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Mondfeuer

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Volker Krämer

MondfeuerMondfeuer

Professor Zamorra Hardcover

Band 31

ZAUBERMOND VERLAG

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Der kleine Junge – von den Großeltern wie ein Tier ge-halten – hatte nur einen Freund: den Mond. Mit ihm konnte er sprechen, von ihm bekam er Antwort und durch ihn neuen Mut. Das Schicksal der beiden war eng miteinander verwoben. Das Kind wusste genau, dass sich dort oben seine Zukunft entscheiden würde. Irgendwann …Von den Schneewüsten Sibiriens zum Erdtrabanten – vom Mond zu den Trümmern einer Stadt, die außer Staub und Hoffnungslosigkeit nichts zu bieten hat. Ein langer Weg, der von Gewalt und Tod gekennzeich-net ist, denn nur so kann der Junge sein Ziel erreichen. Und mitten drin – Professor Zamorra, der sich plötz-lich einer Gefahr gegenübersieht, die er für alle Zeiten gebannt glaubte. Schnell wird ihm klar, wie sehr er sich geirrt hat – und es scheint, als würde dieser Irrtum schreckliche Auswirkungen haben. Für die Welt – für den Mond – für die Hölle!Für das Leben …

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1. Der Gulag

»In dem Zimmer meiner Kindheitlagen Schneelawinen lauernd …«

(Subway to Sally)

1969 – Mongolei

In diesem Land gab es nur einen einzigen Herrscher.Kein Zar, kein Machthaber aus vergangenen Zeiten – keine Partei

und erst recht kein Generalsekretär im fernen Moskau waren je wirklich fähig gewesen, hier eine echte Kontrolle auszuüben.

Sie alle mussten sich vor dem wahren Despoten verneigen, der sein schneeweißes Zepter schwang: Es war die Kälte, die hier be-stimmte, was ging … und was nicht. In den langen Wintermonaten fiel die Temperatur nicht selten auf -25°C.

Und in Timofejs Gemüt war immer Winter.Er war an diesem Morgen bereits wach, als sich das ewige Weckri-

tual vollzog. Zwei dumpfe Schläge drangen von der Tür her an sei-ne Ohren. Timofej wusste, dass es sein Großvater war, der den En-kel so hart aus seinen gefrorenen Träumen reißen wollte. Timofej stellte sich vor, wie der alte Mann draußen durch den Schnee stapf-te, nur kurz vor der Tür des winzigen Anbaus stehen blieb, um hef-tig gegen die Tür zu treten, hinter der sein Enkelsohn hauste, um dann weiter in Richtung der Hütten zu gehen. Sicher trug er seinen verlausten und löchrigen Pelzmantel – was wohl auch sonst?

Timofejs Blick ging zum Kamin. Über Nacht war das kärgliche Feuer darin ausgegangen. Der Junge wickelte sich in zwei Decken ein und verließ sein Lager. Ehe er sich daran machen konnte seinen Pflichten nachzugehen, musste er die Flamme dort neu entfachen. Wenn der winzige Raum den Tag über endgültig auskühlen sollte, dann bestand die Gefahr, dass der Junge die kommende Nacht nicht

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überlebte. Und eine andere Bleibe gab es für ihn hier nicht.Mit zitternden Fingern schichtete er das feuchte Holz auf, das sich

dagegen wehren würde, entzündet zu werden. Erst beim fünften Streichholz schuf Timofej ein winziges Glimmen, das er ganz vor-sichtig anblies, bis es schließlich zu einer wirklichen Flamme gewor-den war. Die Hitze kroch in seine Fingerspitzen, die er ganz dicht beim Feuer hielt.

Gerne wäre er hier so hocken geblieben, stundenlang … den gan-zen Tag sogar, doch das ging nicht. Mehr als eine halbe Stunde be-nötigte sein Großvater nicht für seinen Rundgang, dann kam er er-neut an der Tür vorbei. Wenn Timofej dann nicht parat stand, gab es einen weiteren Stiefeltritt gegen die morsche Tür, der einer Warnsi-rene gleichkam.

Wenn Timofej dann nicht nach längstens zwei Herzschlägen vor der Tür war, würde er die kommende Nacht mit einem blutig ge-schlagenen Rücken verbringen. Er kannte den bitteren Tanz des Stocks nur zu gut. In Windeseile stieg er in seine löchrige Hose, zog sich drei Pullover übereinander an; die Stiefel, an denen nur noch Fetzen des Fells hingen, das sie einmal komplett umhüllt hatte, wa-ren durch die Kälte steinhart und würden seinen Füßen wieder ein-mal schlimme Schmerzen bereiten. Einzig die dicken Fäustlinge und die Mütze mit den tief gezogenen Ohrenklappen konnte man als durchaus brauchbar bezeichnen. Sie hatten einem Gefangenen ge-hört, der vor einigen Tagen in der Nacht gestorben war – einfach so. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Vielleicht hatte die Kälte ihn umgebracht. Vielleicht auch die Verzweiflung oder die Angst.

Timofejs Großvater hatte dem Toten die Handschuhe und die Mütze abgenommen und beides seinem Enkel zugeworfen. Es war hier normal, dass die Toten den noch Lebenden ihr Hab und Gut vermachten, damit Letztere ihr Elend noch ein wenig länger ertra-gen konnten.

Bevor Timofej aus seiner Behausung trat, öffnete er mit Schwung den hölzernen Laden, der von innen das einzige winzige Fenster ab-schloss. Dann musste er mit beiden Fäusten heftig gegen die äußere Blende schlagen, denn die Nachtkälte hatte sie an den rohen Stein gepappt und wollte einfach nicht mehr loslassen.

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Timofejs Gesicht erhellte sich schlagartig als er ihn sah – den Mond.

Seinen Mond …Einige Sekunden lang betrachtete er die gelbe Scheibe, seinen

Nachtfreund. Doch der schwieg an diesem Morgen. Sicher wusste er genau, dass sein Menschenfreund sich sputen musste, um schlim-men Schlägen zu entgehen. Wehmütig blieb Timofejs Blick am Ant-litz des Mondes hängen, doch dann riss er sich zusammen, denn er glaubte draußen bereits den Schlurfgang des Großvaters hören zu können. Er stieß die innere Lade wieder zu und hastete zur Tür.

Eisiger Wind schlug ihm entgegen. Er traf Timofejs Gesicht wie hundert Ohrfeigen und trieb auch noch den letzten Rest an Müdig-keit aus dem Jungen heraus. Von rechts konnte er den Alten kom-men sehen. Timofej starrte geradeaus, denn da war nichts, was er seinem Großvater hätte sagen wollen. Nicht einmal den Wunsch für einen schönen Tag.

Stepan Bolschakow war ein alter Mann, doch alleine die Nennung seines Namens konnte bei so manchem helle Panik auslösen. Er war die böse Legende dieser Gegend, die von dem Lager beherrscht wurde, das der Alte seit mehr als dreißig Jahren leitete.

Man munkelte unter den Gefangenen und Wächtern immer wie-der, dass Bolschakow damals in Moskau vor einer großen Karriere in der Partei gestanden hatte. Dann jedoch soll er einen großen Feh-ler gemacht haben, der ihn in Misskredit brachte. Was genau da pas-siert war, das konnten selbst die wildesten Gerüchte nicht klären. Die Partei war gnadenlos – sie duldete kein Versagen.

Und so hatten sich Stepan Bolschakow und seine Frau mit ihrer gerade geborenen Tochter hier wiedergefunden … in den Weiten der Mongolei, wo nichts außer Schnee und Kälte auf sie warteten. Man hatte Bolschakow strafversetzt, denn freiwillig kam niemand hierher. Mit Verbitterung hatte die kleine Familie erkennen müssen, wie ihr Leben in Zukunft aussehen würde:

Die nächste Stadt, die diese Bezeichnung auch verdiente, war Ulan Bator, die kälteste Hauptstadt der Welt, wie sie schon damals genannt wurde. Doch die war gut 80 Kilometer von hier entfernt; die restli-chen Ansiedlungen der Umgebung verdienten nicht einmal den Na-

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men Dorf.Was sie hier vorfanden, das war mit einem einzigen Wort erklärt –

Gulag.Dieses Wort löste in der gesamten UdSSR Angst und Schrecken

aus. Timofej hatte sich als Kleinkind niemals Gedanken darüber ge-macht, warum sein Großvater dieses Lager leitete – für den Jungen war das ganz einfach der Gulag, der Ort, an dem er aufwuchs. Dass es im ganzen Land Lager wie dieses gab, hatte er erst vor kurzem er-fahren.

Es war der graubärtige Lew, der Timofejs Weltbild in ganz andere Bahnen brachte. Lew war – wie alle Wachtposten hier – Soldat. Wer in der Roten Armee unangenehm auffiel, wer sich den Kameraden gegenüber nicht anständig verhielt oder sich mit seinen Vorgesetz-ten anlegte, der fand sich ganz schnell in einem Gulag wieder. Die Posten hier waren zwar keine Gefangenen, doch viel besser als de-nen erging es ihnen sicher nicht – die Kälte fragte nicht, wer man war. Die Kleidung der Wächter hatte rasch nichts mehr von einer Uniform, denn sie war bald so löchrig wie Timofejs Hose. Den Fraß, den man hier bekam, mussten alle essen, Gefangene, Wächter und auch der junge Timofej. Was also war man hier Besseres als die ar-men Teufel, die hier dem Tod entgegen froren?

Lew war ein freundlicher Mann von gut 50 Jahren. Er hatte sich rasch mit Timofej angefreundet. Der große Mann mit den breiten Schultern war als Ablösung für einen alten Wächter gekommen, dem endlich der Ruhestand vergönnt wurde. Dennoch war der Alte nicht gerne von hier fortgegangen, denn er hatte keine Ahnung ge-habt, wohin er gehen sollte. Beinahe zwanzig Jahre hatte er hier ge-dient. Und nun? Die Mongolei war nicht seine Heimat … und in sei-ner wirklich Heimat würde es kaum noch jemanden geben, der sich an ihn erinnern konnte.

»Warum bist du hier, Lew?« Timofej hatte den Mann geradeher-aus gefragt. Die Wachen waren die einzigen Menschen, mit denen er hier reden konnte. Lew hatte ihn breit angegrinst.

»Ach weißt du, Timoscha, das ist eine lange Geschichte.« Lew war der erste Mensch gewesen, der Timofej mit der Koseform seines Vornamens angesprochen hatte … und der Junge liebte es. »Die Ar-

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mee hat mich so sehr lieb, dass sie mich ganz einfach nicht mehr er-tragen konnte.« Lew lachte schallend, dann wurde er sehr ernst. »Junge, es gibt nichts Schlimmeres als einen Soldaten, der seinen Mund nicht halten kann. Und genau das habe ich nie gelernt, nie be-griffen. Viele Jahre ging das gut, denn ich konnte mich immer wie-der aus meinen Problem herauswinden, doch dann …« Lew hielt inne, dann nickte er einige Male. »… dann habe ich es wohl einmal zu bunt getrieben. Und nun bin ich hier. Strafversetzt an den Arsch der Welt.« Er grinste Timofej an. Der Junge wusste bei Lew oft nicht, ob der Wächter etwas ernst oder im Spaß meinte.

Lew hatte rasch begriffen, dass Timofejs Welt hinter dem Stachel-drahtzaun des Gulag endete. Es wurde Zeit, dass jemand dem Jun-gen ein paar Dinge erklärte.

Timofej erinnerte sich an diesem so bitterkalten Morgen daran, wie Lew ihm die Augen weit geöffnet hatte. Eine Schule hatte der Junge niemals besucht … besuchen dürfen, denn er war für seine Großeltern ganz einfach eine unabkömmliche Arbeitskraft. Mit offe-nem Mund hatte er Lew gelauscht, der ihm von dem riesigen Land erzählte, in dem sie lebten – der Sowjetunion. Er sprach von Zaren, Revolutionen, von Kriegen und Menschen, die nicht immer mit all dem einverstanden waren, was von den Machthabern angeordnet wurde.

»Diese unliebsamen Menschen kann eine herrschende Macht nicht dulden, egal ob Zar oder Partei … das war wohl schon immer so. Also schickt man sie in die Verbannung, in Arbeitslager und Ge-fängnisse. Jeder Gulag – und es gab und gibt unzählige davon – ist vollgestopft mit den sogenannten Politischen.«, Lew blickte seinen jungen Freund an. »Ja, das alles verstehst du nicht, denn deine Großeltern haben dich hier dumm gehalten.«

Er schüttelte ungehalten den Kopf. Wie konnte er von dem Jungen mit seinen knapp neun Jahren erwarten, dies alles hier zu begreifen? Er war überrascht, als Timofej ihm eine Frage stellte.

»Aber die Gefangenen sterben hier … wenn sie aber doch über-haupt keine Verbrecher sind, dann …«

Timofej brach ab. Lew ließ ihn alleine mit seinen Gedanken, die in dem kleinen Kopf rotierten und sich einfach nicht in eine Reihe ein-

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ordnen wollten. Der Soldat beließ es an diesem Tag dabei. Zuviel wollte er dem Jungen nicht aufbürden, doch der erwies sich in der folgenden Zeit als wissbegierig und zeigte eine erstaunliche Auffas-sungsgabe. Timofej war wie ein ausgetrockneter Schwamm, der jede Information in sich aufsog. Dennoch blieb Lew vorsichtig, denn eine unbedachte Bemerkung über diesen Geschichtsunterricht zu Stepan Bolschakow würde ausreichen, um aus dem Wächter einen Gefan-genen zu machen. Lew war nicht lebensmüde …

So oft Lew nur konnte, nahm er den Jungen beiseite und begann zu erzählen. Nach und nach erfuhr Timofej alles über das Gulag-System. Über die nie wirklich gezählten Toten, deren Anzahl man wohl nur schätzen konnte … und über die Tatsache, dass zu Beginn der Sechziger Jahre die Gulags offiziell abgeschafft worden waren. Jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 1969, existierten die meisten der Lager nach wie vor, nur nannte man sie jetzt Besserungsarbeitsko-lonien, doch außer dem Namen hatte sich absolut nichts geändert.

Die Gefangenen wurden eingeliefert, mussten schwerste körperli-che Arbeit verrichten – Bäume fällen oder in den Minen arbeiten, Straßen bauen – wenn sie sehr viel Glück hatten, überlebten sie die Jahre ihrer Bestrafung, doch keiner von ihnen verließ das Lager als gesunder Mensch. Krank an Körper und Seele schickte man sie in ihre alte Heimat zurück, in die sie nie wieder so ganz zurückfanden.

Ein Großteil von ihnen starb jedoch hier. Sie erfroren, starben an Mangelerscheinungen oder ganz einfach am Hunger. Andere über-lebten die Strafen nicht, die man hier erhielt, wenn auch nur die ge-ringste aller Kleinigkeiten passiert war. Strafen, die man nur als dra-konisch bezeichnen konnte.

In Timofejs Vorstellung waren es immer Schwerverbrecher gewe-sen, die hier ihr Dasein fristen mussten. Nun wusste er, dass dem nicht immer so war. Von diesem Tag an begann der neunjährige Junge das System zu hassen. Doch das änderte nichts daran, dass er hier nicht viel mehr als einer der Lagerinsassen war, der zu gehor-chen und seinen Dienst zu verrichten hatte.

Er konzentrierte sich. Als der Alte an ihm vorübergegangen war, setzte sich Timofej in Richtung der Baracken in Bewegung. Bewe-gungsloses Verharren konnte in dieser Kälte schlimme Folgen für

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den Körper haben. So schnell er konnte, näherte Timofej sich den ersten Baracken. Es waren allesamt baufällige Häuser, schnell und nicht für die Ewigkeit gebaut. Es gab keinerlei Isolation, die zumin-dest den Versuch gestartet hätte, die eisigen Temperaturen abzu-wehren. Die Dächer waren mit Wellblech gedeckt, das im schnei-denden Wind sein Lied sang – Tag und Nacht; es klapperte und surrte pausenlos, was auf Dauer einer Folter gleichkam. Subtil und mit voller Absicht, um die Gefangenen in den Wahnsinn zu treiben? Nein, Timofej wusste, dass es ganz einfach keine Geldmittel gab, um die Dächer zum Schweigen zu bringen.

In jedem dieser Häuser befanden sich bis zu zwanzig Gefangene. Dieser Gulag zählte sicher nicht zu den größten seiner Art: Auf dem Gelände, das von hohen, mit Stacheldraht gesicherten Zäunen um-geben war, gab es nur zehn dieser Gebäude. Zehn Türen, die Timo-fej an jedem Morgen zu öffnen hatte. Es war seine Aufgabe, die In-haftierten zu wecken. Eine Arbeit, die viel einfacher und effektiver von der Sirene hätte erledigt werden können, die auf einem hohen Pfahl am Rande des Gulags angebracht war. Doch die hätte die ei-gentliche Aufgabe des Jungen nicht erledigen können. Die bestand darin, eventuelle Verluste der vergangenen Nacht zu registrieren. So drückte sich der alte Stepan stets aus – Materialverluste. Nichts ande-res waren die Gefangenen hier für ihn. Er sah in ihnen das Material, das er hier zu verwalten hatte, so wie ein Lagerist, der Schrauben, Muttern oder Maschinenteile fein säuberlich in seinen Regalen lie-gen hatte. Bei Verlust eines dieser Posten hatte er Meldung zu erstat-ten … und auf Nachschub zu hoffen.

Für Timofej war es das allmorgendliche Grauen, wenn er die erste der Türen öffnete. Stets lief es nach dem gleichen Ritual ab. Der Jun-ge schlug mit seiner Faust gegen das Türblatt.

»Aufwachen – es ist soweit. Die rechte Hand in die Höhe!«Es dauerte immer lange, bis die Bündel sich regten, die auf den

rostigen Bettgestellen lagen. Und immer wieder waren das endlose Sekunden, in denen Timofejs Herz heftig bis hinauf zu seinem Hals schlug. Dann reckte sich der erste Arm unter den Decken hervor, der zweite … der dritte. Timofej wusste exakt, wie viele Gefangene in jedem der Häuser einquartiert waren. In diesem waren es zur Zeit

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19. Hektisch zählte der Junge durch. Er atmete erleichtert durch, als auch der letzte Arm in die Höhe kam … und ihm den Mittelfinger zeigte. Timofej grinste. Die Männer hier mochten den Jungen und wussten nur zu genau, wie sehr er sich vor diesen Momenten fürch-tete.

Beim zweiten und dritten Haus lief alles glatt ab, doch irgendet-was in Timofej ahnte, dass dies an diesem Morgen nicht so bleiben konnte. Die letzte Nacht war extrem kalt und bissig gewesen. Das sechste Haus erwartete ihn bereits mit geöffneter Tür; nachts verrie-gelte man die Häuser nicht, denn die Gefangenen hätten sich nie-mals freiwillig aus der trügerischen Sicherheit ihrer Baracke gewagt.

Timofej erkannte die Silhouette des Gefangenen, der dort im Tür-rahmen stand. Es war der hochgewachsene Ruslan, dessen schmale Gestalt einfach unverkennbar war. Er war nun seit etwa zwei Jahren in diesem Lager und hatte einiges über sich ergehen lassen müssen – von den Wachen, von Timofejs Großvater und auch seinen Leidens-genossen, denn die Männer waren oft untereinander spinnefeind. Sie neideten einander den Dreck unter den Fingernägeln, wie Stepan es ausdrückte. Timofej sah das auch so. Ruslan war hier nicht sehr beliebt, doch zu dem Jungen war er stets freundlich.

»Komm her, Junge, schnell.« Ohne auf Timofej zu warten, wandte Ruslan sich um und verschwand im Inneren der Baracke. Dort stan-den die 20 Inhaftierten und das Bettgestell herum, das sich ganz hin-ten an der Rückwand des Raumes befand. Timofej sah sofort was geschehen war. Er hatte es ja geahnt. Der alte Demjan hatte seinen letzten Kampf vor wenigen Stunden verloren. Timofej beugte sich über den Mann, der in der Vorstellung des Jungen schon immer hier gewesen war.

Viel geredet hatte Demjan nie, er war ein Mann, der alles still und schweigsam erduldete. Bis zu seiner letzten Sekunde wie es schien, denn er lag da, als würde er friedlich schlafen. Timofej glaubte, er müsse nun weinen, doch da kam keine Träne. Der Alte war ihm viel mehr Großvater und stummer Freund gewesen, als es Stepan Bol-schakow je hätte sein können. Und doch … Timofej wandte sich zur Tür. Er musste vom Tod des Gefangenen Meldung machen, sofort. Eine Hand fasste nach seiner Schulter. Es war Lew, der Wächter, der

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unbemerkt eingetreten war.Lange blickten der große Mann und der Junge sich an. Dann schi-

en es Timofej, als blitzten Lews Augen so seltsam. Wenn er keine Träne für den Toten finden konnte … warum war das bei dem Wachmann anders? Lew nickte Timofej zu.

»Lass gut sein. Ich melde das Ableben des Mannes. Mach du deine Runde weiter. Nun geh schon.« Timofej senkte seinen Kopf. Mit ra-schen Schritten verließ er die Baracke. Vier Häuser lagen noch vor ihm. Der Tod Demjans war für seinen Großvater sicher kein triftiger Grund, die Pflichten zu vernachlässigen. Vier Häuser lagen noch vor ihm. Er hoffte inständig, nicht noch einen Erfrorenen vorzufinden. Fahrig und hastig erledigte Timofej seinen Weckdienst, bis er schließlich bei der letzten Baracke angelangt war.

Timofej stoppte und blieb einige Sekunden still vor der Tür stehen. Es war vielleicht sechs Monate her, da hatte man einen wirklich selt-samen Gefangenen in den Gulag gebracht und in dieses Haus ge-steckt. Er hieß Fjodor Achtanow, doch jeder hier nannte ihn den Doktor. Doch der kleine und zerbrechlich gebaute Mann war kein Arzt, sondern ein Wissenschaftler, der – zumindest tuschelten die Gefangenen und Wächter davon – ein berühmter Mann gewesen war. Dann hatte er sich aber wohl mit den falschen Leuten umge-ben.

Falsch … zumindest im Sinne der Regierenden.Achtanow war sicher nicht der erste Studierte, der in einem Gulag

gelandet war. Er war harte körperliche Arbeit nicht gewohnt. Seine Nickelbrille, deren Gläser unglaublich dick erschienen, verlor er schon in der ersten Woche bei der Arbeit im Wald. Seither stolperte er blind wie ein Maulwurf durch den Gulag. Dreimal war er bereits von den anderen bewusstlos in das Haus zurückgebracht worden, weil er die Fron körperlich ganz einfach nicht ertrug. Man konnte geradezu beobachten, wie er Tag für Tag schwächer und hinfälliger wurde.

Doch damit war Achtanow ja nicht alleine, bildete keineswegs eine Ausnahme. Das Besondere an dem Gefangenen war die Tatsache, dass er nicht alleine hier im Gulag angekommen war. An seiner Hand war ein kleines Mädchen gegangen, dessen angstvoll aufgeris-

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sene Augen die triste Umgebung in sich aufnahmen. Timofej hatte die Ankunft von Vater und Tochter beobachtet. Noch niemals zuvor hatte es hier ein Kind gegeben – außer ihm selbst. Niemand hatte dem Jungen beigebracht Fragen zu stellen, also schwieg er auch in diesem Fall.

An jedem Morgen fürchtete er sich, diese letzte Tür auf seinem Gang zu öffnen. Er wusste ganz einfach, dass der Doktor nicht mehr lange zu leben hatte. In seinem jungen Leben hatte Timofej so viel von Leid und Krankheit gesehen, dass er es förmlich riechen konnte, wenn der Tod sich auf den Weg gemacht hatte.

Noch einmal atmete er durch, dann stieß er das moderig stinkende Türblatt nach innen auf. Ja, es stank … alles hier stank, denn die Ba-racken schienen sich mit all dem Elend und dem Verbrechen, das hier an Menschen begangen wurde, tatsächlich vollgesogen zu ha-ben. Es war ein süßlicher Geruch, der wie faulendes Fleisch daher-kam und sich in die Nasen aller stahl. Timofej wusste ganz einfach, dass er dieses böse Parfum nie mehr in seinem Leben los werden würde. Ganz gleich, wohin ihn die Zukunft auch führen mochte.

Die Männer waren bereits alle wach. Ängstlich blickten sie Timofej an. Sie ahnten, dass die letzte Nacht sich ein Opfer gesucht hatte.

Der Junge ließ den Kopf hängen.»Es ist der alte Demjan. Ich habe ihn vorhin gefunden.«Leises Gemurmel kam auf, doch dann krochen die Männer unter

ihren Decken hervor und machten sich für die Arbeit bereit. Man-cher von ihnen dachte sicher, wann er an der Reihe wäre, doch dar-über sprach man hier nicht laut.

Timofej wartete, bis alle die Baracke verlassen hatten. Draußen standen bereits die Wachen bereit, die Gefangenen in den Wald zu führen. Der Junge konnte die Maschinenpistolen in den Händen der Wächter blitzen sehen. Sie waren überflüssig, denn niemand in die-sem Gulag hätte die Kraft aufbringen können, einen Fluchtversuch zu starten. Wohin hätte man auch fliehen sollen? Rundum gab es nichts als Eis und Schnee … und eine Kälte, die jeden kerngesunden Menschen in die Knie zwingen konnte. Hier jedoch war niemand wirklich gesund.

Langsam ging Timofej zu dem Bett, in dem Fjodor Achtanow lag.

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Er hatte keinerlei Anstalten gemacht, sich zu erheben. Timofej legte ein Ohr auf die Brust des Mannes, der in einem ohnmachtgleichen Schlaf lag. Die Atmung des Doktors war so schwach, dass der Junge sie kaum noch wahrnehmen konnte.

»Mach dir keine Sorgen – er lebt noch.«Timofej wandte sich um. Darja stand nur wenige Schritte hinter

ihm. Wieder einmal hatte er nicht bemerkt, dass sie überhaupt im Raum gewesen war. Manchmal glaubte Timofej fest daran, dass sich das Mädchen einfach unsichtbar machen konnte – dann war sie wie die Luft …

Darja war vielleicht ein Jahr jünger als er selbst, doch sie schien noch so klein. Timofej konnte das nicht in Worte fassen. Das Mäd-chen wirkte auf ihn oft wie ein Zwergenkind aus einem der Mär-chen, die seine Mutter ihm früher vorgelesen hatte. Darja trug ein Hängekleid, das aus dem selben Drillich geschneidert war wie die Bekleidung der Gefangenen. Und wieder einmal war sie trotz der Kälte, die auch in der Baracke ihr Zepter schwang, barfuß … ihre Füße waren schmutzig … und so winzig.

Als sie an der Hand ihres Vaters den Gulag betreten hatte, waren ihre Haare pechschwarz und schulterlang gewesen, Timofej erinner-te sich ganz genau daran. Jetzt war sie kahlköpfig wie alle anderen hier – auch Timofej machte da keine Ausnahme. Das gehörte zu den Vorschriften des Lagerlebens, aus denen der alte Stepan bei jeder Gele-genheit zu zitieren pflegte. Gesehen hatte diese Vorschriften aller-dings noch niemand, also mochten sie dem wirren Kopf des Lager-leiters entsprungen sein.

»Haare sind die Nester für Läuse und Flöhe – sie sind ein Hort von Schmutz und Fett. Daher gebietet die Einhaltung der Hygiene das soforti-ge Entfernen des Haupthaares.« So oder ähnlich blökte Stepan Bolscha-kow wie das Hauptschaf zu seiner dummen Herde. Und die musste gehorchen.

Darja konnte ein kahler Schädel jedoch nicht entstellen. Das Mäd-chen war einfach wunderhübsch – so nannte Timofej das bei sich. Ihre schwarzen Augen dominierten das schmale Gesicht, das von Hunger und Kälte gezeichnet war. Noch mehr als ein Blick von ih-nen ließ Darjas Lächeln den Jungen zu Wachs in ihren kleinen Hän-

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den werden. Ja, Timofej war mit seinen neun Jahren vernarrt in Dar-ja, die er meist Dascha nannte. Von ihm ließ sie sich das gefallen, denn sie mochte den dürren Jungen, der hier auch ein Gefangener war.

Timofej ging einen zögerlichen Schritt auf das Mädchen zu.»Du hast es gewusst … ich meine Demjan … warum hast du es

mir nicht gesagt?«Darja blickte auf ihre nackten Zehen, deren Nägel einen Trauer-

rand trugen. »Du hättest dann nur wieder nicht schlafen können. Du denkst immer, alles was hier geschieht, könntest du ändern. Aber das stimmt ja nicht. Demjan war einfach alt und müde. Ich hab ihn auch gerne gehabt.« Sie blickte Timofej direkt in die Augen. »Ich konnte ihn schon seit vier Tagen nicht mehr sehen.«

Timofej nickte stumm. Das war der Grund, warum Darja hier ge-meinsam mit ihrem Vater im Gulag leben musste. Üblicherweise wurden Kinder von zu Zwangsarbeit Verurteilten in staatliche Ob-hut genommen – man nahm sie ihren Eltern weg, ganz gleich, ob nun einer oder beide straffällig geworden waren. So lief das in die-sem System, und in anderen Regionen der Welt sah das nicht viel anders aus. Man bestrafte die gesamte Familie. In den allermeisten Fällen war es dann nach Beendigung der Haftzeit nicht mehr mög-lich nachzuvollziehen, wo die Kinder sich aufhielten. Oder – man wollte es nicht mehr nachvollziehen. Timofej fand diese Tatsache ent-setzlich, als er von Lew davon erfuhr.

Für Darja jedoch hatte sich allerdings kein passendes Heim gefun-den.

In der Zeit, in der man ihrem Vater den Prozess wegen subversiven Aktivitäten gegen das russische Volk gemacht hatte, war Darja in einem dieser Heime untergebracht worden. Es hatte nur zwei Tage gedau-ert, da hatte die Heimleitung das Kind in eine ganz ähnliche Einrich-tung am Stadtrand von Moskau abgeschoben. Die Kinder … und die Erzieherinnen … fürchteten sich vor dem Kind. Darja sagte andau-ernd Dinge, die alle in Furcht und Schrecken versetzen.

Die Leitung des zweiten Heimes glaubte nicht an solche unheimli-chen Vorgänge und ließ Darja erst einmal die Peitsche spüren. Das Kind sollte gleich erfahren, wie es hier für sie ablief. Schweigen und

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Gehorchen – alles Weitere wurde nicht geduldet.Das Mädchen hatte nicht geweint. Ihre großen Augen hatten ihre

Peinigerin fixiert.»Ich sehe dich nicht mehr richtig. Um dich herum flackert es nur

noch … du wirst sterben müssen. Arme Frau …«Entsetzt hatte die Leiterin die Worte vernommen und voller

Furcht und Dummheit immer weiter zugeschlagen. Irgendwann war Darja dann bewusstlos zu Boden gegangen und auf ihr Zimmer gebracht worden. Notdürftig versorgte eine der Pflegerinnen ihre Wunden – mehr konnte man für das Kind eh nicht tun.

Am nächsten Morgen fand man die Leiterin an ihrem Schreibtisch sitzend vor. Ihr bleiches Gesicht war schmerzverzerrt – es war ihr Herz, das wohl ganz plötzlich aufgehört hatte zu schlagen. Am Tag darauf sollte Darja erneut das Heim wechseln, doch ihre schlimme Prophezeiung hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Kein Heim wollte das unheimlich Kind aufnehmen. Also beschloss man, die Kleine zusammen mit ihrem verurteilten Vater in die Verban-nung zu schicken.

Man hielt Darja für ein Monster, ein gefährliches Wesen, das nach Möglichkeit fern abseits von der Zivilisation ihr Dasein fristen sollte. Früher, so sagte zumindest Lew, hätte man das Kind ersäuft oder er-schlagen. Doch am Ende der sechziger Jahre schob man solche Pro-blemfälle dann doch lieber ab.

Dabei hatte Darja nichts getan – sie hatte lediglich gesagt, was sie sehen konnte. Darja sah um jeden Menschen herum eine Aura, einen Halo, wie man ihn den Heiligen der Kirche zuschrieb. Für das Mäd-chen jedoch war längst klar geworden, dass dieser Schein die Le-bensenergie an sich war. Wurde er schwächer, begann er zu fla-ckern, dann dauerte es nicht mehr lange, bis Darja den entsprechen-den Menschen nicht mehr sah … was seinen baldigen Tod ankün-digte. Darja selbst hatte absolut keinen Einfluss darauf. Sie erkannte es nur. Wenn sie es dann aussprach, hatte das meist schlimme Fol-gen für sie, denn wer wollte schon die Kunde vom eigenen Tod hö-ren? Sicherlich niemand.

Hier im Gulag wusste natürlich niemand etwas davon.Timofej und Lew waren die Ausnahme, denn ihnen hatte Darja

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sich anvertraut. Auch die Lagerleitung hatte niemand informiert, um erst gar keinen Widerspruch aufkeimen zu lassen.

Und nun hockte Darja auf der Kante des Lagers, auf dem ihr Vater in einem tiefen Schlaf lag. Timofej konnte ihre Stimme kaum verneh-men, so leise sprach das Mädchen.

»Ich kann Vater kaum noch sehen … was soll nur werden?«Timofej fiel nichts anderes ein, als sich neben seine kleine Freun-

din zu setzen und einen Arm um ihre Schulter zu legen. Doch Darja hatte schon lange keinen Tränen mehr, die sie nun hätte vergießen können. In ihr brannte nur eine einzige Frage – was würde mit ihr geschehen, wenn Vater starb? Eine Frage, die ihr auch Timofej nicht beantworten konnte. Würde man sie hier lassen? Hier – als ein weib-liches Wesen unter all den Männern? Noch war sie ein Kind, doch das würde sich schnell ändern.

»Was hockst du hier herum? Hast du nichts zu tun?« Die knarrzi-ge Stimme des alten Stepan Bolschakow ließ die Kinder zusammen-zucken. Beide hatten nicht bemerkt, dass er die Baracke betreten hat-te. Es war absolut nicht seine Art, sich um diese Zeit hier bei den Häusern aufzuhalten.

Timofej sprang von Bett hoch und stand stramm wie ein Soldat. Bolschakow schlurfte zur Liege des Doktors, der sich nach wie vor nicht rührte. Wie in Zeitlupe beugte sich der Lageraufseher über den schlafenden Mann, der nur flach atmete. Lange Sekunden verharrte der Alte so, dann richtete er sich auf und starrte Darja an.

»Er stirbt. Wenn es so weit ist, dann ziehst du zu meiner Frau und mir ins Haus. Du wirst den Haushalt übernehmen – putzen, kochen, waschen, einfach alles. Und …« Zum ersten Mal entdeckte Timofej in dem harten Blick aus Stepans Augen einen Funken, der nichts Gutes verhieß. »… und dann wird man sehen, was du sonst noch so alles für mich tun kannst.«

Darja erstarrte. Sie konnte diesen Blick nicht ertragen und senkte den Kopf.

Bolschakow durchquerte den Raum mit schleppenden Schritten. Ehe er die Baracke verließ, blieb er kurz stehen um seinen En-kelsohn anzublicken. »Beerdige den alten Demjan, los, mach schon. Und dann mach dich wieder an deine Arbeit. Mach sie gut und

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schnell, sonst weißt du ja, was dir blüht.«Als er den Raum endlich verlassen hatte, schien die Temperatur

um einige Grade zu steigen. Die Kinder blickten einander an. Timo-fej nahm Darjas Hände.

»Ich beschütze dich, das verspreche ich dir. Ich habe einen mächti-gen Freund …«

Darja fragte nicht, sie schwieg. Für einige Momente glaubte sie Timofejs Worten.

Sie wollte so gerne daran glauben …

Der Tag verging quälend langsam.Timofej hatte das Grab für Demjan am Waldrand außerhalb des

Lagers ausgehoben. Einer der dagebliebenen Wachmänner half ihm dabei, denn selbst für den an harte Arbeit gewöhnten Jungen war es sehr schwer, den gefrorenen Boden aufzuwerfen.

Mit einer Beerdigung, wie sie wohl allgemein üblich war, hatte das hier allerdings nichts gemein. Niemand sprach ein Wort über den Toten, niemand weinte auch nur eine Träne um ihn. Einen Geistli-chen gab es natürlich auch nicht. Timofej überlegte, ob ihm nicht ein paar passende Worte in den Sinn kommen könnten, doch ihm fiel nichts ein. Er schickte Demjan einen stummen Gruß nach, dann schaufelte er die Kuhle wieder zu.

Der Rest des Tages war angefüllt mit den Dingen, die Timofej an jedem Tag zu erledigen hatte. Er entleerte Latrinen, fegte die Bara-cken aus, was im Grunde die Arbeit der Inhaftierten war, die das al-lerdings überhaupt nicht oder nur sehr schlampig erledigten. Als die Häftlinge von ihrer Arbeit im Wald zurückkehrten, da war es Timofej, der ihnen das Essen in ihre Baracken brachte. Essen konnte man diesen Fraß im Grunde nicht nennen, doch der Hunger trieb es in die ausgezehrten Münder der Männer hinein. Längst fragte hier niemand mehr, aus was diese Mahlzeiten bestanden.

Gekocht wurden sie von Timofejs Großmutter. Niemand hier hatte den Mut sich mit Jekaterina Bolschakow anzulegen.

Wenn der alte Stepan der Höllenknecht war, so war Jekaterina der Teufel in Person. Sie schlug nicht, sie ließ auch nicht schlagen. Ihre

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Repressalien waren subtiler und oft um ein Vielfaches wirkungsvol-ler als reine körperliche Gewalt.

Eine Nacht außerhalb der Baracken war tödlich, doch schon zwei der drei so verbrachte Stunden kosteten den Unglücklichen Finger … Zehen … – noch drastischer war der Entzug der Bekleidung; mehr als ein Häftling hatte eine solche Nacht nicht überstanden.

Jekaterina war einfallsreich, wenn es darum ging, sich Strafen zu erdenken. Vor einigen Monaten hatten sich in einer der Baracken drei Männer zusammengetan. Sie hatten jede Zwangsarbeit verwei-gert. Stepan hatte getobt und sie auspeitschen lassen, doch seine Frau hatte eine schnelle Lösung bei der Hand gehabt. Die drei hat-ten sich in der folgenden Nacht in entsetzlichen Krämpfen gewun-den. Als sich das Tageslicht durch die Dunkelheit schob, waren sie tot.

Timofej hatte nie herausfinden können, wie Jekaterina die armen Teufel vergiftet hatte, doch es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass sie es getan hatte. Der Junge fürchtete jede Nähe zu seiner Großmut-ter. Stepan war brutal – Jekaterina jedoch war entsetzlich!

Es war später Abend, als Timofej sich endlich wieder in den Ver-schlag zurückziehen durfte, den die Bolschakows großspurig als Anbau bezeichneten.

Die Glut im Kamin war noch nicht verloschen. Es dauerte nur we-nige Minuten, bis Timofej daraus wieder ein richtiges Feuer ge-macht hatte. Lange Zeit genoss er die Wärme, die sich vom Kopf bis hinunter zu den Zehen auszubreiten begann.

Seit Lew Timofej berichtet hatte, dass es auf dieser Erde Regionen gab, in denen die Menschen nahezu nackt umherliefen, weil ihnen zu heiß war … seit diesem Tag hatte der Junge ein ganz neues Ziel: Dorthin wollte er. Schwitzen? Tag und Nacht? Das klang in seinen Ohren sehr nach Märchenstunde, doch da Lew es gesagt hatte, woll-te er fest daran glauben.

Timofej blickte sich in seinem Verschlag um. Jetzt wäre die Zeit gewesen, hier ein wenig für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen, doch an diesem Abend konnte er nicht einmal daran denken. Demjans Tod, die Krankheit des Doktors, Darjas Angst vor dem, was unweigerlich kommen musste – all das spukte in seinem Kopf

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umher und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.So leise wie nur möglich zerrte Timofej den Tisch – der neben ei-

nem roh gezimmerten Stuhl das einzige Möbelstück hier war – unter das Fenster. Kontrollierend rüttelte der junge an der Tischplatte. Mit einem Batzen Harz, den ihm Lew aus dem Wald mitgebracht hatte, war Timofej dem Tisch zu Leibe gerückt. Er war sich jedoch nicht si-cher ob seine Bemühungen Früchte getragen hatten. Doch es schien so zu sein, denn da wackelte jetzt nichts mehr; das hätte noch ge-fehlt, dass der Tisch unter ihm zusammengebrochen wäre. Die Alten nebenan hätten das sofort gehört. Sie hörten alles, was sie nicht hö-ren sollten. Nur die Schmerzensschreie und die, die der Hunger ge-bar … die hörten sie nicht.

Dennoch kletterte Timofej äußerst vorsichtig auf den Tisch. Dann kniete er sich auf die aus vier rohen Brettern bestehende Tischplatte. Das war die beste Position für sein Vorhaben, das er an jedem Abend um die etwa gleiche Zeit durchführte. Er öffnete den inneren Holzladen, dann ganz vorsichtig, um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden, das äußere Gegenstück dazu.

Die Kälte traf ihn wie unzählige winzige Nadelstiche im Gesicht, doch das ignorierte er, denn er wusste ja, wie schnell sich das än-dern würde. Und so war es, wie es immer war – der Frost zog sich widerwillig zurück, als das Feuer aufflackerte.

Das Mondfeuer.Timofej war sich sicher, dass es außer ihm niemand wahrnehmen

konnte. Es leuchtete nur für ihn – wärmte nur ihn alleine. Die fahle Scheibe des Erdtrabanten war ihm so sehr vertraut. Dort oben, weit über der Schneewelt, die Timofej als einzig mögliche kannte, kreiste sein einzig wahrhaftiger Freund am Nachthimmel. Der Junge konn-te im käsigen Antlitz seines Vertrauten das winzige Flackern ausma-chen – die Stelle, an der das Feuer des Mondes für ihn brannte und wärmend auf ihn schien.

Timofej konnte heute nicht mehr sagen, wann er den Kontakt zwi-schen ihm und dem Mond zum ersten Mal gespürt hatte. War es ein Jahr her? Oder vielleicht schon zwei? Es spielte ja auch keine Rolle, denn die Hauptsache war, dass es ihn gab.

Minutenlang genoss der Junge den wärmenden Hauch, der sein

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Gesicht einhüllte, der sich durch seinen gesamten Körper schlich. Timofej hieß seinen Freund willkommen, empfing die Wärme wie ein Geschenk, wie eine Liebesgabe. Sie war das Band, das sich zwi-schen dem Jungen und der Flamme knüpfte, die ihn suchte und im-mer wieder fand. Ein Ritual – ein Vorspiel zu dem wahren Kontakt.

Es lief immer wieder gleich ab. Erst kam die herrliche Wärme, dann die ersten Bilder. Früher war Timofej immer erschrocken, wenn sie in seinem Kopf auftauchten. Sie zeigten ihm Dinge, die er nicht kannte, deren Bedeutung er einfach nicht begriff. Doch nach und nach verwandelten sich diese Bilder in Worte einer Sprache, die Timofej fremd war. Und dennoch verstand er sie! Sie sprachen von fremden Welten, großen Reichen in den Tiefen des Weltalls … und sie sprachen von Timofej, der dies alles einmal sehen sollte. Sie spra-chen vom Mondfeuer, das Timofej einst in Händen halten würde. Dann, ja dann konnte es nie wieder Kälte und Gewalt für den Jun-gen geben. Nie wieder.

Timofej hörte diesen Geschichten gerne zu. Es waren ganz neue Märchen, die seine Mutter wohl nicht gekannt hatte. Doch nach und nach beschlich den Jungen das Gefühl, dass es keine Dichtungen waren, die ihm hier erzählt wurden. Es waren Visionen, Prophezei-ungen, die das Mondfeuer zu ihm sandte.

Heute jedoch war das nicht so. Und Timofej war mehr als ver-blüfft, als das Mondfeuer ihn direkt ansprach – keine Metaphern, nur klare und deutliche Worte.

»Die Menschen kommen zu mir. Sie werden mich holen – auf ihren Pla-net.«

Timofej brauchte einige Sekunden, bis er fähig war zu antworten. Er tat das still, denn er wagte es nicht laut zu sprechen. Das hätte die Magie zerstört, die zwischen ihm und dem Mondfeuer existierte. Zudem hockten direkt hinter der Wand seine Großeltern. Niemals durften sie erfahren, was hier an jedem Abend geschah.

»Du? Zur Erde? Aber wie sollte das gehen? Du bist doch so un-endlich groß …«

»Nicht den Mond – mich, sein Feuer. Sie werden mich holen, auch wenn sie davon noch nichts wissen.«

Timofej war verwirrt. Menschen sollten den Mond betreten? Das

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war doch irrsinnig. Vollkommen unmöglich. Die Worte des Feuers klangen wieder in seinem Kopf auf.

»Sie werden kommen. Sie sind aus einem weit entfernten Land, das du noch nicht kennst. Aber du wirst es kennen lernen. Du musst! Du wirst es sein, der mich holt.«

Der Junge spürte, wie eine unbekannte Form der Angst in ihm hoch stieg. Er? Er sollte den Gulag verlassen und in eine unbekannte Welt aufbrechen? So sehr er seine eigene Welt auch oft hasste, so groß war die Furcht in ihm, ihr den Rücken zu kehren. Timofej war sicher, dass er das ganz einfach nicht schaffen würde.

»Nur du bist für mich die Hoffnung, die Fesseln irgendwann zu spren-gen, die mich binden. Es gibt keinen Zweiten wie dich auf deiner Welt.«

»Aber wie? Wie soll ich zu dir kommen? Was muss geschehen, da-mit ich den Gulag verlassen kann? Sag es mir …« Timofejs Worte klangen wie ein Schrei nach Hilfe.

»Das wirst du schon bald wissen. Du selbst wirst die Entscheidung fäl-len – du wirst einen ganz neuen Weg gehen. Du wirst den Zeitpunkt er-kennen …«

Timofej wartete auf weitere Erklärungen, doch es kamen keine mehr. Das Mondfeuer schwieg und die Kälte kroch rasch wieder in den Jungen hinein. Er schloss die Fensterläden, rückte den Tisch wieder an seinen Platz. Schnell verschwand er unter dem Stapel von Decken und Fellstücken, die ihm das Überleben dieser Nacht er-möglichen würden.

Er schloss die Augen, doch an Schlaf war nicht zu denken.Den Gulag verlassen – eine fremde Welt suchen, in der das Mond-

feuer auf ihn wartete. Warum gerade er? Was hatte sein Nacht-freund gesagt?

»Es gibt keinen Zweiten wie dich auf dieser Welt …«Plötzlich sah er das Gesicht seiner Mutter vor sich. Wie wunder-

schön sie doch war. Es war lange her, dass sie Timofej hier besucht hatte. Die ersten Jahre seines Lebens waren voller Erinnerungen an sie, an ihre warmen Hände, ihre liebe Stimme, an Zärtlichkeiten, die jedes Kind so dringend brauchte wie die Luft zum Atmen.

Dennoch waren da noch andere Gefühle, die sich bei den Gedan-ken an die Mutter einstellten. Der ewige Streit zwischen ihr und den

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Großeltern. Die Unruhe, die sie so sehr ausfüllte. Das alles war Timofej nicht verborgen geblieben. Dann kam der Tag, an dem seine Mutter verschwand. Er war verzweifelt, denn von seinen Großeltern empfing er nur Hass und Verachtung. Und Prügel …

Wie lange das so ging, konnte er heute nicht mehr sagen, doch plötzlich war Mutter wieder da. Er verlor sich in ihren warmen Ar-men, wollte sie nie wieder loslassen. Doch das schaffte er nicht.

Sie verschwand erneut nach einer Zeit, in der es nur Streit und Ge-walt zwischen ihr und den beiden Alten gegeben hatte. Dieses Mal dauerte es lange, bis sie wieder kam. Sie hatte sich verändert. Äu-ßerlich war das drastisch zu erkennen. Sie hatte sich Farbe in ihr schönes Gesicht geschmiert – sie nannte das Schminke. Ihr Rock en-dete hoch über ihren Knien, sehr hoch sogar; ihre Bluse war tief aus-geschnitten … und Ringe steckten an ihren Fingern. Ihre langen Haare trug sie hochgesteckt, die schmalen Schuhe ruhten auf hohen Stelzen, die das Laufen enorm erschwerten. Timofej fürchtete sich ein wenig vor ihr und war tief verwirrt.

Sie beruhigte ihren Sohn und sagte, all das täte sie nur für ihn, denn wenn sie erst einmal richtig viel Geld verdienen würde, könn-te sie ihn hier herausholen. Sie blieb nur zwei Tage lang, dann ver-schwand sie erneut. Was sollte ein Kind also mit so einem Verspre-chen anfangen? Nichts. Den Gulag verlassen, das war eine Vorstel-lung, die einfach nicht in Timofejs Kopf passen wollte.

Es vergingen viele Monate, ehe er wieder in die Arme seiner Mut-ter fallen durfte. Ihr Anblick machte dem Jungen nun wirklich Angst, denn dicke Tränensäcke hingen unter ihren geschminkten Augen. Sie hatte abgenommen, schien nur noch aus Haut und Kno-chen zu bestehen. Ihre glatte Haut trug tiefe Falten.

