologie und Geschichte, Bd. 1.)Sigmaringen 1990, 295–385, hier 315–320.

68 Auch die vielbesprochene Frage der Endzeiterwartungen um die Jahrtausendwende müsste unterdem Aspekt der kulturellen Zonen Europas differenziert behandelt werden, vgl. Johannes Fried,Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittel-alters 45, 1989, 381–473.

69 Vgl. Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 45), 120–142 u. ö.; Gilbert Dagron,Kirche und Staat – Von der Mitte des 9. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts, in: Dagron / Riché /Vauchez (Hrsg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (wie Anm. 16), 176–255, hier 247–251.

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„Europa ein christliches Land“ 155

deln ist zwar als Aufgabe erkannt,70 doch ließe sich heute über die Geltung der Mentali-täten im zeiträumlichen Bezug Europas kaum etwas Sicheres sagen. Für eine verglei-chende Betrachtung der europäischen Geschichte, wie wir sie für die Zeit um die ersteJahrtausendwende versucht haben, fehlen hier nahezu alle Voraussetzungen. Aber, unddieses Bedenken darf am Schluss nicht unterdrückt werden, gäbe es überhaupt eineHoffnung, der Wirkung der mittelalterlichen Religionen auf die Einzelnen näher auf dieSpur zu kommen als in nebelhafter Ferne? Könnte man wissenschaftlich je urteilen überreligiöses Fühlen und Denken, das die Menschen in der Geschichte – oder auch in derGegenwart – bestimmt haben und noch bestimmen? Zweifel sind angebracht.71 Was hatdas Christentum den Einzelnen im Mittelalter gebracht? Sollten wir Historiker dieAntwort auf diese Frage im Letzten nicht einem Anderen überlassen?

—————————————70 Zur Erforschung der Mentalitäten vgl. Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine

Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit. (Historische Zeitschrift. Beihefte. N. F., Bd. 22.)München 1996, 445–476.

71 Vgl. Tellenbach, Die westliche Kirche (wie Anm. 16), 135; Ders., Der Charakter Heinrichs IV.Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter, in:Gerd Althoff / Dieter Geuenich / Otto Gerhard Oexle u. a. (Hrsg.), Person und Gemeinschaft imMittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1988, 345–367, bes. 366f. – ZumProblem der Reichweite der Christianisierung vgl. John van Engen, The Christian Middle Ages asan Historiographical Problem, in: The American Historical Review 91, 1986, 519–552.

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