»Bald hole ich dich, mein Liebling, mein Timoscha … nicht mehr lange, dann können wir gehen, wohin wir nur wollen. Nur du und ich, hörst du?« Ja, er hörte es, doch glauben konnte er kein Wort da-von. Etwas in ihm fühlte ganz deutlich, dass er sie nun zum letzten Mal sah. Er hörte nachts den bitteren Streit zwischen Mutter und den Großeltern. Es fielen Worte, die er lange Zeit überhaupt nicht einordnen konnte: Stepan und Jekaterina nannten ihre Tochter eine Hure, ein von Drogen verseuchtes Flittchen, ein verkommenes Mist-

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stück.In dieser Nacht schlief Timofej erst kurz vor dem Moment ein, da

der alte Stepan ihn mit Fußtritten gegen die Tür weckte. Wie in Trance brachte der Junge den Tag irgendwie hinter sich. Als er end-lich die Zeit fand nach seiner Mutter zu suchen, da war sie schon wieder fort. Timofej wollte weinen, doch das funktionierte nicht. Er machte seiner Wut anders Luft – er schrie die Großeltern an, die sei-ne Mutter verjagt hatten, das stand für ihn fest.

Der Stock der alten Stepan war die einzige Reaktion, die der Junge damit erzeugte. Er feierte ein Fest auf Timofejs Rücken …

Timofej wälzte sich auf seinem Lager hin und her. Der Schlaf woll-te einfach nicht zu ihm kommen. Was hatte das Mondfeuer ihm sa-gen wollen? Einzigartig sollte er sein? Timofej wusste nicht viel von der Welt, die es hinter den Stacheldrahtzäunen des Gulags gab, zu-mindest nicht mehr als das, was Lew ihm erzählt hatte, doch das reichte aus um zu ahnen, dass seine Mutter zwar einmal eine schöne Frau, jedoch ganz gewiss keine Einzigartigkeit gewesen war.

Blieb also nur sein Vater …Jeder Mensch forschte irgendwann einmal tief in sich nach dem

ersten bewusst erlebten Moment seines Lebens. Timofej musste dazu allerdings nicht tief schürfen, denn dieser Moment war ihm ei-gentlich schon immer präsent gewesen. Es war nicht die Erinnerung an seine Mutter, erst recht nicht an seine entsetzlichen Großeltern. Es war auch kein Eindruck, der direkt etwas mit dem Gulag zu tun hatte. Nein, es waren zwei blaue Augen, die wie Eisgletscher strahl-ten. Zwei kräftige Arme, die ihn in die Höhe hoben – ein freundli-ches Gesicht, in dem jedoch auch Elemente von Arroganz und Kälte zu spüren waren.

Lange hatten diese Augen auf Timofej geschaut, daran erinnerte er sich noch sehr deutlich. Er selbst war da noch ein Baby, ein Klein-kind, doch diesen Mann hatte er nie wieder vergessen können. Na-türlich hatte er später seine Mutter nach ihm gefragt, denn Timofej hatte ihn kein zweites Mal zu Gesicht bekommen. Er bekam keine Antwort, so sehr er auch darauf drängte. Doch im Grunde benötigte der Junge die auch nicht, denn er sah und hörte alles, was innerhalb des Gulags geschah. Er hörte, wenn die Gefangenen miteinander tu-

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schelten, hörte jedes einzelne Wort der Streitgefechte zwischen den Großeltern und seiner Mutter.

Sie alle sprachen – oder schrien – immer wieder über den Mann mit den eisblauen Augen, der Timofejs Vater war.

Ja, sein Vater, von dem er nicht einmal den Namen kannte. So, wie der Mann Timofej angeblickt hatte, so intensiv und voller Stolz, so genau hatte der Junge es schon immer gewusst.

Timofej spitzte die Ohren, wenn irgendwo die Gespräche auf den Fremden kamen. Nach und nach wurden aus den einzelnen Puzzle-stücken, die er tief in sich speicherte, ein Gesamtbild. Keines, das ihm gefiel …

Sein Vater war hier ein Gefangener gewesen, wie alle anderen es auch waren. Niemand wusste den Grund, warum man ihn hierher verbannt hatte. Er selbst sprach nicht darüber, war ganz allgemein ein schweigsamer Typ. Die anderen hatten ihn rasch akzeptiert, doch es entstand eine natürliche Grenze zwischen ihnen und dem Fremden. Jeder war hier auf seinen Nächsten angewiesen, um zu überleben – anders ging es nicht, doch das bedeutete ja nicht, dass man gut Freund miteinander sein musste.

Man zeigte einen gewissen Respekt vor dem kräftig gebauten Mann, dessen Augen wie Kristalle glänzten, und der ab und an in einer Sprache vor sich hin murmelte, die so überhaupt nichts Menschliches an sich hatte. Keinem blieb verborgen, dass sich zwi-schen dem Fremden und der Tochter der Lagerleiter etwas anbahn-te. Keinem, nur den alten Bolschakows selbst. Als ihre Tochter dann schwanger wurde, erschütterte das Geschrei der beiden Alten den ganzen Gulag. Sie prügelten ihre Tochter windelweich – vor dem Fremden jedoch fürchteten sich selbst die Bolschakows. Ihm gingen sie möglichst aus dem Weg, doch die Tochter musste leiden.

Dann kam der Tag der Geburt, die natürlich heimlich hier im Gu-lag stattfand. Timofejs Mutter wäre beinahe gestorben, als sie ihren Sohn gebar, doch sie überlebte und kam rasch wieder zu Kräften. Die ersten Monate vergingen, Streit und Schläge waren an der Ta-gesordnung im Haus der Bolschakows, doch der Junge entwickelte sich prächtig. Von seinem Vater hielt man ihn fern. Ein einziges Mal, so sagten die Gerüchte, hätte der Fremde es geschafft, sein Kind im

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Arm halten zu können.Dann sei plötzlich alles eskaliert. Manche sagten, der Fremde hätte

einen Ausbruch riskiert. Mitsamt seiner Geliebten und dem gemein-samen Sohn wollte er fliehen. Andere behaupteten, das alles sei von den Bolschakows inszeniert worden und Jekaterina selbst hätte die Schüsse abgegeben und später eine Geschichte um die ganze Sache herum gesponnen.

Was auch immer die richtige Version sein mochte, das Ergebnis war stets gleich:

Der Fremde starb in einem Kugelhagel und wurde hier verscharrt, wie es jedem geschah, der im Gulag sein Leben lassen musste. Die Wahrheit hätte sicher nur Timofejs Mutter ans Licht bringen kön-nen, doch die wurde nach diesem Geschehen von den Alten abge-schottet. Als Timofej fünf Jahre alt war, verschwand sie zum ersten Mal, konnte sich von ihren Eltern abnabeln und ihrem Käfig mit Na-men Gulag entrinnen.

Die Männer im Lager erzählten sich, sie wäre nach Ulan Bator ge-gangen und dort in einem Freudenhaus gelandet. Mit diesem Begriff konnte Timofej nichts anfangen – für ihn klang das nach einem fröh-lichen Haus, in dem man vielleicht toll spielen konnte, in dem es im-mer warm war … in dem man essen konnte, so viel man nur wollte. Warum feixten die Männer dann so, wenn sie darüber sprachen?

Erst viel später hatte er den Mut gefasst und Lew danach gefragt. Dessen Auskunft versetzte Timofej einen Schock. Er sah seine Mut-ter plötzlich mit ganz anderen Augen. Hatte sie das alles wirklich gemacht, um ihn irgendwann einmal aus dem Gulag holen zu kön-nen?

Timofej setzte sich auf seinem Lager auf. Irgendwie glaubte er nicht mehr daran, in dieser Nacht Schlaf finden zu können. Das Mondfeuer, sein Vater … all das ließ ihm keine Ruhe.

»Es gibt keinen Zweiten wie dich auf dieser Welt …«Timofej schüttelte in der Finsternis den Kopf. Er glaubte dem

Mondfeuer das nicht – zum ersten Mal zweifelte er an seinem Nachtfreund. Da war kein Weg für ihn aus dem Gulag. Er spürte nicht, wie der Schlaf ihn schließlich doch einholte. Tatsächlich träumte er in dieser so kurzen Nacht recht intensiv.

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Er sah sich selbst – Darja neben sich, Hand in Hand – und sie lie-fen auf den Stacheldrahtzaun zu, der sich wie von Geisterhand vor ihnen auftat. Am Himmel über den beiden Kindern flammte eine Feuersbrunst auf, doch vor ihnen lagen grüne Wiesen und die war-me Luft tat ihnen so gut.

Zum ersten Mal in seinem Leben war Timofej frei.Doch der Traum zerplatzte brutal, als von außen hart gegen die

Tür getreten wurde …Drei Tage vergingen ereignislos.Timofej brachte die Tage irgendwie hinter sich, denn für ihn zählte

jetzt nur noch das, was das Mondfeuer ihm prophezeit hatte. Jeden Abend kniete er auf dem alten Tisch und nahm die Wärme auf, die vom Erdtrabanten zu ihm kam, und jeden Abend sandte er die glei-chen bohrenden Fragen in die Höhe zu der gelben Scheibe. Doch er bekam keine Antwort. Das Mondfeuer schwieg. Es ließ ihn alleine mit dem Aufruhr im Kopf, den es bei ihm entfacht hatte.

Im Gulag schien alles wie üblich abzulaufen, doch Timofej hatte eine ganz spezielle Antenne dafür entwickelt, wenn die Vorzeichen auf Sturm standen. Etwas würde schon bald geschehen.

Was … das wusste er nicht. Er war jedoch der Erste, der den Sturm heraufziehen sah, als es dann schließlich so weit war.

Es geschah am Morgen des fünften Tages nach der Prophezeiung des Mondfeuers. Timofej trat zitternd vor die Tür seines Zimmers. Der alte Stepan hatte wie stets heftig dagegen getreten, um seinen Enkelsohn aus den Träumen zu reißen.

Es war kalt – wie immer. Die Luft über dem Gulag roch nach Schweiß, Tränen und Urin – wie immer. Wie immer … und dennoch anders. Timofejs Beine wollten ihren gewohnten Weg heute über-haupt nicht gehen, denn dort, irgendwo dort bei den Baracken, war-tete der Beginn einer Entwicklung auf den Jungen, die er absolut nicht abschätzen konnte.

Als er die erste Baracke schließlich doch erreicht hatte, warteten dort bereits einige der Gefangenen und wiesen stumm nach hinten, dort, wo die letzten beiden Häuser zu finden waren. Timofej ging weiter. Vor jedem Haus warteten sie schon auf ihn. Er konnte in den verhärmten und ausgemergelten Gesichtern lesen, dass in dieser

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Nacht etwas geschehen war.Ohne zu stoppen ging er zur letzten Baracke. Die Tür stand offen.

Alle Gefangenen saßen stumm und bewegungslos auf ihren Prit-schen. Hinten, beim letzten Lager, konnte er Darja erkennen, die vor dem Bettgestell kniete und ihren Kopf auf die Brust ihres Vaters ge-legt hatte, als würde sie dort nach dem Herzschlag suchen, der nicht mehr existierte.

Fjodor Achtanow war tot. Der Doktor hatte seine Leiden überstan-den, doch die seiner Tochter begannen damit erst richtig. Timofej nahm Darja hoch und umarmte sie still. Eine Zeitlang standen sie so dort, bis vom Eingang her die Stimme Stepan Bolschakows erklang.

»Ist er also endlich tot. Verscharrt ihn. Darja – du kommst zu mei-ner Frau und mir ins Haus. Dort kannst du dich nützlich machen. Ab sofort wirst du dir die Ehre verdienen müssen, hier zu leben.« Ein seltsames Schmatzen beendete die kurze Ansprache, dann war der Lageraufseher wieder verschwunden.

Die Kinder blickten einander schweigend an. Das war der Augen-blick, in dem Timofej beschloss zu tun, was das Mondfeuer vorher-gesagt hatte. Er musste fliehen – zusammen mit Darja! Er hatte nur keine Vorstellung davon, wie das gehen sollte.

Die Beisetzung des Doktors verlief kurz und ohne jedes schmückende Beiwerk. Er war ein Gefangener wie alle anderen ge-wesen. Dann kamen Tage, in denen Timofej Darja überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Als sie sich dann eher zufällig im Lager trafen, erschrak Timofej heftig. Das Mädchen hatten dunkle Ränder unter den Augen, an ihrem linken Handgelenk war ein beinahe zehn Zen-timeter langer Schnitt zu sehen, der nur schlecht zu heilen schien; Darja trug ihr Kleid mit kurzen Armen, was bei dieser Kälte einer Folter gleichkam – an ihren Oberarmen entdeckte Timofej sofort die dunkelblauen Druckstellen. Das war eine der Misshandlungen, die zu den Spezialitäten Jekaterinas zählten. Timofej hatte den eisenhar-ten Druck ihrer Finger auch schon mehr als nur einmal zu spüren bekommen. Sie ließ dann nicht mehr los, bis das Blut in den Armen zu stocken begann.

Darjas sonst so schönen Augen waren rot. Auf ihrer Stirn prangte ein kreisrundes Hämatom. Wahrscheinlich das Ergebnis eines ge-

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zielten Stoßes mit einem Stock. Timofej spürte den Zorn in sich auf-steigen. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie der Rest von Dar-jas Körper aussehen mochte. Sicherlich bunt und blau geschlagen. Garantiert würde man dort auch Brandwunden von Stepans Zigar-ren finden können …

Zum ersten Mal in Timofejs Leben wurden Wut, Trauer und Hoff-nungslosigkeit zu purem Hass!

Rasch zog er Darja zwischen zwei der Baracken, wo man sie vom Haus seiner Großeltern aus nun nicht mehr sehen konnte. Darja mußte sich an Timofej festhalten, um nicht endgültig die Kontrolle über ihren geschundenen Körper zu verlieren.

»Was haben die Schweine dir nur angetan – das sind doch keine Menschen mehr.«

Darja konnte nicht antworten, denn ein Hustenanfall schüttelte ih-ren mageren Körper. Nur langsam erholte sie sich davon. Erklären musste sie das ihrem jungen Freund nicht, denn Timofej war längst klar, dass seine Großeltern – wie sehr er diesen Begriff doch hasste! – Darja nachts ungeschützt in der Eiseskälte ihrer Kammer schlafen ließen. Sie wollten das Kind loswerden. Und das war bei dem Klima der Mongolei absolut kein Problem. Niemand würde dann beweisen können, warum das Mädchen an Lungenentzündung gestorben war. Zudem kümmerte das auch niemanden wirklich. Ein weiterer Name auf der Todesliste, mehr nicht.

Timofej hielt Darja fest, die sich fest an ihn lehnte. Ihm war zum Heulen, zum Schreien – am liebsten wäre er sofort zum Haus der verfluchten Bolschakows gerannt um sie zur Verantwortung zu zie-hen. Doch er war neun Jahre alt …

»Was haben die Alten dir alles angetan?«Darja beantwortete diese Frage nicht gleich. Es schien, als müsse

sie in ihrem Inneren einen Anlauf nehmen, um dem Freund ihr Herz auszuschütten. Doch so furchtbar die Wahrheit auch war, sie musste sie aussprechen. Alles in ihr schrie förmlich danach. Ganz langsam brachte sie ihre Lippen ganz nahe an Timofejs Ohr. Sie wisperte kaum vernehmlich, denn diese Wahrheit durfte nicht laut ausge-sprochen werden.

Ihre Worte veränderten etwas in Timofejs Kopf – für immer. Was

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sie ihm beichtete, das war so ungeheuerlich, dass es dem Jungen die Luft zum Atmen raubte. Lange Sekunden rang er mit seiner Lunge, die sich weigerte, ihren Dienst zu verrichten. Schließlich gewann er den Kampf. Darjas Worte hatten ihm die entsetzliche Wahrheit be-richtet, die in der vergangenen Nacht in dem Haus der Alten abge-laufen war.

Timofej wusste nicht viel über das, was sich zwischen Männern und Frauen so abspielte, doch eine Sache hatte ihm Lew eingebläut: Niemals durfte Gewalt dabei im Spiel sein! Am allerwenigsten wenn es um Kinder ging. Lew war Soldat, er hatte getötet, hatte Gewalt gegenüber anderen ausgeübt, doch wenn es um das ging, was sich nur zwischen zwei sich liebenden Menschen geschehen durfte, wie er es in seinen eigenen Worten gesagt hatte, wurde er zum Moralisten. Ge-walt gegenüber Frauen und Mädchen verabscheute der Mann zu-tiefst.

Genau das aber war geschehen …Darja und Timofej standen beide still aneinander gelehnt für lange

Minuten zwischen den zwei Baracken. Dann gab sich der Junge einen Ruck. Eine Entscheidung war in ihm gereift, nein – regelrecht zur Explosion gekommen.

Das Mondfeuer hatte es ihm gesagt. Er musste zu ihm kommen, ir-gendwie. Und wenn er denn tatsächlich so einzigartig auf dieser Welt war, dann würde er das auch irgendwie schaffen. Der Gulag durfte ihn dabei nicht aufhalten.

Doch eine Flucht, die er noch vor wenigen Minuten für undurch-führbar gehalten hatte, konnte nur gelingen, wenn es das Lager ganz einfach nicht mehr gab. Zumindest jedoch mussten die Mensch gewordenen Teufel verschwinden – Stepan und Jekaterina Bolscha-kow.

»Wir fliehen, Dascha. Heute Nacht. Du musst sehen, dass du aus dem Haus verschwinden kannst, dann, wenn der Mond am höchs-ten steht. Schaffst du das?«

Darja zuckte nur mit den Schultern. »Fliehen? Wohin? Wenn wir es wirklich aus dem Gulag schaffen, werden wir jämmerlich erfrie-ren.« Der Gedanke daran ängstigte sie, doch in der Gewalt der Bol-schakows zu bleiben, erschien ihr das noch weitaus schlimmere

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Schicksal zu sein.Timofej drückte das Mädchen an sich. »Mag sein, aber dann erfrie-

ren wir zusammen – und frei.« Und eines war ihm vollkommen klar: Er würde erst dann gehen, wenn er Rache genommen hatte, Rache für seine Mutter, seinen Vater, für die Gewalt die er erduldet hatte – Rache für das, was Darja geschehen war.

Die Nacht kam. Sie brachte Timofej einen schweigsamen Mond, des-sen Feuer den Jungen zwar wärmte, doch stumm blieb. Die Gedan-ken schwirrten durch seinen Kopf. Was er plante, war im Grunde nicht nur bittere Rache zu nehmen, es grenzte auch hart an einen Selbstmord. Dennoch hatte sich den Tag über seine Entschlossenheit nicht verringert. Das, was alle hier zu erdulden hatten – Gefangene, Wachen und die beiden Kinder –, konnte so ja nicht weiterhin Be-stand haben.

Und selbst die winzigste Chance auf ein vielleicht besseres Leben war Antrieb genug für ihn.

Gegen Mitternacht klopfte es zaghaft an seiner Tür. Darja schlüpf-te in das Zimmer.

»Ich sollte Suppe zu den Wächtern am Tor bringen. Die beiden Al-ten denken sicher, ich bin dort aufgehalten worden. Vielleicht be-merken sie es auch überhaupt nicht, wenn ich nicht zurückkomme, denn sie sind beide furchtbar betrunken. Jekaterina hat grässlich ge-schnarcht, als ich das Haus verlassen habe.« Sie schlug beide Hände vor das kleine Gesicht. »Stepan hat mich wieder so seltsam angese-hen … ich gehe nie mehr in das Haus zurück, hörst du, Timofej? Nie wieder! Lieber sterbe ich.« Der Junge tröstete Darja, indem er sie kurz an sich drückte. Sie wurde wieder ruhiger.

Timofej steuerte Darja zu dem einzigen Stuhl, den er besaß. »Setz dich hin. Ich bin gleich so weit.« Erneut kletterte er auf den Tisch und blickte zum Mond hoch, dessen Scheibe nur knapp zur Hälfte angestrahlt war. Früher hatte Timofej oft geglaubt, sein Nachtfreund würde verschwinden, doch irgendwann hatte er begriffen, warum der Erdtrabant nicht immer in seiner vollen Würde erstrahlte.

Einige Minuten ließ er die Wärme noch auf sich einwirken. Dann

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jedoch begriff er, dass er auch heute auf sich allein gestellt bleiben würde. Der Mond schwieg.

Vorsichtig wie immer rückte er den Tisch vom Fenster fort. Er kniete sich vor den Kamin, in dem das Feuer brannte. Links davon lagen die Holzscheite, die noch für viele eiskalte Nächte ausreichen mussten. Timofej griff mit beiden Händen zu, ließ die dünnen Holz-stücke in das Feuer fallen. Es würde keine weitere Nacht für ihn in diesem Zimmer mehr geben.

Was er brauchte, das war ein richtiges lohendes Feuer, das sich gierig alles nehmen würde, was man ihm in den Rachen warf. Alles! Die Hitze, die schon kurz darauf aus dem Kamin kam, war einfach überwältigend. Und nun? Timofej wusste nur zu gut, dass sein Plan große Schwächen hatte. Nicht mehr lange, dann würden die Flam-men nach allem tasten, was sich hier im Raum befand. Aber die, ge-gen die er seine Rachegelüste sandte, waren im Haus, das sich direkt hinter der Kaminwand befand. Würde die Hitze ausreichen, um auch dort durch die morsche Wand zu lecken? Darja war aufge-sprungen und versteckte sich hinter Timofej, der mitten im Raum stand und das Feuer anstarrte.

»Ich habe Angst. Lass uns hier verschwinden, Timofej.«Er nickte. Die Zungen des Feuers suchten bereits nach dem Stuhl,

dem Tisch … dem Lager mit seinen Decken und Fellen. Einen letz-ten Blick warf der Junge auf das noch offenstehende Fenster. Einen kleinen Teil der Mondsichel konnte er noch sehen. Dann wandte er sich zur Tür, schob Darja vor sich her.

»Dummer Junge, was tust du da?«Timofej erstarrte und zuckte herum. Es war die Stimme des Mond-

feuers, die zu ihm sprach.»Du spielst mit Feuer, aber du beherrscht es nicht. Du willst strafen,

aber du kennst den richtigen Weg nicht einmal. Dummes Kind – doch ich werde dir helfen, so wie du mir einmal helfen wirst.«

»Timofej, komm doch.« Darjas Stimme kam drängend von der Tür her, doch Timofej war viel zu tief im Bann des Mondfeuers gefan-gen, um sich jetzt um sie zu kümmern.

»Wie sehr wünschst du dir die Freiheit? Wie sehr den Tod der verhassten Menschen?«

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Timofej beantwortete die Frage stumm – alles in ihm wollte es, wollte fliehen, wollte töten …

»Dann brauchst du keinen brennenden Holzscheit. Dann wirst du selbst das Feuer sein. Und nun geh hinaus, denn deine Peiniger wollen fliehen. Stelle sie – und töte!«

Der Junge hatte keine Ahnung, was sein Nachtfreund damit genau meinte, aber er gehorchte ihm. Ein merkwürdiges Gefühl durchflu-tete ihn, eine Wärme, die sich plötzlich in seinem Körper einnistete. Timofej zögerte keine Sekunde länger, denn die Flammen aus dem Kamin hatten in seinem Zimmer nun nach allem gegriffen, was ih-nen Nahrung anbot.

Er griff Darjas Hand und riss sie mit aus dem kleinen Anbau, des-sen Dach nun schon rot leuchtete. Von irgendwo her hörte Timofej aufgeregte Stimmen, Schreie, die wohl den Wachposten am Tor ge-hörten. Sie mussten den Brand entdeckt haben. Doch was sollten sie dagegen unternehmen? Brandbekämpfung war in diesem Gulag nicht vorgesehen.

Mit wenigen Schritten waren die Kinder vom Anbau weg und um-rundeten das gesamte Haus. Rauch drang unter der Tür hindurch, die zu den Räumen der Bolschakows führte. Timofej erkannte mit einem Blick, wie dumm er wirklich gewesen war. Die Alten, die er hatte treffen wollen, konnten doch ganz einfach ihr Haus verlassen. Wie naiv war Timofej doch an seine Rache herangegangen.

Genau in diesem Augenblick wurde die klapprige Tür aufgesto-ßen und Timofej erkannte die Silhouette von Stepan Bolschakow im Rahmen – eingehüllt von Rauch hustete der Menschenschinder, schien kaum noch Luft zu bekommen. Doch er machte ein, zwei tor-kelnde Schritte nach vorne, um dem Brand hinter sich zu entkom-men. Das entfesselte Feuer im Kamin des Anbaus hatte sich tatsäch-lich durch die Wand gefressen, doch noch hatte es sich nicht genü-gend Nahrung geholt. Noch konnten die Bewohner sich retten.

Noch konnten sie sich retten … Diese Worte hämmerten in Timofejs Kopf. Nein, das durfte nicht sein. Was dann kommen würde, moch-te er sich nicht ausmalen. Einen Augenblick lang fragte sich der Jun-ge, woher er sich das Recht nahm, hier über Leben und Tod zu be-stimmen, doch diese Gedanken waren plötzlich wieder wie wegge-

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wischt. Es gab keinen anderen Weg, vielleicht hatte es nie einen ge-geben. Den Terror hatten die Bolschakows entfacht – nicht er, nicht Darja, nicht die Inhaftierten. Das nahm Timofej als Rechtfertigung und sein Gewissen wehrte sich nicht mehr länger.

Er hatte die Worte des Mondfeuers nicht wirklich verstanden, denn so hatte es noch nie zu ihm gesprochen. Was hatte es gesagt? »Stelle sie … und töte« Timofej war erschrocken über diese Worte. Sie waren so radikal, so endgültig. Sie waren die Aufforderung zum Mord! Als Stepan nun wie ein Betrunkener aus der offenen Tür tor-kelte, da zerbrachen die letzen Schranken in Timofejs Kopf, die aller-letzten Skrupel waren wie dünne Nebelschwaden, die sich verzo-gen.

Er konnte später nicht mehr sagen, was genau mit ihm geschehen war, doch genau in diesem Augenblick veränderte der Junge sich. Er stieß Darja von sich, weil er fürchtete, das Mädchen zu verletzen. Dann hob er seinen rechten Arm, als wolle er auf Stepan Bolscha-kow deuten. Timofej fühlte die sengende Hitze, die sich in seinem Arm sammelte. Dann ließ er ihr freien Lauf.

Der alte Lageraufseher wurde von der Feuerlohe eingehüllt, die sein Enkelsohn im entgegenschleuderte. Stepan schrie entsetzlich auf, doch nur einen Wimpernschlag später brach die menschliche Fackel zusammen, die einmal ein gefürchteter Despot gewesen war. Der Gestank von brennendem Menschenfleisch trieb Timofej die Übelkeit bis hinauf in seinen Hals. Würgend übergab er sich, doch da war nichts in seinem Magen, das er erbrechen konnte.

Er starrte auf seinen Arm, der völlig unverletzt war – nicht die ge-ringste Brandblase war zu erkennen. Jekaterina! Der verhasste Name der Großmutter schoss ihm durch den Kopf. Wo war sie? Die alte Vettel war schlau und hinterlistig. So einfach würde sie Timofej nicht ins Netz gehen. Der Junge sprintete los, ohne sich um Darja zu kümmern, die entsetzt auf das brennende Bündel starrte, das ihr noch vor wenigen Stunden Gewalt angetan hatte. Mitleid gab es nicht in ihr, nur Entsetzen.

Timofej ahnte, wo er Jekaterina finden würde. Hinter dem Haus gab es ein kleines Fenster zu einem Raum, in dem seine Großmutter oft Unmengen an Alkohol zu sich nahm. Beide – Stepan und seine

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Frau – waren seit vielen Jahren Alkoholiker, gar keine Frage, doch während der Alte sich zusammenriss und seine Sucht zumindest so weit kontrollierte, dass er hier seinen Pflichten nachkommen konnte, kannte sie keinerlei Maß. Oft trank sie bis zur Bewusstlosigkeit. Das Teufelszeug, das sie in sich hinein schütteten, bekamen sie von Bau-ern der umliegenden Höfe. Der Fusel nannte sich zwar Wodka, doch was hier überall schwarz gebrannt wurde, hätte man viel eher als verdünntes Gift deklarieren können.

Darja hatte vorhin erwähnt, dass Jekaterina laut geschnarcht hatte, als sie das Haus verlassen hatte. Das bedeutete nichts – das wusste Timofej aus Erfahrung. Seine Großmutter vertrug Unmengen von dem Fusel. Wenn sie ihren ersten Rausch ausgeschlafen hatte, ver-langte ihr Körper meist nach mehr … nach viel mehr. Dann verzog sie sich in dieses Hinterzimmer, denn dort konnte sie ungestört sau-fen. Das klang hart, doch es entsprach den Tatsachen.

Timofej sah sofort, dass das Fenster aufgestoßen worden war. Auch hier drang dichter Rauch aus der Öffnung. Der Junge wartete, doch er wurde nicht lange auf die Folter gespannt. Die Umrisse der Großmutter wurden im Fensterrahmen sichtbar. Sie schien erkannt zu haben, dass sie es bis zur Tür nicht mehr schaffen konnte; die ers-ten Flammen züngelten nun schon aus dem Dachstuhl hervor.

Es blieb ihr nur dieses Fenster, das jedoch recht klein ausfiel. Jeka-terina war alles andere als schlank. Während Gefangene und Wach-mannschaft hungern mussten, war sie von Jahr zu Jahr fetter gewor-den. Timofej hatte schon lange geahnt, wo die besten Stücke der Es-sensrationen abblieben.

Voller Panik drückte die alte Frau ihren Oberkörper durch das of-fene Fenster … und blieb stecken. Ihre Flüche waren grässlich, doch sie halfen ihr keinen Millimeter weiter. Dann erblickte sie ihren En-kel, für den sie nicht einmal die Gefühle empfand, die man einer Küchenschabe angedeihen ließ. Für sie war er stets der Bastard ge-wesen. Ein unnötiges Maul, das man zu stopfen hatte.

Jetzt jedoch sah sie ihn mit ganz anderen Augen. Jetzt war er der letzte Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, ihre allerletzte Rettungsmöglichkeit.

»Timoscha, mein kleiner Liebling …« Die Stimme der Alten klang

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lallend und voller panischer Angst, doch sie riss sich zusammen. Ihr gewaltiger Rausch schien mit jeder weiteren Sekunde zu schwinden, denn die Todesangst gewann die Überhand. »Timoscha, hilf mir. Gib mir deine Hände, los, komm her. Zieh mich hier heraus. Komm, kleiner Schatz, hilf deiner Großmutter.«

Die Situation erschien Timofej so unendlich makaber. Wahrschein-lich hätte er nur abwarten müssen, bis das Feuer hinter der alten Frau Zugriff, doch so lange wollte er nicht warten. Erneut hob er den rechten Arm und ließ dem Mondfeuer seinen freien Lauf. Die-ses Mal jedoch zielte er nicht direkt auf sein Opfer, sondern be-schrieb ein Rechteck um die schreiende Lagerverwalterin herum. Der Fensterrahmen, in dem Jekaterina steckte, flammte unverzüg-lich auf.

Timofej erkannt mit Schrecken, dass er den Anblick genoss, als das Feuer das Monstrum verbrannte, das seine Mutter so sehr gequält hatte. Niemals hätte er vermutet, welche grausame Ader in ihm ver-borgen war. Doch er versuchte erst gar nicht, sich dagegen zu stem-men. Er ließ die befriedigenden Gefühle zu.

Erst als Darja seine Hand nahm, konnte Timofej sich von dem ent-setzlichen Anblick lösen. Er hatte seine Rache bekommen, doch nun wusste auch er nicht so richtig weiter. Mit dem Mädchen lief er zu-rück zur Vorderfront des nun lichterloh brennenden Hauses der Gu-lag-Verwalter. Überall standen die Gefangenen in gebührendem Ab-stand. Die Wachen hatten sich unter sie gemischt. Nur Lew konnte Timofej nirgendwo entdecken.

Plötzlich erklang ein Schrei. »Feuer … die Baracken brennen!«Timofej konnte es sehen. Irgendwie waren die Flammen auf die

erste der Baracken übergesprungen; zwischen den einzelnen Häu-sern gab es nur schmale Zwischenräume, die für das Feuer kein un-überwindliches Hindernis darstellten. Keine 30 Sekunden später brannten bereits vier Gebäude. Die Männer rannten zu ihren Häu-sern, doch keiner machte einen Versuch, in das Innere der Baracken zu gelangen. Wozu auch? Es gab dort nichts, was sie hätten retten wollen. Hinter wem sich das Tor zum Gulag einmal geschlossen hat-te, der besaß nur noch das, was er am Leib trug. Und das war oft nicht einmal einen Brotkrumen wert …

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Es waren die Baracken an sich, die für diese Menschen einen enor-men Wert besaßen – so sehr sie die auch hassten. Denn dort bot sich für sie Schutz vor der unerbittlichen Kälte, die nach ihren Leben zu greifen versuchte. Und nun brannten diese Schutzräume in nur weni-gen Minuten vollkommen nieder. Timofej ahnte, was in den Köpfen der Männer vorging.

Sie mussten weg von hier – alle!Er zog Darja zum Tor. Ein einziger Blick genügte, um ihm zu zei-

gen, dass es verriegelt und verschlossen war. Timofej schalt sich selbst einen Idioten. Es gab nur einen Hauptschlüssel, einen einzi-gen … und den hatte Stepan Bolschakow im Haus versteckt. Nicht einmal die jeweilige Torwache besaß eine Kopie davon. Niemand kam in den Gulag, niemand verließ ihn, wenn Bolschakow das nicht wollte. Als Timofejs Mutter zum ersten Mal verschwunden war, hat-te sie dem Alten den Schlüssel gestohlen – bei ihrer Rückkehr hatte sie dafür hart büßen müssen.

Dieser Schlüssel, der den einzigen Weg in die Freiheit geebnet hät-te, lag jetzt irgendwo im brennenden Haus. Timofej senkte den Kopf. Wie dumm war er nur vorgegangen? Wie planlos? Letztend-lich war er dann doch nur ein neunjähriges Kind, das sich der Trag-weite seines Handelns nicht bewusst gewesen war.

Darja zupfte an Timofejs Jacke. »Der Lastwagen. Wir müssen da-mit durch das Tor fahren.«

Timofej blickte zu dem uralten Kastenwagen, der aus den Bestän-den der Sowjetarmee ausgemustert worden war. Es gab im Gulag nur dieses eine Fahrzeug, das die einzige Verbindung zur Außen-welt war. Bei den hier herrschenden Temperaturen hatte der alte Dieselmotor allerdings so seine Probleme, zudem begann der Kraft-stoff bei mehr als 23 Minusgraden zu flocken. Also hatte einer der Gefangenen die Aufgabe, den LKW startklar zu halten. Das ging oft nur, indem man ein Feuer unter dem Wagen entzündete.

Timofej schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fahren. Die Bolscha-kows haben mir immer streng verboten, mich dem Wagen auch nur zu nähern. Ich kann es also ganz einfach nicht.«

Ehe Darja darauf antworten konnte, klang hinter ihnen eine tief Stimme auf.

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»Aber ich kann fahren.«Die Kinder zuckten zusammen. Es war Lew, der sich ihnen unbe-

merkt genähert hatte. »Also los, worauf wartet ihr noch. Schnell in den Wagen, ehe die anderen die gleiche Idee haben.«

So rasch sie nur konnten, enterten sie den Kastenwagen. Lew setz-te sich hinter das Steuer und drückte Timofej seine Maschinenpisto-le in die Hand. »Wenn uns jemand zu nahe kommt, dann schieß. Ir-gendwelche Skrupel solltest du besser vergessen, denn die Gefange-nen werden uns gegenüber sicherlich keine haben. Also – pass gut auf …«

Lew drehte den Schlüssel in der Zündung herum. Dann zog er den Hebel zum Vorglühen des Motors. Es dauerte unendlich lange, ehe er den ersten Zündversuch starten konnte. Der Motor drehte kurz, dann soff er wieder ab. Lew warf einen Blick über seine Schulter. Noch hatte niemand bemerkt, was hier geschah. Der zweite Versuch endete ebenfalls recht kläglich. Doch nun wurden bei den Baracken Schreie laut, die dem LKW galten.

Die Zeit wurde nun knapp. Timofej fragte sich, ob er überhaupt fä-hig war, diese Schusswaffe zu bedienen. Es war das erste Mal, dass er eine MP in den Händen hielt. Die ersten Gefangenen – und Mit-glieder der Wachmannschaft – rannten los, direkt auf den Kasten-wagen zu. Darja hatte den Kopf weit nach unten gebeugt. Die Angst schien das Mädchen nun zu übermannen.

Lew fluchte. Dann versuchte er den altersschwachen Motor zu be-schwören. »Komm schon, spring an … nun mach schon. Du bist die Kälte doch gewöhnt. Komm, hilf uns.«

Erneut zündete er und tatsächlich erwachte der Motor zum Leben. Dickflüssig quälte sich der Diesel durch seine Schläuche, wollte am liebsten wieder zur Ruhe kommen, doch der Motor lief! Lew schlug triumphierend auf das eiserne Lenkrad.

»Festhalten, ihr zwei. Jetzt wird es ungemütlich.«Der ehemalige Soldat drückte das Gaspedal durch, doch der Wa-

gen reagierte nur zögerlich und unwillig. Letztlich aber konnte er sich nicht gegen die brutale Behandlung zur Wehr setzen, die Lew ihm zuteil werden ließ. In einem Halbbogen nahm das Gefährt Tem-po auf, bis es geradeaus auf das große Tor zuraste. Lew war nicht so

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vermessen zu glauben, er könne mit dem klapprigen Ding direkt durch das Tor rasen. Er hielt mit dem LKW links daneben auf den Stacheldrahtzaun zu, der keinen so großen Widerstand erwarten ließ.

Es gab im Inneren des Kastenwagens einen großen Knall, als die Frontpartie des altersschwachen Fahrzeugs den Zaun einfach so sprengte. Die Kinder schrien auf, doch dann lenkte Lew schlingernd auf die unbefestigte Straße zu, die grob in Richtung Ulan Bator führ-te. Darja schmiegte sich voller Angst und Unsicherheit an Timofej. Der Junge drehte sich um. Durch die rückwärtige Scheibe des Fahr-zeugs konnte er die lodernden Flammen sehen, die bis zum Nacht-himmel hinauf zu leuchten schienen.

Der Gulag lag hinter ihm.In seiner Kehle schien ein Korken zu stecken, denn er bekam in

diesen Augenblicken kaum Luft. Noch nie in seinem jungen Leben hatte er den Gulag verlassen. Und trotz allen Hasses auf das, was da hinter ihm in der Dunkelheit immer kleiner und kleiner wurde, zit-terten ihm vor lauter Angst die Knie.

Freiheit? Er kannte sie nicht – wie also sollte er damit nur umge-hen?

Lew fand als erster seine Sprache zurück.»Der Tank ist voll. Wir fahren direkt durch nach Ulan Bator. Dort

werden wir dann weitersehen. Ich kenne da noch ein paar Leute aus meiner Soldatenzeit.«

Darjas dünne Stimme klang dazwischen. »Was wird nun aus den Gefangenen? Und den Wachen?« Timofej gestand sich ein, dass er daran bis zu dieser Sekunde noch nicht gedacht hatte.

Lew winkte ab. »Keine Sorge. Die werden sich in die umliegenden Dörfer und Höfe absetzen. Dort wird man ihnen sicher helfen. Zu-dem … die Gefangenen werden sicher nicht warten, bis die Armee hier einläuft. Ganz bestimmt nicht.« Lew lachte kurz humorlos auf. »Viele der Wachleute werden sich ebenfalls absetzen. Ich denke, die-ser verfluchte Gulag ist nun nur noch Geschichte.«

Danach schwiegen alle für eine lange Zeit.Ulan Bator war für Timofej nur ein Name. Ob er dort seine Mutter

finden konnte?

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Die Fahrt dauerte die ganze Nacht lang. Es waren ja nur 80 km bis zur Hauptstadt der Mongolei, doch der alte Wagen ließ einfach kei-ne schnellere Fahrweise zu.

Irgendwann übermannte Timofej die Müdigkeit. Mit der linken Hand umklammerte er seinen rechten Arm. War es denn wirklich das Mondfeuer gewesen, das ihm diese Macht verliehen hatte? Jetzt fühlte sich der Arm wieder kühl an wie eh und je.

Als Timofej endlich einschlief, hörte er noch das leise Schnarchen Darjas, deren Kopf an seiner Schulter lag.

Ulan Bator war 1969 bereits eine Großstadt – nach den damals gel-tenden Standards.

Nichtsdestotrotz zogen hier ansässige Familien in den Sommermo-naten aufs Land, um dort das traditionelle Nomadenleben zu füh-ren. In den Wintermonaten jedoch zog es alle zurück in die Stadt.

Für Darja und Timofej war das hier, als hätte man sie in einen Bie-nenstock gesetzt, nachdem sie zuvor wie Einsiedler gehaust hatten. All diese Eindrücke waren viel zu viel für beide. Sie kamen bei alten Freunden von Lew unter, wie er sich ausdrückte. In Timofejs Augen war das dreistöckige Haus, in dem sie unter dem Dach einen Raum zugeteilt bekommen hatten, wohl eher eine Räuberhöhle, denn Lews alte Freunde waren ein wenig so wie die 40 Räuber aus dem Märchen, das seine Mutter ihm früher vorgelesen hatte. Die Kinder versuchten das alles hier zu ignorieren, zumal sie von diesen etwas merkwürdigen Burschen ausgezeichnet versorgt wurden.

So gut und viel hatten beide Kinder zuvor noch nie zu Essen be-kommen. Und der Bollerofen, der in ihrem Zimmer stand, bekam immer genügend Futter, um für eine wohlige Wärme zu sorgen. Es ging ihnen also gut, doch Timofej sah einfach keine Perspektive. Er wollte seine Mutter suchen, doch wie sollte ihm das in dieser riesi-gen Stadt gelingen? Lew hatte ihm bestätigt, wie schwierig, ja beina-he unmöglich das werden konnte.

Wenn seine Mutter wirklich noch in einem der unzähligen Freu-denhäuser arbeitete und lebte, dann sicher nicht unter ihrem richti-gen Namen. Die Chance, sie zu finden, war verschwindend gering.

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An einem Abend brachte Lew eine Zeitung mit. Auch das gehörte zu den Dingen, die Timofej erst einmal realisieren musste – auch wenn sie ihm wie in diesem Fall nicht sehr nutzen konnten. Er konn-te ja nicht lesen. Darja hingegen schon, denn ihr Vater hatte sie un-terrichtet.

Auf einer der letzten Seiten dieser Zeitung, die natürlich ein Zen-tralorgan der herrschenden Partei war, entdeckte Timofej ein Bild vom Mond. Seit sie in Ulan Bator angekommen waren, hatte das Mondfeuer geschwiegen. Hier nahm es nicht einmal den wärmen-den Kontakt zu ihm auf.

Timofej bat Darja, ihm vorzulesen, was unter dem Bild zu lesen war. Es waren nur ein paar Zeilen, die äußerst sachlich, ja, kühl ab-gefasst waren. Es kam Timofej vor, als hätte man diese Nachricht nur äußerst ungern in die Zeitung aufgenommen.

Für Juli und November dieses Jahres hat die US-Raumbehörde NASA den Flug zweier Raumschiffe zum Mond angekündigt. Beide sollen auf dem Mond landen und unversehrt zur Erde zurückkehren. Wie uns aus Kreisen der WKS versichert wurde, ist dies technisch unmöglich durch-führbar, und somit eine weitere Falschmeldung, die vom Klassenfeind aus-gestreut worden ist.

Timofej war wie erstarrt. Sie kommen zu mir … holen mich. Die Wor-te des Mondfeuers hallten in ihm nach. Er hatte nicht verstanden, was sein Nachtfreund ihm damit hatte sagen wollen. Wer sollte ihn holen? Vom Mond herab zur Erde? Das war für den an harte Reali-tät gewöhnten Jungen reine Phantasterei. Nun begann er zu zwei-feln. Er fragte Lew. Der Soldat wiegte seinen Kopf hin und her.

»Ach ja, das ist eine verrückte Zeit, in der wir leben. Da streiten sich zwei große Mächte darum, wer es als Erster auf diesen toten Klumpen am Himmel schafft. Sie werfen unglaubliche Summen da-für aus dem Fenster. Ich habe Mütterchen Russland eigentlich immer für vernünftiger gehalten, aber es will einfach nicht Verlierer sein.«

Und so erfuhr Timofej durch den schlauen Lew, was die Welt 1969 bewegte. Der Wettlauf zum Mond, den nun anscheinend die Ameri-kaner für sich entscheiden wollten.

Amerika … Timofej kannte nun sein wahres Ziel. Wenn diese Ame-rikaner tatsächlich Menschen auf den Erdtrabanten brachten, dann

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würden sie ganz sicherlich etwas von dort zurück zur Erde bringen.Das Mondfeuer! War es denn nicht genau das, was es Timofej pro-

phezeit hatte?»Lew, ich muss nach Amerika. Kannst du mich dort hin bringen?

Jetzt?«Der kräftige Mann bekam einen regelrechten Lachanfall. Es dauer-

te einige Minuten, ehe er dem Jungen eine vernünftige Auskunft ge-ben konnte. Es dauerte eine gute Stunde, bis er damit fertig war. Darja und Timofej hatten an seinen Lippen gehangen. Es war im Grunde zuviel an Information, die auf diese Kinder einprasselte, die von Geschichte und Politik nicht viel oder gar nichts wussten.

Doch nun wusste Timofej, dass er die Prophezeiung des Mondfeu-ers nicht so einfach erfüllen können würde. Die UdSSR verlassen – einfach so, weil man in die USA wollte … das war 1969 ein nahezu unmögliches Unterfangen. Erst recht für ein neunjähriges Kind, des-sen Eltern nicht aufzufinden waren.

In der folgenden Nacht gab es erneut keinen Schlaf für Timofej.Das lag nicht am Mondfeuer, das nach wie vor schwieg, nicht an

Angst oder Kälte. Es war der Verstand des Jungen, der ganz einfach nicht zur Ruhe kam. Wie auch immer – er musste in diese USA … oder wie man das Land nannte. Wie weit es auch entfernt sein mochte, wie schwierig oder beinahe unmöglich eine Ausreise dort-hin auch war, es änderte nichts an der Tatsache, dass Timofej sein Ziel erreichen musste.

Wenn das Mondfeuer tatsächlich zur Erde kam, dann wollte er es hier begrüßen.

Wie weit sein Weg schlussendlich sein würde, wie viel Zeit verge-hen sollte, das konnte der Junge nicht ahnen.

Als die Sonne über Ulan Bator aufging, da lag er noch immer mit weit geöffneten Augen in seinem Bett …

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2. Oceanus Procellarum

Ich wandre durch die Stille Nachtda schleicht der Mond so heimlich sacht

oft aus der dunklen WolkenhülleJoseph von Eichendorff

Frankreich, Herbst 2009

Sie hielten ihn für einen Narren.Für einen, der seine eigenen Grenzen nicht erkannte, der sich für

etwas hielt, das er niemals sein würde. In seinem Clan nannte man ihn spöttisch den Nachtprinz denn so führte er sich auf, wenn er auf Beutezug war. Dazu hatte er sich einen nahezu unaussprechlichen Künstlernamen zugelegt, denn für ihn war das Dasein als Vampir eine Kunstform – und er war die Krönung der Schöpfung.

Sie lachten ihn aus.Sollten sie nur. Heute würde er ihnen beweisen, wie groß und

mächtig er wirklich war. Er würde ein Event abhalten, ein deutli-ches Signal setzen, das ihn für alle Zeiten zu einem der größten sei-ner Art machen würde.

Er würde Professor Zamorra töten.Das Château des so sehr gefürchteten und verhassten Meisters des

Übersinnlichen lag in der Dunkelheit vor ihm. Jeder Vampir, der sei-ne unheilige Existenz bewahren wollte, machte einen riesigen Bogen um diesen Ort in Frankreich; das Loire-Tal war eine Tabuzone, gar keine Frage.

Doch Pessolt – so lautete sein richtiger, ihm um einiges zu un-scheinbar wirkender Name – hielt all die Geschichten um Zamorra und sein Team für weit übertrieben. Natürlich wusste er von der weißmagischen Schutzkuppel, die um das Anwesen von Château Montagne existierte, doch wenn man dem Glauben schenkte, was so

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allgemein erzählt wurde – und nicht alles davon war reiner Tratsch – so gab es zumindest einen Vampir, der diese Abwehrkuppel leicht durchdringen konnte: Dalius Laertes. Wenn ihm das gelungen war, warum nicht auch Pessolt?

Er hielt es für besonders schlau, sich von hinten an das Anwesen anzuschleichen. Ohne irgendein Problem passierte er ein Tor, das der nordöstliche Eingang zum Gelände war. Die Finsternis machte Pessolt nichts aus, denn er konnte problemlos im Dunkeln sehen. Zwischen ihm und dem Hauptgebäude befand sich ein ausladender Pool. Pessolt rümpfte angewidert die Nase. Offene Wasserflächen mochte er nicht. Also verließ er den vorgegebenen Weg und schlich sich, einen Bogen um das Wasser schlagend, an die Terrasse heran, die zum Gebäude führte.

Weißmagische Abwehr? Pessolt hatte ja geahnt, dass dies alles weit übertrieben dargestellt worden war. Im Gebäude war es still. Mitternacht war lange vorbei, also würde dieser Zamorra sicher friedlich und ahnungslos in seinem Bett liegen. Es würde kein Erwa-chen mehr für ihn geben, dafür wollte Pessolt nun sorgen. Was für eine Tat! Der Ruhm war ihm gewiss – und niemand würde mehr über ihn lachen.

Irgendwie kam ihm das hier alles eine Spur zu einfach vor, zu leicht … doch jetzt gab es kein Zurück mehr für ihn. Er wollte diese Chance beim Schopfe fassen. Kaum zu glauben, wie leichtsinnig die-ser Zamorra doch war.

»Eine wirklich schöne Nacht, nicht wahr?«Die Stimme erklang hinter Pessolts Rücken und der Vampir er-

starrte zur Salzsäule. Nur langsam, wie in Zeitlupe, wandte er sich um. Die Stimme gehörte einem Mann, der wie ein Mittzwanziger wirkte. Er war schlank, regelrecht schlaksig in seiner Figur. Seine blonden Haare schienen schon viele Tage lang ohne Kamm und Bürste auszukommen. Sein Grinsen war unverschämt und unglaub-lich jugendlich. Nur seine Augen verrieten, dass er viel älter war, als es den Anschein hatte. Sehr viel älter.

Pessolt gelang es nur langsam, sich aus seiner Lähmung zu lösen. Was geschah hier? Eine Falle?

»Was verschafft uns denn die Ehre deines Besuches, Langzahn?«

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Noch immer sprach der Bursche mit freundlicher Stimme. Pessolt war auf der Hut.

»Dein Tod, Zamorra, deshalb bin ich hier.« Der Vampir machte einen raschen Schritt nach vorne, denn er wollte das jetzt rasch hin-ter sich bringen. Seine Arme griffen allerdings ins Leere. Der Mann vor ihm war verschwunden. Dann tippte ihm jemand auf die Schul-ter. Pessolt schrie auf und sprang instinktiv nach vorne. Dabei verlor er die Kontrolle über seinen Körper und fiel ungeschickt auf den Bo-den der Terrasse. Entsetzt blickte er zu dem Blonden, der grinsend über ihm stand.

»Immer mit der Ruhe, alter Freund.« Pessolt sah sich plötzlich in höchster Not, doch eine Antwort wollte ihm auch nicht über die Lippen kommen. Wie hatte der Kerl es geschafft, so plötzlich hinter ihm aufzutauchen? Der Blonde drohte ihm mit dem Zeigefinger, wie man einem Kind droht, das Bonbons gemopst hatte.

»Zunächst einmal muss ich dich leider enttäuschen. Ich bin nicht Professor Zamorra. Der schläft ruhig und fest in seinem Bett und hat schöne Träume, wie ich hoffe. Weißt du – ich bin hier nur zu Gast und habe einen extrem unruhigen Schlaf. Und als er gespürt habe, wie du um das Château herumgekrochen bist, da habe ich mir ge-dacht: Warum sollst du ihn da draußen jagen, wenn er doch so ger-ne direkt hierher kommen möchte? Also habe ich einen kleinen Teil der magischen Abschirmung entfernt, durch die du Witzfigur an-sonsten niemals gekommen wärst. So, und nun bist du ja da. Du wolltest also meinen alten Freund den Professor umbringen?«

Pessolt war nun völlig verwirrt. Wenn das nicht Zamorra war … wer dann?

Der Blonde klärte ihn auf. »Ach ja, vorgestellt habe ich mich ja noch überhaupt nicht bei dir. Wie konnte ich das vergessen?« In ge-spielter Entrüstung über seinen Fauxpas schüttelte er heftig den Kopf. »Vielleicht sagt dir mein Name ja etwas – ich bin da sogar ziemlich sicher. Man nennt mich allgemein Gryf ap Llandrysgryf, meines Zeichens Silbermonddruide und bekannt, berühmt und be-rüchtigt als Vampirtöter.«

Pessolts Haare standen zu Berge. Gryf ap Llandrysgryf … dieser Name stand für den Alptraum eines jeden Vampirs. Der Druide war

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der härteste Jäger, der zäheste und erbarmungsloseste von allen. Zahllose Kinder der Nacht hatte er gepfählt und geköpft. Selbst die Großen unter den Blutsaugern – Sarkana, der Vampirdämon, oder Tan Morano waren ihm stets aus dem Weg gegangen. Und ausge-rechnet auf ihn war Pessolt nun gestoßen.

Es gab nun nur noch eine Chance für ihn – Flucht!Doch bevor er auch nur einen Versuch unternehmen konnte, pack-

te ihn der Druide bei den Schultern und hob ihn scheinbar spiele-risch in die Höhe. Mit einem Ruck schleuderte Gryf den Vampir an den Rand des Pools. Ehe Pessolt sich aufrappeln konnte, war sein Gegner auch schon bei ihm.

»Wasser magst du nicht, richtig? Das mögt ihr alle nicht beson-ders, aber keine Sorge, ich werde den Pool sicher nicht mit einem Stück Dreck wir dir verunreinigen. Komm, wir spielen draußen wei-ter.«

Gryf schnappte sich den vollkommen überrumpelten Vampir und machte einen zeitlosen Sprung, der beide gut 500 Meter außerhalb des Château-Geländes brachte. Pessolt versuchte sofort auf allen vieren das Weite zu suchen, aber der Silbermonddruide war ohne Erbarmen.

»Wohin des Weges, alter Knabe? Schön hier geblieben. Schau mal, was ich Feines für dich habe, Blutsauger.«

Mit weit aufgerissenen Augen erkannte Pessolt, was sein Feind in der rechten Hand hielt. Es war ein Holzpflock – recht dünn und nicht sonderlich lang, doch er war vollkommen ausreichend für das, was seine Aufgabe war. Vorne war er spitz wie eine Nadel.

Pessolt spürte, dass er nur noch eine Chance hatte, wenn er selbst zum Angriff überging. Im Angesicht seiner Vernichtung schüttelte er Angst und Starre von sich ab. Mit einem heftigen Satz nach vorne wollte er den Druiden überraschen und ihm seine Zähne in den Hals bohren. Er schaffte es nicht, denn ansatzlos hatte Gryf zugesto-chen. Der Pflock drang in den Vampirkörper ein und landete punkt-genau in dessen Herz. Kraftlos und ohne Leben sank der Blutsauger zu Boden. Einen Moment betrachtete der blonde Mann den gepfähl-ten Vampir, dann griff er nach hinten an seinen breiten Gürtel, in dem die Machete steckte.

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Die Klinge vollführte ihre Arbeit perfekt. Gryf ap Llandrysgryf trat zwei Schritte zurück, dann löste sich der Körper des untoten Blut-saugers in stinkenden Rauch auf. Ohne Eile erneuerte Gryf die weiß-magischen Abwehrzeichen, die er vorhin entfernt hatte. Dann mach-te er sich auf den Weg zurück zur Terrasse.

Er war verblüfft, als Professor Zamorra dort auf ihn wartete. Der Parapsychologe sah müde aus – was kein Wunder war, wenn man aus dem schönsten Schlaf gerissen wurde.

»Was war los, Gryf? Ich bin aufgewacht, weil ich von hier Lärm gehört hatte.«

Der Druide schüttelte nur den Kopf. »Nichts, gar nichts … nur ein Stück Dreck, das ich für dich entsorgt habe. Du solltest dich wieder hinlegen.« Gryf war besorgt um seinen alten Freund. Zamorra be-fand sich zur Zeit nicht unbedingt in der besten Phase seines Le-bens. Die Umstrukturierung in der Hölle machte ihm zu schaffen – und sicher nicht nur ihm. Dann hing ihm noch immer die körperli-che Anstrengung nach, zu der er als Gefangener der Herrscher über die weißen Städte verdammt gewesen war. Zu allem Übel kriselte es auch noch in der Beziehung zwischen dem Parapsychologen und Nicole Duval.

Letzteres begriff Gryf absolut nicht. Zamorra und Nicole – das war für den Druiden eine untrennbare Einheit, wie er sie so perfekt und endgültig zuvor noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es klang wie eine Phrase, aber … die beiden gehörten ganz einfach zueinan-der. Absolut keine Frage. Was da plötzlich zwischen ihnen war – oder eben nicht mehr war – konnte Gryf nicht verstehen. Und Pro-fessor Zamorra konnte dem Freund auch keine logische Erklärung liefern.

An diesem Abend war Nicole bei einer Freundin in Paris – über-nachtete dort auch logischerweise. Da war dem Professor der Be-such des Silbermonddruiden sehr willkommen gewesen. Mit ihm konnte er reden, wie mit kaum einem anderen. Doch zu einem Er-gebnis waren die beiden dabei auch nicht gekommen.

Zamorra tippte sich an den eigenen Kopf. »Ach weißt du, mit dem Schlafen habe ich es im Moment nicht so richtig. Da oben dreht sich viel zu viel hin und her. Vielleicht täte mal wieder eine Abwechse-

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lung gut.«Gryf glaubte sich verhört zu haben. Der Mann wollte Abwechs-

lung? Er, der ständiger Gast in den Schwefelklüften war, der von Planet zu Planet hüpfte … der sich vor Bedrohungen und Feinden wirklich nicht mehr retten konnte. Und nun wollte er Abwechslung? Darauf fiel selbst dem sonst nie um einen Spruch verlegenen Gryf nichts mehr ein.

Als der Silbermonddruide sich am nächsten Morgen aus seinem Bett schälte, da war es … bereits früher Nachmittag. So sehr konnte man sich irren, doch Gryf machte sich nichts daraus, denn auf ihn wartete keine sonderlich dringende Aufgabe. Er hatte Zeit – und wenn dem einmal nicht so war, dann stahl er sie sich ganz einfach.

Zumindest war er freudig überrascht, dass er keinen trübsinnigen Zamorra antraf, sondern einen, der in den Archiven seines Rechners forschte, während er nahezu gleichzeitig auf einem anderen Com-puter das Internet zu durchwühlen schien. Er begrüßte den Freund mit einer Handbewegung, die ihn aufforderte sich zu setzen.

Zwei oder drei Minuten lang war Zamorra nicht ansprechbar, dann lehnte er sich in seinem Arbeitssessel zurück und blickte Gryf an.

»Was habe ich vergangene Nacht von einer Abwechslung gesagt? Manchmal sollte man Wünsche nicht aussprechen, die könnten sonst womöglich schnell wahr werden. Heute in aller Frühe hat sich Robert Tendyke bei mir gemeldet. Er hat einen neuen Chef für die geologische Abteilung von Tendyke Industries eingestellt – einen be-sonders regen Burschen, wie es aussieht. Offenbar interessiert er sich ganz besonders für die geologische Beschaffenheit des Mondes. Er ist überzeugt, dass die NASA bei ihren Mondlandungen eher schlampig gearbeitet hat.«

Gryf zog die Augenbrauen in die Höhe. »Der Erdmond? Was soll es denn da noch zu erforschen geben? Soweit ich das weiß, interes-siert sich kein Mensch mehr wirklich für den toten Brocken da oben.«

Zamorra konnte ihm nur beipflichten. »Das dachte ich auch, aber es scheint so nicht ganz zu stimmen. Die NASA – und natürlich auch die damalige UdSSR mit ihren unbemannten Landungen – ha-

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ben ziemlich schnell bemerkt, dass es dort keine nennenswerten Rohstoffe gibt. Wäre das anders gewesen, dann hätte es einen regel-rechten Kampf um den Mond gegeben, da bin ich sicher. Ich habe im Netz nachgeforscht und in meinem eigenen Archiv, das ja auch nicht zu verachten ist, wie du weißt. Aber ich konnte keinen Grund erkennen, warum man den Mond noch einmal untersuchen sollte. Dieser neue Mann bei Tendyke Industries sieht das aber wohl grund-legend anders.«

»Und weiter?« Gryf verstand den Zusammenhang noch nicht so ganz.

»Er möchte den alten Mond besuchen. Was wäre da geeigneter als der Spider? Als Spitzenmann bei Tendyke Industries ist der Neue zwar eingeweiht in Sachen des Meegh-Raumers, aber Robert will mich dennoch dabei haben.«

… und dich ablenken … das alte Schlitzohr. Gryf sprach seine Gedan-ken nicht aus. Vielleicht hatte Tendyke sich gedacht, eine räumliche Trennung würde Nicole und dem Professor sicher ganz gut tun.

»Und nun machst du dich auf den Weg nach Texas, richtig?«Zamorra nickte. »Ja, es ist vielleicht keine üble Idee, mal ein paar

Tage aus dem Château zu entkommen. Es wird ja auch nicht lange dauern, denn der Mond liegt für den Spider ja direkt vor der Haus-tür. Wirklich keine Entfernung über die man bei dem Meegh-Schiff nachdenken müsste.«

»Soll ich dich mit dem zeitlosen Sprung zu Robert bringen?« Doch Zamorra winkte dankend ab.

»Ich mache den Weg durch die Regenbogenblumen. Es sei denn, du möchtest mich begleiten?«

Gryf schüttelte den Kopf. »Auf den alten Knödel da oben am Him-mel? Für nichts auf der Welt. Was soll ich denn da? Keine hübschen Mondmädchen in Aussicht, keine Vampire an Bord … nein, das ist nichts für mich. Du kennst mich, Zamorra.«

Die beiden verabschiedeten sich kurz darauf herzlich voneinan-der.

Zamorra wollte nicht warten, bis Nicole aus Paris zurückkam. Er legte heute keinen Wert darauf, sie zu sehen. Dieser Gedanke mach-te ihm Angst. Sollte das die Zukunft ihrer Beziehung sein? Nein, so

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wollte Zamorra nicht leben. Da musste es eine andere Möglichkeit geben.

Zamorra war sich im Klaren, dass das, was er eine gute Stunde später tat, so etwas wie eine Flucht war. Er war Robert für diese Möglichkeit wirklich dankbar.

Die ganze Mission würde kaum länger als zwei oder drei Tage dauern und, wie Gryf richtig vermutet hatte, schlicht und ergreifend stinklangweilig ablaufen. Für Geologen mochte das Buddeln nach alten Steinen eine aufregende Sache sein – für alle anderen Men-schen eher nicht.

Doch genau das brauchte der Parapsychologe jetzt. Ein paar geord-nete Tage. Mit langweiligen Typen … und rein gar keiner Aufregung …

Darauf freute er sich regelrecht.

Hauptsitz Tendyke Industries, Herbst 2009

»Doktor Timo Lew, bitte in den Besprechungsraum IV, Doktor Timo Lew …«

Unwillig speicherte Timo die Datei ab, die er nicht einmal zur Hälfte fertig geschrieben hatte. Er hasste solche Störungen, doch in diesem Fall war das eine ganz andere Sache. Er stand so nahe vor seinem Ziel. So nahe … Er fuhr den Computer herunter, schaltete die Tischlampe aus.

Besprechungsraum IV – für ihn klang das wie die Erfüllung all sei-ner Träume, denn in diesem Besprechungszimmer würde er die Crew kennen lernen, die ihn zum Ort seiner Träume bringen würde.

Zum Mond.Seit er ein Kind in der Mongolei war, hatte er davon geträumt, sei-

nen Nachtfreund zu besuchen. Doch wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann fürchtete er sich jetzt auch davor. Das hatte einen ganz speziellen Grund, doch an den wollte er jetzt nicht denken. Es würde alles gut werden, endlich gut.

Timo orientierte sich auf dem Gang. Er war noch nicht sehr lange

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bei Tendyke Industries, doch die Abmessungen der Zentrale – speziell des Teils, der unterirdisch angelegt worden war – beeindruckte ihn immer wieder. Es waren einige Meter, die er nun hinter sich bringen musste, möglichst ohne sich zu verlaufen, was hier problemlos pas-sieren konnte.

Also Zeit genug um die Gedanken in die Vergangenheit abschwei-fen zu lassen.

Die Nacht ohne Schlaf war ihm noch sehr präsent, auch wenn seit-her 40 Jahre vergangen waren. Timofej fühlte sich an dem folgenden Morgen wie gerädert, doch das ließ er sich gegenüber Darja und Lew nicht anmerken. Wie immer war es am frühen Morgen in dem Haus sehr still. Die Typen, die hier wohnten, machten die Nacht zum Tag. Timofej konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was man so in der Nacht machen konnte. Er fragte Lew, doch der grinste sei-nen jungen Freund nur an.

Was hätte er den Kindern erzählen sollen? Das es am Ende der Sechziger Jahre hier in Ulan Bator – wie überall auf der Welt – Ban-denkriminalität gab? Und dass er durchaus seine alten Beziehungen zu diesen Leuten hatte? Sollte er ihnen sagen, dass in diesem Haus, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, der harte Kern einer die-ser Banden hauste? Lew fand, die Kinder hätten schon genug durch-gemacht. Er konnte ja nicht ahnen, wie rasch die Realität die beiden einholen sollte.

Darja stand am Fenster, wie sie es in den vergangenen Tagen oft getan hatte. Sie war noch immer vollkommen verwirrt, denn was sie im Gulag alles hatte erdulden müssen, ließ sie ganz einfach nicht los. Dazu kam die Flucht, auf der sie Todesängste ausgestanden hat-te. Der Blick aus dem Dachfenster über die Häuser von Ulan Bator schien sie ein wenig zu beruhigen. Hier ganz einfach nur zu stehen, wurde ihr nie langweilig. Wenn sie ein wenig nach links blickte, konnte sie eine der breitesten Straßen der Stadt sehen, auf der nie-mals Ruhe einzukehren schien.

Plötzlich richtete sich Darja kerzengerade auf.»Timoscha, Lew, schnell, kommt her. Was geschieht da?«Lew war sofort bei Darja. Was er da sah, erschreckte ihn tief. Über

die breite Straße kam ein Dutzend Fahrzeuge auf das Haus zu. Alle

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waren vom gleichen Typ und im gleichen hässlichen Braunton la-ckiert. Lew wusste sofort, was hier ablief. Razzia! Und er kannte den Grund, denn seine Freunde hatten in der vergangenen Nacht einen Beutezug durchgeführt, der vielleicht eine Nummer zu groß, zu un-verschämt gewesen war, vor allem zu schlecht geplant. Lew kannte die Polizei von Ulan Bator – die waren alles andere als zimperlich in ihren Methoden. So wenig, wie Lews Freunde, denen der alte Soldat auch nicht viel weiter traute, als seine Nasenspitze lang war.

Das konnte gefährlich werden – lebensgefährlich. Auch für ihn und die Kinder.

In dem Augenblick, da der erste Polizist mit schwerer Bewaffnung aus seinem Wagen sprang, der keine zehn Schritte von Haus ent-fernt zum Stehen gekommen war, brandeten unten im Haus laute Schreie auf. Die Männer hatten erkannt, was auf sie zu kam. Lew zog Darja zu Boden, doch Timofej blieb geduckt am Fenster stehen, so dass er das Geschehen gerade noch sehen konnte.

Die ersten Schüsse kamen aus dem Haus. Im nächsten Moment lag ein Beamter in seinem eigenen Blut am Boden. Die Polizei erwiderte das Feuer mit ihren MPs. Schüsse klatschten gegen die Hauswand und schwirrten als Querschläger durch die Luft. Timofej ging in die Knie und starrte Lew an.

»Was sollen wir jetzt tun? Wenn sie uns nun festnehmen …«Lew fürchtete viel Schlimmeres als nur das, doch er schwieg. Sein

Blick ging zur Zimmerdecke. Über ihnen war nur das Flachdach. Ihre einzige Chance, dem Chaos zu entkommen, das nun seinen Lauf nahm. Lew nahm die Kinder bei den Händen. Seine Stimme war nun intensiv und bestimmend.

»Hört mir genau zu. Die Polizei wird gleich das Haus stürmen. Wir warten, bis sie alle im Gebäude sind, zumindest fast alle, denn ein paar Wachen lassen sie sicher draußen, doch die haben bestimmt keine Zeit, sich auf das Dach zu konzentrieren. Dann klettern wir durch die Deckenluke auf das Dach. Rechts am Rand ist eine Eisen-leiter montiert. Ihr klettert hinunter – dreht euch nicht um, schaut nicht nach oben zurück. Wenn ihr unten seid, dann lauft zur Hinter-seite des Hauses, denn dort geht eine schmale Gasse ab. Und dann rennt, ganz gleich, was immer ihr hört oder seht. Habt ihr mich ver-

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standen?«Die Kinder nickten verstört. Ja, sie hatten verstanden. Darja sprach

ihre Gedanken aus. »Und du?«Lew versuchte ein ermutigendes Lächeln, das jedoch nicht richtig

gelang. »Ich folge euch. Wenn wir uns verlieren, dann treffen wir uns heute nach Sonnenuntergang bei unserem LKW. Ihr wisst doch noch, wo wir den abgestellt haben?« Erneut nickten die beiden. Von unten war der Schusswechsel immer heftiger zu vernehmen. Dazwi-schen die Schreie der Getroffenen … und wilde Flüche derer, die er-kannten, dass sie nicht ungeschoren diesen Ort verlassen konnten.

Lew und die Kinder hockten am Boden. Der Soldat lauschte inten-siv den Geräuschen. Dann war es so weit. Er sprang hoch und stieß die Klappe auf, die zum Dach führte. An den wenigen Tagen des Jahres, an denen die Sonne die Kälte besiegen konnte, mochte es dort oben als Terrasse herhalten können, doch jetzt wurde das Flachdach zum Fluchtweg.

Geduckt liefen die Kinder wie von Lew gesagt nach rechts. Timo-fej wagte es nicht, sich nach seinem großen Freund umzudrehen. Dann waren sie am Dachrand. Darja saß die Angst so sehr im Nacken, dass sie alles um sich herum vergaß. Geschickt schwang sie sich über die Kante, setzte einen Fuß auf die obere Sprosse der Feu-erleiter. Timofej folgte ihr so schnell es ihm nur möglich war. Sein letzter Blick ging in Richtung Lew, der sich so klein wie nur möglich machte, um einer Entdeckung von der Straße aus zu entgehen.

Er hatte damit kein Glück …Timofej sah, wie ein Ruck durch Lews Körper ging, denn färbte

sich die Brust des großen Mannes rot. Der Junge hatte keine Ah-nung, ob dieser erste Treffer in Lews Rücken bereits tödlich gewesen war, doch das spielte gleich darauf keine Rolle mehr. Lew ging nicht zu Boden – irgendein Reflex seiner Muskeln ließ den ehemaligen Soldat exakt das Gegenteil tun. Er richtete sich zu seiner vollen Grö-ße auf.

Die MP-Garbe durchlöcherte ihn im nächsten Augenblick. Wie eine Marionette, die an ihren Fäden hing, wurde Lew durchgeschüt-telt, ehe er endlich fiel … um in einer grotesk verrenkten Körperhal-tung zum Liegen zu kommen.

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Timofej schrie nicht. Seine Kehle ließ keinen einzigen Laut zu. Die einzige Hoffnung auf ein wenig Sicherheit für die Zukunft lag nur wenige Meter vor ihm in einer gewaltigen Blutlache. Timofej konnte sich nicht rühren, keine noch so kleine Bewegung machen. Erst Dar-jas Schrei, die bereits auf dem Boden neben des Hauses angekom-men war, weckte ihn aus seiner Starre.

Für Lew konnte er nichts mehr tun, doch Darja brauchte ihn jetzt dringend. Timofej schloss die Augen, um Lews Leiche nicht mehr sehen zu müssen, doch das schreckliche Bild blieb, ließ sich nicht verbannen. So rasch er konnte, meisterte der Junge die rostigen Lei-terstufen.

»Was ist? Wo bleibt Lew?« Darja blickte sich um wie ein gehetztes Tier.

Wortlos zog Timofej das Mädchen an der Hand weiter. Darja blieb hartnäckig.

»Warum sagst du denn nichts? Wo ist Lew? Ist er …« Sie vollende-te den Satz nicht. Timofej zerrte sie weiter. Die kleine Gasse, von der Lew gesprochen hatte, lag vor ihnen. Tatsächlich hatte sich hier kein Polizist postiert. Also waren die auch nicht schlauer als die Wachen im Gulag.

»Los, lauf.« Timofej hastete voran. Wo die Gasse enden mochte, konnte er nicht einmal ahnen, aber wenn man nur eine Richtung hatte, dann ging man die eben. Hinter ihnen wollten die Schüsse einfach nicht enden. Polizei und Gangster lieferten sich ein mörderi-sches Gefecht. Timofej blickte die Gasse entlang, dann schloss er in-nerlich mit dem ab, was hinter ihm lag und lief los. So schmal die Gasse war, so kurz war sie.

Und sie endete dort, wo Timofej und Darja es sicher nie vermutet hätten.

Direkt auf einem der größten Wochenmärkte, die Ulan Bator zu bieten hatte.

Lärm schlug den Kindern entgegen, Lärm und intensive Gerüche nach Fleisch, Gemüse; dazu kam der Gestank nach Fäkalien, denn hier wurden auch lebende Tier verkauft, die, wo sie gingen und standen, ihr Geschäft verrichteten – Timofej sah Hühner, Gänse und Hasen, dazu ein paar exotische Vögel, die hier ihre Liebhaber finden

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sollten.Hinter sich – aus der Gasse kommend – hörte Timofej Schritte und

laute Stimmen. Man hatte ihre Flucht entdeckt und die Polizei hier machte keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Timofej reagierte schnell. Er fasste Darjas kleine Hand und lief di-rekt hinein in den Menschenwust, der sich über diesen Markt rollte. Wenn sie hier untertauchen konnten, dann würden die Häscher sie sicher nicht finden können.

Der Junge wurde mehrfach angerempelt, doch er ließ sich nicht stoppen. Immer weiter kämpften sich die Kinder zum Zentrum des Marktplatzes vor. Timofej warf einen hektischen Blick über seine Schulter. Die Polizisten waren dicht hinter ihnen. Ihre Maschinen-pistolen schienen die Marktbesucher nicht groß zu irritieren. An-scheinend war man die ständige Präsenz der Beamten gewöhnt.

Sie mussten schneller vorankommen, sonst würde man sie bald er-wischen. Timofej schlug wilde Haken, schlängelte sich durch die Menschen, immer fest Darjas Hand haltend. Dann geschah es – Timofej hatte längst jede Orientierung verloren. Vielleicht hetzten sie nun im Kreis … oder gar den Häschern entgegen? Ein scheinbar unverrückbares Hindernis bremste ihn brutal ab. Timofej fiel zu Bo-den … und ließ die Hand seiner Freundin los! Sofort war er wieder auf den Beinen, wollte nach Darja greifen, doch das Hindernis fasste ihn hart am Nacken. Die fleischige Hand des Mannes, gegen den der Junge gelaufen war, glich einer eisernen Fessel. Vollkommen hilflos hing Timofej in diesem Griff.

»Dreckiges Balg – verdammter Bastard – was fällt dir ein? Was er-laubst du dir?« Der Mann war unglaublich fett, doch in seiner Hand lag eine furchtbare Kraft. Er fluchte weiter, während er Timofej wie eine Puppe in die Höhe hob. »Schaut ihn euch an. Sie kommen ein-fach in unser Land und benehmen sich wie die Idioten. Dich werde ich lehren.«

Timofej war klar, dass seine Gesichtszüge nichts mit dem eines Mongolen gemein hatten. Menschen aus anderen Teilen Russlands waren hier nicht gerne gesehen. Doch das alles interessierte ihn jetzt nicht. Wo war Darja abgeblieben? Er konnte sie nirgendwo entde-cken. Und Timofej nahm all seinen Mut zusammen – er trat den Fet-

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ten gegen das Schienbein. Der Koloss schrie auf und ließ sein Opfer los. Timofej sprang zur Seite, denn der Mann wollte ihn sofort wie-der greifen. Timofej geriet ins Stolpern und fiel rücklings hin.

Was folgte, war ein unglaubliches Tohuwabohu, denn der Junge war mitten in eine Schar von Hühnern gefallen, die hier auf ihren Käufer – und somit wohl auch Henker – warteten. Ein unsägliches Geschrei hob an, Federn flogen durch die Luft, Schnäbel pickten nach Timofej … und dazwischen das Brüllen des Standbesitzers, der um seine Ware fürchtete.

Unter anderen Umständen hätte Timofej eine solche Szene viel-leicht sogar witzig gefunden, doch hier ging es um sein Leben – und um Darjas. Er musste sie finden, schnell … sonst war sie für immer in der Menschenmasse verloren.

Der junge sprang erneut hoch und rannte seitlich an seinem Peini-ger vorbei, der ihn fast schon erreicht hatte. Doch der Mann war trotz seiner Fettleibigkeit erstaunlich wendig und schnell. Timofej sah eine riesige Hand auf sich zufliegen, dann explodierten tausend Sterne in seinem Kopf und tanzten vor seinen Augen. Jetzt nur nicht das Bewusstsein verlieren …

Instinktiv taumelte er weiter, auch wenn seine Beine unter ihm wegsacken wollten. Nicht ohnmächtig werden … du musst Darja finden … du …

Irgendwer gab ihm einen Stoß, der den Jungen in eine kleine Stra-ße beförderte, die zu den Hinterhöfen einer Häuserzeile führte. Die Marktgeräusche wurde leiser. Wie viele Stunden er dort so gelegen hatte, immer im Schwebezustand zwischen Wachen und Ohnmacht, das konnte er später nicht sagen. Er erinnerte sich nur, wie die eisige Kälte des Bodens langsam in ihn hinein kroch. Bei der Flucht hatte er nur Hemd und Hose getragen, also nichts, was den Körper wirk-lich schützen konnte, nichts was dem Frost Einhalt bot.

Mondfeuer … wo war sein Nachtfreund jetzt? Timofej rief im Geist nach ihm, doch lange kam keine Antwort.

Irgendwann schwand Timofejs Bewusstsein, so, wie sein Lebens-wille sich auflöste. Hier würde ihm niemand helfen, selbst dann nicht, wenn ihn jemand hier finden sollte.

Es war im Augenblick des endgültigen Hinübergleitens seines

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Verstandes, als er den Klang des Mondfeuers vernahm.»Das ist dein Weg – dein Weg zu mir beginnt hier erst. So muss es sein

… warte nur ab.«Timofej verstand nicht …

Irgendjemand hob den Jungen hoch, schüttelte ihn.»Hey, du! Hallo – aufwachen!« Dann folgten Worte, die unver-

ständlich blieben. Die Stimme schien sich mit einer anderen auszut-auschen. Die Worte wurden hektischer gewechselt, dann spürte der Rest von Timofejs Empfinden, wie er auf zwei starke Arme gehoben wurde.

Dann war dieses kurze Intermezzo beendet. Timofej sank in ein tiefes Tal, in das ihm nicht einmal die Kälte zu folgen vermochte.

Doktor Timo Lew schrak aus seinem Tagtraum hoch. Beinahe hät-te er eine Gruppe von Wissenschaftlern umgerannt, die ihm in den Gängen von Tendyke Industries entgegen kamen. Er lächelte ent-schuldigend und setzte seinen Weg fort. Die Erinnerungen waren immer sehr intensiv.

»Das ist dein Weg – dein Weg zu mir beginnt hier erst. So muss es sein … warte nur ab.«

Das waren die Worte des Mondfeuers gewesen – und Timofej hat-te sie nicht verstanden. Er hatte damals jede Hoffnung auf eine Zu-kunft verloren, doch sein Nachtfreund hatte Recht behalten. An die-sem Tag begann alles, anstatt zu enden, wie der neunjährige Junge geglaubt hatte.

Timo Lew orientierte sich noch einmal. Zu den Konferenzräumen musste er sich jetzt links halten. Und erneut kamen die Bilder zu ihm, gegen die er sich nicht wehren konnte.

Timofej war in einem Saal erwacht, dessen Decke von unzähligen Röhren beleuchtet wurde. Elektrische Beleuchtung – noch immer war das für den Jungen, der im Gulag geboren und aufgewachsen war, so etwas wie ein Wunder. Und vielen in diesem Land erging es nicht anders, denn außerhalb der großen Städte gab es so etwas zu

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dieser Zeit noch nicht.Alles war weiß gestrichen – Decke und Wände, selbst das Bett auf

dem er lag. Doch er war nicht allein. Links und rechts neben seinem Bett standen Kinder, die allesamt weiße Nachthemden trugen. Sie starrten ihn an, als sei er ein Weltwunder.

»Der lebt ja tatsächlich noch …«Timofej wollte sich aufsetzen, aber sein Körper weigerte sich sol-

che Aktionen durchzuführen. Er spürte die Schwäche und das Bren-nen in seiner Brust. Sein Atem ging schwer. Plötzlich stoben die Kin-der auseinander, als wäre der Leibhaftige persönlich aufgetaucht. Ir-gendwo am Ende des Saales hatte sich eine Tür geöffnet, durch die zwei Personen eintraten. Ohne sich um die anderen Kinder zu küm-mern, marschierten sie direkt auf Timofejs Lager zu.

Es waren ein Mann, der hager war und eine Nickelbrille trug, und eine rundliche Frau, die freundlich lächelte. Beide trugen weiße Kleidung. Timofej begann zu ahnen, wo er hier erwacht war.

Der Mann sprach ihn an. »Ich bin Doktor Below, das ist Schwester Jewa, die sich die ganze Zeit um dich gekümmert hat. Junge, du hast uns wirklich große Sorgen gemacht. Wir glaubten schon nicht mehr daran, dass du es schaffst, aber nun bist du endlich über dem Berg. Wie fühlst du dich?« Während er fragte, stopfte die Schwester ein Fieberthermometer zwischen Timofejs Lippen, so dass er kaum ver-ständlich antworten konnte. Also nickte er nur. Der Arzt lächelte zu-frieden.

»Und nun sag uns doch bitte deinen Namen und wen wir infor-mieren müssen. Deine Eltern machen sich sicher mächtige Sorgen um dich. Also – wie heißt du, mein Freund?«

Timofej wusste, dass er nun klug reagieren musste. Seinen wirkli-chen Namen konnte er nicht nennen, denn wer wusste schon, ob der abgebrannte Gulag nicht längst eine Fahndung nach den Kindern und Lew ausgelöst hatte. Nein, damit durfte man ihn nicht in Ver-bindung bringen. Einen Augenblick lang überlegte Timofej, dann gab er Auskunft. Und in diesem Moment wurde aus dem Jungen ein Erwachsener, der mit jeder Konsequenz log und täuschte.

»Ich heiße Timo Lew. Meine Schwester und ich sind Waisenkin-der, die nach Ulan Bator geflohen sind. Wir waren mit unseren El-

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tern weit draußen … ganz weit. Wir sind Nomaden, doch vor drei Monaten starben unsere Eltern ganz plötzlich.« Timofej wunderte sich, wie leicht und fließend ihm dieses Lügengespinst über die Lip-pen kam. Er hatte sich Lews Namen bedient. Timofej war sicher, der Soldat hätte das mit einem breiten Grinsen akzeptiert.

Der Arzt unterbrach ihn.»Woran starben sie?«Wieder musste Timofej nicht erst groß überlegen.»Sie bekamen Fieber. Meine Schwester und ich wollten Hilfe ho-

len, doch wir fanden keine. Wir konnten nichts tun …« Das musste logisch klingen, denn viele Mongolen lebten nach wie vor als Noma-den. Viele begrenzten das auf die Sommermonate, doch es gab noch immer eine große Anzahl von Familien, die das ganze Jahr über in der Wildnis hausten und sich um ihr Vieh kümmerten. Oft gab es Todesfälle – ganze Familien verschwanden so einfach. Niemand machte sich die Mühe, darüber eine Statistik zu führen, denn die meisten dieser Clans waren nicht einmal registriert. Die Dunkelzif-fer lag also immens hoch.

Timofej beeilte sich mit der Geschichte zum Ende zu kommen, um sich nicht doch noch in Widersprüche zu verheddern.

»Wir schafften es bis in die Nähe von Ulan Bator, dort halfen uns andere Nomaden bis in die Stadt hinein. Meine Schwester …« Timo-fej versuchte erneut sich aufzurichten, was abermals misslang. »Dar-ja, meine Schwester – ist sie auch hier?«

Er fürchtete sich vor der Antwort.Arzt und Schwester blickten sich kurz fragend an, dann wandte

sich Doktor Below an den Jungen. »Timo, man hat dich mehr tot als lebendig hierher zu uns gebracht, aber ein Mädchen war nicht bei dir. Es tut mir leid.«

Timofej sackte in die Kissen zurück. Schmerzhaft erinnerte er sich an den Moment, in dem er Darjas Hand losgelassen hatte. Wo moch-te sie nun sein? Lebte sie überhaupt noch? Darja war längst nicht so selbstständig wie er. Alleine in dieser Stadt hatte sie keine Chance.

Timofej spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte. Er hörte noch, wie der Doktor etwas zu ihm sagte, doch die Worte schienen sich in einem dichten Nebel zu verfangen. Sein Körper siegte über Timofejs

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Willen. Erneut fiel der Junge in einen tiefen Schlaf …

Irgendwie hatte Timo Lew das Gefühl, sich hier in einem Irrgarten zu befinden.

Natürlich gab es eine Logik in diesem Wirrwarr-System aus lauter Gängen, von denen jeder für ihn gleich aussah. Selbstverständlich begriff der Geologe, dass sich hier alles in verschiedene Farbgrup-pen aufteilte, die man auf dem Boden der Gänge erkennen konnte; es gab dort breite Streifen in Rot, Blau, Gelb … und wohl noch ei-nem Dutzend anderer Farben. Um damit umzugehen, musste man die jeweilige Farbe aber auch seinem eigenen Ziel zuordnen können – und … war man in Gelb und wechselte in Rot, dann half einem das nicht viel, wenn man keine Ahnung hatte, was denn nun im An-schluss daran folgte.

Alles eine Frage der Zeit, das wusste Timo, und dazu eine Frage des Interesses, sich dieses System auch schnell einzuprägen – genau das jedoch brachte er einfach nicht auf. Zu sehr war er auf sein Ziel konzentriert: den Oceanus Procellarum. 40 Jahre waren vergangen. Nun wurde es Zeit!

Timo bog nach rechts ab. Unter seinen Füßen verlief nun ein dun-kelorange farbiger Streifen. Er war hier also richtig. In diesem Teil der unterirdischen Anlage befanden sich die Konferenzräume; zu-mindest das hatte er sich gemerkt.

Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte den übergewichtigen Kör-per des Geologen. Er stützte sich mit der rechten Hand gegen die Wand. Die Menschen, die ihm entgegen kamen, blickten ihn ver-wundert an – hatten die noch nie einen Mann mit Asthma gesehen? Timo griff in die rechte Tasche seiner Jacke und förderte den Inhala-tor zu Tage, den er an den Mund führte und das Mundstück fest mit den Lippen umklammerte. Zweimal drückte er den Knopf – zwei-mal schoss das feine Spray in seinen Mund und seine oberen Atem-wege.

Nach Luft ringend wartete er die Wirkung ab. Sie kam – kam im-mer – doch bei jeder Anwendung schien ihm das länger zu dauern. Salbutamol war als Notfallmedikament erprobt und bewährt. Den-

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noch fürchtete Timo den Tag, an dem er bei einem solchen Anfall kollabierte. Mit einem Papiertuch trocknete er seine Stirn. Die Anfäl-le kosteten ihn Kraft, viel Kraft, und waren schweißtreibend. Natür-lich war sein Übergewicht dabei nicht eben hilfreich – und noch viel weniger die Tatsache, dass er nach wie vor rauchte. Hier unten war natürlich eine tabakfreie Zone, doch sobald er wieder an der Oberflä-che war, galt sein erster Griff den Zigaretten.

Er riss sich zusammen, als er vor der richtigen Tür angekommen war.

Die Menschen, die dahinter auf ihn warteten, sollten ihn an sein Ziel bringen. Er wollte nicht sofort einen übermäßig schlechten Ein-druck machen. Er atmete tief ein und aus, um den noch immer lief in seinen Bronchien schlummernden Hustenreiz zu unterdrücken und einzuschläfern.

Eine Minute noch, dann würde er so weit sein … eine Minute, die ihn erneut in seine Vergangenheit brachte …

Timofej sah zwei Monate lang nichts weiter als die weiß getünchte Decke des Krankenhauses.

Der Vorfall auf dem Marktplatz hatte ihn tatsächlich näher an den Tod als an das Leben gebracht. Die Stunden, die er ohne Besinnung auf dem tief gefrorenen Boden der Gasse verbracht hatte, veränder-ten sein Leben für immer. Nur äußerst knapp war er den Folgen ei-ner mächtigen Lungenentzündung entkommen, die im Grunde mit seinem Tod hätte enden müssen. Den Ärzten war es ein Rätsel, wie der Junge das überlebt hatte.

Wirklich gesund würde er jedoch nie mehr sein. Timofej konnte das damals jedoch nicht einschätzen. Doktor Below war ein herzens-guter Mensch. Er hatte intensive Nachforschungen nach Darja gest-artet, doch sie waren ohne Erfolg geblieben. Kein Kinderheim, keine Krankenhaus in Ulan Bator hatte so ein Kind aufgenommen.

Darja blieb verschwunden. Nur langsam begriff Timofej, dass er sie wohl niemals wiedersehen würde. Als er es zu akzeptieren be-gann, wurde ihm klar, wie es um ihn stand. Darja war verschwun-den, Lew war tot … seine Mutter würde er hier niemals finden kön-

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nen. Er stand vor einem vollkommen neuen Leben, mit neuem Na-men und Legende, das er ganz alleine bewältigen musste. Wie auch immer.

Irgendwann kam der Tag seiner Entlassung aus der Klinik. Timo-fej konnte nicht behaupten, dass er gerne von hier fort ging. Er wusste ja nicht wohin. Doch das hatten bereits andere für ihn ent-schieden. Timofej fand sich in einem Waisenhaus wieder, in dem strenge Regeln herrschten. Er lernte sie schnell, denn niemand hier nahm Rücksicht auf seine angeschlagene Gesundheit. Unter den Kindern gab es eine harte Rangordnung, deren Auswirkungen Timofej zu spüren bekam. Er lernte rasch, den Mund zu halten und am besten unsichtbar zu werden.

Doch nicht alles hier war schlecht. Es gab regelmäßige Mahlzeiten, wie er es aus dem Gulag nie gekannt hatte. Er verriet niemandem hier, woher er wirklich stammte. Vor allem jedoch gab es den Schul-unterricht. Die Welt tat sich für Timofej erneut auf, so wie damals, als Lew ihm seine Sicht der Dinge geschildert hatte. So still und na-hezu stumm Timofej, der hier nur Timo genannt wurde, sich auch während des ganzen Tages verhielt, so aufgeweckt war er in den Stunden des Lernens.

Rasch bemerkte er, wie sehr sich die Sicht seiner Lehrer doch oft von dem unterschied, das Lew ihm erzählt hatte. Der Grund war einfach – die Partei gab das Lernprogramm vor. Lew hingegen hatte Ansichten vertreten, die nicht selten von dieser Linie abwichen. Timofej nahm das hin, wog das eine gegen das andere ab und bilde-te sich eine eigene Meinung, die er für sich behielt. Das war besser so – besser für ihn.

Das Mondfeuer schwieg.Erst, als sich das Jahr 1969 langsam seinem Ende zuneigte, sprach

es zu Timofej. Der Junge wusste im Nachhinein jedoch nicht zu sa-gen, ob er das nicht nur geträumt hatte. Die Nachricht war kurz.

»Jetzt bringen sie mich zur Erde. Vergiss nie – du musst deinen Weg zu mir finden …«

Das war alles.Am Tag darauf erzählte einer der jüngeren Lehrer den Kindern,

dass die verdammten Amerikaner schon zum zweiten Mal ein Raum-

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schiff auf dem Mond gelandet hatten. Der Lehrer war ein begeister-ter Anhänger des UdSSR-Raumprogramms, das – seiner Überzeu-gung nach – dem des Klassenfeindes weit überlegen war. Dennoch musste auch er sich eingestehen, dass die USA etwas geschafft hatte, wozu die UdSSR noch nicht in der Lage war: Menschen auf den Mond, und wieder gesund zur Erde zurück zu bringen.

Der Mond.Timofejs Mond – was hatten Menschen dort nur zu suchen? Was

hofften sie zu finden? Timofej begriff dieses Streben nicht. Dennoch ahnte er, wie sehr das alles mit dem Mondfeuer zusammenhing. Er wusste nur nicht wie.

Er wusste nur eines ganz gewiss.Das Mondfeuer hatte den Erdtrabanten verlassen.

Erneut griff Doktor Timo Lew in die Tasche. Ein weiterer Stoß aus dem Inhalator konnte nicht schaden, auch wenn seine Ärzte ihn im-mer wieder davor warnten, damit leichtfertig umzugehen. Was wussten die schon? Er war es, der nach Luft rang, nicht die Weißkit-tel.

Timo war nervös. Sein Weg war unendlich lang gewesen, doch nun schien er dicht vor der Verwirklichung dessen zu stehen, was er über Jahrzehnte angestrebt hatte. Er betrat den Raum nicht, noch nicht. Er lief den Gang weiter, brauchte ganz einfach noch ein paar Momente für sich.

Alles war so verwirrend. Vieles war in den hinter ihm liegenden 40 Jahren geschehen, das kaum zu begreifen war. Das begann mit der Tatsache, dass die Lehrer das Talent des Waisenjungen erkannt und gefördert hatten. Ein Waisenkind, das zur höheren Schule ging … das passte zwar zum Bild des Systems, mit dem die UdSSR sich gerne schmückte, trat in der Realität jedoch nur äußerst selten ein.

Er war ein enormes Talent in Sachen Naturwissenschaften. Die klassischen Gebiete – Physik, Chemie, Biologie und Geologie – flo-gen ihm nur so zu. Zudem war er ein extrem fleißiger Schüler, der mit dem Erreichten nie ganz zufrieden war. Bald kristallisiert sich heraus, dass Timo sich auf die Geologie konzentrieren wollte.

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Für Timo war und blieb es ein Wunder, dass man ihn auch weiter förderte. Als er sein Studium der Geologie an der Lomonossow-Uni-versität in Moskau begann, trat alles andere für ihn in den Hinter-grund. Auch seine Vergangenheit … selbst Darja und das Mondfeu-er, das nach wie vor schwieg. Er konnte Darja nicht vergessen, das sicher nicht, doch es gab für ihn keine Hoffnung mehr, sie wieder in die Arme schließen zu können.

Timos Studienzeit war gefüllt mit Arbeit. Etwas anderes gab es für ihn nicht.

Er war der geborene Wissenschaftler. Geologie bedeutete ihm un-endlich viel. Die Geologie befasste sich mit der Entstehung, der Ent-wicklung und der heutigen Gestalt der Erde. Sie wandte die Grund-prinzipien der Physik und der Chemie auf die unbelebte Natur an. Das war es, was Timo Lew wollte.

Doch er ging weiter, denn nach wie vor faszinierte ihn der Mond, den er – so gut es ihm möglich war – in seine Studien einbezog.

Seine eigenen Bedürfnisse in dieser Zeit hatte er klar abgesteckt:Er wollte nie wieder hungern.Er wollte nie wieder frieren.Und er wollte nie wieder Menschen verlieren, die er liebte. Also

ließ er niemanden mehr so nahe an sich heran, wie es bei Mutter, bei Darja und Lew der Fall gewesen war.

Er hatte Beziehungen, sicherlich, doch die waren nie von langer Dauer. Keine Frau hielt es mit einem Mann aus, der schlussendlich nur seine Arbeit im Kopf hatte. Timo hatte sich nie ernsthaft be-müht, sich zu ändern. Keine Frau war ihm da wichtig genug gewe-sen.

Dann – Mitte der 1980er Jahre – begann der eiserne Vorhang zu rosten, sich zu zersetzen und selbst zu fressen. Der kalte Krieg fand sein offizielles Ende. Die Grenzen wurden schwammig, fielen schließlich ganz. Der Weg für Timo war frei. Ein Weg, dessen Ziel-punkt er nicht kannte, nur erahnen konnte. Wenn er zum Mondfeu-er wollte, dann musste er zur NASA. Ihm war längst klar, dass es die zweite Mondlandung der Amerikaner gewesen war, die das Mondfeuer zur Erde gebracht hatte. Apollo 12 hatte den Nacht-freund aus seinen Kindertagen von seinem angestammten Platz ge-

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holt. Mit Absicht? Nein, daran glaubte Timo nicht, aber er musste versehentlich eingesammelt worden sein. Was das Mondfeuer auch immer war – dort musste es zu finden sein.

Doktor Timo Lew verließ 1998 seine Heimat mit dem Ziel USA. Er hatte lange mit diesem Schritt gezögert, denn er konnte das Mond-feuer weder spüren, noch nahm es Kontakt zu ihm auf. Immer wie-der sagte er sich, das alles waren Kinderträume, die er nun endlich vergessen sollte. Märchengebilde aus seiner Phantasie, mehr nicht.

Doch dann fielen ihm die Bilder ein – das Feuer, das er im Kamin seines Zimmers entzündet hatte, die Flammen, die aus seinen Hän-den schossen, weil das Mondfeuer ihm dazu die Kraft verliehen hat-te. Nein, keine Phantasie konnte so reale Ergebnisse erzielen. Und sie waren real, waren exakt so abgelaufen.

Immer wieder zögerte er den Schritt hinaus. Mittlerweile war er hier ein angesehener und bekannter Mann, dem man zuhörte, auf dessen Rat man sich verließ. Mehr als eine Universität hatte ihm die Doktorenwürde angeboten, doch Timo hatte immer abgelehnt. Er war stolz auf diese Ehre, doch er musste verhindern, dass irgendwer tief in seiner Vergangenheit wühlte. Die Medien in der ehemaligen UdSSR hatten vom Westen gelernt. Skandale waren hier sehr ge-fragt.

Dann folgte das für ihn bittere Jahr 1995. Sein Asthma bescherte ihm zum zweiten Mal in seinem Leben eine ausgewachsene Lungen-entzündung. Kaum einer der behandelnden Ärzte hätte auch nur eine Kopeke auf das Leben des Mannes gesetzt. Sie alle kannten nicht den Lebenswillen des kleinen Timofej Bolschakow, der noch immer im Geist des großen Timo Lew steckte. Das harte Leben im Gulag … vielleicht war es das, was ihm nun noch einmal das Leben rettete.

Es dauerte vier Monate, bis Doktor Lew seine Arbeit wieder auf-nehmen konnte. Damals war er nur noch Haut und Knochen, wie man sagte, doch in kurzer Zeit fraß Timo sich einen Speckpanzer an, den er zu brauchen glaubte. Nie wieder hungern, nie wieder frieren!

Dann dauerte es nicht mehr lange, bis sein Entschluss in ihm ge-reift war. Er musste den Weg gehen. Zumindest musste er es versu-chen, denn sonst würde er niemals zur Ruhe kommen.

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Mit seiner Reputation war ein Einstellungsgespräch bei der NASA absolut kein Problem, denn dort war man immer an hochrangigen Geologen interessiert. Man empfing Timo tatsächlich wie einen Kö-nig. Und die NASA hatte kein Problem damit, eventuelle Neuein-steiger ausführlich zu informieren. Man führte Timo über das Ge-lände, ließ natürlich nicht die Erfolge der Vergangenheit aus.

Stolz präsentierte man ihm die Ruhmeshalle der Apollo-Mission. Timo musste nicht einmal darum bitten – man führte ihn in den Raum, in dem die Reste des Materials gelagert waren, die man vom Mond zur Erde gebracht hatten. Timo spürte eine enorme Erregung, kalter Schweiß kroch über seinen Rücken. Er schien am Ende seines Weges angekommen zu sein. So viele Jahre … und nun war es so weit.

Da lagen sie – unscheinbare Steine, Geröll …Sie brachten Timo eine unglaubliche Enttäuschung.Wo immer das Mondfeuer sich auch aufhalten mochte, hier war es

ganz sicher nicht. Der Rest des Tages verstrich für ihn wie in einer bösen Trance. Den lukrativen Vertrag, den man ihm schließlich offe-rierte, registrierte Timo kaum. Irgendwie zog er sich mit Entschuldi-gungen aus der Affäre, bat um Bedenkzeit, die er dann verstreichen ließ.

Die kommenden zweieinhalb Jahre arbeitete er als Freiberufler. Damit konnte er nicht reich werden, aber die Honorare reichten ihm zum Überleben aus. Am 11. September 2001 erfolgte der Terroran-schlag auf die Twin Towers in New York. Wie die meisten Amerika-ner erlebte Timo diesen Realhorror am Bildschirm und war erschüt-tert. Doch da war noch etwas anderes, das Timo Lew in seinen Fern-sehsessel drückte und ihm das Aufstehen unmöglich machte.

Es war wohl am ehesten mit einem Loch in seiner Seele zu be-schreiben, mit einem Einschuss, der schmerzte und wohl nie wieder heilen konnte. Er begriff es zunächst nicht, doch dann begann er langsam zu verstehen. Das World Trade Center … gemeinsam mit den Türmen und den unzähligen Opfern war das Mondfeuer ver-gangen! Eine grausame Erkenntnis, doch sie war ohne Zweifel wahr.

Es dauerte einige Tage, bis Timo sich wieder gefangen hatte. Er verabschiedete sich von seinen Träumen, von dem, was das Mond-

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feuer ihm prophezeit hatte. Das alles war nun nur noch Vergangen-heit. Zurück in seine Heimat wollte er nicht. Hier in den Vereinigten Staaten fühlte er sich nicht besser oder schlechter als in der ehemali-gen UdSSR, doch hier musste er zumindest nicht frieren.

Widerwillig, der Notwendigkeit einer geregelten Zukunft für sich nachgebend, bemühte er sich um einen festen Arbeitsvertrag. Lange wollte ihm das nicht gelingen, doch schließlich wurde er wissen-schaftlicher Mitarbeiter an einer Universität in Boston. Die Arbeit unterforderte ihn, macht nicht glücklich, aber sie ernährte ihn. Sein Lebensstil glich sich immer mehr dem des Westens an. Er nahm noch einmal zu, rauchte wie ein Kamin … trank, spielte, hatte Frau-engeschichten, die allesamt unglücklich endeten.

Im Herbst 2004 dann erwachte er in mitten einer Nacht voller un-ruhiger Träumen. Er stand auf, öffnete das Fenster seines Schlafrau-mes … und sah den Vollmond in seiner ganzen Pracht am Nacht-himmel stehen. Es war ein recht warmer Herbsttag gewesen, doch in den Nächten spürte man schon so langsam, wie die milde Jahreszeit sich verabschieden wollte. Doch auf Timos Gesicht fiel ein warmes Leuchten …es war wieder da!

Er schloss für Sekunden die Augen, doch als er sie wieder öffnete, hatte sich nichts geändert. Nein, er träumte nicht. Die Gedanken ras-ten durch seinen Kopf, denn es musste doch eine Erklärung dafür geben. Es wollte ihm keine einfallen. Das Mondfeuer – zur Erde ge-bracht und dort durch Gewalt zerstört – es lag wieder an seinem an-gestammten Platz.

Timo war nicht mehr der kleine Timofej, der noch an Wunder und Zauberei geglaubt hatte. Dennoch fiel ihm keine logische Erklärung für dieses Phänomen ein. Doch was war am Mondfeuer je logisch zu erklären gewesen?

Es war wieder da – jede Nacht. Doch es sprach nicht zu Timo, kein einziges Wort. Etwas anderes war an die Stelle von Worten getreten. Ein forderndes Gefühl, das in den Geologen eindrang. Ein unausge-sprochener Befehl: Komm! Hole mich …

Das Schweigen des Mondfeuers bedrückte Timo, irgendetwas hat-te sich geändert … und war doch unverkennbar geblieben.

Timo Lew war nicht fähig, sich dem zu entziehen. Die magische

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Beziehung zwischen ihm und dem Ding dort oben auf dem Mond war ungebrochen. Er musste der Aufforderung folgen. Doch wie? Der Zug für ihn bei der NASA war definitiv abgefahren. Zudem gab es dort keinerlei Bestrebungen, eine neuerliche bemannte Mission zum Erdtrabant durchzuführen. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, dann hätte die als Ziel niemals das Meer der Stürme gehabt, denn dort war ja bereits Apollo 12 gelandet.

Also musste er einen anderen Weg finden – dort hinauf, auf den gut 380.000 km entfernten Erdsatelliten. Es musste Menschen geben, die den Mond noch für interessant genug hielten. Menschen, die diesen Traum noch nicht aufgegeben hatten. Menschen, die weiter dachten als die NASA es tat.

Es musste sie ganz einfach noch geben.Er musste sie nur erst finden …

Er hatte sie gefunden.Sie gehörten zu dem gewaltigen Konzern mit dem Namen Tendyke

Industries. Einfach war es nicht gewesen, doch Timo hatte Gott und die Welt in Gang gesetzt, hatte alles an Beziehungen spielen lassen, was er sich in den vereinigten Staaten aufgebaut hatte.

Zunächst waren es nur Gerüchte gewesen. Gerüchte gab es immer und überall. Die meisten konnte man als Spinnereien abtun. Zwei, drei falschen Spuren war er nachgegangen, doch dann hatte sich al-les auf Robert Tendyke und seinen Konzern fokussiert. Eine Glocke aus Schweigen und Geheimhaltung wölbte sich über die Dinge, die bei Tendyke Industries abliefen. Irgendwann hatte Timo einen feinen Riss in dieser Glocke ausmachen können. Was er erfahren hatte, war schier unglaublich. Das Raumschiff einer Fremdrasse sollte sich im Besitz des Konzerns befinden. Und das war noch nicht alles – man munkelte von okkulten Dingen, von Zauber … und der Hölle.

Timo erfuhr die Namen der Menschen, die maßgeblich an diesen Dingen beteiligt waren.

Professor Zamorra, Doktor Artimus van Zant … und einige mehr. Er war sich nicht sicher, hier das zu finden, was er so dringend suchte, doch er musste es zumindest versuchen. Bei Tendyke Indus-

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tries kannte man seinen Namen; seine Veröffentlichungen in Fach-zeitschriften hatten weltweit für Aufsehen gesorgt. Mehrfach war er bereits für Auszeichnungen vorgeschlagen worden, doch dem ent-zog Timo sich immer wieder geschickt.

Als er sich bei Tendyke Industries bewarb, wurde er natürlich zuvor der sicher gründlichsten Durchleuchtung unterzogen, die man sich wohl vorstellen konnte. Beim entscheidenden Einstellungsgespräch war es dann Robert Tendyke selbst, der die entscheidenden Fragen stellte. Die bohrendste war sicher die nach Timos früher Kindheit, doch er schaffte es glaubwürdig bei seiner alten Version zu bleiben.

Minuten später begrüßte Robert Tendyke den Geologen als neues Mitglied der wissenschaftlichen Abteilung des Konzerns. Es dauerte gar nicht lange, bis klar wurde, was für ein Ass sich Tendyke Indus-tries mit Timo Lew gezogen hatte. Nach und nach stieg er in der Hierarchie nach oben, bekam eigene Projekte zugesprochen, an de-nen er mit einem mehr als großzügigen Budget arbeiten durfte.

Kurz bevor er zum Chef der Geo-Abteilung ernannt wurde, initi-ierte er das Projekt Mond. Er begründete seinen Wunsch nach Ge-steinsproben damit, dass – seiner Meinung nach – die NASA bei ih-ren Apollo-Missionen überhaupt kein wirkliches Interesse gehabt hätte, die Beschaffenheit des Trabanten zu erforschen. Das alles war nach seiner Theorie schiere Fassade gewesen, denn beim Wettlauf zum Mond war es um ganz andere Dinge gegangen. Lew entwickel-te eine Theorie, nach der dort oben geologische Sensationen unter der Oberfläche schliefen, die man unter allen Umständen erforschen musste.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er auch Robert Tendyke davon überzeugt hatte. Und der hatte vage Andeutungen gemacht, dass es da eine Möglichkeit gab, die notwendigen Proben zu bekommen. Timo wurde angewiesen, ein genaues Konzept zu erstellen.

Und nun stand er vor dieser Tür. Seine Hände waren schweißnass, als er den Türknauf ergriff.

Ihm war klar, was die nächsten Minuten bringen konnten.Er war fest entschlossen, diese Chance nicht zu verpassen.

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Professor Zamorra hatte sich angehört, was Robert Tendyke und eine Handvoll seiner engsten Mitarbeiter ihm zu berichten hatten.

Ein Flug zum Mond mit dem Spider, dem Raumer der Meeghs.Zamorra konnte nicht anders – er meldete Vorbehalte an.»Ich weiß nicht, ob wir den Spider für eine solche Sache einsetzen

sollen. Was du mir hier vorgelegt hast, das ist doch alles reine Theo-rie deines Geologen. Ich kann da keine wirkliche Wichtigkeit entde-cken.«

Robert Tendyke nickte. »Sicher, ich kann deinen Einwand verste-hen, aber wenn Doktor Lew richtig liegt, dann könnte der Nutzfak-tor hoch sein. Wir haben die Möglichkeit zu dieser Reise – für den Spider ist das ein Katzensprung. Warum also nicht? Du musst ja auch nicht unbedingt mit an Bord sein, denn ich denke dein Stamm-team ist durchaus in der Lage, dies auch alleine in den Griff zu be-kommen, oder?«

Zamorra dachte nach. Das war richtig, doch es gab da einige Pro-bleme zu bedenken.

Nicole Duval hatte sich noch immer nicht bei ihm gemeldet. Wahr-scheinlich hatte sie den Besuch in Paris ausgedehnt. Also fiel sie schon einmal aus. Artimus van Zant brauchte er nicht zu fragen – der Physiker hatte sich weitgehendst aus Zamorras Team verab-schiedet. Er sah seine Zukunft nicht darin, Dämonen und Vampire zu jagen, sich auf fernen Welten herumzutreiben. Vor allem wollte er nicht mehr töten – und gegen dieses Argument kam Zamorra na-türlich nicht an. Van Zant hatte sich in das Projekt no tears zurückge-zogen, dem Heim für Kinder, die ohne diese Hilfe keine Chance in dieser Welt gehabt hätten.

Natürlich gab es Aartje Vaneiden, die aus den Niederlanden stammte, und den Polen Valentin Kobylanski, die als Stammbesat-zung an unzähligen Flügen des Spiders teilgenommen hatten – mit entsprechend geschulten Leuten konnten die beiden im Ernstfall den Spider durchaus auch alleine fliegen.

Dennoch sträubte sich alles in Zamorra, das Schiff so völlig ande-ren zu überlassen. Zu oft war der Meegh-Raumer auf seinen Flügen in Probleme geraten. Nein, wenn dieser Mondflug stattfinden sollte, dann wollte er mit an Bord sein.

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Auch wenn er gerade an den Mond keine guten Erinnerungen hat-te.

Als sich die Tür zum Konferenzraum öffnete, musste Zamorra lä-cheln. Das war also Doktor Timo Lew, das Wundertier der Geologie. Der Mann war mittelgroß, vielleicht 1,75 Meter vom Scheitel bis zur Sohle. Auf dem Kopf wuschelte sich ein Haargekräuse, das man be-stimmt nicht als Frisur bezeichnen konnte. Zamorra schätze das Al-ter des Mannes auf Ende vierzig, womit er sicher nicht falsch liegen würde. Doktor Lew hatte – unübersehbar – Übergewicht. Zamorra dachte sofort an van Zant, den man auch nicht unbedingt als schlank bezeichnen konnte, doch Artimus war trotz seiner überflüs-sigen Pfunde recht ordentlich durchtrainiert, trug jedes einzelne Zu-satzgramm mit Würde und Fassung. Dieser Mann hier konnte mit seinem Körper sicherlich nicht viel mehr anfangen, als ihn zu füttern und zur Ruhe zu betten. Lews Gesichtsfarbe ließ auf viel zu hohen Blutdruck schließen – sie war rot wie ein Krebs. Als er auf Tendyke, Zamorra und die anderen zukam, wischte er sich verzweifelt seine feuchten Hände an den Seiten seiner Jacke ab, doch das Ergebnis war mangelhaft. Zamorra drückte die schwammig weiche Hand, die unangenehm klamm war. Ein Blick auf die Finger der rechten Hand des Geologen zeigte Zamorra, dass er es mit einem starken Raucher zu tun hatte. An Bord des Spiders würde Lew seine Sucht allerdings unterdrücken müssen – dort herrschte absolutes Rauchverbot.

Robert Tendyke kam direkt zur Sache. Er ließ den großen Bild-schirm aufflammen, der an der Kopfseite des Raumes angebracht war. Ein gestochen scharfes Bild vom Mond erschien. Dann über-nahm Doktor Lew das Reden. Er trat seitlich neben den Bildschirm. Lew zögerte einige Sekunden, doch als er zu sprechen begann, schi-en seine ganze Nervosität wie weggewischt.

Mit einem Pointer deutete er auf eine bestimmte Stelle des Traban-ten.

»Vor 40 Jahren landete hier Apollo 12 – im Meer der Stürme, dem Oceanus Procellarum. Die Mannschaft sammelte 34 Kilogramm Ge-stein und brachte es zur Erde. Die folgenden Untersuchungen der NASA-Geologen erbrachten … nichts. Niemand gab es offen zu, aber was man gefunden hatte, war wertloses Geröll, das nichts wei-

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ter als einen großen Sammlerwert besaß.«Zamorras Nackenhaare sträubten sich, denn eine Erinnerung kam

in ihm hoch, die er liebend gerne verdrängt hätte – für immer. Wenn das der Ort war, den Lew aufsuchen wollte, dann würde Zamorra das Unternehmen verhindern.

Doktor Lew drückte auf eine Taste seines Pointers – das Bild ver-schob sich nach oben, zoomte stark heran. »Hier, circa 60 Kilometer nördlich der Stelle, an der das Landemodul Intrepid auf dem Mond aufgesetzt hat, sieht die Bodenstruktur vollkommen anders aus. Hier hätte man Proben entnehmen müssen, doch die NASA war nicht vorrangig an diesen Proben interessiert, sondern am Prestige der Mondlandung … und wohl auch an militärischen Dingen, die so getestet wurden; zumindest ist heute ein Großteil der Wissenschaft-ler davon überzeugt.«

Zamorra konnte nicht widersprechen, denn der kalte Krieg war 1969 in vollem Gang gewesen.

»Was hoffen Sie dort zu finden, Doktor?«Lew wandte sich Zamorra zu. Die Blicke, die sich die beiden Män-

ner zuwarfen, waren voller Misstrauen und gegenseitiger Abschät-zung.

»Wenn ich das genau wüsste, Herr Professor, könnte ich vielleicht auf Proben verzichten. Ich ahne jedoch, dass sich eine Auswertung dieses Gesteins entscheidend auf die wahre Geschichte des Mondes auswirken könnte. Ich bin mir beinahe sicher, dass wir noch lange nicht alles wissen.«

Nein, ganz sicher weißt du noch vieles nicht … Zamorra hütete sich, seine Gedanken laut auszusprechen. Ein Blick in Robert Tendykes Augen verriet dem Parapsychologen jedoch, dass er diesen Flug wohl nur mit knallharten Bandagen verhindern würde. Zamorra gab auf – warum eigentlich nicht? Es konnte nichts geschehen, wenn man an der angegebenen Stelle landete, die Proben aufnahm, und zur Erde zurückfliegen würde. Das war wirklich nur ein Spazier-gang.

»Was sagst du, Zamorra?« In Tendykes Stimme lag so eine Beto-nung, die Zamorra sehr gut von seinem Freund kannte. Er hoffte auf ein deutliches Ja vom Franzosen.

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Zamorra grinste Robert breit an.»Ehe ich mich schlagen lasse. Ist ja nur ein kleiner Schritt für unse-

ren Spider.«Tendyke vollendete lächelnd »… aber ein großer Schritt für die

Wissenschaft. Also gut, der Start wird für morgen angesetzt – 12:00 Uhr. Alles Weitere, wie Ausrüstung und technisches Gerät, überlas-sen wir Doktor Lew. Ich bin sicher, er hat das alles bereits parat.«

Der Geologe aus Russland nickte übereifrig, doch dann wandte er sich fragend an die Runde.

»Ich habe immer noch keine Vorstellung, wie der Flug zum Mond durchgeführt werden soll – vor allem womit?«

Tendyke wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch in diesem Fall war Zamorra schneller.

»Warten sie es ab, Doktor. Warten sie es einfach ab …«

Doktor Timo Lew saß wie versteinert in dem Formsessel, den die Techniker von Tendyke Industries erst nachträglich in die Zentrale des Spiders eingebaut hatten.

Die Meeghs, die nicht mehr existierende Rasse von arachnoid ähn-lichen Wesen, die dieses Schiff erbaut hatten, waren auf solche Ru-hemöglichkeiten nicht erpicht gewesen. Sie hatten einen enormen Bewegungsdrang in sich gehabt, den sie meist nicht kontrollieren konnten. Das war auch der Grund, warum die virtuellen Steuerkon-solen, die auf dem den ganzen Raum umspannenden Bildschirm er-zeugt wurden, dem jeweiligen Bediener durch den ganzen Raum folgten; Zugriff war so jederzeit gewährleistet.

Menschen hingegen setzten sich gerne einmal hin – besonders dann, wenn ihre Knie vor Angst zitterten.

Timo Lews Knie gehorchten ihrem Besitzer nicht mehr, seit man ihn an Bord des Raumschiffes gebracht hatte. Womit hatte er gerech-net? Mit einer bei Tendyke Industries entwickelten Rakete … viel-leicht auch einer Art von Spaceshuttle, das tatsächlich die Strecke Mond-Erde bewältigen konnte; möglicherweise sogar um ein Vielfa-ches schneller, als es die NASA je bewerkstelligen würde. Er wusste selbst nicht genau, womit er gerechnet hatte …

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Ganz sicher nicht mit dem Raumschiff einer Fremdrasse, dessen Technik mit nichts zu vergleichen war, was die Erdwissenschaft je erschaffen hatte. Wie kümmerlich und nahe der Steinzeit machte sich dagegen das Mondfahrzeug aus, das Lew für den Einsatz auf der Mondoberfläche hatte bauen lassen. Es stand jetzt in einem der Hangars des Raumers – ein Fremdkörper, dem Relikt in einem Mu-seum ähnlich.

Dicke Schweißtropfen standen auf Timos Stirn. Wie lange hatte er auf diesen Moment hingearbeitet? Und nun machte er sich vor Angst beinahe in die Hosen. Die Mannschaft, bestehend aus Profes-sor Zamorra, Aartje Vaneiden, Kobylanski und zwei weiteren ihm unbekannten Personen, beachtete ihn überhaupt nicht. Was hier ab-lief, schien für diese Leute Routine zu sein. Es war unfassbar.

Komm zu mir … hole mich …Nach wie vor war dieser Impuls in Timo. Das Mondfeuer wartete

auf ihn.Auf dem riesigen Bildschirm konnte der Geologe nur die Decke

der Halle erkennen, wahrscheinlich konnte man sie öffnen, damit das Schiff freien Start hatte. Diese Gedanken wurden im nächsten Moment ausgewischt, denn der Spider, wie man ihn hier nannte, startete … und raste der massiven Decke entgegen. Timo registrierte einen hysterischen Schrei, den er zunächst nicht sich selbst zu-schrieb. Die Decke verschwand – dann wurde der Himmel sichtbar … und nur eine Sekunde später war da die Schwärze des Alls und im Mittelpunkt des Schirmes stand der Mond.

Timo griff hastig nach seinem Asthmaspray, denn er glaubte nicht mehr atmen zu können. Dann raste der Erdtrabant mit unglaubli-cher Geschwindigkeit auf das Schiff zu, wurde von Sekunde zu Se-kunde größer. Natürlich war es genau umgekehrt, doch Timo konn-te diese unglaubliche Geschwindigkeit einfach nicht fassen.

Zamorra trat zu dem Geologen. Der Mann tat ihm leid, denn er wurde hier mit Dingen konfrontiert, die es in seiner Vorstellung al-lenfalls in Fernsehen oder Kino geben konnte.

»Keine Sorge, alles läuft perfekt ab. Wir werden schon bald in eine Umlaufbahn um den Mond einschwenken.«

Timo streckte eine Hand in Richtung des Bildschirms. »Aber …

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die Decke … wir sind durch die Decke … und diese Geschwindigkeit … ich …«

Zamorra legte beruhigend eine Hand auf die Schulter des Wissen-schaftlers. »Tendyke hätte sie besser instruieren sollen. Das alles ist für sie jetzt wie der Sprung in eiskaltes Wasser, aber sie werden ihre Furcht bald verlieren. Die Decke des Hangars … ja, das Schiff ist in der Lage feste Materie zu durchfliegen. Das alles können wir später besprechen. Jetzt sollten sie sich beruhigen, denn es dauert nicht mehr lange bis zur Landung. Die exakten Koordinaten haben wir bereits ermittelt. Danach sind sie an der Reihe, Doktor Lew.«

Der Geologe nickte nur. Langsam begannen sich seine Atemwege zu beruhigen. Seine Neugier als Wissenschaftler gewann die Ober-hand. So eine klare Darstellung der Mondoberfläche hatte er noch nie gesehen. Die Aussicht, nun bald dort zu landen, weckte die Le-bensgeister in ihm.

Knapp zwei Stunden später saß Professor Zamorra in dem Formses-sel, von dem aus er den Bildschirm ganz überblicken konnte. Die Außenkameras des Spiders zeigten das kleine Fahrzeug, das sich vom Raumschiff entfernte. Doktor Timo Lew wirkte in seinem recht klobigen Raumanzug wie eine zu dick geratene Raupe, die auf Beu-tezug war. Kein besonders passender Vergleich, aber er entlockte Zamorra zumindest ein kleines Lächeln, mehr war nicht drin. Der Hauptgrund für die Besorgnis des Professors war der Landeort des Meegh-Raumers.

Der Oceanus Procellarum – das Meer der Stürme.Vor 40 Jahren war nicht weit von hier Apollo 12 niedergegangen.

Der Rückflug zur Erde verlief vollkommen unproblematisch, die Astronauten wurden gefeiert, die NASA feierte sich selbst – die Wis-senschaftler stürzten sich auf die Auswertung der mitgebrachten Gesteinsproben.

So weit – so gut – so normal im Ablauf der Dinge. Die Öffentlich-keit erfuhr jedoch nie, was sich bei der Auswertung dieser Proben ereignete. Auch Zamorra nicht. Doch im Jahr 2004 änderte sich das radikal. Asmodis, der ehemalige Fürst der Finsternis und Ex-Teufel,

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bat um ein Gespräch mit Zamorra und Nicole Duval. Was er zu be-richten hatte, klang bedrohlich:

Eine der Geologinnen, die 1969 für die NASA arbeitete, war der Ausgangspunkt für das, was dann folgte. Ihr Name war Jolina Towns. Sie schaffte es, sich mit Gewalt einen ganz bestimmten Stein vom Erdtrabanten anzueignen, denn etwas in ihr lenkte ihre Hand-lung. Es war ein mächtiges Wesen, das sich durch diesen Stein die Flucht von der Erde ermöglichen wollte, denn es war in einer bösen Falle gefangen – im Bewusstsein Jolinas.

Doktor Towns war eine der Personen, die eine multiple Persönlich-keit in sich trug, eine Dissoziative Identitätsstörung, die sich darin äu-ßerte, dass sich in ihnen mehrere komplett ausgereifte Persönlich-keiten befanden, die sich – der jeweiligen Situation entsprechend – nach vorne drängten oder in den Hintergrund stellten. Kinder, Män-ner, Frauen, künstlerisch begabte, Beschützertypen, verletzbare We-sen – all das konnte sich gleichzeitig dort manifestieren.

Die Dissoziative Identitätsstörung war nach wie vor eine umstrittene Diagnose, die von einem Teil der Ärzte und Wissenschaftler glatt-weg als nicht existierend abgelehnt wurde. Dennoch gab es erstaun-liche Beispiele, wenn eine Person plötzlich fremde Sprachen be-herrschte, die Fähigkeiten eines Konzertpianisten zeigte oder groß-artige Gemälde anfertigen konnte. Ein weites Feld, das noch lange nicht wirklich beackert worden war.

Jolina Towns trug fünf solche Personen in sich, plus den soge-nannten Schatten, einen MÄCHTIGEN, der sich in diesem verwirrenden Bewusstsein selbst gefangen hatte. Er wurde von den anderen Per-sönlichkeiten ruhiggestellt, doch er strebte danach, diesen Körper endlich wieder verlassen zu können. Dazu brauchte er den Stein vom Mond.

Den schwarzen Dhyarra – entartet und von enormer Gefährlich-keit.

Vor unendlich langer Zeit hatten die EWIGEN diese Gefahr hier auf dem Mond abgeworfen, denn sie konnten ihn nicht mehr kon-trollieren. All die Jahre hatte er dort inaktiv gelegen. Warum das so war, erfuhr Zamorra, als es beinahe zu spät war. Jolina Towns trug den Dhyarra unwissend als Talisman an einer Kette um ihren Hals.

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Die Jahre vergehen, doch Jolina altert nicht. Mehrfach muss sie um-ziehen, sich ein ganz neues Leben schaffen, weil ihre Freunde, ihre Familie, alt werden, nur sie bleibt die junge Mittzwanzigerin, die der Natur scheinbar mühelos trotzt.

2001 – am 11. September – befindet sich Jolina Towns in New York. Sie fühlt sich verfolgt und flieht in das World Trade Center. Das Letzte, was sie sieht, ist die Nase eines riesigen Flugzeugs, das genau auf sie zuhält. Ihr Leben endet im Terror … und Ground Zero gibt auch den schwarzen Dhyarra nicht wieder frei.

Doch es gibt ihn noch in der Spiegelwelt! Und dort wurde er nicht vernichtet, weil die dortige Jolina Towns sich nicht in New York be-fand – ihr Leben in der Spiegelwelt war völlig anders verlaufen, als das ihres Pendants auf der Erde. Asmodis bat Zamorra und Nicole, ihn in die Spiegelwelt zu begleiten, denn die Gefahr des schwarzen Kristalls musste irgendwie beseitigt werden. Die Gefahr, die ganze Welt zu zerstören.

Mit Zamorra und Nicole wechselte Asmodis in die Spiegelwelt. Die Jagd nach dem schwarzen Dhyarra begann. Sie endete schließ-lich im Bauch New Yorks, in der U-Bahn, deren stillgelegte Teile eine Subkultur hervorgebracht hatten, die kaum jemand wahrnahm.

Asmodis nahm den schwarzen Kristall in sich auf und die drei wechselten zurück zur Erde. Der Ex-Teufel dämmte die zerstöreri-sche Macht des Steins, doch es war nur eine Frage der Zeit, dass As-modis unterliegen würde. Die rettende Idee kam Zamorra erst, als es fast schon zu spät war.

Der Dhyarra hatte eine Ewigkeit ohne jede Aktivität auf dem Mond geruht. Erst als er Kontakt zu Lebewesen bekam, erwachte er und wurde im Lauf der Jahre zur unkontrollierbaren Zeitbombe. Er brauchte Leben! Er brauchte die Nähe von Intelligenz, um agieren zu können. Zamorra reagierte gerade noch rechtzeitig: Er brachte Asmodis zum Mond, entfernte sich selbst so weit, dass der Kristall nicht mehr auf ihn reagieren konnte. Das Ergebnis war verblüffend. Der Dhyarra löste sich widerwillig aus Asmodis' Körper, sank kraft-los zu Boden und wurde wieder zu dem, was er so lange gewesen war – ein Teil des riesigen Steinbrockens, der um die Erde kreist. Die Gefahr war gebannt und würde es auch bleiben, denn die

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NASA plante nicht unbedingt weitere bemannte Flüge zum Mond.Das alles hatte sich nur wenige Kilometer vom jetzigen Landeplatz

des Spiders abgespielt. Weit genug entfernt, um den entarteten Kris-tall nicht wieder zu aktivieren. Davon war er überzeugt … wenn auch ein letzter Rest an Zweifel in seinem Hinterkopf anklopfte.

»Was macht denn der da?«Es war Aartje Vaneiden, die Zamorra aus seinen Gedanken riss.

Ein Blick auf den Screen reichte aus, um zu sehen, was die Nieder-länderin meinte. Doktor Timo Lew hatte den Kurs seines Mondfahr-zeuges geändert. Er entfernte sich von der Stelle, die er für seine Un-tersuchungen angesteuert hatte.

Zamorra sprang in die Höhe, war mit zwei Schritten an seinem Terminal. Er aktivierte die Sprechverbindung zwischen dem Schiff und dem Empfänger in Lews Helm.

»Doktor Lew, wenden Sie unverzüglich, kommen Sie zum Schiff zurück. Doktor, antworten Sie!«

Mehr als ein Rauschen war in der Leitung nicht zu hören. Entwe-der wollte Lew nicht mehr antworten – oder er war dazu nicht mehr in der Lage. Zamorra versuchte es erneut, doch das Ergebnis blieb gleich.

War es möglich, dass der Dhyarra …? Noch immer war Zamorra sicher, dass dem nicht so war, doch er erkannte schnell, welche Richtung der Geologe eingeschlagen hatte. Er hielt direkt auf die Stelle zu, an der Asmodis den Kristall abgestoßen hatte. Der Para-psychologe reagierte.

»Wir müssen ihn einholen und an Bord bringen. Hier läuft etwas gewaltig schief.« Ehe er den Spider auch nur einen Millimeter von der Stelle bewegen konnte, kam die Meldung von Valentin Kobylan-ski.

»Etwas bewegt sich auf uns zu …«Zamorra reagierte heftig auf diese Ansage.»Etwas? Bitte ein wenig genauer, Valentin, okay? Was ist es, wie

schnell – wie groß?«Kobylanski war von dem Anpfiff unbeeindruckt. Er hatte Proble-

me, korrekte Daten zu übermitteln.»Okay – so genau wie nur möglich: Das Objekt ist klein, ver-

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schwindend klein, nähert sich mit exakt … 178 Kilometer in der Stunde. Was es ist, kann ich allerdings nun wirklich nicht sagen.«

Das musste er auch nicht, denn Zamorra wusste, was da auf sie zukam. Wie war das möglich? Auf gut 60 Kilometer Entfernung hat-te der verfluchte Kristall die Nähe von Leben gespürt – mehr noch, er war dadurch aktiviert worden.

»Wann erreicht das Objekt unser Gebiet?«Kobylanski zögerte wieder. »Es beschleunigt noch immer. Wenn

das so weitergeht, dann ist es in vier Minuten hier.«Zamorra blickte auf den Monitor. Er ahnte, welches Ziel der Kris-

tall hatte. Es musste eine Verbindung zwischen dem Dhyarra und Doktor Lew geben, die Zamorra sich nicht einmal ausmalen konnte. Sie würden es nicht schaffen, den Geologen rechtzeitig an Bord zu nehmen und zu starten. Doch sie mussten es versuchen. Was ande-res blieb übrig? Den Russen mit den Bordkanonen unter Beschuss zu nehmen, um zu verhindern, dass der Kristall ihn erreichen konn-te? Zamorra war kein Mörder!

»Höchster Alarm! Nicht fragen – agieren. Erklärungen später!« Za-morra gab kurze und spartanisch knappe Kommandos. »Vorwärts-schub in Richtung Doktor Lew. Den Schirm auf höchste Intensität und Ausdehnung. Wir müssen Lew unter den Schirm bringen, ehe das Objekt hier ist.«

Der Professor war sich selbst nicht sicher, ob das die richtige Ent-scheidung war, doch eine andere fiel ihm nicht ein. Würde der Schirm des Spiders den anfliegenden Kristall stoppen können? Min-destens für den Zeitraum, bis sie startklar waren?

»Grundgütiger!« Kobylanski verschlug es beinahe die Sprache. »Das Ding und unser Doc da draußen ziehen sich an wie Magnete. Zu spät, Zamorra. Wir schaffen es nicht mehr.«

Zamorra sah, wie Timo Lew das Mondfahrzeug gestoppt hatte. Er stieg aus dem offen gebauten Teil aus und streckte beide Arme nach vorne. Als würde er einen alten Freund begrüßen, ihn an seine Brust drücken wollen.

Die Lichtexplosion ließ die Mannschaft des Spiders die Hände vor ihre Augen schlagen. Zamorra wandte sich ganz einfach ab. Er konnte nicht fassen, was da gerade geschah. Und er hasste sich für

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seinen Leichtsinn. Er hätte das alles hier verhindern können – im Büro, in dem Timo Lew ihm sein Vorhaben erklärt hatte.

Er hatte es nicht getan.Instinktiv fasste Zamorra an seine Brust, dorthin, wo sonst Merlins

Stern hing, doch das Amulett hatte nach Merlins Tod erhebliche Ausfallerscheinungen gezeigt. Das war auch früher schon vorge-kommen, doch so, wie es jetzt war, konnte es Zamorra eher ein Hin-dernis als eine Hilfe sein.

Aus diesem Grund hatte er den Talisman Asmodis gegeben, damit er ihn neu einstellte … eichte.

Vielleicht hätte Merlins Stern ihn früher gewarnt?Es machte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, denn

was geschehen war, war geschehen. Aartje Vaneiden unterbrach Za-morras Grübelei.

»Er ist … weg. Einfach so verschwunden. Der Russe hat sich in Luft aufgelöst.«

Kobylanski konnte sich eine spitze Antwort nicht verbeißen. »In Luft, die es hier oben nicht gibt. Aber dieses Ding erscheint auch nicht mehr auf meinen Anzeigen. Das Mondfahrzeug hingegen steht ohne einen Kratzer an seinem Platz. Zamorra, was hat das zu bedeu-ten?«

Der Parapsychologe kannte die Antwort auch nicht genau, doch ihm war klar, dass der schwarze Dhyarra einen Weg gefunden hat-te, sein Gefängnis zu verlassen.

Wohin er mit Lew gegangen war, entzog sich der Kenntnis und Vorstellungskraft des Professors.

»Nehmt das Fahrzeug an Bord, dann starten wir zurück zur Erde.«Mehr sagte er nicht. Niemand fragte nach. Sie kannten Zamorra

alle recht gut. Seine Gedanken weilten jetzt schon an einem ganz an-deren Ort.

Zamorra musste in Erfahrung bringen, wo er den mutierten Dhyarra finden konnte.

Wenn es einer wusste, dann Asmodis.Und genau den wollte er nun aufsuchen.

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3. Ort der Trümmer

»Ein Dreibein ist die kleinste,aus drei miteinander verbundenen Stäben

bestehende statisch bestimmte Konstruktion,die kippfrei auf jedem beliebigen

Untergrund stehen kann.«Zitat – Wikipedia

Belkar beobachtete belustigt die Versuche seiner Schwester, auf dem unsicheren Untergrund irgendwie einen festen Stand zu erreichen. Tiekar war unter den Dreibeinen verschrien als das großmäuligste aller weiblichen Exemplare. Sie ging Belkar ehrlich gesagt oft mäch-tig auf die Nerven.

Doch sie war seine Zwillingsschwester – was sollte er da machen? Natürlich sagte man den Dreibeinen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit nach, die perfekten Kletterer zu sein, da ihr drittes Bein eine nicht zu unterschätzende Hilfe gerade auf Geröll und Splitter war. Das stimmte ja auch … im Prinzip. Wenn man seinen Körper denn beherrschte.

Tiekar war jedoch keine begnadete Kletterin. Das war sie schon als Kind nicht gewesen. Bei Dreibeinen waren Zwillingsgeburten die Regel. Es hatte Zeiten gegeben, da war das Volk so weit gegangen, Einzelkinder zu töten, ehe sie auch nur ihren ersten Schrei getan hat-ten.

Diese Zeiten waren vorüber, doch die übrigen alten Riten wurden bewahrt und angewandt. In den Nächten, wenn die Feuerfeste gefei-ert wurden, wurden immer wieder die Geschichten erzählt, die sich um die Herkunft der Dreibeine rankten. Ja, Geschichten – eine ganze Menge sogar, denn es gab ungezählte Variationen, was die alte Zeit anging. Die Zeit, bevor die Dreibeine zu einem der niedrigsten Hilfsvölker der Schwefelklüfte geworden waren.

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Die Schwarze Familie, und selbst die, die dort am unteren Ende der Leiter hockten, behandelten das Volk der Dreibeine wie Dreck. Die allermeisten Dämonen weigerten sich sogar, die Dienste dieser Rasse in Anspruch zu nehmen. Demütigungen waren gang und gäbe. Es war schon erstaunlich, dass diese Rasse nicht die Selbstach-tung verloren hatte, aber dem war nicht so.

Die Geschichten, die Belkar und seine Schwester immer so gerne gehört hatten, erzählten von dem, was früher einmal gewesen war. Eine der Geschichten hatte Belkar immer besonders gut gefallen. Sie handelte von der Welt, auf der die Dreibeine vor Tausenden von Jahren glücklich und frei gelebt hatten. Einer bunten und fröhlichen Welt, auf der es so etwas wie Magie nicht gab, sondern nur hart ar-beitende, zufriedene Dreibeine, die überhaupt nicht auf die Idee ka-men, sich gegenseitig zu bekriegen.

Doch dann war Luzifer mit seinen Horden auf diese Welt gekom-men und hatte ihre Bewohner mit in die Hölle genommen. Eine wirklich schöne Geschichte mit einen traurigen Ende.

Doch sie war zu schön, um wirklich die Wahrheit zu erzählen.Andere Legenden berichteten, die Dreibeine wären dereinst ein

Kriegervolk gewesen, mächtig und stolz, bis sie von einer Seuche heimgesucht wurden, die fast die Hälfte von ihnen dahingerafft hat-te. Von diesem Schlag hatten sie sich dann nie wieder ganz erholt, waren degeneriert und hatten sich selbst aufgegeben.

Oh ja, es gab so viele Geschichten, wie die von den Göttern der Dreibeine, die ihrer Kinder überdrüssig wurden und sie in die Hölle verbannten; oder die von drei Zauberern, die der damals noch zwei-beinigen Rasse ein drittes Bein angezaubert hatten, weil die sie nicht auf ihrer Welt aufnehmen wollten.

Märchen, Gruselgeschichten, heroische Träumereien. Von allem etwas. Nicht nur die Kinder liebten diese Erzählungen sehr. Sie lie-ßen für kurze Zeit vergessen, was man in den Schwefelklüften wirk-lich war – das allerletzte Glied einer Kette, der Fußabtreter für alle und jeder!

Doch dann war etwas geschehen, das die Dreibeine aus ihrer Le-thargie gerissen hatte.

Aus dem Nichts heraus war in der Hölle die weiße Stadt Arma-

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kath entstanden. Schlohweiße Gebäude von einer architektonischen Vielfalt, wie sie die Wesen der Schwefelklüfte noch nie zuvor gese-hen hatten. Die Stadt war von einer Mauer umgeben, die unüber-windbar schien; viele hatten es versucht – aus Neugier oder Hab-sucht, denn man vermutete kostbare Schätze hinter dem Wall, der so gut geschützt war.

Nach und nach begann die Stadt zu wachsen, sich auszudehnen. Die Mächtigen der Schwarzen Familie kümmerten sich nicht sonder-lich um diese Anomalie, die anscheinend keinerlei Bedrohung dar-stellte. Die alten Dämonen, Teufel und Vampire waren davon über-zeugt, dass etwas, das so unvermittelt entstanden war, auch wieder genauso schnell vergehen würde. Die Hölle war ein äußerst instabi-ler Ort. Schon am kommenden Tag könnte der ganze Spuk beendet sein. Doch sie irrten sich, denn Armakath barg in sich ihre eigene Stabilität.

Einzig Stygia, die damals noch Fürstin der Finsternis war, wollte sicher sein, dass ihr und ihrem Thron kein Unheil von Seiten der Stadt drohte. Also schickte sie ihre Amazonen aus, die versuchten in Armakath einzudringen. Es wollte ihnen nicht wirklich gut gelingen – nicht einmal aus der Luft, denn die kriegerischen Frauen waren Drachenreiterinnen. Es gab ein paar Scharmützel mit der Wächterin der Stadt und ihrem Krieger, doch Armakath blieb im Prinzip Sperr-zone. Stygia kochte, doch das tat sie oft, wenn man ihr nicht ihren Willen ließ.

Ein steinernes Monument, ein wachsender Moloch in strahlendem Weiß, der sich nicht den Gesetzen der Hölle unterwarf. War es da ein Wunder, wenn die niedrigsten Kreaturen der Schwefelklüfte be-gannen, diese Stadt zu verehren? Mehr noch – sie fingen an, in Ar-makath ein Fanal für eine bessere Zukunft zu sehen, beinahe eine steinerne Gottheit, die nur hier erschienen war, um ihnen einen neu-en Weg aufzuzeigen.

Die daraus folgernde Konsequenz war nur logisch:Rund um die Stadtmauer entstand eine Zeltstadt, in der sich nicht

nur die Dreibeine aufhielten, denn es gab in den Schwefelklüften ungezählte Hilfsvölker, denen es nicht besser als ihnen erging. Spä-ter kam ein großer Markt hinzu. Doch die Nächte gehörten den

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Dreibeinen. Sie zelebrierten ihren Feuertanz, bei dem sich die Ju-gend des Volkes in einem immer schneller und schneller werdenden Wirbel um ihre eigenen Achsen drehten. Dadurch gerieten sie in Trance, schlüpften in ein anderes, unbekanntes Bewusstseinsstadi-um. Nicht wenige von ihnen stürzten sich am Ende des Tanzes in die großen Feuerbecken, die in der Höllennacht leuchteten. Diese Selbstmörder wurden von allen anderen beneidet, denn sie waren nun sicher im Inneren der weißen Stadt bei ihrer Gottheit.

Belkar hatte nie wirklich daran glauben können, doch es gekörte zur Mentalität seiner Rasse, sich selbst den Tod zu geben, wenn man die Stufe der Glückseeligkeit einmal erreicht hatte. Belkar neigte nicht zu solchen Handlungen, doch bei Tiekar war er sich da nicht so ganz sicher. Seine Schwester war labiler als er. Eine ganz Zeit über gab es aus der Stadt heraus keinerlei Reaktionen auf den Tru-bel, der vor ihren Mauern ablief.

Dann, ohne jede Vorwarnung, war auf der Mauer ein Wesen auf-getaucht. Alle, die es gesehen hatten, waren vor Schreck wie erstarrt, denn es war groß, mit Muskeln bepackt, splitternackt und strahlte eine kalte Gewalt aus. Sahen so die Bewohner Armakaths aus? Zum Denken waren die Dreibeine jedoch nicht gekommen. Aus dem Mund des Wesens, den es zu einem riesigen Trichter formen konnte, spie mörderisches Feuer. Es war ein Massaker, denn die Wesen vor der Mauer hatten keine Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Belkar hatte schneller als die meisten reagiert und die Hand seiner Schwes-ter fest gepackt. Dann war er losgelaufen – nur weg von der Mauer!

Die Geschwister hatten überlebt, doch der Rest ihrer Familie war in den Flammen umgekommen. Für eine gewisse Zeit waren die Dreibeine nun vorsichtig geworden. Sie hielten sich von der Stadt fern, doch dann begannen die Ersten damit, die vollkommen ver-nichtete Zeltstadt wieder aufzubauen. Wo sollten sie hin? Noch im-mer glaubten sie an die Stadt. Vielleicht war dieser schlohweiße Kil-ler ja nur eine Prüfung für die Dreibeine gewesen?

Als die Stadt sich dann in einen Kokon hüllte, der bis in den Him-mel reichte, waren die Dreibeine sicher, dass nun bald der große Tag kommen würde. Der Tag der Veränderung, der Tag, an dem sie auf-gewertet würden. Demütig und ergeben zogen sich die Dreibeine

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von dem Kokon zurück, ließen ein wenig Raum zwischen der schla-fenden Stadt und sich.

Als der Tag der Entscheidung um die weiße Stadt schließlich kam, lief er anders ab, als sie es sich gedacht hatten. Vollkommen anders. Wesen tauchten vor dem Kokon auf – einfach so, wie aus dem Nichts heraus. Erst waren es nur wenige, dann Hunderte. Sie um-schlossen den Kokon mit ihren Körpern. Dann begann es. Niemand der Dreibeine verstand, was da geschah, aber sie wagten es auch nicht, sich den Wesen zu nähern, die so verschieden aussahen, doch offensichtlich ein gemeinsames Ziel hatten.

Plötzlich war ein Summen in der Luft gewesen, dann ein Zittern, ein Vibrieren.

Der Kokon begann sich zu bewegen, erst wie ein Blatt im Wind-hauch, kaum zu erkennen, doch dann steigerte sich diese Entwick-lung mehr und mehr. Schließlich konnte es jeder sehen, dass die Hülle um Armakath einen Reigen tanzte, sich in sich verdrehte und dabei Töne von sich gab, die in den Ohren der Dreibeine wie ein To-desschrei klangen.

Und so war es ja auch. Der Kokon zerstörte sich selbst und als er kollabierte, in sich zusammenbrach, da setzte sich dieser Schrei in den Reihen der Dreibeine fort, die das alles aus sicherer Entfernung beobachteten.

Mit einem Mal war die Stadt wieder sichtbar, die Mauer – doch die zerfiel nun, so wie die Gebäude Armakaths es taten. Ein Inferno aus Lärm und Staub rollte auf die Beobachter zu, die sich rasch in Si-cherheit bringen mussten, um nicht davon überflutet zu werden.

Als der weiße Staub sich schließlich setzte, als auch das letzte Donnergrollen eines einstürzenden Gebäudes verklungen war, sa-hen die Dreibeine, was von der Stadt übrig geblieben war, in die sie ihre Hoffnungen gesetzt hatten.

Ein Meer aus Schutt, weißen Steinen und den Resten von Häusern, die sich einfach zu weigern schienen, sich auf die Ebene Null zu le-gen; Kuppelbauten, von denen maximal ein Drittel geblieben war, riesige Hochhäuser, deren Überreste wie drohende Finger in den Himmel ragten, hier und da ein Kirchturm, eine Moschee. Alles schien extrem fragil. Belkar war sicher, dass bereits ein Windhauch

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ausreichen mochte, sie allesamt endgültig zu Fall zu bringen.Dann kamen Tage, an denen die Gemeinschaft der Dreibeine aus-

einanderfiel. Ein Teil von ihnen wandte sich resigniert und mutlos zurück in die Schwefelklüfte – irgendwohin. Es wartete sicher ir-gendwo ein Dämon oder einer dieser arroganten Vampirfürsten, die Handlanger brauchten … Sklaven, die sie demütigen und beherr-schen konnten.

Der Rest der Dreibeine jedoch blieb bei dem Trümmerfeld.Da war etwas an dieser weißen Stadt gewesen, das sie gefesselt

und berührt hatte. Das konnten sie sich doch nicht alles nur einge-bildet haben. Armakath war Geschichte, doch irgendwo unter den unzähligen Tonnen von Stein und Staub musste etwas ruhen, das ih-nen neue Hoffnung schenken würde.

Und so zogen die Dreibeine in die Trümmerwelt der gestürzten weißen Stadt.

Sie hatten keine Ahnung von den wahren Hintergründen – warum es Armakath überhaupt gegeben hatte, wer die Herrscher waren, warum die Knotenwelten und schließlich auch das Weltennetz ge-scheitert waren. Davon wussten sie nichts. Sie wollten nichts weiter als eine Bleibe, vielleicht sogar eine neue Heimat, auch wenn die aus Ruinen bestand.

Und sie wollten weiter suchen – nach einem Sinn, nach einer Chance.

Belkar fing seine unkontrolliert nach unten rutschende Schwester auf, damit sie sich nicht am Ende noch eines ihrer drei Beine brechen würde.

»Meine Güte. Du bist wie ein Sack voller Irrlichter. Die kann auch niemand hüten, ohne dabei am Ende selbst drauf zu gehen. Nun versuch doch endlich einmal deine Beine zu koordinieren. Oder bist du zu dumm dazu?«

Tiekar schlug mit einem ihrer dürren Arme nach ihm, doch anstatt dass ihre Finger ihm kräftig ins Gesicht schlugen, wischten sie nur ungeschickt durch die Luft. Der Schwung dieser unüberlegten Akti-on reichte aus, um Tiekar erneut ins Straucheln zu bringen. Und die-ses Mal kam Belkar ihr nicht zur Hilfe. Sie rutschte den Schutthügel ein paar Meter nach unten, ehe sie sich endlich fangen konnte.

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Belkar hörte seine Schwester wütend fluchen, doch er verstand nicht, was sie ihm da für Nettigkeiten zu sagen hatte. Gut so. Seit vielen Tagen und Wochen durchstreiften sie und die anderen Drei-beine die Trümmerstadt. Keiner von ihnen wusste wirklich, wonach sie suchten.

Wahrscheinlich war es nur der Traum, dem sie hinterher hechel-ten, der Traum, der mit dem Ende der weißen Stadt gestorben war. Sie alle wollten das nur nicht akzeptieren.

Belkar hob seine Stimme an. »Komm, Tiekar, für heute reicht es. Lass uns zu den anderen zurückgehen. Ich will nicht von der Dun-kelheit überrascht werden. Los, da geht es lang.« Er wies mit einem Arm nach rechts. Tiekar antwortete ihm nicht, doch sie bewegte sich in die vorgegebene Richtung. Langsam und vorsichtig bewegte sich Belkar auf dem abschüssigen Trümmerfeld nach unten, um zu sei-ner Schwester aufzuschließen. Den Weg zurück zu dem noch halb-wegs intakten Kuppelbau, in dem sich die Dreibeine eingenistet hat-ten, würde er immer finden; man sagte Belkar einen außergewöhn-lich guten Orientierungssinn nach.

In und um den Kuppelbau herum hatten die Dreibeine ihre Feuer-schalen aufgestellt. Die Nächte waren kalt. Zudem wollten sie auch hier nicht auf die Feuertänze verzichten. Belkar hatte Sorge, dass, je länger sie hier nach etwas suchten, das es vielleicht überhaupt nicht gab und nie gegeben hatte, die Selbstmordrate bei den Tänzen rapi-de ansteigen würde.

Er wusste, dass auch Tiekar stark gefährdet war, sich dem Feuer hinzugeben.

Bisher hatte er das immer noch verhindern können.Tiekars Entsetzensschrei riss ihren Bruder aus seinen Gedanken.

Nur für einen oder zwei Momente hatte er sie aus den Augen gelas-sen. Und nun war sie nicht mehr zu sehen. Was hatte ihre Unge-schicklichkeit ihr nun wieder angetan?

Belkar ließ alle Vorsicht beiseite und rutschte mehr oder weniger geschickt zu dem Punkt, an dem er seine Zwillingsschwester eben noch hatte stehen sehen. Er bremste, so gut es ihm nur möglich war, ab, als er die Stelle erreicht hatte. In letzter Sekunde sah er das Loch, das sich unter seinen Füßen auftat. Belkar griff zu, als er die Mauer-

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reste links neben sich aus den Augenwinkeln heraus bemerkte. Einen Herzschlag lang hing er frei über der Bodenöffnung, doch dann schaffte er es, seinen hageren Körper auf die Mauer zu ziehen.

Er spürte sein Herz rasen. Tiekar war in diesen Schacht gefallen, keine Frage, und ihm wäre beinahe das Gleiche passiert. So laut er nur konnte, schrie er in die Finsternis hinein.

»Tiekar! Gib Laut – ist dir etwas passiert? Nun melde dich doch!«Es dauerte endlos lange, bis die Antwort kam. Tiekars Stimme

klang nicht wie sonst üblich polternd und derbe, wie die eines Fel-strolls, nein, sie kam eher weinerlich und voller Angst zu Belkar in die Höhe.

»Belkar? Ich bin hier unten. Nein, mir ist nichts passiert … glaube ich zumindest. Hier geht es nicht mehr steil nach unten, sondern ganz sanft.«

Sanft wie deine Stimme, dummes Schwesterlein. Belkar sprach diesen Gedanken nicht aus. Zu groß waren seine Sorgen um Tiekar. »Bleib, wo du bist, ich komme zu dir.« Er bekam keine Antwort. Die Furcht schien Tiekar die Sprache verschlagen zu haben. Dass er das noch erleben durfte!

Belkar blickte sich hastig um. Außer dem Mauerrest, an den er sich nach wie vor klammerte, konnte er keinen brauchbaren Halt entde-cken. Also musste der herhalten. Belkar löste das Seil von seinem Gürtel. Er hatte rasch begriffen, wie nützlich so ein ordentliches Stück Kletterseil in diesem Trümmerhaufen sein konnte und trug es stets bei sich. Rasch hatte er das Tau befestigt und ließ sich vorsich-tig daran in die Tiefe gleiten.

Tiekar hatte Recht – das Loch erwies sich schon nach nur wenigen Metern als Schacht, der ab hier sanft in die Tiefe führte.

In die Tiefe.War es nicht genau das, was alle seit einer kleinen Ewigkeit hier

suchten? Es war nur eine Vermutung, doch viele der Dreibeine glaubten, Armakath hätte sein Herzstück tief unter der Oberfläche der Schwefelklüfte. Bislang hatte niemand so einen Einstieg finden können. Vielleicht war Tiekars Ungeschicklichkeit ja der Beginn ei-ner großen Entdeckung?

Von Tiekars Demut war allerdings nicht viel übrig geblieben, als

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ihr Bruder sie erreicht hatte.»Wird auch Zeit, dass du endlich kommst. Ich dachte schon, du

wolltest mich hier vergammeln lassen.«Belkar hatte keine Lust auf die Zickigkeit seiner Schwester. Dafür

war die Situation viel zu ernst und unter Umständen viel zu ent-scheidend.

»Halt den Mund, nur ein einziges Mal, ja?« Als Tiekar Kontra ge-ben wollte, setzte er sofort nach. »Komm, halte dich hinter mir. Wir beide werden uns jetzt anschauen, was es da unten zu finden gibt.« Das nahm Tiekar den Wind aus den Segeln. Sie nickte nur und hielt sich brav hinter ihm. Überall lagen Trümmerstücke herum. Dazwi-schen, auch an den Wänden und der Decke des Ganges, sah Belkar Wurzeln – hauchfeines Gespinst und auch beindicke Stränge. Sie be-wegten sich mit äußerster Vorsicht, denn Belkar traute diesem Gang nicht. Aber sie brachen nicht ein, wurden durch keine unüberwind-lichen Hindernisse aufgehalten.

Schließlich wurde der Abstieg seichter und seichter.Dann war es so weit – vor den Zwillingen tat sich eine riesige

Höhle auf. Ganze Felsbrocken mussten sich hier beim Einsturz der Stadt von der Decke gelöst haben, denn überall konnte man erken-nen, wie Gestein mit Wucht in den Boden eingedrungen war. Als sie fast das Zentrum der Höhle erreicht hatten, schrie Tiekar auf.

Unter einem großen Steinbrocken ragte ein Arm hervor!Belkar betrachtete den Toten näher, beziehungsweise das, was von

ihm übrig geblieben war. Der Fels hatte seinen mächtigen Körper zerschmettert, doch als Belkar das Gesicht des früher sicher mächti-gen Wesens erblickte, wurde ihm sofort klar, dass es nicht der Fels gewesen war, der es getötet hatte. Es war bereits vorher ums Leben gebracht worden – das Gesicht war nur noch eine formlose, voll-kommen entstellte Masse, die nicht ahnen ließ, wie der Tote früher einmal ausgesehen hatte.

Doch Belkar erkannte ihn dennoch. Dieses Wesen war der Killer gewesen, der vom Dach der Stadtmauer aus ein Massaker unter den Dreibeinen angerichtet hatte. Angewidert verzog Belkar das Gesicht. Der Killer hatte einen harten Tod erleiden müssen, doch Mitleid konnte Belkar für ihn nicht empfinden.

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Er konnte ja nicht ahnen, dass er den Ductor Pykurr vor sich hatte, der durch Artimus van Zant hier getötet worden war. Pykurr war nicht der Mörder der Dreibeine gewesen, dieses Verbrechen hatte ein andere Ductor verübt. Für Belkar gab es da jedoch keinen Unter-schied.

Tiekar stieß ihren Bruder an. Als er zu ihr blickte, sah er, dass sie einen Finger an die Lippen geführt hatte. Sie gebot ihm zu schwei-gen. Und im nächsten Moment erkannte er den Grund für diese un-gewöhnliche Verhaltensweise seiner Zwillingsschwester.

Am hinteren Ende der Höhle flackerte ein Licht.Ein schwarzes Licht!Gleich darauf hörten die beiden ein Schlurfen. Ganz so, als würde

sich jemand nähern, der ganz einfach seine Füße nicht vom Boden heben konnte.

Tiekar raunte ihrem Bruder zu. »Los, lass uns von hier verschwin-den. Zurück in diesen Gang. Schnell …« Sie wusste genau, dass die Neugier Belkars das niemals zulassen würde, doch zumindest hatte sie es versucht.

Das Geräusch wurde immer lauter – das Licht näherte sich rasch.Belkar glaubte ein humanoides Wesen erkennen zu können, doch

er war sich absolut nicht sicher, um welches Wesen aus den Schwe-felklüften es sich hier handeln mochte. Oder näherte sich da ein Be-wohner der weißen Stadt?

Natürlich hatte Tiekar Recht, denn sie konnten nicht wissen, ob ihr Leben vielleicht in höchster Gefahr war. Doch dieses Mal zögerte Belkar. Vielleicht diesen einen Augenblick zu lang, doch wahr-scheinlich hätte auch eine rasche Flucht nichts gebracht.

Das fremde Wesen blieb nur wenige Schritte vor den Geschwistern stehen. Belkar hörte, wie seine Schwester heftig ausatmete. Er konn-te ihre Verblüffung durchaus verstehen, denn selbst in den Schwe-felklüften, in denen man den mannigfaltigsten Erscheinungsformen begegnen konnte, hatte Belkar nichts Vergleichbares gesehen.

Der Fremde war nur wenig größer als die beiden Dreibeine, doch sein nackter Körper wirkte gegen sie aufgebläht und plump. Doch das war es nicht, was Belkar so verblüffte und fesselte. Es war die Haut des Fremden. Sie war vom tiefsten Schwarz, das man sich nur

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vorstellen konnte, schien aus Tausenden von Facetten zu bestehen, so wie die Augen von manchem Insekt. Doch der Vergleich hinkte, denn er gab den Eindruck nicht wieder, den der Betrachter erlangte. Belkar erinnerte sich daran, dass er bei einem der alten Vampirfürs-ten einmal einen riesigen Diamanten gesehen hatte, in dessen Schliff sich das Licht brach und in allen nur denkbaren Farben reflektiert wurde.

Ja, das kam der Haut dieses Wesens nahe, doch hier schien das fahle Licht der Höhle in die einzelnen Facetten gesaugt zu werden; es war, als hörte es auf zu existieren. Dennoch leuchtete der Fremde aus sich heraus.

Was für einer Kreatur standen sie hier gegenüber?Der Fremde erhob einen Arm, machte mit seiner Hand eine umfas-

sende Bewegung, in der eine Frage lag, die er dann aussprach. Seine Stimme klang hohl und emotionslos. Dennoch konnte Belkar darin so etwas wie Irritation entdecken.

»Was ist das alles hier? Wo bin ich?«Tiekar machte eine Fluchtbewegung, doch ihr Bruder hielt sie zu-

rück. Es war sicher unklug, den Fremden gegen sich aufzubringen. Belkar versuchte ruhig zu antworten, was ihm jedoch nur teilweise gelingen wollte.

»Das hier ist ein Ort unter dem Trümmerfeld der weißen Stadt Ar-makath. Und die befindet sich in der Hölle.« Andere Worte wollten ihm nicht einfallen. Zumindest hatte er alles gesagt, was wichtig war. Doch der Fremde schien den Sinn von Belkars Rede nicht zu begreifen.

»Ich kenne diese Orte und Namen nicht.« Er drehte sich langsam einmal um die eigene Körperachse. »Doch diese Begriffe sind ja auch unwichtig – ich werde sie neu definieren, später. Wenn das hier unten ist, dann führt mich nun nach oben. Ich will mir meine Welt betrachten.«

Belkar blieb ein Lachen sauer im Hals stecken. Seine Welt? Wer der Kerl auch sein mochte – ganz sicher war er größenwahnsinnig. Bel-kar wollte etwas sagen, wollte sein Gegenüber aufklären, wie die wahren Machtverhältnisse in den Schwefelklüften aussahen, doch er brachte kein Wort heraus. Irgendetwas füllte mit einem Mal seinen

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eigenen Willen mit dem des Fremden aus – für Gegenwehr oder Flucht war da plötzlich überhaupt kein Platz mehr vorhanden.

Entsetzt registrierte er, dass sich seine drei Beine in Bewegung ge-setzt hatten. Vor ihm ging Tiekar, die nicht minder beeinflusst schi-en. Sie machte sichere, kontrollierte Schritte, die zu ihrem Wildfang-charakter absolut nicht passten.

Belkar nahm alle Kraft zusammen, die ihm noch geblieben war. Sie reichte für eine einzige Frage.

»Wer bist du?«Der Fremde blickte auf das Dreibein, als würde er den Sinn dieser

Frage nicht verstehen können.»Wer ich bin, fragst du? Ich bin der Herrscher dieser Welt, die du

Hölle nennst. Ich bin ihr neuer Herr, Meister und Bestimmer über alles, was hier geschieht und geschehen wird. Und es wird noch viel geschehen, denn eine Welt ist mir nicht genug. Mehr musst du nicht wissen.«

Belkar setzte sich wieder in Bewegung, gesteuert von dem Willen seines neuen Herrn. Als sie den Schachtausgang erreicht hatten, blickte er sich noch einmal um. Hinter ihm herrschte Finsternis, denn jede Stelle, die des Fremden Schritte passiert hatten, war nun schwarz wie das All.

Er nahm seine Welt wahrlich in Besitz …

Professor Zamorra spürte die Veränderung, die in Asmodis' Charak-ter abgelaufen waren. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Zamorra den Ex-Teufel wahrhaftig für eine Art Freund und Mitstreiter gegen die dunkle Seite gesehen hatte.

Asmodis war jetzt nicht feindselig dem Professor gegenüber, wirk-lich nicht, doch Zamorra kannte seinen alten Feind doch gut genug, um zu erkennen, dass der eine Entwicklung durchgemacht hatte – oder noch machte.

Nach Merlins Tod hatte der Wächter der Schicksalswaage einen adäquaten Ersatz für den alten Zauberer gesucht. Die Wahl war auf Asmodis gefallen, was nur logisch war. Asmodis war nun ein Die-ner der Schicksalswaage, was neue Aufgaben und eine Menge

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Pflichten für ihn bedeutete. Zamorra glaubte nicht, dass Asmodis davon begeistert war. Als Sid Amos hatte er auf der Erde zwar im-mer seine Fäden gezogen und Netze in alle Richtungen ausgewor-fen, doch nun war er weitaus mehr gebunden als ihm das lieb sein konnte.

Zamorra hatte ihn problemlos erreicht, als er wieder mit dem Spi-der auf der Erde gelandet war. Sie trafen sich an einem neutralen Ort, nicht weit von der Tendyke-Industries-Zentrale entfernt. In dem Gebäude selbst war Asmodis nach wie war ein ungebetener Gast, denn der Sohn des Ex-Teufels – Robert Tendyke – legte absolut kei-nen Wert darauf, seinen Erzeuger zu treffen.

Asmodis machte einen äußerst fahrigen Eindruck. Wahrscheinlich hinderte ihn Zamorra daran, eine wichtige Aufgabe zügig zu erledi-gen. Der Professor war erstaunt, Asmodis in der Aufmachung zu se-hen, die er früher oft für sich gewählt hatte. Sein blauschwarzes Harr hatte er streng nach hinten gekämmt und es zu einem Pferde-schwanz gebunden; Seidenhemd und Hose waren schwarz, wie auch die derben Stiefel. Asmodis' Augen glühten wie Kohlen, seine dichten Augenbrauen schienen ein Eigenleben zu besitzen und seine scharf hervorstechende Hakennase rundete das Gesamtbild ab. So mochten in vergangenen Jahrhunderten spanische Edelleute ausge-sehen haben.

Zamorra spürte die Ungeduld und den unterschwelligen Unwil-len, den Asmodis nicht zu verhehlen versuchte, also kam er direkt zur Sache. In kurzen Sätzen berichtete er ihm, was auf dem Mond geschehen war. Bei jedem Wort des Franzosen bewegten sich Asmo-dis' Wangenknochen auf und ab. Als Zamorra geendet hatte, schwieg der Ex-Teufel für eine lange Zeit. Dann brach es aus ihm hervor.

»Verdammt, Zamorra, das hättest du verhindern müssen.« Der Pa-rapsychologe antwortete nicht, denn was hätte er sagen sollen? Er machte sich selbst große Vorwürfe, doch die änderten nichts an dem, was geschehen war.

Asmodis schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann den schwarzen Kristall auf der Erde nicht orten, und wenn er hier wäre, dann wür-de ich das ganz sicher merken. Schließlich habe ich ihn eine Zeitlang

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ja in mir getragen. Warte hier auf mich.« Ehe Zamorra etwas erwi-dern konnte, war Asmodis auch schon verschwunden. Nur ein leichter Schwefelgeruch blieb in der Luft. Es dauerte über eine Stun-de, ehe er unvermittelt direkt vor Zamorra auftauchte.

Der Professor glaubte feine Schweißperlen auf der Stirn von Mer-lins schwarzem Bruder entdecken zu können. Tatsächlich machte Asmodis einen geschwächten Eindruck. Doch er fing sich rasch wie-der.

»Er ist in der Hölle gelandet. Verflucht, wie konnte das nur ge-schehen?«

Zamorra ahnte, wie es dazu gekommen sein mochte, doch auch das war reine Spekulation: Die Erde und die Hölle lagen dicht bei-einander – nur durch einen einzigen Schritt getrennt, sagte man. Es wäre nicht das erste Mal, dass etwas den einen Zielort verpasst hatte und im zweiten gelandet war.

Asmodis sprach weiter.»Der Dhyarra ist eine Verschmelzung mit diesem …«»Timo Lew.«Asmodis nickte. »Ja, richtig, Timo Lew und der schwarze Kristall

sind nun eins. Ich kann den Grund nicht erkennen, den Sinn erst recht nicht, aber es ist eine Tatsache.«

Zamorra machte einen Einwurf.»Besteht die Vernichtungsgefahr durch den Dhyarra nach wie

vor?« Vor fünf Jahren war es in wirklich letzter Sekunde gelungen, die Zerstörung der Erde durch den entarteten Kristall zu verhin-dern.

Asmodis schüttelte den Kopf. »Das ist es ja, was ich nicht begreife. Die Verbindung zu diesem Lew scheint dem Kristall eine neue Ziel-setzung gegeben zu haben. Er will nicht mehr zerstören, er will herr-schen. Das konnte ich genau spüren, auch wenn ich mich nicht nahe an den Ort gewagt habe, an dem er sich jetzt befindet.« Er blickte Zamorra fest an. »Der mutierte Dhyarra ist in den Trümmern der weißen Stadt Armakath.«

Armakath!Zamorra hatte gehofft, diesen Namen nie wieder hören zu müs-

sen. War es purer Zufall, dass der Sternenstein sich dort manifestiert

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hatte? Oder hatte er sich intuitiv einen Ort der Schwefelklüfte ausge-sucht, von dem aus er seinen Plan in aller Ruhe einleiten konnte? Armakath war für die Bewohner der Hölle uninteressant, besonders jetzt, da die Stadt nur noch aus Schutt und Staub bestand. Dort war nicht mit Störungen oder Attacken zu rechnen. Zumindest vorerst nicht.

»Was können wir tun?« Zamorra fühlte sich so hilflos wie lange nicht mehr. Doch Asmodis' Antwort verstärkte diesen Zustand nur noch.

»Wir? Du wirst etwas tun müssen – ich sicher nicht. Es gibt andere Dinge, um die ich mich dringend kümmern muss.« Asmodis hielt kurz inne. »Ich kann dir nicht einmal Merlins Stern als Unterstüt-zung mitgeben, denn die Regeneration des Amuletts ist noch längst nicht beendet. Im jetzigen Zustand wäre es dir eher eine Gefahr als eine Hilfe. Zudem glaube ich nicht, dass es eine effektvolle Waffe gegen den schwarzen Kristall wäre.«

Damit hatte Asmodis allerdings Recht. Für einen Moment fragte sich Zamorra, warum er sich überhaupt einmischen sollte? Proble-me der Hölle waren sicher nicht die seinen. Doch wenn er die Stärke des Sternensteins richtig einschätzte, dann war er beinahe sicher, dass dieser sich mit der Hölle nicht begnügen würde. Also war auch eine reale Gefahr für die Erde existent.

Zamorra dachte nach – wen konnte er als Unterstützung bei dieser gefährlichen Mission mitnehmen? Nicole schied aus. Ihre Fähigkei-ten im Kampf waren unbestritten, auch ihr Können mit dem Dhyar-ra der 8. Ordnung, den sie ja besaß. Doch gegen diesen schwarzen Kristall war sie hilflos, das stand fest.

Dalius Laertes? Er wäre früher der perfekte Kampfgefährte gewe-sen, doch nachdem er seinen alten – seinen eigenen – Körper zu-rückbekommen hatte, war er verschwunden. Es würde dauern, bis Dalius seine eigenen Probleme gelöst und überwunden hatte. Dazu kam, dass er ohne die unterschwellig zur Verfügung stehende Ma-gie seines Sohnes Sajol vielleicht nicht mehr der Kämpfer war, den Zamorra so bewundert und geschätzt hatte.

Wer blieb? Artimus van Zant, denn schließlich war er einmal der Krieger Armakaths gewesen, kannte sich dort aus wie kein Zweiter.

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Doch als der Plan der Herrscher scheiterte, als wie weißen Städte keine Macht mehr besaßen, da verloren ihre Krieger die Privilegien, die sie einst verliehen bekommen hatten. Darunter war der Speer, ein magisches Transportmittel, das jeden Krieger befähigte, jede Welt in Nullzeit zu erreichen, auf der es eine weiße Stadt gab.

Also auch die Hölle. Doch das war vorbei. Zudem hatte Artimus sich aus dem Heldengeschäft, wie er es nannte, zurückgezogen. Za-morra konnte auch ihn von seiner Liste streichen.

»Denk immer daran. Der schwarze Kristall braucht Leben. Wenn man es ihm entzieht, ist er nichts weiter als ein Stein.« Asmodis Ein-wand war für Zamorra keine Neuigkeit, denn schließlich war er es ja selbst gewesen, der dies erkannt hatte.

Ein feiner Geruch stieg in Zamorras Nase. Er wandte sich zu As-modis, doch der war bereits verschwunden. Die Sache schien für den Ex-Teufel damit erledigt zu sein. Zamorra beschloss, sich dar-über jetzt nicht aufzuregen. Gemeinsam mit Asmodis wäre die Chance sicher groß gewesen, den schwarzen Kristall wieder in sei-nen Schlummerzustand zu versetzen. Doch Asmodis hatte offenbar andere Pläne.

Zamorra zuckte mit den Schultern – also ein Solo für Zamorra, wie es schien. Zumindest hätte Asmodis sich dazu herablassen können, den Parapsychologen in die Hölle zu bringen.

Doch Merlins Stern hin, Asmodis her … den Schritt in die Schwe-felklüfte konnte Zamorra auch aus sich selbst heraus bewerkstelli-gen. Das war mit Zeitaufwand verbunden, doch es funktionierte.

Er verzichtete auf den Dhyarra, der ihm zur Verfügung stand, denn der würde ihm kaum helfen können. Also reiste er mit kleinem Gepäck, das ausschließlich aus einem Blaster bestand. Damit würde er sich zumindest den größten Teil vom Höllengesocks kurzfristig vom Hals halten können.

Der Meister des Übersinnlichen startete den Zauber, der ihn in eine andere Dimension bringen sollte.

Was ihn dort erwartete? Das hatte er nur selten gewusst, wenn er diesen Schritt machte.

Etwas Gutes ganz sicher nicht.

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Alguun schirmte ihre Augen mit beiden Händen gegen die Hellig-keit ab, um den Himmel besser beobachten zu können – einen Him-mel, der keine Sonne oder Sterne kannte. Grün und Grau waren sei-ne Hauptfarben. Hässlich war er, ungeliebt … und doch vertraut.

Nur schwach erinnerte sie sich noch an einen anderen Himmel, den sie einmal gekannt hatte.

Wie lange sie schon so in dieser Haltung verharrte, konnte sie nicht sagen. Alguun spürte, wie ihr Nacken langsam zu schmerzen begann, doch sie hielt durch. Schließlich war es der erste Alleinflug von Testia, ihrer Lieblingsschülerin. Sie fühlte den seltsamen Kloß im Hals, der sie bei einer solchen Gelegenheit oft quälte.

Sie machte sich immer viel zu viele Sorgen um die Mädchen.Dabei waren die perfekt ausgebildet in Theorie und Praxis. Von

der besten Fluglehrerin, die es bei den Amazonen gab. Von ihr! Vie-le der jungen Amazonen wollten Drachenreiterinnen werden, doch es gab immer nur eine Handvoll, die es dann auch tatsächlich schafften. Man brauchte eine gehörige Portion Mut, wenn man sich in den Sattel einer Flugechse schwang. Doch Mut alleine reichte nicht aus. Durchhaltevermögen und der absolute Wille, es zu schaf-fen, waren zwei Attribute ohne die es nicht ging.

Und Talent. Alguun war längst davon überzeugt, dass eine natür-liche Begabung das A und O war, der Unterschied, der aus einer normalen Kriegerin eine Luftkämpferin machte.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie den Fleck am Himmel er-kennen konnte, der mit jedem Herzschlag größer und größer wurde. Testia steuerte ihren Drachen im Sturzflug in die Tiefe. Keine zehn Meter über Alguuns Kopf riss sie das Tier hart nach oben, brachte es in einer sanften Kurve um das Lager herum und landete ziemlich si-cher.

»Jeeeeeeeehaaaaaaa!«Alguun hatte den Triumphschrei ihrer Schülerin noch deutlich in

den Ohren. Wie aufgedreht sprang Testia vom Rücken des Drachens und sprintete auf ihre alte Lehrerin zu. Kurz vor Alguun hob die Kleine regelrecht vom Boden ab und sprang ihr in die ausgebreite-ten Arme. Beide Frauen gingen zu Boden. Ihr Lachen hallte durch

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das gesamte Lager der Amazonen. Alguun versuchte, die Situation ein wenig mehr in Richtung Würde zu verschieben.

»Also nein, du erdrückst mich ja. Schluss jetzt. Hörst du nicht?«Testia ließ von ihrer Lehrerin ab und lag mit ausgebreiteten Ar-

men neben ihr im Sand.»Ohne dich hätte ich das niemals geschafft, Alguun. Ich bin dir so

dankbar, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen.«Alguun stand wieder auf und zog Testia an einer Hand ebenfalls

wieder in die Horizontale.»Unsinn – geflogen bist du schon selbst, nicht wahr? Da konnte ich

dir nicht helfen. Doch jetzt hast du es geschafft. Du bist eine Dra-chenreiterin, also mach mir bitte nie Schande, hörst du?«

Schlagartig war Testia ernst. »Das würde ich doch niemals tun. Ich … Alguun? Darf ich dich etwas fragen?« Die nickte nur. Testia nahm all ihren Mut zusammen. »Man … also die Frauen, die erzäh-len sich, dass du nicht mehr lange Fluglehrerin sein sollst. Das stimmt doch nicht, oder?«

Alguun senkte kurz den Blick zu Boden. Also war das bereits in den allgemeinen Tratsch eingegangen. Was sollte sie Testia sagen? Ja, es gab Bestrebungen, Alguuns Posten an eine jüngere Amazone zu übergeben. Alguun fühlte sich nicht alt. Ganz und gar nicht.

Als Lehrerin musste sie ja nicht unbedingt an Flugkämpfen teilha-ben. Es reichte doch, wenn sie ihr großes Wissen an die jungen Amazonen weitergeben konnte. Und fliegen – das verlernte man nicht, ganz gleich wie alt oder jung man war. Sie würde sich zur Wehr setzen. So leicht würde man sie hier nicht loswerden. Sollte sie vielleicht mit den wirklich alten Amazonen in den Häusern hocken und die Kampfanzüge der anderen ausbessern?

Nein, das war nicht das Leben, das sich Alguun für sich wünschte. Also blickte sie Testia direkt in deren freches Gesicht.

»Unfug! Lass sie doch reden. Ich hör da überhaupt nicht hin. Ich werde noch viele Jungspunde wie dich zu perfekten Reiterinnen der Lüfte machen. So lange mich kein Flugdrache aus dem Sattel wirft, so lange bin ich nicht alt. Und bisher hat das noch keiner geschafft.«

Das war die Wahrheit, denn selbst bei ihrem allerersten Flugver-such, hatte sie die Flugechse mit ihrer Beharrlichkeit so beeindruckt,

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dass die erst gar keinen Versuch gemacht hatte, Alguun abzuwer-fen; damals hatte sie sich vor Angst beinahe in die Hosen gemacht und sich so heftig an den Drachenhals geklammert, dass dem Tier Angst und Bange vor diesem Mädchen geworden war.

Alguun schüttelte die Erinnerung von sich.»Komm, wir feiern! Auch wenn du dich nun Drachenreiterin nen-

nen darfst – unter den Tisch säufst du mich dennoch nicht. Ach ja … du zahlst!«

Die beiden lachten befreit auf.Zwei Stunden später lag Testias Kopf auf der Tischplatte. Die

frischgebackene Drachenreiterin schnarchte zum Steinerweichen.Nun, das Trinken musste sie erst noch lernen. Die Amazonen wa-

ren harte Frauen.Sie kämpften für ihre Herrin Stygia, sie schlugen und prügelten

sich auch einmal so zum Spaß, sie liebten nur ihre Waffen und die Tiere, die ihnen in Schlachten beistanden. Männer waren ein not-wendiges Übel, wenn die Lust übermächtig wurde. Und zur Siche-rung des Volkes, denn außer zum Zeugungsakt waren sie zu nichts zu brauchen.

Alguun hatte nie so hart gedacht, doch ein eigenes Kind hatte sie nie gewollt. Sie hätte es nicht übers Herz gebracht einen männlichen Säugling zu ersäufen … doch genau das taten hier die Mütter. Viel-leicht lag es daran, dass Alguun nicht als Amazone geboren worden war.

Die Tür zum Schankraum wurde ziemlich heftig aufgestoßen. Al-guun erkannte sofort, wer da gekommen war. Es war Harva, und die zählte nun wahrhaftig nicht zu Alguuns Freundinnen.

Harva war es, die Alguun nur zu gerne von deren Posten ver-drängt hätte. Sie war vielleicht halb so alt wie Alguun. Vor Jahren war sie eine ihrer Schülerinnen gewesen. Ganz sicher eine der be-gabtesten überhaupt. Alguun hätte nie vermutet, welchen bösen Ehrgeiz Harva in sich trug.

Provokant blieb Harva direkt vor dem Tisch stehen, an dem Testia und Alguun ihre kleine Feier abgehalten hatten. Überheblich blickte sie auf die schnarchende Testia.

»Ja, Alguun, trinkfest warst du ja schon immer. Armes, dummes

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Ding – wieder ein Opfer der großen Alguun.«»Was willst du von mir? Deinen Hasskübel ausgießen? Such dir

einen anderen Ort dafür. Verschwinde, sonst wird dir die große Al-guun gleich den Hosenboden vertrimmen. Du wirst bemerken, dass die alte Frau das noch ganz vorzüglich beherrscht.«

Harva schien kurz vor dem Platzen zu stehen, doch sie beherrsch-te sich. Vielleicht auch deshalb, weil sie vor kurzem erlebt hatte, was Alguun mit aufsässigen Amazonen gemacht hatte. Eine von Algu-uns Schülerinnen hatte ihren Flugdrachen vernachlässigt und sich dann gegen den Tadel der Lehrerin gewehrt. Alguun hatte sie win-delweich geprügelt. Sie mochte zwar nicht mehr so ganz taufrisch sein, doch mit ihren Fäusten war sie noch immer nahezu unschlag-bar.

»Ich soll dir von unserer Anführerin einen Gruß sagen und dir ausrichten, dass sie deine Erfahrung für eine Mission benötigt.« Das Wort Erfahrung hatte Harva wie einen Fluch ausgesprochen. Erfah-rung war für sie gleich Alter. Diese Alguun kapierte einfach nicht, dass ihre Zeit nun abgelaufen war.

Ohne die alte Amazone auch nur noch eines Blickes zu würdigen, verließ Harva den Schankraum. Alguun schüttete sich noch ein Glas des schweren Weines ein, der für Testia eine zu harte Prüfung gewe-sen war. Dieses Amazonenlager wurde von Irfana geleitet, die Algu-uns Alter bereits vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Irfana war von allen akzeptiert. Alguun wusste nicht zu sagen, wie viele Lager es zur Zeit gab. Es spielte im Ernstfall auch keine Rolle, denn wenn es darauf ankam, verschmolzen die Amazonen zu einer riesigen Ar-mee, der kaum jemand etwas entgegensetzen konnte. Da war keine Magie in den Kriegerinnen, doch das glichen sie durch Kampfes-freude und enorme Ausdauer aus.

Über den Leiterinnen der einzelnen Lager gab es die eine Amazo-nenführerin. Zur Zeit war das Tigora, die Alguun allerdings bisher nur aus der Entfernung hatte bewundern können, als sie einmal mit Stygia das Lager besucht hatte. Man erzählte sich, dass Tigora drei Kinder geboren hatte – drei Söhne, die sie dann eigenhändig er-würgt haben soll.

Irfana hingegen war ein anderer Typ von Anführerin. Ihr Wort

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galt viel bei den Amazonen, wurde selbst von Tigora respektiert, doch allgemein war sie eher gemäßigt. Alguun kannte Irfana schon vom ersten Tag an, den sie hier im Lager verbracht hatte. Das waren viele Jahre, die seither vergangen waren.

Einen Augenblick lang blieb Alguun noch sitzen und gab sich Ge-danken und Erinnerungen hin. Schließlich gab sie sich einen Ruck. Der Wein hatte auch bei ihr Spuren hinterlassen, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Sie ging zu der Frau, die hinter dem Aus-schank stand. Es war eine Amazone mit enorm großen Brüsten, die nie sehr viel sprach. Die perfekte Wirtin eben.

»Wenn die Kleine aufwacht, dann gib ihr einen Teller Suppe und sag ihr, sie soll sich erst einmal richtig ausschlafen. Und dann … ach was – sag ihr nur, sie soll sich den Rausch aus dem Schädel schla-fen.«

Die Wirtin nickte – eine weitere Reaktion bekam Alguun von ihr nicht. Aber das reichte ihr ja auch. Dann machte sie sich auf den Weg zu Irfana, die sie bereits erwartete. Die Führerin des Amazo-nenlagers grinste breit, als sie Alguun sah.

»Du solltest in deinem Alter nicht mehr so viel trinken, Alguun.«Die Angesprochene ließ sich gegenüber Irfana nieder und winkte

nur ab. »Fang du jetzt auch noch mit meinem Alter an.«Die Amazone stutzte, dann lachte sie. »Du meinst Harva? Ja, sie ist

wild auf deinen Posten, aber mit ihr habe ich ganz etwas anderes vor. Keine Sorge – du bleibst die Lehrerin unserer jungen Flugirren. Nach wie vor bist du die beste Drachenreiterin in unserem Lager. Also red nicht vom Alter. Was soll ich erst sagen?«

Die beiden lächelten sich zu. Damit war dieses Thema wohl end-gültig vom Tisch. Irfana kam zur Sache.

»Stygia, unsere Herrin, hat in der Höllenhierarchie einen feinen Sprung nach oben getan. Aber sie hat uns deshalb nicht vergessen. Besonders dann nicht, wenn es um die Drecksarbeit geht.« Alguun grinste – Irfana hatte schon immer ein lockeres Mundwerk besessen. Das machte auch nicht vor einer Stygia Halt.

»Also hör zu, Alguun. Du erinnerst dich an diese weiße Stadt, in die Stygia unsere Schwestern zur Aufklärung geschickt hat.« Natür-lich erinnerte sich Alguun. Sie hatte allerdings geglaubt, dass, nach-

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dem Armakath nur noch ein Haufen Trümmer war, diese Geschich-te nun endgültig beendet war. Irfana sprach weiter.

»Du kannst dir denken, wie sehr Stygia sich geärgert hat, dass wir dort gescheitert sind. Viele Schwestern kamen ums Leben. Und nun hat man ihr zugetragen, dass sich in den Trümmern etwas tut, dass sich etwas verändert hat. Als Ministerpräsident der Hölle muss man da natürlich nachschauen … aber möglichst unauffällig, damit nicht wieder etwas schief geht.« Irfana fiel kurz in ein meckerndes La-chen. Sehr viel schien sie von Stygia nun wirklich nicht zu halten.

»Kurz und gut – wir sollen auskundschaften, was sich in den Res-ten von Armakath tut. Ich habe da sofort an dich gedacht, denn nie-mand lenkt seinen Flugdrachen so elegant und – wenn nötig – unbe-merkt durch die Lüfte wie du. Was denkst du, Schwester? So ein kleiner Ausflug tut dir doch sicher mal gut.«

Alguun überlegte kurz, dann hatte sie sich entschieden. »Ich bre-che morgen in aller Frühe auf. Kann ich eine meiner Schülerinnen mitnehmen? Eine gute Lehrstunde – und zugleich zwei weitere Au-gen, die etwas entdecken können.«

Irfana winkte nur ab. »Nimm mit, wen du magst. Ich überlasse das ganz dir. Und nun solltest du ein paar Stunden schlafen. Meine liebe Freundin – du bist besoffen!«

Alguun konnte und wollte da nicht widersprechen. Sie verabschie-dete sich herzlich von Irfana. Der Weg zu ihrem Bett schien ihr plötzlich viel zu weit.

Aber irgendwie brachte sie ihn mit Anstand hinter sich …

Die beiden Flugdrachen ließen sich vom Wind tragen, der hier in den Schwefelklüften oft nur schwer abzuschätzen war. Häufig wechselte er ohne jeden Grund seine Richtung, brauste zu einem Sturm auf, um im nächsten Moment zu einer lauen Brise zu ver-kümmern.

Die Reiterinnen hingen ihren ganz unterschiedlichen Gedanken nach.

Die junge Testia war froh, dass ihr der Flugwind den Kopf einiger-maßen frei fegte. Als Alguun sie in aller Frühe aus den schönsten

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Träumen gerissen hatte, war der Inhalt ihres Schädels eine dumpfe Masse aus Alkohol und Müdigkeit gewesen. Warum hatte die Leh-rerin gerade sie für diese Mission als Begleitung gewählt? Zu gerne hätte Testia den ganzen verflucht hellen Tag in ihrem Bett verbracht.

Sie liebte und verehrte Alguun. Doch ab und an hätte sie die alte Amazone auch zu gerne mit bloßen Händen erwürgt. Alguun hatte die Angewohnheit, ihren Schülerinnen nicht nur das Reiten eines Drachens beizubringen – das reichte ihr bei weitem nicht aus. Die jungen Frauen mussten auch lernen, dass sie Verantwortung über-nahmen, wenn man ihnen das Privileg des Fliegens ermöglichte.

Und das beinhaltete für Alguun auch, nach einer durchzechten Nacht bei den ersten Lichtstrahlen aufzustehen und eine Aufgabe, eine Mission zu bestehen.

Testia gestand sich ein, dass ihr Mageninhalt mit großer Wahr-scheinlichkeit schon bald den Ausweg finden würde, den er die gan-ze Zeit über schon intensiv suchte. Gut, sich während eines Fluges zu übergeben, hatte zwar nur wenig Würdevolles an sich, doch das störte sie im Augenblick nur herzlich wenig. Möglichst unauffällig ließ sie ihren Drachen ein wenig hinter Alguuns Tier zurückfallen. Dann steckte sie sich gnadenlos einen Finger in den Hals. Das Er-gebnis war befriedigend … zumindest erleichternd. Testia schloss wieder zu Alguun auf. Hoffentlich würde der Flug noch lange dau-ern, denn im Sattel fühlte die junge Amazone sich momentan siche-rer, als auf ihren eigenen Füßen.

Alguun hatte die heimliche Aktion ihrer Schülerin natürlich be-merkt, doch sie ignorierte das ganz einfach. Das hatte wohl so ziem-lich jede Drachenreiterin schon einmal mitgemacht. Da musste Tes-tia durch.

Doch Alguuns Gedanken beschäftigten sich mit etwas anderem – mit dieser Mission. Im Grunde war sie einfach durchzuführen. Sie würden ein paar Runden über den Trümmern der Stadt kreisen und schauen, ob sie etwas entdecken konnten, das einer Inspektion wert war. Wenn dem so war, gedachte Alguun außerhalb des Trümmer-feldes zu landen und nachzusehen. Mit der gebotenen Vorsicht, denn sie war bei den Attacken, die ihre Schwestern gegen die Stadt durchgeführt hatten, nicht selbst dabei gewesen, doch die Berichte

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waren ihr noch gut im Gedächtnis.Man sagte, die Stadt sei nun tot, nichts als gebrochener Stein, doch

daran glaubte Alguun nicht. Ein geborstenes Monument, ein Schlachtfeld, eine geschliffene Stadt – das alles lockte Leichenfledde-rer an, Raubbanden, Hunde des Krieges, Plünderer … wahrschein-lich wimmelte es in Armakath nur so von ihnen.

Alguun würde sie vom Rücken ihres Drachens aus fühlen können, noch ehe sie auch nur einen von ihnen zu Gesicht bekam. Früher einmal, da hatte sie nur den Tod gespürt, doch das war im Lauf der Jahre anders geworden. Sie hatte sich nie bemüht, diese Begabung zu vertiefen.

Am Horizont – der wie nahezu alles in den Schwefelklüften unlo-gisch und irrational war – konnte Alguun Objekte erkennen, die wie Knochenfinger in die Höhe ragten. Sie wies mit der rechten Hand nach vorne, um Testia darauf aufmerksam zu machen. Die junge Amazone nickte und machte die gleiche Geste.

Je näher Alguuns Drache diesen Fingern kam, umso deutlicher konnte sie erkennen, worum es sich dabei tatsächlich handelte. Es waren Fragmente von sicher einmal prächtigen Gebäuden und Tür-men, die bei der Zerstörung der Stadt trotzig stehen geblieben wa-ren.

Das also ist Armakath … war Armakath.Das Trümmerfeld, bestehend aus ausschließlich weißen Bruch-

stücken, hatte eine gewaltige Ausdehnung. So groß hatte Alguun sich die weiße Stadt nicht vorgestellt. Einmal mochte sie einen über-wältigenden Eindruck auf jeden gemacht haben, der sich ihr näher-te. Jetzt fühlte die Amazone nur so etwas wie Mitleid.

Schnell waren sie über dem Gebiet, kreisten in weiten Bögen das Gebiet ein. Alguuns Sinne schlugen an. Es war so, wie sie es sich ge-dacht hatte. Dort unten gab es durchaus Leben. Alguun ließ ihren Flugsaurier tief nach unten sinken. Hier und da konnte sie Bewe-gung entdecken. Ein- oder zweimal erkannte sie Wesen, die sich rasch vor dem Untier in Sicherheit brachten, das da plötzlich vom Himmel herabgeflogen kam.

Was sie sah, das waren Dreibeine. Eine vollkommen unbedeuten-de Rasse in der Hölle, die – wenn überhaupt – nur durch ihre kör-

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perliche Beschaffenheit auffiel. Und jetzt erinnerte sich Alguun auch daran, dass Irfana einmal erzählt hatte, dass diese Dreibeine sich an die weiße Stadt klammerten, als wäre sie der Erlöser. Wie dumm konnte man sein? Alguun wusste natürlich, dass viele Wesen ganz einfach ihren Fetisch, ihre Götter brauchten, um mit ihrem Schicksal fertig zu werden. Sollten sie nur. Alguun hatte gelernt, an nichts an-deres als an sich selbst zu glauben.

Die Flugdrachen kreisten ausgiebig über den weißen Ruinen, doch hier schien es nichts zu geben, das auf eine Veränderung hinwies. Alguun machte Testia ein Zeichen. Noch einmal wollten sie das Stadtgebiet in immer enger werdenden Kreisen überfliegen. Mehr konnten sie dann wirklich nicht tun. Der Bericht an Irfana würde reichlich kurz ausfallen, doch mit etwas anderem rechnete die auch sicherlich nicht.

Vielleicht war das ja die letzte Aufgabe außerhalb des Lagers, für die man Alguun auswählen würde? Es wäre ihr recht gewesen, denn sie hatte an so vielen Kämpfen, Aufträgen und Missionen teil-genommen, dass es für zwei Leben reichte. Immer wieder war sie in vorderster Front dabei gewesen, denn sie war nun einmal die ausge-wiesen beste Drachenreiterin. Nie hatte sie sich beklagt. Auch nicht bei der Aktion, die sie selbst verabscheute: den Kinderraub.

Die Amazonen hatten immer mit Nachwuchsproblemen zu kämp-fen gehabt. Es waren nicht sehr viele Kinder, die in der Schwestern-schaft geboren wurden. Dazu kam die Tatsache, dass nur Mädchen überleben durften. Es war nur logisch, dass die Amazonen so stän-dig davon bedroht waren, von der Bildfläche zu verschwinden. Al-ter, Krankheit und Kampf rafften sie hinweg. Das Verhältnis zwi-schen Geburten und Todesfällen war äußerst ungesund.

Es gab also nur den einen Weg, die Schwesternschaft zu erhalten – fremde Mädchen, bevorzugt von der Erde. Schon immer hatte es diese Beutezüge gegeben. Ungezählte Mädchen waren ihren Eltern entrissen worden, waren ganz einfach verschwunden und nie wie-der aufgetaucht. Das alles hatte schreckliche Folgen. Die Mädchen waren traumatisiert, wenn sie sich unter Amazonen auf einer für sie vollkommen irrealen Welt wiederfanden. Die Eltern blieben in ihrer Verzweiflung zurück, denn ihnen hatte man den Mittelpunkt des

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Lebens geraubt – ihre Kinder. Sie mussten befürchten, dass ihre Mädchen Opfer von Gewaltverbrechen geworden waren. Die Wahr-heit würden sie nie erfahren. Alguun hasste das alles. Doch sie fügte sich …

Die Kreise der Flugsaurier wurden immer kleiner und kleiner.Alguun machte eine eindeutige Handbewegung in Richtung Testi-

as. Es ging wieder zurück zum Lager, denn hier gab es wohl wirk-lich nichts, das eine genauere Untersuchung erforderlich machte. Testia nickte ihrer Lehrerin und Freundin zu. Dann schwenkte sie ihr Tier durch Gewichtsverlagerung nach rechts. Die Richtung hatte sie sich genau gemerkt, denn eine Blöße wollte sie sich Alguun ge-genüber ja nicht geben; nicht heute, einen Tag nach ihrer so gut ver-laufenen Prüfung.

Alguun blickte der jungen Drachenreiterin nach, wollte auch ihren Drachen in diese Richtung dirigieren, doch dann zuckte sie zusam-men. Nur knapp entging sie einem Absturz, denn für einen Moment verlor sie jede Kontrolle über ihren Körper. Was war das nur gewe-sen?

Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon griff eine zweite Welle der heftigen Emotion nach ihr. Alguun klammerte sich an das Geschirr, das um den Hals der Flugechse lag. Alguun wollte nur fort von hier. Sie ließ dem Drachen die Zügel frei und der ver-stand instinktiv, was seine Reiterin von ihm erwartete. Wie von der Sehne geschnellt schoss er hinter Testias Drachen her, holte ihn ein und raste an ihm vorbei. Die junge Amazone konnte nur verblüfft hinter dem Gespann herschauen.

Irgendetwas stimmte nicht mit Alguun! Testia nahm die Verfol-gung auf … und flog direkt in den schwarzen Hagel hinein, der plötzlich vom Boden der Stadt aus in die Höhe schoss.

Schwarze Kugeln, die wie fette Kohle glänzten, ganz wie die, über der die Amazonen so manchen Festbraten an einem Spieß gedreht hatten …

Das war Testias letzter Gedanke. Dann wurden sie und ihr Flug-drache von den schwarzen Kugeln zerfetzt. Ein Wirbel aus Drachen-schuppen, Fleischstücken und Blut fiel dem Boden entgegen. Dort-hin, wo sich nun ein großes Stück der Trümmerstadt rabenschwarz färbte.

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Der blutige Regen verdampfte rasch …

Alguun hörte Testias Schrei!Sofort war der Nebel, der sich um ihr Denken gelegt hatte, ver-

schwunden. Brutal riss sie den Drachen in vollem Flug herum. Das Tier gab ein schmerzverzerrtes Grunzen von sich, doch es gehorch-te. Was Alguun sah, trieb den Wahnsinn in ihren Verstand. Sie woll-te den Namen der jungen Amazone aus sich heraus brüllen, doch sie blieb stumm.

Ihre Augen sahen das Gemetzel, doch sie wollten es nicht als Wahrheit akzeptieren.

In ihrer grenzenlosen Wut riss Alguun das Schwert aus der Schei-de, um sich auf diesen Todeshagel zu stürzen, doch im letzten Au-genblick regte sich so etwas wie Vernunft in ihr. Was konnte sie hier ausrichten? Und nun änderten die Mordgeschosse ihre Richtung – direkt auf Alguun zu!

War es Überlebenswille? Oder die Erkenntnis, dass sie in diesem Moment hier nichts anders tun konnte als zu fliehen? Sie trat die Flucht an, doch der Drache reagierte schneller, als seine Reiterin es vermochte. Er machte eine volle Wende und raste aus der Stadt her-aus. Der schwarze Hagel war schnell, doch er holte Tier und Reite-rin nicht ein.

Weit außerhalb der Trümmerstadt, dort, wo sich ein Gebirgszug direkt anschloss, landete Alguun ihren Drachen. Müde und voller Entsetzen ließ sie sich auf den steinigen Boden fallen.

Testia hatte ihr Leben verloren. Sie, Alguun, hätte das verhindern müssen, denn sie war die Ältere, die Erfahrene der beiden gewesen. Doch sie hatte versagt, weil sie etwas gepackt hatte, das es nicht ge-ben durfte – nicht in diesem Leben, das Alguun hier nun schon so lange führte.

Aber sie hatte sich nicht geirrt. Ganz sicher nicht.Das Gefühl war zu eindeutig gewesen. Alguun erlaubte sich Trä-

nen. Tränen der Trauer um die Freundin, Tränen der heftigen Erin-nerungen, die sie nun regelrecht lähmte.

Es war ein ganz spezieller Moment, den sie wie ein gemaltes Bild

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vor Augen hatte …

… und Timofej ließ Darjas Hand los!Darja schrie spitz auf. »Timofej, Timofej – wo bist du!«Sie hörte ihre kleine Stimme, die viel zu leise erklang. Dieser ver-

fluchte Marktplatz, diese Masse von stinkenden und lauten Men-schen. Timofej konnte seine Freundin sicher nicht hören. Sie musste ihn selbst finden. Doch wo? Sie musste sich entscheiden, in welcher Richtung sie nach ihm suchen wollte. Immer noch so laut wie mög-lich seinen Namen rufend nahm sie den falschen Weg. Sie konnte nicht ahnen, wie nahe Timofej ihr in diesem Moment noch war, doch die Menschenmenge bildete regelrecht eine dicke Wand aus Fleisch und Knochen zwischen den beiden Kindern.

Darja stolperte vorwärts, stieß mit irgendwelchen Menschen zu-sammen, die wütend nach ihr schlugen. Plötzlich wurde sie ge-stoppt. Eine harte Hand griff nach ihrer viel zu dünnen Jacke, zog das Mädchen aus dem Menschenstrom heraus.

»Immer langsam mit den jungen Pferden. Kind, warum schreist du hier so herum?« Darja blickte in ein freundliches Gesicht, das ei-ner der Marktfrauen gehörte. Sie war dick, trug ein buntes Tuch um ihre schwarzen Locken gebunden. An ihren Ohren baumelten Ohr-ringe, die Darjas Blick regelrecht an sich fesselten. Die Frau hatte hier einen klapprigen Marktstand, an dem sie nicht sonderlich fri-sches Obst anpries.

»Ich suche meinen Freund. Er ist … weg!« Darja hätte gerne ge-weint, aber das klappte nicht. Was sollte denn nun werden? Ihr Be-schützer Lew war tot, Timofej verschwunden. Noch nie hatte das Mädchen sich so verzweifelt gefühlt, so vollkommen hilflos, nicht einmal beim Tod ihres Vaters.

Die dicke Frau tätschelte Darjas Gesicht. Ihre Hände fühlten sich fleischig und feucht an, doch Darja wehrte sich nicht gegen die un-angenehme Berührung. »Immer die Ruhe, sag ich immer. Du bleibst jetzt erst einmal hier bei mir. Und wenn der Markt zu Ende ist, wenn die Leute alle verschwinden, dann wirst du sehen, dass er si-cher noch da ist und nach dir sucht. Setz dich.«

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Darja tat wie ihr geheißen. Sie hatte ja keine Alternative. Die Händlerin gab ihr einen Teller mit warmer Suppe, die das Mädchen gierig in sich hinein schüttete. Sie fror, sie hatte Hunger … und sie hatte Angst.

Irgendwann weigerte sich ihr Körper ganz einfach, hier den gan-zen Tag so voller Anspannung zu verbringen. Darja schlief auf dem winzigen Hocker ein, den die Händlerin ihr zugewiesen hatte. Sie wurde wach, als jemand an ihrem Jackenärmel zupfte. Darja sprang in die Höhe.

»Timofej … du …« Enttäuscht hielt sie inne, denn es war nicht ihr Freund, sondern die Marktfrau, die sie aufweckte.

»Kind, der Markt ist jetzt geschlossen. Ich gehe jetzt nach Hause. Was machen wir denn nun mit dir?« Ihre Besorgnis schien echt zu sein. »Dein Freund scheint wohl nicht nach dir zu suchen?« Darja glaubte das nicht. Etwas war da geschehen, denn sonst hätte Timofej sie nie im Stich gelassen.

»Kann ich nicht mit zu Ihnen? Nur für eine Nacht. Morgen wird er mich suchen und finden, ganz bestimmt.« Die Frau zögerte eine Weile. Dann drückte sie Darja zurück auf den Hocker.

»Warte hier, ich bin gleich wieder da. Nicht fortlaufen, hörst du?« Und schon war sie verschwunden. Fortlaufen? Wohin denn wohl? Darja hatte keine andere Möglichkeit, als auf die Güte dieser Frau zu vertrauen. Erneut fielen ihr die müden Augen zu.

Als sie erneut aufwachte, standen zwei Polizeibeamte vor ihr. Die dicke Marktfrau hielt sich im Hintergrund.

»Kindchen, ist besser so. Weißt du, ich habe keinen Platz in mei-nem Zimmer. Und die Polizei kann dir bestimmt helfen.«

Darja war sterbenselend zu Mute, als die Beamten sie in ihr Auto luden und sie zur Wache brachten. So oft man sie auch nach ihrem Namen, ihrer Adresse befragte, so oft schwieg sie. Was hätte sie auch sagen sollen? In dieser Nacht ließ man sie in einer Zelle schla-fen, doch am anderen Morgen kamen zwei Männer in weißen Män-teln, die Darja sofort nicht mochte. Es waren schweigsame Genos-sen. Ohne auch nur ein Wort mit dem Mädchen zu sprechen, ver-frachteten sie Darja in ein Kinderheim.

Es war schrecklich dort. Darja musste ständig an den Gulag den-

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ken, denn das Leben lief hier ganz ähnlich ab. Darja musste durch eine harte Zeit gehen, denn nicht nur die Erzieher, die Lehrer und Heimleiter behandelten die Waisenkinder extrem hart und ließen es auch an Brutalität nicht fehlen – es waren die Kinder untereinander, die sich das Leben zur Hölle machten. Zumindest hatte Darja da-mals geglaubt, so müsse sie sein, die Hölle, von der ihr Vater ihr oft erzählt hatte.

Die Jahre vergingen schleppend. Darja war beinahe zwölf Jahre alt, als sich ihr Leben noch einmal drastisch ändern sollte.

An Timofej dachte sie immer seltener. Die Vergangenheit wurde für sie nach und nach ein Ort, der hinter einem dichten Vorhang lag. Sie konnte sich an vieles überhaupt nicht mehr erinnern … und sie wollte es auch nicht, denn diese Erinnerungen verursachten ja doch nur Schmerzen in der Seele.

Kurz vor ihrem zwölften Geburtstag wurde sie zu der Gruppe von Mädchen eingeteilt, die von der Heimleitung regelmäßig an betuch-te Menschen in Ulan Bator ausgeliehen wurde. Die Kinder mussten in den Häusern der Reichen putzen, sich um die Gärten kümmern und sonstige Arbeiten ausführen. Das brachte zwar Abwechselung in das triste Heimleben, doch meistens behandelte man die Mädchen in diesen Häusern schlecht – als wären sie Sklavinnen. Oft genug setzte es sogar Prügel. Der Heimleitung war das egal, denn die be-kam ihren Obolus unter der Hand ausgezahlt, also sorgte man da-für, dass es immer genug Mädchen gab, die angefordert werden konnten.

Darja ließ auch das alles still über sich ergehen. Ihr Wille zum Wi-derstand war längst gebrochen.

An einem Tag, der sich bislang durch nichts von all den anderen unterschieden hatte, die sich wie eine endlos lange Kette aneinander knüpften, waren Darja und drei andere Mädchen bei einem Richter zum Putzdienst eingeteilt. Bevor sie den Rückweg zum Heim antre-ten konnten, rief sie der vornehme Hausherr zu sich in den Salon. Er war nicht alleine. Bei ihm waren zwei Frauen, die Darja wie Riesin-nen erschienen. Sie trugen ihre langen Haare zu Zöpfen geflochten, waren in Lederjacken und Reiterhosen gekleidet. Solche Frauen hat-te Darja hier noch nie gesehen. Sie mussten aus einem anderen Land

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kommen.Die Fremden gingen langsam um die vier Mädchen herum, be-

trachteten sie von allen Seiten. Schließlich gingen sie zu dem Richter zurück und nickten ihm zu. Das Lächeln, das sich auf dem Gesicht des Mannes ausbreitete, gefiel Darja überhaupt nicht.

»Kinder, sagt euren Heimleitern, dass ich euch auch morgen hier brauche. Und nun geht.«

In der folgenden Nacht konnte Darja nur schlecht schlafen. Sie ahnte, dass irgendetwas geschehen würde. Zudem hatte sie etwas gesehen, mit dem sie nach wie vor nur schlecht umgehen konnte. Ihre seltsame Begabung hatte ihr deutlich gesagt, dass der Richter nicht mehr lange leben würde. Sie würde schweigen – niemand wollte solche Dinge hören. Zudem … der Mann war böse, da war sie ganz sicher. Vielleicht hatte er den Tod sogar verdient. Die letzten Jahre hatten Darja hart werden lassen.

Am kommenden Morgen machten sich die vier Mädchen wieder zu ihrem Zwangsdienst auf. Sie konnten da noch nicht ahnen, dass sie das Heim nie mehr wieder sehen würden.

Sie wurden in der alten Villa bereits erwartet. Es waren die beiden Frauen von gestern. Darja hatte geahnt, dass sie die noch einmal se-hen würden. Und davor hatte sie sich gefürchtet. Doch zunächst wurde sie überrascht. Die Frauen waren freundlich zu den Mäd-chen. Sie fuhren mit ihnen in ein Hotel am Stadtrand von Ulan Ba-tor. Der Tag war bitterkalt, daran konnte sich Darja noch lange erin-nern, doch in dem Haus war es warm. Überall standen Kamine, in denen das Feuer hoch loderte.

Frieren sei schlimmer als die schlimmste Angst, so sagte man zu-mindest. An diesem Tag genoss Darja die Wärme und die Mahlzeit, die man ihnen vorsetzte. Das war nicht zu vergleichen mit dem Heimfraß. Dennoch blieb der Argwohn in Darja präsent.

Was hatte es mit diesen Frauen auf sich? Man hörte ja immer wie-der Geschichten … weiter mochte sie nicht denken. Und viel weiter kam sie damit auch nicht, denn nach dem Essen spürte Darja eine Müdigkeit, die sie in dieser Form bei sich nicht kannte. Ehe ihr end-gültig die Augen zufielen, sah sie noch, wie das Mädchen, das ne-ben ihr saß, einfach zur Seite weg sackte. Der Kopf fiel ihr auf die

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Brust und ein leises Schnarchen ertönte.Dann allerdings verlor auch Darja ihren Kampf gegen den Gott

des Schlafes.

Als sie ihre Augen wieder aufschlug, fühlte sie sich ausgeruht.Darjas erster Gedanke war, was man ihr und den anderen wohl et-

was ins Essen gemischt hatte. Ihr zweiter Gedanke kleidete sich in eine Frage: War sie tatsächlich wach? Das konnte nicht sein, denn über ihr wölbte sich ein Himmel, der absolut verrückt und bedroh-lich aussah. Darja hob den Kopf. Um sie herum standen sechs Frau-en, die sie prüfend betrachteten. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass es splitternackt war. Im Gulag und dem Heim hatte sie gelernt, ihr Schamgefühl weit hinten an zu stellen, dennoch trieb diese Situa-tion ihr die Schamesröte ins Gesicht.

Eine der Frauen sprach sie direkt an – es war eine der beiden, die sie bei dem Richter zum ersten Mal gesehen hatte.

»Du bist gut gebaut, kräftig in den Knochen und gerade wie ein Armbrustpfeil. Aber du bist zu dürr. Das werden wir ändern.« Sie beugte sich nach unten, bis ihr Gesicht nur eine Handbreit vor dem des Mädchens war. »In deiner Welt werden Kinder wohl nicht gut behandelt, was? Aber keine Sorge. Ab sofort wirst du nicht mehr hungern oder frieren müssen.«

Darjas Stimme war nur ein Flüstern.»Wo sind die anderen Mädchen. Wo bin ich hier?«Die Frau griff eine Hand des Mädchens und zog sie sanft aber be-

stimmt auf die eigenen Füße.»Es geht ihnen gut. So wie dir. Sie sind in den anderen Lagern un-

serer Schwestern untergekommen.«Erst jetzt realisierte Darja die Kleidung der Frauen. Sie trugen Bus-

tiers, hohe Stiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichten, Röcke, die noch viel weiter oben endeten … und alles war aus Leder, dickem Leder, das bei jeder ihrer Bewegungen knirschte. Zwei trugen auf dem Kopf Helme, die anderen ließen ihre langen Haare wild nach unten fließen. Sie alle waren auf ihre Art schön, doch da war die Härte, die sich ihre Gesichtszüge gegraben hatte. Eine Frau hatte

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zwischen Auge und Kinn eine breite Narbe, die lebendig wurde, wenn sie das Gesicht verzog.

Und … da waren die breiten Gürtel, in denen Schwerter und Dol-che steckten.

Von solchen Frauen hatte Darja noch nie zuvor in ihrem Leben ge-hört, nicht einmal in den gruseligen Geschichten, die sich die Kinder im Heim vor dem Schlafen erzählten. Sie alle hatten breite Schul-tern, schmale Hüften und ihre Schenkel und Oberarme schienen vor lauter Muskeln schier platzen zu wollen.

Darja bedeckte mit beiden Händen ihre Scham. Die älteste der Frauen reichte ihr eine Decke, die Darja dankbar annahm und wie einen Umhang um sich schlang. Erstaunt bemerkte sie, dass sie rasch darunter zu schwitzen begann. Wo sie auch war – in der Mon-golei ganz sicher nicht, denn dort herrschten in dieser Jahreszeit Temperaturen, die ein Mensch ohne Schutzkleidung nicht überleben konnte.

Noch einmal stellte Darja ihre zweite Frage.»Wo bin ich hier?« Sie nahm allen Mut zusammen. »Und wer seid

ihr? Was geschieht mit mir? Wann kann ich wieder heim?« Es spru-delte nun aus ihr heraus, doch die Frau, die auch bisher das Reden übernommen hatte, stoppte sie mit einer Handbewegung.

»Nicht zu viel auf einmal. Die ganze Wahrheit könntest du viel-leicht noch nicht verkraften. Aber eines zuvor – niemand will dir hier Böses. Aber du musst ab jetzt vieles vergessen, musst neu an-fangen. In dem Heim, aus dem wir dich geholt haben, seid ihr alle schlecht behandelt worden. Was zuvor war, wollen wir von dir nicht wissen, denn es gibt ja sicher einen Grund, warum man dich in diese … Anstalt … gesteckt hat.« Darja bemerkte sehr wohl, dass diese Frauen nach anderen Maßstäben lebten und urteilten als die Menschen ihrer Heimat.

»Wir sind die Amazonen. Und von heute an bist du eine von uns. Wir werden dich ausbilden, werden eine starke Frau aus dir ma-chen. Du wirst hart an dir arbeiten müssen. Später einmal wirst du dann eine Kämpferin sein, wie wir es sind. Und niemand wird es wagen, dich respektlos zu behandeln; niemand wird die Frechheit besitzen, dir den Mund zu verbieten, weil du eine Frau bist. Du

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wirst ein stolzes und freies Leben führen. Das kann ich dir verspre-chen.«

Darja glaubte, in diesen Worten eine Vision zu erkennen, die ihr gefiel. Ob dies alles auch wahr werden konnte, wagte sie jedoch noch zu bezweifeln.

Die nächsten Monate brachten Schweiß, Blut und Schmerzen. Die Amazonen behandelten die geraubten – oder gekauften – Mädchen wie ihre eigenen. Da gab es keinen Unterschied. Doch die Mädchen, die von der Erde hierher geholt wurden, mussten erst einmal all das nachholen, was die Töchter der Amazonen schon mit der Mutter-milch eingesogen hatten.

So manche Nacht konnte Darja nicht einschlafen, weil jeder einzel-ne Muskel in ihrem kleinen Körper entsetzlich schmerzte. Das Trai-ning war unerbittlich. Laufen, springen, Gewichte stemmen, Faust-kampf, Schwerttraining, die Ausbildung an der Armbrust … und auch Dinge wie das Anfertigen und Instandsetzen der Kampfklei-dung, all das gehörte zu ihren Tagen, die wie im Rausch an ihr vor-über flogen.

Es war Darja schwer gefallen zu begreifen, wo sie hier war. Die Hölle … sie erinnerte sich an die Geschichten, die Vater ihr erzählt hatte. Er war kein sonderlich religiöser Mensch gewesen, doch eini-ge Dinge wollte er seiner Tochter doch nicht vorenthalten. Sie selbst konnte ja dann wählen, wie sie damit letztendlich umgehen wollte. In den christlichen Erzählungen kam natürlich auch die Hölle vor, doch was Darja hier sah, erlebte und gelehrt bekam, hatte sicher nicht viel mit diesem Ort zu tun.

Eines hatte sie schnell begriffen – einen Weg zurück würde es für sie nicht mehr geben. Sie wusste schon bald nicht mehr, ob sie das überhaupt gewollt hätte. Auf der Erde war sie alleine, ohne Familie und Freunde. Ein Waisenkind, das man beliebig benutzen und her-umstoßen konnte.

Hier war das anders, denn hier war Darja ein Teil eines Ganzen. Und mit jedem harten Tag, der vergangen war, hatte sie sich mehr und mehr wie eine Amazone gefühlt. Die Erde – am besten würde

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sie die vergessen.Ihren Lehrerinnen fiel Darja schnell auf. Sie war zäh, gab nicht auf,

auch wenn sie ihre Partnerin beim Faustkampf zum zehnten Mal zu Boden geschickt hatte. Sie stand auf und wartete bis zum entschei-denden Moment – dann schlug sie zu. An Körperkraft holte sie die anderen Mädchen schnell ein. Beim Schwertkampf und den Schieß-übungen lag sie stets im Mittelfeld, das jedoch mit großer Beständig-keit. Sie hatte ein gutes Auge für die Situation, reagierte schnell und meist richtig.

Und sie war eine grauenhafte Näherin!Darja hatte sich mit Irfana angefreundet, die einige Jahre älter als

sie selbst war. Irfana sagte man schon jetzt eine große Karriere in-nerhalb der Schwesternschaft nach. So unterschiedlich die zwei auch waren, so gut arbeiteten sie Hand in Hand, wenn bei den Trai-ningseinheiten Teams gebildet wurden. Irfana selbst wusste nur zu genau, was sie an ihrer jungen Freundin hatte. Wenn es stimmte, was die Frauen hinter vorgehaltener Hand flüsterten – wenn Irfana also eine der Amazonenführerinnen werden sollte – so musste sie sich schon jetzt darum kümmern, wichtige und zuverlässige Frauen um sich zu scharen. Irfana war frei von jedem Größenwahn. Sie wusste nur zu gut, wo ihre eigenen Schwächen lagen. Eine davon konnte später einmal ein großes Problem für sie werden: Sie würde nie eine Drachenreiterin werden.

Mit diesen Tieren kam sie einfach nicht klar. Wenn es so etwas wie Antipathie zwischen Flugechsen und bestimmten Amazonen gab, dann war Irfana das Paradebeispiel dafür.

Schon lange hatte sie bemerkt, dass Darjas Blicke immer wieder zum Himmel gingen, wenn einer der Drachen landete. Die Reiterin-nen lebten mit ihren Tieren zusammen in einem abgegrenzten Teil des Lagers. Die Tiere vertrugen den Trubel, der im Lager herrschte, nicht, denn sie waren empfindlicher, als man es ihnen zugetraut hät-te. Natürlich waren sie in der Luft schier unschlagbare Kampfma-schinen, doch am Boden reagierten sie auf unerwartete und unbe-kannte Dinge oft mehr als sensibel.

Darja konnte die Augen nicht von den Drachen lassen.Irfana beobachtete sie lange, dann kam ihr die Idee, wie sie viel-

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leicht später eine starke Freundin bei den Reiterinnen auf ihre Seite bekommen könnte. Die Reiterinnen bildeten schon seit eh und je eine ganz eigene Gruppe innerhalb des Amazonenvolkes. Irfana un-terbreitete der jetzigen Lagerführerin ihren Vorschlag. Die alte Ama-zone, der die komplette Nase fehlte, die ihr in einem Kampf verloren gegangen war, wie sie es selbst nannte, war zunächst skeptisch.

»Die Kleine ist noch nicht lange bei uns. Sie macht Fortschritte, ja, aber ich glaube, es wäre viel zu früh, sie als Reiterin zu testen.«

Doch Irfana redete mit Engelszungen und gab nicht auf, ehe die Alte einwilligte. »Nun gut, wenn du glaubst, sie wäre ein Naturta-lent, dann soll es eben so sein. Morgen bringst du sie zu den Reite-rinnen, aber erzähl ihr nicht den wirklichen Grund für euren kleinen Ausflug. Es ist nur ein Versuch, hörst du?«

Unter einem fadenscheinigen Vorwand lockte Irfana am kommen-den Morgen ihre junge Freundin zu dem abgetrennten Bereich, in dem die Drachen untergebracht waren. Darjas Wangen hatten ge-glüht, denn zum ersten Mal kam sie in die Nähe dieser Tiere. Drei Reiterinnen empfingen sie. Offenbar hatten sie schon auf Irfana und Darja gewartet.

Irfana war bemüht Darja abzulenken, damit die nicht darauf kam, was nun geschehen sollte. Ein großes Holztor wurde geöffnet – und Darja stand nur wenige Meter vor einer der Flugechsen. Das Herz blieb ihr beinahe stehen, doch dann fühlte sie, wie glücklich sie die Nähe des Drachen machte. Sie wandte sich zu Irfana, die ja direkt hinter ihr gegangen war, doch die Freundin hatte sich gut zehn Schritte weit nach hinten entfernt.

Darja wusste, dass Irfana und die Drachen nicht zueinander pass-ten. Irfana winkte mit beiden Händen, als wolle sie Darja ermutigen, sich dem Tier zu nähern.

Eine der Reiterinnen legte eine Hand auf Darjas Schulter. »Geh zu ihm – vorsichtig aber mit festen Schritten. Er darf nicht spüren, dass du Angst vor ihm hast.«

Darja blickte die Amazone an, die ihre komplette Montur trug. »Aber ich habe keine Angst. Er ist wunderschön.«

»Er ist eine Sie, aber das spielt jetzt keine Rolle. Nähere dich dem Drachen bis auf zwei Schritte, dann bleibst du stehen. Kommst du

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ihm zu nahe, wird er dich töten.« Sie gab Darja einen leichten Schubs, doch die hatte sich schon in Bewegung gesetzt.

Darja hatte immer ganz genau zugehört, wenn die Frauen sich über die Flugechsen der Hölle unterhalten hatten. Viele hielten die Drachen für hässlich und abstoßend, viele fürchteten sie wegen ih-rer Unberechenbarkeit. Sie waren alles andere als gefügige Tiere, die sich vor ihren Reiterinnen unterwürfig duckten. Das ganz sicher nicht, doch für Darja bedeuteten sie Freiheit. Nach dem Gulag und dem Heim fühlte sie sich hier bei der Schwesternschaft wohl; es war ihr noch nie so gut gegangen, sie entdeckte, was in ihr und ihrem Körper steckte – ja, sie war dem Schicksal dankbar, dass es sie hier-her verschlagen hatte.

Doch etwas fehlte noch.Die endgültige Befreiung … dem Boden entfliehen, unabhängig

sein!Der Drache beäugte die kleine Amazone misstrauisch, die da auf

ihn zu kam. Seine Nüstern blähten sich auf, ließen kleine Dampf-wolken entweichen. Er schnupperte, nahm mit dem Geruch das We-sen der Amazone auf, die sich ihm furchtlos näherte. Sie war keine der Reiterinnen, doch ihr Geruch gefiel ihm.

Darja stoppte zwei Schritte vor der riesigen Echse, deren ledrigen Schwingen unruhig auf und ab wippten. Es kam ganz plötzlich und ohne sich anzukündigen. Es war eine Emotion, ein Erkennen, wie Darja es zuvor noch nie erlebt hatte. Ihre Gabe, den nahenden Tod bei Menschen vorhersehen zu können, hatte sie hier bisher ver-schwiegen. Es war sicher nicht gut, wenn sie sich hier aus der Masse der Frauen hervorhob. Doch nun sah sie etwas ganz anderes.

Der Drache war krank. Sie konnte die Stelle ganz deutlich erken-nen, die ihm Schmerzen bereitete.

Ohne nachzudenken machte sie zwei Schritte nach vorne. Hinter sich hörte Darja die Reiterinnen und Irfana entsetzt aufschreien, doch darum kümmerte sie sich jetzt nicht. Sie kniete neben dem Tier nieder, das sie nur ungläubig mit seinen großen Pupillen betrachte-te. Dann begann Darja die linke Klaue der Echse zu betasten – und noch immer reagierte der Drache nicht. Da war es … ein ganzes Stück über der Klaue am Gelenk. Darja streichelte die Stelle. Der

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Drache gab einen grunzenden Ton von sich, der alles andere als feindlich oder angriffslustig klang.

Die Hand dieser kleinen Amazone war warm, und diese Wärme drang durch die schuppige Haut ein, linderte seinen Schmerz für ei-nige Augenblicke. Dankbar schloss die Echse die Augen und streck-te den gewaltigen Kopf zufrieden in die Höhe.

Darja stand auf und ging zu den anderen zurück. »Er … sie hat Schmerzen. Wenn sie landet muss sie Qualen leiden. Ich glaube, ihr Gelenk ist schlimm entzündet.«

Die Reiterinnen blickten einander an. Minuten später waren zwei Heilerinnen vor Ort, die man informiert hatte – und die Führerin des Amazonenlagers ebenfalls, die Irfana hatte holen lassen. Die Heilerinnen waren äußerst vorsichtig, als sie sich dem Drachen nä-herten, um ihn zu untersuchen. Drei Reiterinnen waren erforderlich, um ihn zu beruhigen. Als auch das keinen Erfolg brachte, rief die Reiterin des Drachens Darja zu sich.

Die Flugechse wurde zusehends ruhiger, als das Mädchen ihre Hand auf seinen Hals legte. Die Heilerinnen konnten nun ihr Werk beginnen. Minuten später ließen sie von dem Tier ab.

Eine von ihnen trat direkt vor ihre Anführerin.»Das Kind hat Recht. Das Gelenk des Drachen ist geschwollen und

wahrscheinlich schon seit Wochen entzündet.« Sie drehte sich zu der Reiterin um, die für die Echse verantwortlich war. »Das hättest du schon lange bemerken müssen. Der Drache muss bei jeder Lan-dung heftige Schmerzen ertragen.« Dann blickte sie zu Darja. »Viel-leicht wirst du einmal Heilerin.« Sie lächelte. »Doch ich bin mir bei-nahe sicher, dass man etwas ganz anderes mit dir vorhat.«

Darja blickte verschämt zu Boden.Die Amazonenführerin hob eine Hand um sich Gehör zu verschaf-

fen. »Dies Kind hier, ist kein Kind.« Sie legte die Hand auf Darjas Kopf. »Niemand soll sie ab heute so nennen. In ihr ruht eine Gabe, Schwestern, die einzigartig ist.«

Sie fasste Darja unters Kinn, hob deren Kopf nach oben. »Kennst du die alte Legende der Amazonen, die von der Kriegerin spricht, die als Erste der Schwesternschaft auf dem Rücken eines Drachens durch die Lüfte geflogen ist?«

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Darja schüttelte eingeschüchtert den Kopf. Sie kannte längst noch nicht alle Legenden der Amazonen.

Die alte Frau lächelte sie an. »Sie hieß Alguun, war mutig und freundlich. Sie sorgte dafür, dass wir Amazonen zu Reiterinnen der Lüfte wurden. Alguun – so soll ab heute dein Name lauten …«

Alguun schüttelte die Erinnerungen wie lästige Schuppen von sich ab.

Es war ihr Drache, der sie wieder in den Tag zurückbrachte. Mit seiner Schnauze stupste er die Amazone immer wieder an; das Tier brauchte Anweisungen, was es jetzt zu tun hatte, wie es weiterge-hen sollte. Doch das wusste Alguun ja selbst nicht.

Diese Reise in ihre Vergangenheit hatte viel nach ganz oben ge-spült. Darja – diesen Namen hatte sie doch schon seit vielen Jahren vergessen. Gulag – ein Begriff aus einer anderen, ihr fremden Welt, mit der sie nichts zu tun hatte.

Alguun war der Name den sie fortan trug. Sie wurde zur Drachen-reiterin ausgebildet und als dies beendet war, ließ sie in ihren An-strengungen nicht nach, bis sie diese Kunst bis zur Perfektion be-herrschte. Wie viele Jahre das jetzt alles her war, das konnte Alguun nicht einmal genau sagen, denn hier rechnete man anders, hier spiel-te der Faktor Zeit nicht die große Rolle, den er auf der Erde ein-nahm.

Ihr Leben war seit dem Tag, an dem sie vor dem kranken Drachen gestanden hatte, einfach perfekt verlaufen. Irgendwann wurde sie schließlich die Lehrerin für die jungen Amazonen, die Drachenreite-rinnen werden wollten. So sollte alles bleiben, so wollte sie ihr Le-ben dann irgendwann beschließen.

Und nun stürzte all das auf sie zu, was sie schon längst tief in ih-rem Bewusstsein eingeschlossen hatte.

Sie schauderte, als sie an den Moment dachte, den sie über der Trümmerstadt erlebt hatte. Beinahe hätte sie diese geballte Ladung aus dem Sattel geworfen. Geballte Ladung von was? Es war so un-wirklich und zugleich eindeutig gewesen. Sie hatte ihn gespürt. Aber das konnte nicht sein. So einen Zufall – der seine Späße dann

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über zwei Welten hin mit ihr getrieben hätte – den durfte es doch nicht geben.

Alguun fiel ein, was Irfana einmal zu ihr gesagt hatte. Ihre Freun-din war eine mehr als kluge Frau, der man besser zuhören sollte. Wie waren ihre Worte noch gleich gewesen …

»Zufälle gibt es nicht, Alguun. Lass dir das nicht einreden. Das alles ist Bestimmung, Schicksal oder Vorsehung. Zufälle … diese Sichtweise haben die Menschen erfunden. Dumme Menschen …«

Bestimmung? Vielleicht war das so, denn als die kleine Darja vor Jahrzehnten mit ihrem Vater in den Gulag verbannt worden war, da hatte dort ein Junge auf sie gewartet, der alleine durch seine Anwe-senheit dafür gesorgt hatte, dass das Mädchen nicht ihren Lebens-willen verlor.

Auch wenn Alguun verzweifelt nach einer anderen Erklärung suchte – es gab keine. Die Emotion, die sie regelrecht angesprungen hatte, war von Timofej gekommen, dem Freund ihrer Kindertage. Sekunden später war die Attacke erfolgt, die so entsetzlich geendet hatte.

Es gab also gar keinen Zweifel. Er war hier, hier in den Schwefel-klüften.

Timofej hatte die junge Drachenreiterin Testia getötet …

Zamorra hatte alles aus sicherer Entfernung mit angesehen. Der Wechsel in die Hölle war ohne Merlins Stern umständlicher als mit der Hilfe des Amuletts, doch für den Parapsychologen sicher nicht unmöglich. Dennoch verfluchte er Asmodis' Ignoranz, denn er hätte den alten Teufel nun nur zu gerne an seiner Seite gewusst.

Zamorra hatte keinerlei Sehnsucht nach Armakath verspürt, denn auch in ihrer Trümmervariante konnte er der Stadt keinerlei freund-schaftliche Gefühle entgegen bringen. Als die weißen Städte ihr Ende fanden – wenn man dies für steinerne Monumente so aus-drücken konnte –, hatte der Professor gehofft, die Hölle möge die Überreste dieses Ortes ganz einfach verschlucken. Bisher war das aber leider nicht geschehen.

Irgendwo hatten er und sein Team dieses Kapitel ja bereits ad acta

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gelegt, denn eine wirkliche Gefahr konnte von Armakath nicht mehr ausgehen. Doch nun schien es so, als hätte sich eine vielleicht noch viel größere Gefahr dieses Trümmerfeld als Ausgangspunkt für ihre Aktivitäten erwählt.

Kein schlechter Ort für ein solches Vorhaben, denn dies war eine Festung, die von keiner Armee so leicht eingenommen werden konnte. Jede Strategie musste hier scheitern, denn es fehlte einfach an Orientierung. Zamorra wusste nicht, wo er zu suchen hatte. Im-mer hatte in Armakath alles seinen Ausgang in der Wurzelhöhle ge-habt. Vielleicht war das auch jetzt wieder so, vielleicht würde er Timo Lew dort finden. Wenn er denn noch Timo Lew war. Der schwarze Dhyarra hatte sich den Geologen als Medium ausgewählt, mit dem er den Erdenmond verlassen konnte.

Was für eine Verbindung mochte es zwischen dem Wissenschaft-ler und dem Kristall geben? Welche Geschichte steckte dahinter? Der Parapsychologe war sich sicher, dass es eine gab.

Die Wurzelhöhle – wo sollte Zamorra sie finden? Sie lag im Zen-trum der Stadt, doch wahrscheinlich war sie bei dem Einsturz ver-schüttet worden. Es gab nur eine Möglichkeit. Er musste sich einen Überblick verschaffen, musste nach oben, einen möglichst hohen Aussichtspunkt wählen.

Mit der größten Vorsicht betrat er die Überreste eines Gebäudes, das früher sicher einmal so eine Art Hochhaus gewesen war. Nicht alles hier war eingestürzt, ein gutes Viertel des Hauses stand noch wie ein Mahnmal der Vergänglichkeit. Das Treppenhaus existierte auch noch. Zamorra machte sich an den riskanten Aufstieg.

Bis ganz nach oben schaffte er es nicht, denn plötzlich endeten die Treppenstufen, doch er war hoch genug, um sich ein Bild machen zu können. Wohin er auch blickte – da war nichts, was er mit seinen Erinnerungen an Armakath verknüpfen konnte, kein markantes Ge-bäude, kein Turm, keine Kuppel. Einfach nichts.

Im nächsten Augenblick duckte Zamorra sich, presste seinen Kör-per gegen die Wandung. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht entdeckt hatten – zwei Flugdrachen zogen ihre Kreise hoch über Ar-makath. Stygias Amazonen! Was wollten denn die hier? War das einfach nur ein Patrouillenflug, reine Routine? Oder hatte die alte

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Hexe bereits erfahren, dass sich in den Trümmern etwas regte, et-was, das dort nicht hingehörte?

Zamorra konnte nur hoffen, dass die beiden Frauen mit ihren Flugechsen bald wieder verschwinden würden, denn solange sie dort oben kreisten, konnte er seine Suche nicht fortsetzen. Er hatte wahrlich nicht vor, sich auch noch mit zwei Kriegerinnen auseinan-derzusetzen, die ihm aus der Luft die Hölle heiß machen konnten. Und das im wahrsten Sinne des Wortes!

Verblüfft sah der Professor, wie eine der beiden Drachenreiterin-nen ihrer Flugechse plötzlich die Zügel freigab und mit irrwitziger Geschwindigkeit die andere überholte. Das sah nach kopfloser Flucht aus, für die es einen Grund geben musste. Nur eine Sekunde später erkannte er ihn. Die zweite Amazone war offenbar nicht schnell genug gewesen, denn unvermittelt schoss da vom Boden aus etwas in die Höhe, dem sie nicht mehr ausweichen konnte.

Es sah aus wie ein schwarzer Schauer, der an seinem Ausgangs-punkt schmal wie eine Nadel war, sich nach oben hin jedoch ver-breitete. Zamorra konnte nur schätzen, aber in der Höhe der Ama-zone war dieses Ding sicher an die zwanzig Meter breit. Die Kriege-rin hatte nicht den Hauch einer Chance, dem zu entkommen.

Für Zamorra sah dieser Fächer aus, als bestünde er aus unzähligen Kugelobjekten, die tiefschwarz waren … dennoch ging ein seltsames Leuchten von ihnen aus, wie von den Facetten eines geschliffenen Edelsteines. Die Amazone flog ungebremst in diesen Schauer hinein. Sie wurde nicht gestoppt und zurückgeschleudert. Nein, sie durch-querte das seltsame Objekt … und wurde von ihm grausam zerfetzt. Zamorra hielt den Atem an. Selbst für ihn, der so viele Varianten des Todes kennengelernt hatte, war dieser Anblick kaum zu ertra-gen. Frau und Tier existierten nicht mehr – ihre Überreste fielen dem Boden entgegen, eingehüllt von ihrem Blut, das wie ein Wasserfall die Tiefe suchte.

Instinktiv hatte Zamorra den Blaster gezogen, doch was wollte er damit gegen eine Waffe wie die ausrichten, deren entsetzliche Wir-kung er soeben beobachtet hatte? Wohin die andere Amazone ver-schwunden war, hatte er nicht beobachtet. Was er sah, zeigte ihm überdeutlich, dass er nicht weiter nach Doktor Lew und dem entar-

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teten Kristall suchen musste.Die Stelle, von der aus der tödliche Schauer ausgelöst worden war,

begann sich schwarz zu färben. Erst ganz langsam, dann immer schneller. Ein schwarzer Kreis, der das Weiß Armakaths einfach fraß, es überdeckte.

Nun wurde Zamorra endgültig klar, dass die Stadt nichts mehr von dem hatte, was sie einmal so mächtig hatte werden lassen. Das hier war nichts weiter als geborstener Stein, der keinerlei Wider-stand leisten konnte. Der Kreis wurde immer größer, das Schwarz hatte gesiegt.

So rasch es ihm möglich war, trat der Franzose den Weg nach un-ten an. Er musste sich beeilen, denn der Auslöser dieser Entwick-lung würde sicher nicht verweilen. Der schwarze Dhyarra eroberte die Stadt. Zamorra war sicher, dass er an deren Grenzen nicht stop-pen würde. Und auch nicht an den Grenzen der Dimension der Schwefelklüfte. Vielleicht war als Nächstes die Erde an der Reihe, wenn er den Weg dorthin erst einmal gefunden hatte.

Ja, der Meister des Übersinnlichen musste jetzt schnell handeln.Er hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, wie dieses Handeln

aussehen sollte …

»Was bin ich? Bin ich du – bist du ich?«Timofej spürte seinen Körper, doch er kontrollierte ihn nicht. Er

konnte laufen, konnte hören und sehen, doch all diese Dinge be-stimmte nun ein anderer. Es war grässlich, sich selbst sehen zu müs-sen, denn wenn er an seinem Körper herabblickte, dann sah er et-was, das nicht mehr menschlich war.

Er war nackt. Seine Haut war schwarz wie Kohle, doch sie hatte auch ihre Struktur verändert. Timofej sah Schuppen, nein, Facetten, die einen seltsamen Schimmer von sich gaben. Vergleichbares hatte er zuvor noch nie gesehen. Doch was war diese Veränderung gegen das, was er getan hatte!

Er hatte getötet!Aus seinen Händen, seinen Fingern, war dieses Etwas gekommen,

das dieses merkwürdige Flugwesen am Himmel ohne jeden Skrupel

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ermordet hatte.»Mondfeuer – wo sind wir hier? Warum sprichst du nicht zu mir? Was

soll nun geschehen … wir sind zu Mördern geworden. Nachtfreund, sag mir warum!«

Timofej bewegte sich durch ein endlos scheinendes Feld von Trümmern. Der Himmel, das fliegende Wesen, der surreale Him-mel, sie alle konnten doch nur aus einem bösen Traum stammen. Das musste einfach so sein. Wenn nicht, dann würde er jetzt seinen Verstand verlieren, denn der weigerte sich, das alles als Wahrheit zu akzeptieren.

Mondfeuer? Nachtfreund? Warum nennst du mich so?Timofej hätte vor Freude aufschreien können, doch seine Stimme

lag auch nicht mehr unter seiner Kontrolle. Also lief der Dialog auf geistiger Ebene ab.

»Warum fragst du mich das? Ich bin zum Mond gekommen, weil ich endlich nahe bei dir sein wollte. Ich hatte nichts weiter vor, als dich zur Erde zu bringen, damit wir zusammen sein könnten. Doch du hast mich angegriffen. Warum? Wir sind doch Vertraute …«

Es dauerte lange, doch dann bekam er Antwort.Vertraute? Ich kann nicht begreifen, was du damit sagen willst. Das,

was du Mond nennst, war mein Gefängnis, in das mich Menschen von der Erde gebracht haben … dorthin wollte ich nie zurück, denn ich hatte schon eine Ewigkeit dort verbracht. Es gibt kein Leben dort, doch ich brauche Le-ben, um meine Macht zu entwickeln. Jetzt habe ich dich – genug Leben, um herrschen zu können!

Timofejs Verwirrung nahm zu.»Erinnerst du dich denn nicht? Der Gulag … ich war ein Kind, habe

jede Nacht deine mich wärmenden Strahlen genossen, mit dir geredet. Du hast gesagt, ich muss dich finden, das sei mein Weg. Ich bin gekommen – und nun erkenne ich meinen Nachtfreund einfach nicht mehr in dir.«

Timofejs Körper blieb stehen. Die beiden dreibeinigen Kreaturen, die ihm dicht folgten, taten es ebenfalls. Timofej konnte die Angst dieser Wesen förmlich spüren, sie beinahe körperlich greifen. Sie wären nur zu gerne geflohen, doch sie fürchteten ihn viel zu sehr, als dass sie einen solchen Versuch ernsthaft in Betracht zogen.

Timofej sah genau, wie sich der Boden, der über und über mit

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weißem Geröll bedeckt war, um ihn herum schwarz zu färben be-gann. Er wusste nicht, was für eine Bedeutung das hatte, doch das beschäftigte ihn in diesem Augenblick auch nicht. Er wollte Antwor-ten vom Mondfeuer. Er bekam sie, doch sie waren nicht so, wie er es erhofft hatte.

Du bist mir lästig. Doch ich brauche dich ja noch. Ich weiß nicht, was das ist – ein Gulag. Ich habe auch nie zu dir gesprochen, ganz sicher nicht. Du warst da, bist mir zu nahe gekommen, also habe ich dich als Wirt er-wählt. Ich kenne auch die Begriffe Mondfeuer und Nachtfreund nicht, doch ich glaube, ich habe eine Erklärung dafür. Man hat mich aus einer anderen Welt geholt – einer, die parallel zu deiner existiert … oder zumindest exis-tierte, denn ich kann die Verbindung zu ihr nicht mehr erkennen. Viel-leicht ist sie vernichtet worden. Eines ist jedoch sicher – ich bin nicht das Mondfeuer, von dem du sprichst.

Timofej begriff das alles nicht, denn von einer Spiegelwelt, die es einmal gegeben hatte, wusste er natürlich nichts. Aber damit waren die Erklärungen noch nicht beendet.

Vielleicht geht es dich ja nichts an, aber ich will, dass deine Fragen en-den, also höre mir zu und schweige dann:

Ich wurde denen, die mich zu beherrschen versuchten, zu mächtig, denn ich war mehr als der Kristall, den sie in mir sahen. Ich entwickelte ein Be-wusstsein. Sie begannen mich zu fürchten, versuchten mich zu zerstören, doch das konnten sie nicht. Also trafen sie eine Entscheidung – sie brach-ten mich auf den Mond einer Welt, die damals noch vollkommen unbedeu-tend war. Dort, so waren sie sicher, abseits jedes Lebens, würde ich ver-kümmern. Doch sie irrten sich. Die Menschheit entwickelte sich und star-tete Ansätze zu einer Raumfahrt. Weit kamen sie nicht, doch sie landeten auf ihrem Trabanten und holten mich dabei unwissend auf ihre Welt. Doch ich entwickelte mich falsch, drohte zu einer alles zerstörenden Weltenbom-be zu werden. Also wählten sie die einzige Möglichkeit, um dies zu verhin-dern. Sie brachten mich zurück auf den toten Steinbrocken an ihrem Him-mel. Sie hätten nie wieder kommen dürfen, denn die Nähe von Leben been-det meine Inaktivität. Ein Fehler … und den werden sie noch bitter bereu-en.

Timofej verstand nur wenig von dem, was das Mondfeuer ihm da berichtete.

Er wagte es jedoch nicht, weitere Fragen zu stellen. Fieberhaft be-

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gann sein Bewusstsein nach Möglichkeiten zu suchen, die Ver-schmelzung zwischen ihm und dem Mondfeuer zu lösen. Doch er fand keine, die auch nur im Ansatz eine Erfolgschance gehabt hätte.

Eines war ihm jedoch klar geworden. Sein Mondfeuer war es nicht, das ihm nun seinen Willen aufzwang. Er erinnerte sich der Zeit, als er seinen Nachtfreund auf der Erde nicht mehr spüren konnte, ehe er plötzlich wieder auf dem Mond erschienen war. Da musste es diesen Austausch gegeben haben, dessen war er nun si-cher.

Eine Frage konnte er jedoch nicht für sich behalten.»Warum haben wir getötet? Das begreife ich nicht.«Er erhielt keine Antwort. Es war offensichtlich, dass dem Mond-

feuer ein Leben nicht viel bedeutete. Nicht genug, um darüber auch nur noch ein Wort zu verlieren.

Es gab andere Dinge, die es beschäftigte.Ich kenne diese Dimension nicht, in der wir gelandet sind, aber sie ist

voller Bosheit und Hass. Gut so, ich werde sie beherrschen. Wenn das ge-schehen ist, dann werde ich den Weg zu Erde finden. Die Menschen wissen es noch nicht, aber bald werden sie einen neuen Herrn haben.

Timofej reagierte nicht darauf. Was hätte er auch sagen sollen?In ihm war etwas zerbrochen, als ausgehend von seinem Körper

das Himmelswesen vernichtet worden war. Wenn er noch einen Be-weis gebraucht hätte, so wäre es dieser gewesen. 40 Jahre hatte seine Reise gedauert, 40 Jahre war er einem Traum, einem Phänomen hin-terher gelaufen, nur um nun erkennen zu müssen, dass all dies so völlig falsch endete.

Sein Körper setzte sich wieder in Bewegung, gesteuert durch den Willen eines anderen Wesens. Auch die Dreibeine folgten. Ein paar Mal stolperte Timofej, denn das Mondfeuer beherrschte die Motorik des menschlichen Körpers noch nicht perfekt, doch er fiel nicht, fing sich stets noch rechtzeitig ab.

Vielleicht … vielleicht gab es ja doch noch einen Weg, um zu ver-hindern, was sein Symbiont plante. Noch war da der letzte Funken Hoffnung in ihm.

Leben … das Mondfeuer brauchte Leben …Timofej musste es gelingen, ihm genau dies vorzuenthalten.

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Wie auch immer er das anstellen wollte.Als sich der kleine Trupp wieder in Bewegung gesetzt hatte, er-

weiterte sich der schwarze Kreis rapide, der das Weiß der Trümmer-stadt wie mit einem riesigen Pinsel übertünchte.

Das Mondfeuer kam – und alles andere musste unter ihm verge-hen …

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4. … ohne Leben

»Was nützt es einem Menschen,wenn er die ganze Welt gewinnt,

dabei aber sein Leben einbüßt?Um welchen Preis kann ein Mensch

sein Leben zurückkaufen?«Die Bibel, Matthäus 16,26

Irfana war beunruhigt.Sie war nun seit vielen Jahren die Anführerin dieses Amazonenla-

gers, lange genug, um zu wissen, wie jede einzelne der Kriegerinnen handelte und reagierte. Alguun und Testia waren in aller Frühe zu dem Kontrollflug über die Trümmer der weißen Stadt aufgebro-chen. Jede Amazone, besonders aber die Drachenreiterinnen, spürte einen tiefen Drang nach Freiheit in sich. Das war auch der Grund für die immer wieder aufkeimenden Querelen, was den Dienst für Stygia anging.

Nicht alle der Kriegerinnen waren begeistert von der Tatsache, dass sie für Stygia nichts weiter als Handlanger waren, die sich um die Drecksarbeit kümmern mussten. Doch seit sie von der Fürstin der Finsternis zum Ministerpräsidenten der Hölle aufgestiegen war, gab es für die Amazonen überhaupt keine Hoffnung mehr, irgend-wann aus diesem Dienst entlassen zu werden.

Stygia wurde immer mächtiger – also brauchte sie ihre Untergebe-nen noch mehr als vorher.

Irfana war wahrlich keine große Anhängerin Stygias, doch zumin-dest hatte sie immer dafür gesorgt, dass die Amazonen ihre Schwes-ternschaft pflegen konnten, ohne von den anderen Völkern der Schwefelklüfte behelligt zu werden.

Doch der Freiheitsdrang war durch die gewachsenen Aufgaben nur noch größer geworden. Daher war es nicht unüblich, dass die

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eine oder andere Amazone einen Auftrag, der sie außerhalb des La-gers brachte, gerne einmal … ausdehnte. Irfana konnte nichts Böses daran erkennen, denn als sie jung gewesen war, hatte sie nicht an-ders gehandelt.

Mehr als einmal hatte sie sich gemeinsam mit Alguun den einen oder anderen freien Tag erschlichen. Genau das aber war nun der Grund für ihre Sorge. Sie kannte Alguun – damals hatte die immer mit ihrem Pflichtbewusstsein zu kämpfen gehabt, hatte immer dar-auf gedrängt, so schnell wie nur möglich ins Lager zurückzugehen.

Und nun war Alguun überfällig.Es waren nur ein paar Stunden, doch auch diese kurze Zeit reichte

aus, um Irfana nervös werden zu lassen. Sie machte sich ganz ein-fach Sorgen. Irfana war älter als ihre Freundin, denn nach irdischer Zeitrechnung war Alguun jetzt 48 Jahre alt. Kein Alter, um sich selbst zum alten Eisen zu zählen, aber ein mehr als hohes für eine Drachenreiterin.

Nach wie vor war Alguun unübertroffen, wenn es darum ging, die Flugechsen zu beherrschen – im Sattel wurde sie wieder zu einem jungen Mädchen. Irfana beobachtete das immer wieder mit großer Freude.

Dennoch …Irfana ließ Barria zu sich rufen. Die hünenhaft gewachsene Ama-

zone war die Erste Reiterin, wenn die Kriegerinnen auf ihren Flug-echsen in den Kampf zogen. Sie war eine harte Frau, der man nach-sagte, dass sie über keinen Funken Humor verfügte. Doch sie liebte Alguun, vergötterte ihre alte Lehrerin geradezu.

In kurzen Sätzen schilderte Irfana ihr die Situation. Als sie damit fertig war, sah sie Barria ernst an.

»Alguun darf auf keinen Fall den Eindruck bekommen, dass ich sie kontrollieren will. Das würde sie nicht vertragen. Also … wenn ihr sie findet, und es besteht keine Gefahr für sie, dann erzählt ihr ir-gendeine Geschichte, die sie auch glauben kann.«

Barria nickte. »Ich werde es als Zufall ausgeben, dass wir ihr be-gegnen. Ich werde sagen, wir befinden uns auf einem reinen Übungsflug. Das kauft sie mir sicher ab.«

Irfana war da nicht so sicher, doch sie ließ es dabei bewenden.

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Eine Stunde später starteten acht Drachenreiterinnen in Richtung der weißen Stadt.

Irfana sah sie vom Boden abheben. Ein großartiger Anblick, auch wenn sich ihr dabei immer die Nackenhaare sträubten. Nach wie vor mied sie die Nähe zu den Drachen. Nur einige wenige Male hat-te sie sich in den Sattel hinter Alguun schwingen müssen, aber nur dann, wenn es absolut keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Jede Sekunde in der Luft war sie tausend Tode gestorben, was ihr Spott und Häme von Alguun eingebracht hatte.

Irfana hatte ganz einfach eine angeborene Abneigung zu den Ech-sen – und sie zu ihr. Man musste die Tiere schon wirklich lieben, wenn man sich ihnen mit Freuden anvertraute. Alguun liebte sie über alles … und ganz sicher würde sie einmal im Sattel eines Dra-chen ihr Leben beenden.

Irfana seufzte und wandte sich vom Fenster ab.Irgendwann einmal – doch bitte jetzt noch nicht …

Alguun hatte ihren Flugdrachen zwischen den Hügeln versteckt, die sich als Teil einer Gebirgskette an die weiße Stadt anschlossen. Das Tier verstand nicht, warum seine Reiterin es hier zurücklassen woll-te. Alguun redete lange und beruhigend auf den Drachen ein. End-lich schien er zu verstehen, dass sie ihn für das, was sie vorhatte, nicht brauchen konnte.

Es war ganz einfach nicht möglich, auf dem Rücken der Echse in der Stadt zu landen, denn sonst drohte ihr sicher das gleiche Schick-sal wie Testia. Alguun musste unauffällig agieren. Sie wollte Timofej finden und dann … das allerdings wusste sie selbst noch nicht.

Sie würde versuchen, die Erinnerungen an die lang vergangene Zeit zu wecken. Ihr war absolut nicht klar, in welchem Zustand sich Timofej jetzt befand, denn diese Schockemotion, die sie getroffen hatte, war ganz sicher nicht von ihm allein ausgegangen. Timofej war ein Mensch – ein vollkommen normales Exemplar dieser Gat-tung, die Alguun schon beinahe aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.

Eines durfte sie jedoch nicht vergessen – der grässliche Tod von

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Testia und ihrem Drachen ging auf Timofejs Konto. Daran konnte sie einfach nicht zweifeln, so gerne sie es auch getan hätte.

Timofej hatte gemordet. Eiskalt und ohne zu zögern.Ohne einen wirklichen Plan drang sie in das Trümmerfeld ein, das

einmal eine gewaltige Stadt gewesen war. Ihre Gedanken wirbelten. Was konnte sie dagegen tun, dass Timofej sie auch sofort tötete? Sie musste die Vergangenheit in ihm wecken, musste an das appellie-ren, was doch sicher noch in ihm steckte, an den kleinen Jungen, der sich um seine Freundin gesorgt hatte.

Alguun näherte sich vorsichtig aber zielstrebig der Stelle, an der Testia und sie angegriffen worden waren. Lange bevor sie den Ort erreicht hatte, sah sie, was mit dem Boden der Stadt geschah. Eine schwarze Schicht legte sich über die Trümmer und das Geröll.

Alguun konnte deutlich sehen, wie sie sich ausbreitete. Wenn das in dieser Geschwindigkeit so weiter ging, war abzusehen, wann der letzte Fleck Armakaths darunter verschwunden war. Als sie in die Hocke ging, um diese Schicht näher zu untersuchen, da war ihr, als würde eine kalte Hand nach ihr greifen.

Sie fröstelte. Ein Gefühl, das sie an ihre Kindheit erinnerte. Doch das hier war mehr, nicht Kälte allein. Es war der Hauch von eiskal-ter Gewalt. In der Hölle war Gewalt ein ganz normaler Vorgang, doch Alguun spürte hier eine andere Qualität davon.

Hass, Missgunst und das oft krankhafte Streben nach Macht hiel-ten in den Schwefelklüften die Dinge am Laufen. Schwarze Magie gegen weiße Magie – beide waren stark, beide waren nicht ohne Fehler. Vielleicht war es das, was immer wieder zu einer Pattsituati-on führte.

Alguun hatte sich schon oft gedacht, was die Schwarze Familie wohl alles hätte erreichen können, wenn sie sich nicht untereinander bekriegt hätte. Sie machten es ihren Feinden manchmal sehr leicht. Wenn sich die Großen der Hölle zusammengetan hätten … wer hät-te ihnen widerstehen können? Doch sie dachten nicht einmal an eine solche Vorgehensweise.

Stygia selbst war das beste Beispiel dafür.Was Alguun hier mit ihren Fingern berührte, das sprach eine an-

dere Sprache. Eine selbstverständliche Überlegenheit war darin ver-

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borgen. Wer dies auch immer getan hatte, für den gab es an seiner Herrschaftsstellung überhaupt keinen Zweifel.

Alguun folgte dem sich ausbreitenden Schwarz blindlings, denn sie wusste nicht, in welcher Richtung sie nun zu suchen hatte.

Beinahe fürchtete sich Alguun davor, den korrekten Weg gewählt zu haben, denn an seinem Ende würde der Tod auf sie warten.

Das war keine reine Vermutung, nein – die Amazone hatte im Lauf der Jahre neue Nuancen ihrer angeborenen Fähigkeit entdeckt, mit der sie den Tod von Menschen voraussehen konnte. Sie spürte Schmerzen bei anderen, was ihr den Ruf eingebracht hatte, jede Krankheit lokalisieren zu können. Erst hatte das nur bei den Dra-chen funktioniert, doch irgendwann auch bei den Kriegerinnen.

Jetzt jedoch war noch etwas zu diesen Fähigkeiten hinzu gekom-men. Etwas, das nur sie selbst betraf. Sie wusste, dass sie die letzte große Aufgabe ihres Lebens vor sich hatte, und die würde darin be-stehen, Timofej zu retten. Wovor? Das konnte sie nicht sagen, aber sie wusste genau, dass es so kommen würde.

Was anderes also konnte sie erwarten, als den eigenen Tod?Seltsam, aber sie fürchtete sich nicht einmal davor …

Belkar und Tiekar waren wie paralysiert.Sie folgten dem Wesen willenlos. Belkar beobachtete aus den Au-

genwinkeln. Seine Zwillingsschwester schwitze unnatürlich stark. Im Gegensatz zu ihm schien sie ununterbrochen bemüht, sich aus der geistigen Klammer der schwarzhäutigen Kreatur zu lösen.

Immer wieder blieb das Wesen stehen, schien einen inneren Dia-log mit sich selbst zu führen. Erstaunt bemerkte Belkar, wie unsicher es sich bewegte. Ganz so, als hätte es zum ersten Mal in seiner Exis-tenz Beine, auf denen es sich fortbewegen musste. Einige Male hatte es einen Sturz gerade noch verhindern können.

Tiekar fiel ein paar Schritte zurück. Belkar wusste nicht, woher sie den Willen dazu nahm, doch bei seiner Schwester war ja alles mög-lich. Dann blieb sie abrupt stehen. Es dauerte, bis das Wesen vor ih-nen davon etwas bemerkte. Auf staksigen Beinen wandte es sich zu den Dreibeinen um.

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»Schließ zu uns auf. Wenn du nicht gehorchst, werde ich dich sofort tö-ten.«

Doch Tiekar reagierte nicht, sie zitterte nun am ganzen Körper, troff allen Poren so stark, wie Belkar es noch niemals erlebt hatte. Dann sackte sie auf allen drei Beinen ein und fiel zu Boden. Ihr gan-zer Leib zuckte wie unter heftigem Fieber. Dann ein letzter Ruck … und sie lag vollkommen bewegungslos da.

Belkar schrie, und dieser Gefühlsausbruch konnte auch von der Kontrolle des Fremden nicht unterdrückt werden. Plötzlich konnte er sich wieder nach eigenem Willen bewegen. Mit langen Sätzen war er bei Tiekar und ging neben ihr in die Knie. Es brauchte nur einen einzigen Blick von ihm, um zu sehen, dass seine Schwester tot war.

Belkars Schmerzensschreie hallten durch Armakath. Wie vom Wahnsinn gepackt wandte er sich dem fremden Wesen zu. »Du Mörder – du hast sie getötet. Sie hat deine Macht nicht ertragen kön-nen. Du verfluchter Mörder!« Er schüttelte beide Fäuste, als wolle er den Fremden tatsächlich angreifen.

Der reagierte nicht. In seinem Inneren startete ein Dialog mit sei-nem Wirtskörper.

Das verstehe ich nicht. Was sind das für schwache Wesen? Ich habe ih-nen doch noch keine Gewalt angetan?

Timofej zögerte, was er wohl antworten könnte. Ihm war längst klar geworden, dass sein Leben nur noch so lange währen würde, bis das Mondfeuer einen stärkeren, widerstandsfähigeren Körper als den seinen finden konnte. Was hatte er noch zu verlieren. Kriechen würde er ganz sicher nicht.

»Es sind wohl empfindsame Wesen – ich kenne sie so wenig wie du. Viel-leicht ertragen sie es einfach nicht, wenn ihnen ein fremder Wille aufge-zwungen wird. Dieser Tod war vielleicht so etwas wie eine Flucht vor dir.«

Mondfeuer – das beschlossen hatte, diesen Namen für sich anzu-nehmen – reagierte unwillig.

Jeder wird sich meinem Willen unterwerfen müssen. Hier und aus der Welt der Menschen. Besser sie gewöhnen sich daran, denn sie werden mir zu Diensten sein. Ich werde den anderen zwingen, mich zu leiten.

Timofej hielt dagegen, denn diese beiden dreibeinigen Wesen schi-en eng miteinander verbunden zu sein.

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»Was willst du mit ihm? Glaubst du nicht, du findest auch allein deinen Weg? Schau ihn dir an – er wird dir keine große Hilfe sein.«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Dann wandte das Mondfeuer Timofejs Körper wieder herum und setzte seinen Weg fort, ohne sich um die Dreibeine zu kümmern. Offenbar waren ihm die Wesen eher lästig als hilfreich gewesen.

Belkar kniete noch immer neben seiner Schwester, die sich nicht mehr regte. Erst als der Fremde wirklich außer Sicht war, begann er sie zu rütteln. »Tiekar, Tiekar, komm wieder zu dir. Er ist fort.«

Das Dreibein-Mädchen schlug die Augen auf und grinste seinen Bruder frech an.

»Kaum zu fassen, wie leicht er zu täuschen war. So mächtig und doch so dumm.«

Belkar sah das ein wenig anders. Wie hätte der Fremde auch wis-sen sollen, dass die Dreibeine über die Fähigkeit verfügten, für einen gewissen Zeitraum zu sterben. Es hörte sich verrückt an, aber es stimmte – sie konnten sich komplett in eine Trance versetzen, die alle ihre Körperfunktionen für einen gewissen Zeitraum ausschalte-te. In ihren Feuertänzen machten sie sich dies zu Nutze, denn wer von ihnen sich in die brennenden Opferschalen werfen wollte, der starb bereits eine Sekunde davor. Nur … dann war dieser Zustand natürlich nicht mehr umkehrbar. Hier aber schon.

»Was jetzt?« Tiekar war rasch wieder auf ihren drei Beinen. »Was tun wir?«

Belkar zögerte keine Sekunde lang. »Wir müssen die anderen fin-den, damit alle die Stadt verlassen. Wir müssen sie davor beschüt-zen, diesem Monstrum zu nahe zu kommen.« Er blickte traurig zum Boden, der tiefschwarz war. »Schau nur, unsere heilige Stadt …«

Tiekar fasste den Bruder bei der Hand. »Komm, lass uns hier ver-schwinden. Wir finden die anderen, keine Sorge. Ich will nur fort von hier, denn es war ein schreckliches Gefühl, so ohne eigenen Wil-len zu sein. Das will ich nie wieder erleben. Also los, komm …«

Belkar warf noch einen Blick in die Richtung, in die der Fremde verschwunden war. Dann ließ er sich von seiner Schwester bereit-willig fortziehen.

In seinem Kopf manifestierte sich ein Bild.

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Es zeigte eine schwarze Stadt.Die Hoffnung, die von den Dreibeinen in Armakath gesetzt wor-

den waren, starben damit ein zweites Mal …

Zamorra ging hinter einem Steinblock in Deckung, als er die Stim-men vernahm.

Es waren zwei Dreibeine, offenbar noch ziemlich junge, die an ihm vorbei liefen, ohne den Professor zu entdecken. Er konnte nur an-satzweise verstehen, was sie sich zuriefen, aber das reichte ihm voll-kommen aus, um die beiden zu verfolgen.

Zamorra kannte das Volk der Dreibeine. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie er gemeinsam mit Dalius Laertes an einem der Feuer-feste teilgenommen hatte, die diese Rasse in den Höllennächten ab-hielten. Dalius und er hatten sich damals in weite Umhänge gehüllt, die auch ihre Köpfe verborgen hatten. Niemand hatte Anstoß an den beiden Fremden genommen, die sich am Rande der Veranstaltung aufgehalten hatten. Wenn Zamorra sich recht entsann, dann waren die Dreibeine davon überzeugt gewesen, das Erscheinen von Arma-kath würde ihnen eine bessere Zukunft versprechen.

Ja … und er erinnerte sich auch noch an die doch recht makaberen Rituale, die von diesen Wesen abgehalten wurden. Besonders an die Dreibeine, die sich in Trance getanzt und dann in riesige Feuerscha-len geworfen hatten. Zamorra hasste es, wenn Wesen – ganz gleich welcher Art sie waren – den Freitod wählten, weil sie ihren Göttern oder Götzenbildern nahe sein wollten.

Die beiden Dreibeine steuerten zielsicher die Überreste eines Ge-bäudes an, das sicher früher imposant gewesen war. Heute erinnerte sein beim Untergang der Stadt stehen gebliebener Rest an die be-rühmten Potemkinschen Dörfer. Einfacher gesagt – vorne hui, hin-ten pfui, denn es war lediglich die Vorderfront übrig geblieben, die sich einfach weigerte, umzufallen.

Bei genauerer Betrachtung glaubte der Parapsychologe zu erken-nen, dass dies sicher einmal ein großes Hotel dargestellt hatte. Als die Dreibeine hinter der hartnäckigen Fassade verschwunden wa-ren, schlich Zamorra sich vorsichtig an und blickte hinter die Vor-

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derfront. Da waren an die 50 Dreibeine, die hier anscheinend ihr La-ger aufgeschlagen hatten.

Zamorra war eigentlich wenig nach Humor zumute, doch er musste grinsen, dass diese nichtzahlenden Gäste der Stadt sich ausge-rechnet die Front eines Hotels ausgesucht hatten – nur der Service würde dort ganz sicher zu wünschen übrig lassen.

Aufgeregt scharten die beiden Neuankömmlinge ihre Artgenossen um sich. Zamorra horchte in seinem Versteck, was sie zu erzählen hatten. Sie unterstrichen das, was sie sagten, mit heftigen Armbewe-gungen.

»Wir müssen alle schnell fliehen. Dieser Fremde ist gefährlich. Er will alles beherrschen. Wir hatten Glück, das wir entkommen konn-ten. Die Stadt ist für immer verloren. Alles wird schwarz, wenn sei-ne Füße es berühren.«

Zamorra gab seine Deckung auf, denn wenn die beiden dort der Lew-Dhyarra-Kombination begegnet waren, dann würden sie ihn zu ihm führen können. Als die Dreibein-Horde den Parapsycholo-gen entdeckte, sprangen sie aufgeregt auf ihre Beine. In der Hölle war jeder erst einmal von vorneherein ein Feind, den man sich am besten erst einmal vom Hals hielt.

Zamorra hob beide Arme in die Höhe, zeigte seine leeren Handflä-chen. Langsam näherte er sich den Wesen, die mit Fremden ganz be-stimmt noch keine guten Erfahrungen gemacht hatten. Sie gehörten zu der untersten Schicht in den Schwefelklüften, waren nicht viel mehr als der Dreck unter den Krallen der Dämonen. Sie wichen vor dem Professor zurück, doch dann blieb einer von ihnen stehen und deutete auf Zamorra.

»Ich kenne ihn. Er war oft in der Stadt, sprach auf den Mauerzin-nen mit der Wächterin. Er ist kein Feind der weißen Stadt.« Da war Zamorra selbst nicht so sicher, doch er beließ es natürlich dabei, denn von einer Sekunde zur anderen war er hier willkommen.

»Ich bin hier, weil ich hoffe, ihr werdet mich zu diesem Fremden führen. Ich weiß, woher er kommt. Er ist wirklich ungemein gefähr-lich, also muss ich ihn aufhalten. Ich weiß, ich verlange viel von euch, aber tut es für die Stadt. Wenn sie erst einmal ganz unter sei-nem Einfluss steht, werden ihr hier nicht mehr willkommen sein, da

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bin ich ganz sicher.«Die Dreibeine berieten sich untereinander, wobei Zamorra den

Eindruck bekam, dass ihre Angst vor dieser neuen Gefahr einfach zu groß war. Er hoffte kaum auf Unterstützung. Und so kam es dann auch. Der Sprecher der Gruppe trat vor den Professor hin.

»Bitte verzeih, aber wir werden die Flucht antreten. Belkar und Tiekar werden dir die Richtung zeigen, in der du suchen musst. Mehr erwarte bitte nicht von uns, denn Mut zum Risiko gehört nicht zu unseren Eigenschaften. So sind wir, so waren wir schon immer.«

Zamorra war enttäuscht, doch er hatte nicht die Zeit, mit den Drei-beinen zu diskutieren. Er verabschiedete sich von der Gruppe, die sofort damit begann, den Weg aus dem Trümmerfeld zu suchen.

Belkar und Tiekar, die beiden Dreibeine, die in der Gewalt des schwarzen Dhyarras gewesen waren, brachten ihn noch ein Stück weit in die Stadt hinein. Belkar winkte dem Professor noch einmal zu, nachdem er ihm die Richtung gewiesen hatte. Zamorra machte sich auf den Weg. Doch dann hielt ihn eine Stimme zurück.

Es war Tiekar, die Schwester Belkars, wenn Zamorra die Familien-verhältnisse richtig verstanden hatte. Das Dreibein-Mädchen kam ihm nach. »Ich komme mit dir. Ich finde, wenn wir etwas von der Trümmerstadt retten wollen, dann müssen wir auch dabei helfen.«

Zamorra war verblüfft, doch er freute sich über diese Unterstüt-zung.

»Und was sagt dein Bruder dazu?«Tiekar zuckte mit den schmalen Schultern. »Er weiß, dass man mir

nichts ausreden kann, wenn ich es mir in den Kopf gesetzt habe. Also lass uns gehen, ehe der garstige Bursche nichts mehr von Ar-makath für uns übrig lässt.«

Zamorra folgte dem Dreibein mit einem Grinsen im Gesicht.Immer wieder war er verblüfft, wo man Mut finden konnte. Oft an

genau den Stellen, wo man ihn niemals vermutet hätte …

Timofej fühlte keine Müdigkeit, keinen Schmerz.Nach wie vor beherrschte das Mondfeuer seinen Körper nicht per-

fekt. Immer wieder stolperte Timofej auf dem unebenen Boden, fiel

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hin, rappelte sich sofort wieder auf, um stumpf wie eine Maschine seinen Weg zu nehmen. Timofej war in seinen letzten Jahren als Doktor Timo Lew in keiner guten körperlichen Verfassung gewesen. Um Gesundheit hatte er sich nie großartig geschert. Für ihn hatte es nur die Karriere gegeben, deren Endziel der Mond war.

Sein Asthma hatte ihn gequält – die 60 und mehr Zigaretten am Tag hatten ihren Teil beigetragen … sicherlich auch sein Überge-wicht. Er war nicht bereit gewesen, dies alles zu ändern. Sport lehn-te er grundsätzlich für sich ab, seine Lunge ließ er leiden, seine Er-nährung glich der Speisekarte einer Fast-Food-Kette.

Sein Körper hatte sich gemeldet, ihm deutliche Warnzeichen gege-ben, doch die ignorierte Timofej ganz einfach. Wenn er sein Ziel er-reicht hatte, dann würde alles anders werden – besser! Was konnten ihm dann noch Fettleibigkeit, eine geteerte Lunge und ein ruinierter Magen anhaben?

Es war alles anders geworden, doch aus dem Traum war ein Alp-traum geworden. Körperlich jedoch konnte er all seine alten Proble-me nicht mehr spüren. Hunger oder die Gier nach Nikotin – es gab sie nicht mehr. Atemnot war nicht mehr existent. Doch was war das gegen den Verlust jeder Kontrolle über den eigenen Körper, gegen die Lähmung des freien Willens?

Timofej hatte ein Leben lang nach dem einen, dem großen Schatz gesucht. Alles hatte er auf dieses Ziel ausgerichtet. Doch als er ihn dann fand, als er die Schatztruhe geöffnet hatte, da fand er darin keinen Engel – es war ein Teufel, der ihn angesprungen hatte.

Er war dem falschen Mondfeuer ausgeliefert, doch nicht einmal das würde von Dauer sein, denn der Kristall würde sich einen stärkeren Körper als den von Timofej suchen. Ihn würde er ohne jeden Skru-pel töten, das war keine Frage. Doch noch wollte sich Timofej nicht aufgeben. Vielleicht gab es doch noch einen Ausweg für ihn – und für die Erde, denn die zu finden war das große Bestreben vom Mondfeuer.

Timofej musste mehr über das Mondfeuer erfahren, das ihm so fremd war. Er musste ausloten, ob es einen schwachen Punkt besaß. Zumindest war schon jetzt klar, dass es keine Erfahrung im Umgang mit einem humanoiden Körper besaß.

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»Wie kannst du sicher sein, dich in die richtige Richtung zu bewegen? Vielleicht ist dieses Trümmerfeld ja auch ohne wirkliche Grenzen? Viel-leicht gibt es hier überhaupt nichts anderes? Du solltest erst einmal in Er-fahrung bringen, wo wir uns hier befinden. Die Zeit verstreicht – und wir laufen unter Umständen in die vollkommen falsche Richtung.«

Timofej wusste nicht einmal, ob er tatsächlich mit einer Antwort gerechnet hatte. Seit das Mondfeuer das dreibeinige Wesen aus sei-nem Dienst entlassen hatte, war es stumm geblieben. Bei dieser Ent-scheidung hatte es Unsicherheit gezeigt. Vielleicht waren ihm die Dreibeine ganz einfach nur lästig gewesen. Es konnte aber auch sein, dass es mit einer solchen Situation überfordert war, weil sie ab-solutes Neuland für das Kristallbewusstsein bedeutete.

Erstaunlich schnell meldete Mondfeuer sich bei Timofej.Zeit? Was weißt du schon, was Zeit für mich bedeutet? Wie viele Jahre

ich auf dem toten Erdenmond gelegen habe, fern von jeder Art des Lebens. Als ich dann zur Erde geholt wurde, war da so viel Leben um mich, dass ich vor Energie strotzte, doch ausgerechnet die Person nahm mich in ihren Besitz, bei der ich mich nicht entfalten konnte. In ihr war zu viel Leben … und das lähmte mich. Ich wollte entkommen, zu einem anderen Menschen wechseln, doch sie trug mich ständig bei sich. Sechs Leben wohnten in ihr, eines davon ein Schattenwesen, das mich für seine Zwecke missbrauchen wollte. Es war ein Verbund, der mich in dumpfe Lethargie versetzte. Die Kraft, die ich nach außen wirken lassen wollte, war in mir selbst einge-schlossen. Also baute sie sich ständig auf, wurde stärker und stärker.

Mondfeuer schwieg. Timofej versuchte seine Worte zu entschlüs-seln, sie zu begreifen. Sprach er von einer multiplen Persönlichkeit? Ohne Leben konnte er sich nicht entfalten – zu viel Leben jedoch schien eine ähnliche Wirkung auszulösen. Das allerdings half Timo-fej jetzt auch nicht mehr weiter.

Ich stand kurz davor, mich selbst zu zerstören. Mich … und die Welt um mich herum. Doch Menschen brachten mich zurück zum Mond. Alles be-gann von vorne.

»Und in deiner Welt – der anderen Erde, wie du sie nennst – gab es dort keinen Timofej? Keinen kleinen Jungen, der in jeder Nacht zu dir sprach?« Er kannte die Antwort ja, doch noch immer wollte er sie nicht wahr-haben.

Nein, den gab es nicht.

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Dafür konnte sich Timofej nur eine einzige Erklärung zurecht le-gen. Wenn es dieses parallelen Welten wirklich gab, oder wenn es sie zumindest gegeben hatte, so war auf ihnen nicht alles vollkom-men gleich abgelaufen. Vielleicht hatte es den anderen Timofej dort auch gegeben, doch möglicherweise hatte ihn seine Mutter nicht al-leine bei den Großeltern zurückgelassen … vielleicht hatte Timofejs zweites Ich dort glücklich und zufrieden mit seinen Eltern gelebt. Vielleicht …

Und Timofej fühlte, dass er begann, diesen kleinen Burschen zu beneiden.

Mondfeuer sprach erneut zu ihm.Zudem – es gibt keine falsche Richtung. Diese Welt hier ist mir unbe-

kannt, doch wohin wir auch gehen: Am Ende werde ich sie unter meiner Macht haben. Doch das alles kann für dich nicht von Wichtigkeit sein. Du bist ein schlechtes Transportmittel für mich. Ich werde sicher bald ein bes-seres finden.

Timofej brauchte all seine restliche Geistesenergie, um bei diesen Worten nicht endgültig aufzugeben. Timofej zweifelte, dass Mond-feuer mit einem anderen Körper besser zurecht kommen würde als mit seinem. Körperlichkeit war ihm fremd. Nicht alles schien so leicht zu beherrschen zu sein, wie das Kristallbewusstsein es glaubte.

Timofej wollte wachsam bleiben, denn wenn sich doch noch eine Chance ergeben sollte, sich von Mondfeuer zu lösen, dann musste er diese sofort erkennen und agieren.

Eine weitere würde es dann sicher nicht mehr geben.

Barria war zufrieden, denn ihre Drachenreiterinnen flogen die ge-samte Strecke über in einem engen Verband. Sie liebte Perfektion, wenn es um das Fliegen ging. Nachlässigkeiten und fehlende Kon-zentration ließ sie nicht durchgehen. Sie kannten das Ziel ihrer Mission – die Überbleibsel der weißen Stadt, doch keine der acht Amazonen konnte wissen, was ihnen auf dem Weg dorthin alles be-gegnen konnte. Disziplin war also absolut erforderlich.

Barria hatte den Drachenritt einst bei Alguun gelernt. Im Laufe dieser Ausbildung hatte sie nicht nur gelernt, Alguun zu respektie-

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ren, ihren Anweisungen und Ratschlägen zu folgen, sondern auch ihre Lehrerin zu verehren … und zu lieben, ja, lieben, auch wenn sie das Alguun niemals gestanden hatte. Barria war selbst für eine Amazonenkriegerin auffallend groß und muskulös. Sie wusste sehr wohl, dass man sie wirklich nicht als eine Schönheit bezeichnen konnte.

Zudem glaubte sie zu wissen, dass Alguun von einer Beziehung zu einer Frau endlos weit entfernt war. Barria akzeptierte das. Was blieb ihr auch anderes übrig? Doch auch als ihre Ausbildung längst beendet war, als sie nach und nach für die Flugstaffel des Lagers im-mer bedeutender wurde, verlor sie Alguun niemals aus den Augen. Die Jahre vergingen – Barria war längst zur Ersten Reiterin gewor-den, doch noch immer waren ihre Gefühle für Alguun nicht gänz-lich erloschen.

Irfana war eine kluge Anführerin für das Amazonenlager. Ihr ent-ging nur selten etwas, also hatte sie auch ganz bewusst entschieden, Barria mit der Suche nach Alguun zu beauftragen – so eine Mission hätten durchaus auch junge, noch unerfahrene Drachenreiterinnen übernehmen können, doch Irfana schickte Barria. Sie wusste, dass die Erste Reiterin niemals umkehren würde, ehe sie Alguun gefun-den hatte.

Die Überreste von Armakath kamen in Sicht. Bei einem der eher halbherzigen Attacken auf die damals so prächtig und voller Kraft erscheinende Stadt hatten auch Barria und ein Teil ihrer Flugstaffel teilgenommen. Sie waren unverrichteter Dinge abgezogen und Bar-ria war nur froh gewesen, dabei keine ihrer Kriegerinnen verloren zu haben. Sie hatte also wirklich keine guten Erinnerungen an die weiße Stadt.

Umso genauer beobachtete sie bereits den angrenzenden Gebirgs-zug, in dem sich offenbar kein einziger Höllenbewohner aufhielt. Doch dann stutzte sie. Ein Drache? Versteckt zwischen den Hügeln und somit vom Boden aus nicht zu entdecken. Vom Himmel gese-hen, war das aber eine ganz andere Sache.

Barria reagierte sofort. Sie riss den rechten Arm in die Höhe, machte mit der Hand eine Schwenkbewegung. Ihre Kriegerinnen zögerten keinen Moment lang. In einem weiten Bogen folgten Schai-

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na ihrer Ersten Reiterin, die ihren Drachen zwischen den Bodenerhe-bungen bei den Gebirgsausläufern landete. Sie alle taten es ihr nach. Die Handzeichen waren die einzige Verständigung, die es für die Drachenreiterinnen in der Luft gab. Sie alle kannten die so angedeu-teten Befehle im Schlaf. Im Kampf konnten sie über Sieg oder Nie-derlage – über Leben und Tod entscheiden.

Barria sprang aus dem Sattel ihrer Flugechse und hastete einen Hang hinauf. Der Drache, den sie dort angebunden vorfand, rea-gierte gelassen auf ihre Annäherung. Kein Wunder – er kannte Bar-ria schließlich seit vielen Jahren. Die Erste Reiterin trat nahe an das Tier heran, umkreiste es mit langsamen Schritten und forschendem Blick.

Sie konnte keinerlei Verletzung bei dem Tier feststellen. Warum also hatte Alguun ihn hier zurückgelassen, denn es handelte sich um den Drachen der Fluglehrerin. Barria tätschelte grübelnd den Kopf des Drachen, der sich das freudig gefallen ließ; er besaß ein sanftes Gemüt, ganz so wie seine Reiterin.

Wenn Alguun ihre Echse hier angebunden hatte, wenn sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte, dann musste es dafür einen wichti-gen Grund geben, den Barria im Augenblick einfach nicht erkennen konnte. Und – wo war die zweite Reiterin mit ihrem Tier geblieben?

Hier war irgendetwas geschehen, das nach weit mehr als einem reinen Erkundungsflug aussah. Barria musste handeln. Ihre Kriege-rinnen hatten sich im Halbkreis um den Drachen versammelt, der sich offenbar über die Gesellschaft freute, die man ihm zuteil wer-den ließ.

Barria traf ihre Entscheidung.»Alle zurück in die Sättel. Wir überfliegen das Stadtgebiet in Ket-

tenformation – dicht beieinander bleiben, damit uns nichts entgehen kann. Ich bin sicher, Alguun und Testia befinden sich irgendwo zwi-schen den Trümmern. Volle Aufmerksamkeit! Wir haben keine Ah-nung, ob da unten nicht vielleicht etwas auf uns lauert, das wir nicht richtig einschätzen können. Niemand geht ein unnötiges Risiko ein. Wenn wir unsere Schwestern gefunden haben, nehmen wir sie mög-lichst ohne zu landen auf. Danach treffen wir uns alle wieder hier, bei Alguuns Echse. Los!«

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Die Kriegerinnen stürmten zurück zu ihren Drachen. Eine Amazo-ne vom Boden aus aufzunehmen, ohne dafür landen zu müssen, war keine große Sache, denn jede Kriegerin war fähig, den Sattel ei-nes tief fliegenden Drachen zu erklimmen. Zumindest aber, sich dort so festzuhalten, dass sie nicht abstürzte. All das war tausend-fach geübt worden.

Nur eine Minute später befanden sich die acht Drachen in der Luft und begannen die Stadt in einer Reihe nebeneinander zu überflie-gen.

Acht Augenpaare, denen nichts entgehen würde …

Zamorra versuchte sich dicht bei seiner Führerin zu halten, was manchmal nicht so einfach war. Das Dreibein-Mädchen mit dem Namen Tiekar sprang über die Hindernisse, die hier überall lauer-ten, wie ein Zicklein hinweg. Der Franzose musste zugeben, dass dieser Anblick ihn schon ein wenig belustigte, denn Tiekar über-schätzte ihre Künste ab und an ein wenig. Das Ergebnis war dann ein Umknicken, ein Stolpern … und es endete immer damit, dass die Kleine heftig auf die Nase fiel.

Übermut – das Privileg der Kinder. Es schien keinerlei Rolle zu spielen, auf welcher Welt man war, bei welchem Volk oder welcher Rasse. Kinder verhielten sich überall verblüffend ähnlich. Zamorra nahm sich die Zeit, das Mädchen ein wenig genauer zu betrachten. Sie war sicher noch recht jung, reichte ihm gerade einmal bis zur Schulter. Sah man einmal von den drei Beinen ab, die ihr auf diesem Geröllboden anscheinend oft mehr hinderlich als hilfreich waren, waren die Ähnlichkeiten zu der menschlichen Anatomie recht groß. Oberkörper, Arme, Hals und Kopf konnte man mit ein wenig Wohl-wollen als vergleichbar bezeichnen. Die Dreibeine waren jedoch ab-solut haarlos, und die Gesichtszüge zwischen männlichen und weib-lichen Exemplaren unterschieden sich nicht sonderlich, was auch für ihre Stimmlage zutraf.

Es war also nicht einfach festzustellen, ob man Frau oder Mann vor sich hatte, zumal ihre Bekleidung einheitlich aus weiten Umhän-gen bestand, die alles verdeckten, was zur Entscheidungsfindung

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hätte beitragen können.Nach ihrem letzten Sturz, den Zamorra als einen eindeutigen

Bauchklatscher eingestuft hatte, hielt sie sich dicht bei dem Parapsy-chologen.

»Wir sind auf der richtigen Spur.« Sie versuchte ein wichtiges Ge-sicht zu machen, was jedoch daneben ging. »Der Fremde bewegt sich nicht besonders schnell vorwärts, wir holen ihn also bald ein.«

Zamorra blickte sie an. »Wie konntet ihr ihm eigentlich entkom-men.«

Tiekar lächelte stolz. »Weißt du, das war nicht sehr schwer. Ich bin einfach gestorben.« Sie zwinkerte Zamorra zu, als sie seinen nicht verstehenden Gesichtsausdruck sah.

»Du musst wissen, wir Dreibeine können uns in einen Zustand versetzen, der dem Tod gleichkommt. Das ist wirklich so.« Zamorra hatte von ähnlichen Fähigkeiten bei anderen Völkern schon gehört, doch hätte er nie damit gerechnet, dass die Dreibeine das beherrsch-ten.

»Es gehört zu unseren Feuertänzen. Wenn einer der Tänzer sich entschlossen hat, sein Leben im Feuer auszuhauchen, versetzt er sich vor dieser Tat in besagten Zustand. Er spürt dann den Todes-kuss der Flammen nicht mehr. Wir können diesen kurzen Tod aber auch wieder rückgängig machen, wenn wir es nur wollen.«

Der Parapsychologe war sicher, dass diese Fähigkeit zumindest in einer grauen Vorzeit noch eine weitere wichtige Bedeutung für das Überleben des Dreibein-Volkes gehabt haben konnte. Wahrschein-lich waren sie schon immer die Opfer gewesen, die Gejagten. Ein simpler Trick war es, wenn man seinem Feind weismachen wollte, dass man bereits tot war. Er würde dann von einem ablassen. Zu-mindest konnte man darauf hoffen. Meistens funktionierte das je-doch nicht, denn eine solche Täuschung flog doch rasch auf.

Bei den Dreibeinen sicher nicht, denn sie simulierten ja nicht. Eine faszinierende Fähigkeit, wie Zamorra fand. Doch er ließ diese Ge-danken abreißen, als Tiekar plötzlich stehen blieb. Sie hielt einen ih-rer dünnen Finger an die Lippen. Keine Frage – sie hatten den Frem-den, wie Tiekar ihn nannte, beinahe erreicht.

Zamorra blickte sich um. Überall war der Boden schwarz gewor-

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den. Viel Deckungsmöglichkeiten waren nicht zu finden. Es würde einen offenen Kampf geben, wenn man das überhaupt so nennen konnte, denn Zamorra fühlte sich ohne Merlins Stern plötzlich völlig nackt. Er betrachtete den Blaster, den er seit einiger Zeit in der Hand hielt. Er zögerte einen Augenblick, dann wählte er bei der Waffe den Paralyse-Modus. Sollte er Doktor Lew töten? Er wollte das als aller-letzte Möglichkeit für sich offen lassen. Wahrscheinlich würde der Blaster ihm eh nicht weiter helfen, denn er war sicher, der mutierte Dhyarra würde seinen Wirtskörper zu schützen wissen.

Wie also wollte er dann überhaupt vorgehen?Mit seinen eigenen magischen Fähigkeiten war es nicht so weit

her, um es mit diesem entarteten Kristall aufnehmen zu können. Er musste also improvisieren. Solange der Kristall sich noch in Arma-kath befand, solange war er sicher nicht nahe genug am Leben, das er so dringend für seine Existenz benötigte. Die Überreste der Stadt waren tot – Leben konnte der Dhyarra hier nur bei Timo Lew fin-den. Würde das ausreichen, um seine ganze Macht zu entfalten?

Zamorra hatte die Fragen satt. Er wollte handeln. Die Dreibeine hatten ihm berichtet, dass die Symbiose aus dem Geologen und dem Dhyarra-Bewusstsein noch nicht einwandfrei funktionierte. Zumin-dest nicht auf motorischer Basis. Kurz gesagt – sie waren nicht unbe-dingt auf sicheren Füßen unterwegs. Vielleicht war das ein Ansatz?

Zamorra schlich hinter Tiekar her, die sich nun absolut gesittet und vorsichtig bewegte. Als sie sich hinter einen großen Felsbrocken kniete, tat er es ihr gleich. Was er sah, war schockierend, doch der Meister des Übersinnlichen hatte in seinem Leben schon so viele un-fassbare Dinge gesehen, dass ihn dieser Anblick nicht aus der Fas-sung bringen konnte.

Gut zwanzig Meter von Zamorra und Tiekar entfernt stand Doktor Timo Lew, als würde er den Weg nicht kennen. Der Professor ver-mutete jedoch eher, dass diese Pause kräftebedingt war. Doktor Lew war splitternackt. Kein besonders netter Anblick, aber darüber sah der Parapsychologe einfach hinweg.

Viel mehr bannte die Haut des Mannes seine Blicke. Sie war tief-schwarz. Das alleine war schon unglaublich, doch die Farbe alleine war es ja nicht. Timo Lews Haut bestand aus Tausenden von Facet-

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ten, die – je nachdem wie das Licht der Hölle auf sie fiel – merkwür-dig aufflackerten um dann sofort wieder stumpf zu werden. Am Körper des Geologen konnte Zamorra kein einziges Haar erkennen, was auch nicht verwunderlich war, denn diese Haut legte sich wie eine zusätzliche Schicht um ihn.

Kurz gesagt – Zamorra sah einen lebenden Dhyarra, der sich einen Wirtskörper erobert hatte. Wie viel von Doktor Lew noch unter die-ser Haut steckte, wie viel von seinem Ich übrig geblieben war, ver-mochte der Professor natürlich nicht zu sagen.

Er überdachte die Situation, denn es war sicher entscheidend, wie und wann er dieses Wesen angriff. Es geschah nicht oft, doch in die-sen Sekunden schwankte Zamorras Entscheidungskraft gewaltig. Ganz ohne Hilfe … wie sollte er diese Symbiose nur besiegen? Wie sollte er den schwarzen Kristall wieder in einen inaktiven Zustand versetzen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er sich tat-sächlich mit einer Aufgabe vollkommen überfordert.

Mit Gewalt verdrängte er diese Selbstzweifel.Es gab einen Ausweg – ganz sicher.Es hatte bisher auch immer einen gegeben …Hilfe kam nicht. Es kam auch keine Erleuchtung, die den retten-

den Einfall mit sich brachte.Es kam etwas anderes, mit dem Zamorra so auch niemals gerech-

net hatte …

Alguun spürte den Geschmack der Angst auf ihrer Zunge.Sie war als Amazone durch viele Kämpfe gegangen, denn wenn

Stygia ihr Hilfsvolk zum Kampf rief, machte das auch nicht vor ei-ner Fluglehrerin, nicht einmal vor der Führerin eines Amazonenla-gers Halt.

Dieser Geschmack war ihr also nicht fremd. Jeder, dessen Geschäft der Kampf und der Tod waren, kannte ihn. Wer das als unwahr zu-rückwies, der log ganz einfach. Angst war eine unumgängliche Emotion, wenn man eine Schlacht lebend beenden wollte, denn sie schärfte die Sinne.

Die Form der Angst, die sie hier überfiel, war von anderer Natur.

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Nicht die Wahrscheinlichkeit dem eigenen Tod entgegenzulaufen war der Grund dafür, es war die Angst erleben zu müssen, was aus der Bezugsperson ihrer Kindheit geworden war. Sterben musste je-der einmal, selbst die Kreaturen der Hölle, die sich ihrer Langlebig-keit rühmten. Selbst ein Unsterblicher musste sich vor roher Gewalt fürchten.

Doch den letzten Pfeiler aus ihrem ersten Leben auf der Erde hier vielleicht als eiskalten Mörder zu erleben, das konnte Alguun kaum ertragen. Sie war ihm schon ganz nahe, das fühlte sie mit jedem ih-rer Schritte. Dann sah sie die Gestalt, die mitten auf einer geröllfrei-en Fläche stand. Rund um sie herum war der Boden schwarz wie auch sonst bereits in einem großen Teil des Stadtgebiets, doch direkt um die Füße des Wesens herum glänzte dieses Schwarz wie unter einer dicken Lackschicht.

Alguun sog das Bild der Gestalt in sich hinein. Wie sehr sie hoffte, keinerlei Ähnlichkeit zu dem Jungen zu entdecken, der vor 40 Jah-ren ihre Hand losgelassen hatte. Dann schloss sie für lange Momen-te die Augen. Ihre Hoffnung war vergebens gewesen.

Natürlich – das Gesicht war das eines Mannes, der schon bald sein fünftes Jahrzehnt beendet hatte. Sicherlich … er war gealtert … sein Körper war fett, seine Wangen wie aufgeblasen, sein Kinn mächtig. Doch die Augen waren die des neunjährigen Jungen, den sie so ge-liebt hatte.

Es war Timofej. Da gab es keinen Zweifel. Entsetzt registrierte die Amazone, wie entstellt sein Körper war. Diese Haut, die Facetten, die wie die Schuppen eines Fischs glitzerten, den die Sonne unter der Wasseroberfläche erwischt hatte. Alguun wusste nicht woher, aber in dieser Sekunde wurde ihr schlagartig klar, wer sich so brutal Timofejs Körper zu eigen gemacht hatte.

Das Mondfeuer – sein Nachtfreund …Er hatte ihr davon erzählt, noch am Abend bevor dieser schreckli-

che Tag anbrach, der Tod und Verlust, Verzweiflung und tiefe Ein-samkeit im Gepäck gehabt hatte. Sie hatte damals geglaubt, er wür-de ihr ein Märchen erzählen, um sie zu beruhigen und in den Schlaf sinken zu lassen. Sie war sich absolut sicher – Timofej hatte es ge-schafft, das Mondfeuer vom Erdtrabanten zu holen!

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Wie bitter war der Dank ausgefallen, der ihm gespendet worden war. Wie absolut bitter.

Nachtfreund hatte Timofej ihn genannt. Freund … ganz sicher nicht der passende Begriff für eine solche Kreatur. Alguun bemerkte es gar nicht, wie sich ihre Beine in Bewegung setzten. Sie musste Timo-fej helfen. Kam nun die Situation, die sie für sich erahnt hatte? Ihr Tod? Dieser Gedanke konnte sie nicht daran hindern, ihre Schritte noch zu beschleunigen.

»Timofej Bolschakow!« Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, denn sie klang wie splitterndes Eis. »Timofej Bolschakow! Was suchst du in der Hölle?«

»Timofej Bolschakow! Was suchst du in der Hölle?«Timofej schrak auf. Sein erster Gedanke war, dass ihm das Mond-

feuer sein noch immer klares Bewusstsein genommen, und ihn in eine Art Traumwelt versetzt hatte. Hier konnte doch niemand sei-nen wirklichen Namen kennen! Und … Hölle? Was war damit ge-meint?

Dann jedoch sah Timofej die Frau auf sich zukommen. Sie war ge-kleidet, wie eine Amazone in einem alten Hollywood-Schinken. Brustpanzer, hohe Stiefel, Schwertgehänge – alles war vorhanden. Doch irgendwie machte sie einen so authentischen Eindruck, wie es eine Schauspielerin wohl nie gekonnt hätte.

Das Mondfeuer reagierte.Sie ist von dergleichen Art wie du – ein schwacher Körper, den man nur

schwer kontrollieren kann. Sie ist für mich nicht von Wert. Ich töte sie.Timofej bemerkte, wie sich sein rechter Arm hob und auf die Frau

zeigte. So hatte es auch begonnen, als durch seinen Körper die Kraft gelaufen war, die das Flugwesen vom Himmel geholt hatte. Timofej schrie in Gedanken auf.

»Nein, warte noch. Sie kann dir nicht gefährlich werden. Gib mir eine Minute, um mit ihr zu reden. Bitte … du kannst dabei nichts verlieren. Vielleicht kann sie uns ja den schnellsten Weg aus dieser Trümmerstadt zeigen. Bitte …«

Das Mondfeuer antwortete ihm nicht, doch es zog sich ein Stück

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aus seinem Willen, seinem Bewusstsein zurück. Timofej hörte seine eigene Stimme.

»Wer … wer bist du? Woher kennst du meinen Namen? Was meinst du mit Hölle?«

Die Frau war nun so nahe bei ihm, dass er ihr Gesicht genau sehen konnte, obwohl seine Sehkraft unter seinem Symbionten gelitten hatte. Diese Züge, die Augenpartie … Timofej glaubte, die Frau schon einmal gesehen zu haben.

»Du erkennst mich nicht, Timoscha? Es ist lange her. Sicher bin ich nicht mehr das hübsche Ding, das ich früher einmal war.«

Timoscha … nur zwei Menschen hatten ihn je bei der Koseform sei-nes Namen genannt. Seine Mutter und Darja, der Tochter von Fjo-dor Achtanow, der im Gulag gestorben war. Darja, die er auf dem Marktplatz von Ulan Bator verloren hatte. Wie war das nur möglich?

»Darja?« Mehr brachte er nicht heraus. Die Frau lächelte ihn an, doch ihre Augen lachten nicht mit. Sie hatte große Angst. Vor ihm?

»Ich heiße jetzt Alguun, aber sag ruhig weiter Darja zu mir. Wie das möglich ist? Schicksal, vielleicht. Und mit Hölle meinte ich den Ort, an dem wir uns nach vielen Jahrzehnten wieder getroffen ha-ben. Weißt du denn nicht, wo du dich hier befindest? Vielleicht weißt du dann ja auch nicht, dass du meine gute Freundin Testia ge-tötet hast, als du sie und ihren Flugdrachen einfach so zerfetzt hast? Was weißt du dann überhaupt, Timofej Bolschakow? Was machst du mit den Resten dieser Stadt – und vor allem: Was willst du hier? Ist es das Mondfeuer, das dich so verändert hat?«

Timofej wusste nicht, wie er auf das alles eine Antwort geben soll-te. Die meisten der Fragen verstand er ja nicht einmal. Er konnte etwa mit dem Begriff der Hölle nicht viel anfangen. Was konnte Darja damit meinen? Warum war sie so gekleidet? Er kam weder dazu, eine Frage auch nur im Ansatz zu beantworten, noch eine zu stellen. Das Mondfeuer übernahm wieder die Kontrolle. Seine Stim-me drang nun zu Darja.

Du kannst uns aus dieser Stadt bringen?Alguun/Darja begriff rasch, dass es jetzt keinen direkten Kontakt

mehr zu Timofej geben würde. Sie musste ihre Antwort nicht lange

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überlegen.»Ich werde es nicht tun. Und wenn du mich zwingen willst, dann

lass dir gesagt sein, dass mein Wille stärker ist, als der von Timofej.« Mit der linken Hand zog sie blitzschnell ihren Dolch aus dem Gurt und setzte dessen Spitze an den eigenen Hals. »Versuche nicht mich zu beeinflussen, ich würde mich sofort töten. Skrupel habe ich dazu keine, glaube mir. Lass Timofej frei. Such dir in den Schwefelklüften ein anders Opfer. Lass ihn gehen. Lass ihn hier bei mir.«

Das Mondfeuer analysierte die unlogische Handlungsweise der Frau. Es begriff sie dennoch nicht.

Du willst dich töten? Warte nur, ich bin dir dabei behilflich. Du bist wertlos für mich.

Der rechte Arm des Symbionten-Körpers hob sich erneut und ziel-te direkt auf Alguun. Bevor der schwarze Schauer entstand, hörte Alguun noch ein vertrautes Geräusch über sich. Es war der Schwin-genschlag eines Flugdrachen. Sie fand es schön, begleitet von einem so geliebten Geräusch aus dem Leben zu scheiden. Seltsam, dass sie diese Vision vor ihrem Tod hatte.

Doch dann wurde aus der bedrohlichen, doch stillen Szenerie im nächsten Augenblick ein Tollhaus!

Etwas zischte von der Seite an Alguuns Körper vorbei, etwas wie ein Blitzschlag. Der die Luft um sie herum sofort aufheizte. Der Arm des Symbionten-Wesens wurde zur Seite geschlagen, als der Blitz-schlag ihn voll traf. Der tödliche Schauer, bestehend aus lauter ku-gelförmigen Objekten, verfehlte sein Ziel, traf nur totes Gestein, das unter seiner Wirkung zu feinstem Staub zerfiel.

Alguun sah aus den Augenwinkeln, wie ein Mensch und ein Drei-bein ihre Deckung aufgaben und sich näherten. Dann schlugen fünf Armbrustbolzen in Timofej ein, die einen Menschen sofort getötet hätten. Doch der mit Facetten besetzte Körper taumelte nur durch die Aufschlagskraft um zwei Schritte nach hinten, blieb jedoch auf-recht stehen. Mit weit aufgerissenen Augen sah Alguun, wie die so tödlichen Geschosse wieder vom Körper abgestoßen wurden. Die nächste Salve aus der Luft kam und traf erneut mit großer Präzision.

Alguun hatte längst ihren Kopf in den Nacken gelegt und die acht Flugechsen entdeckt, die ihr zu Hilfe eilten. Sie erkannte Barrias Hü-

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nengestalt und musste einfach stolz lächeln. Die Kriegerinnen waren gekommen, um ihr beizustehen. Sicher hatte Irfana sie geschickt.

Wieder bohrten sich die Bolzen in den Körper, dieses Mal waren es acht, die allesamt dicht an dicht aus der Brust des Wesens ragten. Alguun erkannte den schlauen Schachzug Barrias, der darin verbor-gen war. Sie musste gesehen haben, wie die erste Salve das schwar-ze Wesen hatte taumeln lassen. Nun saßen die acht Bolzen weiter oben im Körper … und sie wirkten wie ein einziger Hebel. Timofej knickte in den Beinen ein und fiel nach hinten um. Hart schlug er auf dem Steinboden auf.

Alguun wusste, was nun folgen würde. Die Drachenreiterinnen würden eine nach der anderen in den Sturzflug gehen, bis eine von ihnen Alguun zu sich in den Sattel gezogen hatte. Die Fluglehrerin der Amazonen hob den rechten Arm, deutete auf den Mensch und die dreibeinige Kreatur, dann öffnete sie die Hand und ballte sie so-fort wieder zu einer Faust.

Die Reiterinnen hatten verstanden – und nur wenige Sekunden später hatten drei Drachen je einen zusätzlichen Fluggast. Mit ge-mischten Gefühlen spürte Alguun, wie sie an Höhe gewannen und schnell dem Ende der Geröllstadt entgegenrasten.

Unter ihr sah sie Timofejs entstellten Körper, der wie eine Schild-kröte hilflos auf dem Rücken lag. Die Armbrustbolzen hatten ihm erneut keinen Schaden zugefügt, da war sie sicher. Doch irgend-wann würde er wieder auf die Füße kommen.

Die Gefahr begann im Grunde erst jetzt …

Tiekar schrie noch immer, als der Drache längst sicher gelandet war.Mit unerwarteter Geschicklichkeit, ließ sie sich vom Rücken der

Flugechse fallen und landete sicher auf ihren drei Beinen. Das oft hilflose Gestolper, das sie im Stadtgebiet an den Tag gelegt hatte, schien wie weggeblasen. Flink wie ein irdisches Wiesel huschte sie zwischen zwei Amazonen hindurch und versteckte sich hinter Pro-fessor Zamorras breitem Rücken.

Sie waren weit außerhalb der Stadt zwischen den Hügeln gelan-det, dort, wo Alguun ihren Drachen zurückgelassen hatte.

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Zamorra ließ seinen Blaster, den er noch immer in der rechten Hand hielt, fallen, als er sah, dass sich acht geladene Armbrüste auf ihn und Tiekar richteten.

Alguun ging dazwischen. »Halt, die beiden haben mir das Leben gerettet, denn sie haben den Todesschauer von mir abgelenkt.«

»Weißt du denn nicht, wer das dort ist?« Es war Barria, die wü-tend auf den Parapsychologen wies. Sie hatte einen Arm frei, denn ihre mächtigen Pranken handhabten – wenn notwendig – zwei Armbrüste zur gleichen Zeit. Die Amazone hatte Zamorra sofort er-kannt. Nicht nur einmal waren der Professor und die Kriegerinnen aufeinander gestoßen. »Wenn wir ihn jetzt töten, wird Stygia uns in ihre Leibgarde holen.«

Alguun mochte sich das überhaupt nicht vorstellen – stets und ständig um die launische Stygia herum sein zu müssen. Zudem hat-ten sie solche Beförderungen noch nie interessiert. Sanft aber be-stimmt drückte sie die Hand Barrias nach unten, bis der Armbrust-bolzen zu Boden zeigte. Die Erste Reiterin ließ es sich gefallen.

»Was interessiert mich Stygia? Siehst du denn nicht, was dieses Wesen anzurichten in der Lage ist? Es hat Testia aus der Luft geholt. Sie ist einen grausamen Tod gestorben. Wir müssen es stoppen.«

»Sie hat Recht.« Zamorra wagte einen Einwand, wobei er darauf achtete, stets seine leeren Handflächen zu zeigen. Amazonen waren nervöse Kriegerinnen, die rasch einmal abdrückten, wenn der Fin-ger sie gerade juckte.

Die Amazonen sahen ihn alle an. Zamorra konnte in diesen Bli-cken erkennen, dass sie es unglaublich fanden, dass er als Mann – und als erwiesener Feind Stygias – es wagte, den Mund aufzuma-chen. Dennoch hörten sie ihm zu.

»Dieses Wesen macht nicht Halt an der Grenze von Armakath. Es will mehr, sehr viel mehr. Ich kenne den Ursprung dieser Kreatur. Wenn wir es nicht schaffen sie aufzuhalten, dann wird es stärker und stärker werden, wird bald die Hölle beherrschen und anschlie-ßend die Erde versklaven.«

»Was geht uns die Erde an?« Barria blieb trotzig.Alguun ergriff wieder das Wort. »Hast du ihm nicht zugehört?

Wir müssen es schlagen, ehe es seine wahre Stärke erreicht.« Algu-

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un hatte die schlummernde Kraft in dem ruhen gespürt, das Timofej immer seinen Nachtfreund genannt hatte. »Ich konnte es deutlich sehen. Noch ist längst nicht seine wirkliche Macht in ihm erwacht. Wir müssen ihn vernichten und Timofej retten …« Die letzten Worte hatte sie zu sich selbst gesprochen, denn mit diesem Namen konn-ten ihre Schwestern natürlich nichts anfangen.

Zamorra hingegen sehr wohl.»Timofej? Du sprichst von Doktor Timo Lew, nicht wahr?«Alguun zuckte zusammen. Lew – also hatte Timofej den Namen ih-

res ermordeten Freundes aus dem Gulag angenommen. Sie blickte Professor Zamorra lange an, dann ging sie auf ihn zu.

»Ich glaube, wir beide müssen miteinander reden. Und zwar hier und jetzt.«

Zamorra hatte absolut keinen Einwand, solange die Armbrüste der Amazonen sich nicht wieder auf seinen Kopf richten würden, war er zu so ziemlich allem bereit.

Alguun und der Professor hockten sich auf den Boden. Umringt von den Amazonen begann Alguun ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen.

Von einem Gulag in der Mongolei auf Umwegen in die Hölle.Das war eine der merkwürdigsten Geschichten, die Zamorra je ge-

hört hatte. Er glaubte der Amazone jedes Wort. Auch den Satz, dass sie die Schwefelklüfte immer dem Gulag auf ihrer Heimatwelt vor-ziehen würde.

So schaffen sich die Menschen ihre ganz eigenen Höllen auf der Welt, die für sie der Himmel sein könnte.

Also hatte der schwarze Dhyarra tatsächlich Kontakt zu einem Kind der Erde aufgenommen, um es so zu konditionieren, ihn ir-gendwann einmal vom Erdenmond zu holen. Doch der entartete Kristall, den Doktor Timo Lew dort gefunden hatte, war ein ande-rer, der aus der damals noch existenten Spiegelwelt stammte. Za-morra brannte eine Frage auf der Zunge.

»Wer war Timofejs Vater?«Alguun zuckte die Schultern. »Er hat es nie erfahren. Seine Mutter

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hätte es ihm sicher sagen können, doch mir scheint, als hätte er sie nie gefunden. Es gab im Gulag damals Gerüchte über den Gefange-nen, der die Tochter des Aufsehers geschwängert hatte. Er muss ein seltsamer Mensch gewesen sein, mit dem die anderen nie richtigen Kontakt bekamen. Manche behaupteten sogar, er wäre von den Ster-nen gekommen.«

Zamorra horchte auf. Das wäre natürlich eine Erklärung, warum der Kristall sich den kleinen Timofej ausgesucht hatte. War dessen Vater vielleicht ein EWIGER gewesen? Einer, den es – warum auch immer –, auf die Erde verschlagen hatte? Diese Möglichkeit bestand durchaus. Beweisen würde man es nach so vielen Jahren nicht mehr können. Zudem spielte es nun keine Rolle mehr, sicher auch nicht für Timofej, der jetzt unter dem bösen Einfluss des Kristalls stand.

Dann begann sein Bericht. Die Amazonen und das Dreibein Tie-kar, das nicht einen Zentimeter von Zamorras Seite wich, verstan-den nicht sehr viel von dem, was der Erdenmann zu erzählen hatte. Selbst Alguun hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Doch alle hat-ten die Gefahr des mutierten Kristalls begriffen, als er endete. Za-morra ließ einen letzten Satz nachwirken.

»Der Kristall ist in der Lage, ganze Welten zu zerstören. Jetzt ist er noch zu vergleichen mit einem Kleinkind, das täglich neues Wissen in sich einsaugt, es aber körperlich noch nicht umsetzen kann. Wir müssen schnell handeln.«

»Hast du einen Plan?« Genau diese Frage hatte Zamorra gefürch-tet, denn er kannte nur eine einzige Möglichkeit, den Kristall in sei-nen Ruhezustand zu versetzen.

»Er braucht Leben, um zu handeln. Ohne das ist er nur ein glit-zernder Stein, der rasch all seine Macht verliert und hilflos ist. Man muss ihn von jeder Art des Lebens isolieren. Ich weiß nur nicht wirklich, wie wir das erreichen könnten.«

Alguun erhob sich. Mit hoch aufgerichtetem Kopf stand sie da. »Dann müssen wir seinen Wirt töten. Es geht nicht anders.« Zamor-ra ahnte, wie schwer dieser Satz der Frau gefallen war, die den um-bringen wollte, den sie eben erst nach einem halben Menschenleben wiedergefunden hatte.

Doch damit alleine war es ja nicht getan. Zamorra ergriff wieder

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das Wort.»Und was dann? Der Kristall wird sich einen neuen Wirt aussu-

chen – einen von uns. Dann können wir einander so lange töten, bis nur noch einer übrig ist. Und der wird dann eben der neue Wirt. So funktioniert das nicht. Es muss einen anderen Weg geben.« Der wollte ihm nur nicht einfallen.

Es wurde höchste Zeit, dass sich dies änderte …

Was für einen schwachen Körper habe ich mir ausgesucht!Das Mondfeuer raste. Sofort hätte es Timofej abgestoßen, wäre zu

einem anderen Lebewesen gewechselt, doch es fühlte, wie sehr es auf diesen Menschen angewiesen war. Seine ganze Kraft würde es in diesem Körper niemals entfalten können, doch es gab keine Alter-native – noch nicht, denn hier existierte kein anderes Leben, das es sich zu Nutze hätte machen können.

Der mutierte Kristall wusste, dass er schnellstens diese Ruinenfel-der hinter sich bringen musste, denn in dieser Dimension warteten kräftige, physisch nur schwer angreifbare Wirte auf ihn. Er musste sie nur erreichen.

Steh auf.Der Kristall versuchte, dosierte Kraftstöße an seinen Wirtskörper

abzugeben. Nur so würde der sich wieder ausreichend erholen kön-nen. Es dauerte lange, bis er einen Erfolg sah. Mühsam kam Timofej wieder auf die Beine.

»Wo sind sie? Werden sie uns erneut angreifen?« Timofej hatte voller Entsetzen die Armbrustbolzen in seinen Körper eindringen sehen. Die erste Salve hatte er noch stehend überstanden, zumal die Pfeile wie von Geisterhand gesteuert wieder aus seinem Körper herausfie-len. Die Schmerzen waren ausgeblieben, doch Timofej fühlte, wie sehr ihn dieser Angriff bereits geschwächt hatte. Dann kam der zweite Pfeilhagel. Timofej verlor seinen Stand, kippte nach hinten um. Er hatte diesem Aufprall nichts entgegenzusetzen. Er starb nicht, das verhinderte das Mondfeuer in ihm, doch er hatte das Ge-fühl, als bestünde sein Körper in diesem Augenblick aus Brei, der in alle Richtungen zerfließen wollte.

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Langsam erst kam die Erinnerung an die Frau zurück, die ihn bei seinem alten Namen gerufen hatte. Darja … er konnte nicht verste-hen, warum sie hier – ausgerechnet hier – einander wiedergefunden hatten. Konnte man das wirklich mit Schicksal erklären? Was wäre das für ein grausames Schicksal, denn als sie sich nach vier Jahr-zehnten wieder gegenüberstanden, hatten sie versucht, sich gegen-seitig zu töten.

Wie gerne wäre er zu Darja als freier Mann gekommen. Ihnen bei-den blieb ja noch genügend Lebensspanne um noch einmal ganz von vorne zu beginnen – gemeinsam. Er verdrängte diesen Traum, denn die Realität sah nun einmal vollkommen anders aus.

Das Mondfeuer reagierte nicht auf seine Frage. Die Kraft, die es Timofej hatte zufließen lassen, reichte aus, um sich wieder einiger-maßen normal vorwärtsbewegen zu können.

Wir werden diese Trümmergefilde nun bald verlassen. Konzentriere dich auf den Weg. Mehr verlange ich nicht mehr von dir. Mehr kann dein Kör-per auch nicht für mich leisten.

Timofej begriff, dass er jetzt nur noch dazu diente, diese Region zu verlassen, die ohne Leben war. Ohne Leben … die Worte setzten sich in seinem Denken fest. Der Kristall brauchte Leben, sonst musste er verkümmern. Timofej versuchte sein Denken gegen das Mondfeuer abzuschirmen, denn seine momentanen Gedanken durfte der Kris-tall einfach nicht lesen. Vielleicht war das Letzte, das Timofej tun konnte, doch noch möglich. Er hatte Schuld auf sich geladen, denn ohne ihn wäre der Kristall nie aus seinem tiefen Schlaf auf dem Mond erwacht. Also war es nur richtig, dass er die Situation berei-nigte.

Im Grunde war es ganz einfach – Timofej musste nur sterben! Dann würde der mutierte Dhyarra in ihm verdorren. Es gab hier kein Leben, das er für sich nutzen konnte.

Timofej versuchte die Kraft des Kristalls für eine einzige Aktion in sich zu bündeln. Es musste ihm gelingen, seinen Körper für nur einen entscheidenden Moment zu kontrollieren. Der Weg führte ihn zwischen Ruinen hindurch, die sich einfach nicht der Tatsache beu-gen wollten, dass es die weiße Stadt nun nicht mehr gab. Tiefe Risse in den Mauern zogen sich vom Boden aus in die Höhe, lose Steine

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ragten heraus, die sich wohl mit letzter Kraft an ihren Brüdern fest-klammerten, weil sie den Verbund einfach nicht verlassen wollten. Das alles wirkte trostlos, unwirklich, doch für Timofej war es die wie für ihn geschaffene Szenerie.

Er konnte jetzt nicht mehr warten! All seine geistige Energien lenkte er mit Druck in den Befehl um, den er seinem Körper gerade-zu aufzwang. Das Mondfeuer reagierte zu spät. Mit einer solchen Aktion hatte es sicher niemals gerechnet und war unaufmerksam geworden.

Timofej warf seinen so verwandelten Körper nach rechts und rammte die Hauswand neben ihm mit aller Kraft, die er aufzubrin-gen im Stande war. Wie ein Rammbock traf der mit Facetten übersä-te Leib auf Stein – exakt an einer Stelle, die einen handbreiten Riss aufwies. Timofej schrie auf, doch sein Stimme gehörte ja schon längst nicht mehr ihm. Da kam kein Ton über seine Lippen. Seine Ohren funktionierten jedoch erstklassig. Timofej hörte das drohende Geräusch, als Steine auseinander gedrückt wurden, als sie sich in-einander verkeilten und doch jeden Halt verloren.

Die Mauer stürzte ein.

Asmodis hielt Merlins Stern in seiner rechten Hand.Lange betrachtete er die Silberscheibe nachdenklich. Professor Za-

morra hatte seinen Talisman, der gleichzeitig seine stärkste Waffe im Kampf gegen die schwarzen Mächte war, dem Ex-Teufel und früherem Fürst der Finsternis anvertraut. Keine leichte Entschei-dung, doch Zamorra vertraute Asmodis genug, um sie zu fällen.

Sie war absolut notwendig geworden, denn als Merlin starb – ge-tötet von Lucifuge Rofocale –, da war es, als wäre ein Teil des Amu-letts mit ihm gegangen. War es vorher schon nie wirklich zuverläs-sig gewesen, so häuften sich die Aussetzer nun. Das bedeutete schlussendlich, dass Merlins Stern in seinem derzeitigen Zustand eher eine Gefahr für seinen Träger bedeutete, als eine Hilfe.

Zamorra war nichts anderes übrig geblieben, als Asmodis deshalb zu kontaktieren. Nur er – der schwarze Bruder Merlins – war fähig, diesen Zustand zu beenden.

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Asmodis sollte das Amulett wieder in den alten Zustand verset-zen. Man konnte auch von einem Reset reden, wenn man es denn so nennen wollte.

Das jedoch brauchte seine Zeit. Wie lange? Asmodis konnte es nicht präzise sagen. Er wusste natürlich, wie sehr Professor Zamorra ohne sein Amulett geschwächt war. Dennoch würde er warten müs-sen. Alleine schon aus dem Grund, dass Asmodis sich nicht alleine auf diese Sache konzentrieren konnte.

Auch für ihn hatte sich vieles nach Merlins Tod verändert. Er war nun an die Stelle seines Bruders getreten, des Dieners der Schicksals-waage. Er hatte sich nicht darum beworben, im Gegenteil – diese Aufgabe nahm ihm viel von seiner Freiheit. Der Freiheit all das zu tun, was seinem Plan dienlich sein konnte, seinen wirklichen Inter-essen und Zielen. Die jedoch kannte außer ihm niemand. So sollte das auch erst einmal bleiben.

Merlins Stern wog schwer in Asmodis' Hand.Vielleicht hätte er Zamorra doch nicht alleine in die Schwefelklüfte

gehen lassen sollen? Der schwarze Dhyarra war wieder zur Aktivi-tät erwacht. Wenn er die erst einmal voll ausschöpfen konnte, wür-de er kaum noch zu stoppen sein. Niemand wusste das besser als Asmodis. Er war der Einzige, der das Wissen um die Existenz des Kristalls besessen hatte. Viele Jahre lang hatte er den Weg des Dhyarras verfolgt, um ihn irgendwann gefahrlos in seinen Besitz zu nehmen. Doch das war misslungen. Auf der Erde und auf deren Spiegelwelt-Pendant. Nur mit letzter Kraft war es ihm, Zamorra und Nicole Duval gelungen, die Gefahr zu bannen, dass der fehlentwi-ckelte Kristall zu einer Planetenbombe werden konnte.

Nun war er wieder da, war beseelt durch einen Idioten, der ihm zu nahe gekommen war. Asmodis begriff diese Menschen oft ein-fach nicht – und er verstand auch nicht, warum Professor Zamorra es nicht einfach verhindert hatte, dass Leben auf den Mond zurück-kehrte. Leben – mehr benötigte der Dhyarra nicht, um seine Macht zu entwickeln.

Asmodis legte die Silberscheibe beiseite.Sich selbst verstand er bisweilen jedoch auch nicht immer so ganz.

Er wusste, wie beinahe unmöglich es war, den entfesselten Sternen-

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stein aufzuhalten. Dennoch hatte er Zamorra alleine in die Schwefel-klüfte gehen lassen, um genau dies Kunststück zu vollbringen. Si-cherlich wären Asmodis diese Worte niemals über die Lippen ge-kommen, doch … er brauchte Zamorra. Die Zukunft hielt noch so viele Überraschungen bereit, die auch den Ex-Teufel immer wieder in Situationen bringen mochten, die er ohne Hilfe kaum bewältigen konnte. Und eine adäquate Alternative zu Zamorra fiel ihm da nicht ein.

Asmodis schüttelte den Kopf. Dann konzentrierte er sich – es war noch immer genügend Hölle im Diener der Schicksalswaage, um pro-blemlos einen Kontakt auf Distanz dorthin herstellen zu können. Was er erhielt, war nur ein mentales Bild, nein, nicht einmal das, sondern nur eine Ahnung davon, in welchem Zustand sich die Hölle im Gebiet um Armakath herum jetzt befand.

Asmodis riss die Augen weit auf, als er den intensiven Kontakt jäh abbrechen ließ. Nun gab es für ihn keinen Zweifel mehr. Zamorra hatte den Kampf aufgenommen, doch er würde ihn kaum gewinnen können. Zudem konnte der Meister des Übersinnlichen nicht einmal ahnen, was in diesen Augenblicken um ihn herum geschah.

Ein Vorgang, der nicht mehr zu stoppen war. Eine Normalität, si-cher, doch sie konnte zum entscheidenden Faktor im Kampf gegen den schwarzen Dhyarra werden. Asmodis wusste, was er nun zu tun hatte, was er längst hätte tun sollen.

Die Hölle forderte ihr natürliches Recht ein.Auch Asmodis würde sie daran nicht hindern können.Doch vielleicht war er in der Lage, das Schlimmste noch abzuwen-

den …

Timofej fiel, schlug mit dem Rücken hart auf dem nun schwarz ge-färbten Boden auf.

Direkt neben ihm begann die Gebäudewand zu kollabieren. So hart es ihm nur möglich gewesen war, hatte er seinen Körper gegen das marode Gemäuer geworfen. Ein Knirschen drang an seine Oh-ren, das sich mit jeder Sekunde verstärkte, bis es zu einem Grollen angeschwollen war. Dann stürzten aus der Höhe die ersten Steine

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zu Boden. Die ganze Fassade zitterte in sich, vibrierte, wehrte sich noch zusammenzustürzen. Doch sie konnte es nicht mehr verhin-dern.

Als die Steine jeden Halt zueinander verloren, wollte Timofej ein-fach die Augen schließen, denn sein eigenes Ende wollte er nicht auch noch mit ansehen müssen. Es gelang ihm nicht. Die Gegenwart des Todes ließ ihn erstarren. Brocken prasselten auf seinen Körper, bedeckten ihn wie ein Grab aus Gestein. Dann sah er den großen Brocken aus der Höhe auf sich zurasen. Aus Angst wurde Triumph! Das Böse, das er erweckt hatte, würde hier mit ihm gemeinsam ver-gehen. Zumindest das hatte er geschafft, und er hoffte so sehr, dass man seinen Leichnam niemals finden würde. Kein lebendiges We-sen durfte dem Mondfeuer je wieder zu nahe kommen.

Vielleicht war dieser Ort, den man wohl die Hölle nannte, der per-fekte Ort dazu.

Der steinerne Tod kam, und er begrub Timofej unter sich.Doch er lebte auch jetzt noch …Eine Welle aus reiner Energie schoss durch seinen Körper. Ohne

seinen eigenen Willen wurde der Steinklotz, der jedes Wesen unter sich erdrückt hätte, von seinen Armen in die Höhe gestemmt. Ein letzter Ruck, und er fiel zur Seite, als wäre der Stein nur ein leichtes Federbett. Timofej richtete sich auf, schüttelte die anderen Brocken einfach so von sich ab.

Er hatte wieder einmal versagt.Lange war Schweigen in ihm. Für das Mondfeuer schien die ganze

Aktion äußerst kräfteraubend gewesen zu sein, doch dann vernahm Timofej die mentale Stimme in sich erneut.

Hast du geglaubt, ich hätte die Oberfläche deines Körpers mit meinen Fa-cetten überzogen, weil ich dich mir ähnlich erscheinen lassen wollte? Nicht nur dein Körper ist schwach, sondern auch dein Geist, wenn du so gedacht hast. Kein Pfeil kann deinen Körper töten, solange ich in dir bin, und auch kein Stein. Du hast es versucht – sieh endlich ein, dass du gegen mich nichts unternehmen kannst. Du darfst erst sterben, wenn ich einen ande-ren Wirt gefunden habe. Und nun werden wir unseren Weg fortsetzen.

Timofej schwieg. Es gab nichts zu erwidern.Er musste den Weg gehen, musste das Mondfeuer in Gefilde tra-

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gen, in denen es seine wirklich Stärke erreichen konnte. Für Timofej war der Kristall stark genug – viel zu stark. Also musste er laufen, seinem Tod entgegen, den das Mondfeuer ihm geben würde.

Er wünschte sich, dass es schon so weit wäre …

Tiekar stand vor Professor Zamorra, hatte ihren kleinen Kopf in den Nacken gelegt, um den großen Mann direkt ansehen zu können. Mit einem ihrer drei Beine stampfte sie wütend auf den Boden.

»Doch, ich komme mit! Ich will nicht hier bleiben. Ich gehe mit dir. Was soll ich denn hier? Hier bin ich alleine – es wird bestimmt gar nicht so gefährlich. Ich passe auf, ich …«

Zamorra legte eine Hand quer über den Mund des kleinen Drei-beins. Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Da konnte nur eine drastische Maßnahme helfen. »Still, ich will deine Nörgelei nicht weiter hören. Du bleibst hier, und Schluss der Debatte.«

Kaum löste er seine Hand, begann der Redefluss aufs Neue.Alguun stellte sich zu Zamorra. »Lass sie doch mitkommen. Eine

von uns wird sie hinter sich in den Sattel nehmen. Sie ist klein und flink. Wenn es wirklich gefährlich für sie werden sollte, wird sie sich schon in Sicherheit bringen.«

Zamorra zuckte ergeben mit den Schultern. Was sollte er da noch sagen? Zudem war er nicht das Kindermädchen von Tiekar. Die Kleine jubelte. Hoffentlich würde sie diese Entscheidung nicht doch noch bereuen müssen.

Zamorra und Alguun gingen ihren Plan noch einmal gemeinsam durch. Dabei konnte man das alles nicht so wirklich einen echten Plan nennen. Er basierte auf Eventualitäten, auf unter Umständen eintretenden Chancen und auf der Hoffnung, dass es gelingen konn-te, den schwarzen Dhyarra so erheblich zu schwächen, damit Za-morras Magie eine Chance haben würde. Vernichten konnten sie den Kristall nicht, denn das konnte nur die Abwesenheit jeglichen Lebens verhindern.

Wenn der Kristall erst einmal das Territorium der weißen Stadt verlassen hatte, würde er bald einen starken Wirt finden, denn Za-morra war sicher, dass er genau das vorhatte. Doktor Timo Lew …

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oder auch Timofej Bolschakow, war dazu sicher nicht der richtige Partner. Der Dhyarra hatte sich genommen, was ihm angeboten worden war, doch das würde er nun sicher ändern wollen.

In den Schwefelklüften existierten physisch so mächtige Wesen, die einen perfekten Wirtskörper abgeben konnten. Zamorra musste einfach verhindern, dass es dazu kam. Wer hätte den Kristall dann noch stoppen sollen?

Die Drachenreiterinnen enterten die Sättel ihrer Flugechsen. Za-morra nahm den Platz hinter Alguun ein. Wenn er ehrlich war, ge-fiel ihm die Aussicht auf einen wilden Ritt durch die Lüfte absolut nicht, doch da musste er durch. Wenn schon, dann gemeinsam mit Alguun, die – wie man ihm versichert hatte – als beste lebende Dra-chenreiterin galt.

Nicht so gut erwischte es allerdings Tiekar, die es durch ihre un-aufhörliche Plapperei geschafft hatte, an der Aktion teilnehmen zu dürfen. Ehe sie es sich versah, wurde sie von einer stahlharten Hand gepackt und in die Höhe gezogen. Reichlich unsanft wurde sie in einen Sattel gedrückt. Dann sah Tiekar, hinter wem sie platziert worden war. Es war Barria, die Leiterin der Staffel. Ausgerechnet Barria, vor deren Blicken Tiekar zu einem zitternden Häuflein Elend geworden war.

Die Stimme der Ersten Reiterin ließ Tiekar regelrecht erstarren.»Halt dich fest, du elender Wurm. Wenn du mir aus dem Sattel

fällst, dann denke nur nicht, dass ich dich auffangen werde. Und wenn ich im Kampf Ballast abwerfen musst, dann bist du da die al-lererste Wahl. Und nun sei still!«

Tiekar hatte kein einziges Wort gesagt, denn in ihrem Hals steckte plötzlich ein fetter Kloß, den sie einfach nicht herunterschlucken konnte. Sie nickte nur zaghaft und klammerte sich an die ledernen Schlaufen des Sattels. Nein, sie würde ganz sicher keinen Laut von sich geben.

Nach und nach starteten die nun neun Drachen mit eleganten Be-wegungen. Barria übernahm ganz selbstverständlich die Führung. Alguun bildete die Nachhut. Zamorra spürte den Flugwind, den er als Sozius im Sattel nur zum Teil abbekam. Er musste sich eingeste-hen, dass dieses Transportmittel nicht unkomfortabel war. Er konn-

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te die Amazonen durchaus verstehen, wenn sie den Luxus, auf dem Rücken eines so mächtigen Tieres zu fliegen, über alles liebten.

Sie näherten sich rasch den Ausläufern der weißen Stadt. Zamorra glaubte zunächst, sich zu täuschen, aber das Grollen, das er da ver-nahm, existierte tatsächlich. Als er nach unten blickte, sah er wie ur-plötzlich ein Areal von gut zehn Quadratmetern einbrach und im Boden versank. Einfach so. Der Professor schlug Alguun auf die Schulter, um sie aufmerksam zu machen.

Die Amazone begriff sofort. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit setzte sie sich an die Spitze des Flugverbandes und gab eindeutige Handzeichen, die den anderen mitteilten, dass sie in der Luft blei-ben sollten, Alguun aber landen würde.

Der Drache der Fluglehrerin ging sanft zu Boden. Zamorra sprang aus dem Sattel und lief zum Rand der eingebrochenen Stelle. Was er sah, verstärkte seine Vermutung nur noch. Es kam, was kommen musste. Die Hölle fraß die weiße Stadt, die ja längst nicht mehr exis-tent war.

Die Schwefelklüfte waren eine Dimension ständiger Veränderun-gen. Es gab Teile in ihr, die relativ stabil und dauerhaft waren; ande-re Gegenden waren einem andauernden Wandel unterzogen. Fels-massive konnten urplötzlich verschwinden und durch eine Wüsten-landschaft ersetzt werden, Täler füllten sich mit schweflig stinken-dem Wasser und Ansiedlungen versanken im Boden, rissen alles mit, was dort existiert hatte, nur um einem Feuerkrater Platz zu ma-chen. Es gab durchaus auch Regionen, die für Luftatmer absolut le-bensfeindlich waren, denn sie waren mit tödlichen Gasen angefüllt.

Nichts war hier wirklich von Dauer, nichts blieb für immer, wie es war. Armakath schien in ihrer Blütezeit diesen Vorgang eingefroren zu haben. Wie das möglich gewesen war, konnte Zamorra nicht ein-mal erraten, doch nun war die Stadt eingestürzt, hatte ihre Bedeu-tung verloren, denn sie war ein Bollwerk im Plan der Herrscher über die weißen Städte gewesen. Geblieben war nur ein gewaltiger Steinfriedhof.

Zamorra sah hier den Anfang vom Ende vor sich. Die Hölle nahm sich, was sie wollte. Was auch immer hier als Nächstes seine Präsenz finden würde, konnte er nicht ahnen. Doch nun wurde es höchste

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Zeit, sich um den schwarzen Dhyarra zu kümmern. Wenn er es schaffen würde, die Stadtfläche rechtzeitig zu verlassen, konnten sie ihn vielleicht nicht mehr finden, weil hier sicher bald ein gewaltiges Chaos ausbrechen musste.

Zamorra und Alguun nickten einander zu. Die Amazone dachte so wie der Mann von der Erde. Sie hoffte nach wie vor, dass es eine Rettung für Timofej gab, auch wenn sie selbst es gewesen war, die seinen Tod als letztes Mittel eingeräumt hatte.

Hoffen durfte sie zumindest.

Timofej konnte fühlen, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte.Geh schneller. Wir müssen uns beeilen.»Was geschieht unter uns? Ich glaube, das könnten die Vorboten eines

Erdbebens sein.« Timofej erhielt keine Antwort. Offenbar geschah hier etwas, das außerhalb der Kontrolle des Mondfeuers lag. Das konnte dem natürlich nicht gefallen. Timofej wusste, dass er seine Schritte nicht mehr beschleunigen konnte. An ihm konnte es nicht liegen, denn die Kontrolle darüber oblag dem Kristall. Warum also gab er ihm so seltsame Anweisungen.

Möglich, dass Timofej sich täuschte, aber er war beinahe sicher, dass der schwarze Dhyarra in ihm schwächelte. »Wenn ich schneller gehen soll, dann musst du mir dazu die Kraft liefern.« Der Kristall schwieg eine Weile, während sich Timofej immer häufiger an den noch stehenden Mauerresten abstützen musste. Er registrierte, wie das Mondfeuer versuchte, ihn mit Energie zu versorgen, doch die kam nicht bei ihm an. Besser gesagt – er konnte sie nicht umsetzen.

Timofej schwankte, stieß mit der Hüfte gegen eine Mauerkante. Er schrie innerlich auf. Die Schmerzen ebbten rasch wieder ab, doch sie waren größer gewesen als die, die er beim Beschuss durch die Ama-zonen verspürt hatte. Wie konnte das möglich sein?

Wie ein Betrunkener taumelte er vorwärts, versuchte ungeschoren durch die Ruinen zu gelangen. Er war sicher, dass er bald zusam-menbrechen musste.

Ich … ich bin in einem dem Tod geweihten Körper … Leben, wo ist Le-ben? Ich muss den Wechsel vollziehen.

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Diese Worte waren nicht für Timofej bestimmt gewesen. Der Kris-tall sprach zu sich selbst. Timofej begriff nicht, was er damit sagen wollte. Dem Tod geweiht …

Der Boden begann in diesem Moment zu vibrieren. Timofej war si-cher, dass dies nichts mit seiner Schwäche zu tun hatte. Er konnte sich nicht mehr senkrecht halten, ging auf die Knie und wartete das Beben ab. Es war sein Selbsterhaltungstrieb, der ihn wieder hoch kommen ließ. Einige Schritte schlurfte er so voran, dann sah er vor sich in einiger Entfernung einen Bergzug.

Das Ende der Trümmerstadt war erreicht. Nur noch wenige Schrit-te trennten ihn davon. Noch einmal ging ein Ruck durch seinen Kör-per. Ob er vom Mondfeuer gekommen war oder aus Timofej selbst heraus, das konnte er nicht abschätzen. Das spielte im Grunde auch keine Rolle, denn das Ergebnis war entscheidend.

Timofej machte weit ausholende Schritte. Die Schatten, die über seinem Kopf rasend schnell auf ihn stürzten, sah er dabei jedoch nicht.

Sie konnten ihn sehen.Er stand an der Stelle, an der einmal die hohe Mauer die Grenzen

der weißen Stadt Armakath manifestiert hatten. An genau der Stelle, vor der sich damals die ersten Zelte der Dreibeine postiert hatten. Später war dort ein großer Markt hinzugekommen, auf dem es nicht nur die üblichen feilgebotenen Waren, sondern auch Sklaven zu er-werben gegeben hatte.

Zamorra erinnerte sich noch sehr gut daran. Natürlich auch daran, dass er hier die letzte Inkarnation Merlins getroffen hatte, ehe der Zauberer ums Leben gebracht wurde.

Sinnigerweise hatte er sich als Dreibein Zamorra und Nicole Du-val gezeigt, um ihnen den Sinn des Kokons zu erklären, der sich um die weiße Stadt gelegt hatte.

Barria gab das vereinbarte Zeichen. Alles war genau abgesprochen worden. Nur Barria und Alguun würden ihre Drachen landen – die anderen blieben im Luftraum, stießen immer wieder in die Tiefe, um den Symbionten mit ihrem Armbrüsten zu schwächen. Barria würde ihn direkt vom Boden aus angreifen und möglichst zwischen ihren Pranken halten. Zamorra wollte seinen Blaster einsetzen. Alle ge-

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meinsam mussten es ganz einfach schaffen, dieses Doppelwesen so zu schwächen, dass der Dhyarra seinen Wirt verließ. Dann … zu-mindest war es so geplant … wollte Zamorra den Kristall bannen. Ob seine magischen Kräfte dazu ausreichten, war jedoch reine Spe-kulation.

Die Aktion lief an.Barria und Alguun landeten in einiger Entfernung zu dem Wesen,

das wie angewurzelt dort stand und sich nicht rührte.Angewurzelt … ein Gedanke schoss dem Parapsychologen durch

den Kopf, doch jetzt ging alles viel zu schnell, um ihn reifen zu las-sen. Er behielt ihn im Hinterkopf. Nun jedoch sprang er aus dem Sattel, schaltete den Blaster in den tödlichen Modus.

Über ihm klatschten die Schwingen der Flugechsen auf und ab, als sie sich in die Tiefe stürzten. Sieben Armbrüste spuckten ihre tödli-chen Geschosse aus. Sieben Bolzen trafen das Wesen in die Brust. Es schwankte, doch noch fiel es nicht um.

Zamorra schoss, als er nahe genug heran war. Der Blaster hatte mit seinen Strahlen eine Rechweite von gut 20 Metern. Präzise konn-te man mit ihm jedoch erst feuern, wenn man gute 10 Meter von sei-nem Ziel entfernt war. Zamorra widerstrebte es, auf ein menschli-ches Wesen zu schießen, doch viel an Mensch war in diesem Wesen sicher nicht mehr vorhanden. Zudem war Zamorra beinahe sicher, dass nicht einmal der Blaster die Facettenhaut wirklich beschädigen konnte. Schließlich war sie durch einen Dhyarra erschaffen worden, und die galten als unzerstörbar. Einzig der schwarze Kristall, der beim Attentat am 11. September in New York gewesen war, schien sich aufgelöst zu haben.

Der Strahl traf Doktor Lew in den linken Oberschenkel. Ohne einen Schrei ging der Geologe zu Boden und blieb dort reglos liegen. Zamorra rannte auf ihn zu, doch Barria war schneller als er. Mit ih-rem ganzen Gewicht drückte sie die Gestalt zu Boden. Nur Sekun-den später ließ sie wieder von ihm ab.

»Er bewegt sich nicht mehr. Sein Bein ist vollkommen verbrannt, die Bolzen stecken noch tief in ihm.« Zamorra machte der Amazone ein Zeichen. Widerwillig gehorchte sie der Anweisung, die sie von einem Menschen normalerweise nicht entgegen genommen hätte.

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Doch dies war ein Ausnahmefall.Alguun kniete sich neben Timofej, dessen Facetten nun nicht mehr

leuchteten. Sie schluckte heftig, als sie das Ausmaß der Verletzun-gen erkannte. Was er vorhin noch alles einfach so hingenommen und von sich gewandt hatte, zeigte jetzt volle Wirkung. Die Arm-brustbolzen steckten in seiner Brust – Wunden, die kein Mensch überleben konnte.

Dennoch war er bei Bewusstsein und sah Alguun aus Augen an, die nun wieder dem Timofej gehörten, den die Amazone einmal ge-kannt hatte. Timofej war frei. Zamorra klemmte den Blaster an sei-nen Gurt. Dann beugte er sich über den Mann, der er als Timo Lew kennengelernt hatte. Konzentriert wartete der Parapsychologe auf den einen Moment. Dann war es so weit. Der Kristall löste sich von seinem Wirt und schwebte plötzlich über der Brust des sterbenden Mannes. Blitzschnell schoss er in die Höhe.

Zamorra sprang auf, denn jetzt musste er schnell sein. Die ganze Zeit über hatte er kaum hörbar ganz bestimmte Sprüche vor sich hin gemurmelt. Jetzt musste sich zeigen, ob sein Plan funktionierte.

Von den zu einem Trichter geformten Händen des Parapsycholo-gen löste sich etwas, das wie feinste Gaze aussah. Rasch folgte der schleierartige Stoff dem Kristall und hüllte ihn ein. Auf Zamorras Stirn perlte der Schweiß. Der Kristall war ohne direkten Kontakt zu Leben, doch noch immer war er unglaublich stark.

Und dann geschah es.Die Gaze zerriss! Der Dhyarra hatte sich Zamorras Falle entzogen

und schwebte nun direkt über seinem Kopf. Dann fiel er steil nach unten, direkt auf den Franzosen zu, der sofort die magische Attacke in seinem Bewusstsein spürte. Der Dhyarra griff nach ihm, doch er scheiterte an der mentalen Sperre, die der Professor in sich hatte.

Zamorra schrie auf. »Vorsicht – er sucht sich einen neuen Wirt!«Alguun und Barria waren dem Kristall am nächsten, denn die Rei-

terinnen schwebten hoch am Himmel über der Szenerie. Doch wie so oft geschah etwas, mit dem hier wirklich niemand gerechnet hat-te, denn es gab noch ein Ziel, dem sich der Kristall zuwenden konn-te.

Tiekar!

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Das Dreibein hatte sich die ganze Zeit in der Nähe der beiden Dra-chen gehalten, die sie zwar fürchtete, in diesem Fall jedoch eher so etwas wie ein Schutz waren. Sie begriff nicht, was dort vorne vor sich ging, doch als dieser schimmernde Stein auf sie zusauste, riss sie vor Schreck weit den Mund auf und hob schützend ihre dünnen Ärmchen über den Kopf.

Als der schwarze Kristall in sie eindrang, stieß Tiekar ihre Atem-luft in einem großen Schwall aus. Sie spürte die Kälte, die sich ihrer bemächtigte, das Böse und Machtgierige, doch sie konnte sich dage-gen nicht wehren. Rasch begann ihr eigener Wille zu schwinden – und nur Momente später war von Tiekar nicht mehr viel übrig … al-les war der Kristall, ihr neuer Herr …

Zamorra fluchte wild.Damit hatte er niemals gerechnet. Sofort startete er in Richtung des

Dreibein-Mädchens durch. Barria folgte ihm auf dem Fuße, doch sie würden nicht schnell genug sein, weil Tiekar in unglaublicher Ge-schwindigkeit in Richtung des Gebirges zuraste.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Zamorra, wie Barria das noch vor ihm erkannt hatte, denn sie drehte ab und sprang in den Sattel ihres Drachens. Aufsitzen und Starten war eins! Nur einen Herz-schlag später wurde Zamorra unsanft am Kragen gefasst und nach oben gezogen. Barria machte ihn zu ihrem Mitflieger.

Der Drache schoss tief am Boden über dem Dreibein hinweg und setzte dann zu einer eher unsanften Landung an.

Tiekar schien verblüfft, dass sie den Wesen, denen ihr neuer Herr entfliehen wollte, plötzlich entgegen lief. In Zamorra entstand eine Idee. Er riss die Arme in die Höhe, um Tiekar auf sich zu konzen-trieren. Wie viel von dem Mädchen konnte ihren Körper noch beein-flussen.

Gleich würde er es wissen. So laut er nur konnte, schrie Zamorra das Mädchen an.

»Tiekar – stirb! Stirb jetzt sofort! Tu es einfach …« Er bemerkte den Blick Barrias, die ihn offenbar für verrückt hielt. Doch dann wurde die Amazone eines Besseren belehrt. Durch den Körper des Drei-

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beins ging ein Zucken. Dann blieb sie stehen, torkelte zur Seite und fiel um. Zamorra rannte auf sie zu. Schlaues Mädchen – hast mich gut verstanden. Er kniete sich neben die Kleine und wartete.

Es geschah das, was er erwartet hatte. Der Kristall flog geradezu aus Tiekar heraus, denn in ihr war kein Leben mehr. Und wieder ließ Zamorra die feine Gaze zwischen seinen Fingern entstehen.

Eine tiefe Stimme erklang hinter ihm.»Das lass besser mich machen. Ich glaube, das ist eher mein Metier.«

Zamorra drehte sich um und blickte in die Augen von Asmodis. Ohne Kommentar gab er den Platz für den Ex-Teufel frei. Eine dunkle Sphä-re aus schierer Magie flog wie ein Ball aus Asmodis' Händen und schnappte um den Kristall herum zu. Mit einer Bewegung dirigierte Asmodis sie zu sich zurück. Er blickte den Professor an.

»Und nun? Wohin mit dem verdammten Kristall? Wieder zum Mond? Entscheide dich rasch, denn sehr lange wird auch meine Ma-gie ihn nicht halten können.«

Zamorra schüttelte den Kopf. »Nein, das hat schon einmal nicht funktioniert. Ich habe da eine viel bessere Idee, die mir vorhin ge-kommen ist. Wie gut kennst du dich in der weißen Stadt aus?«

Asmodis wartete mit der Antwort, denn in dieser Sekunde brach das Chaos in der Trümmerstadt aus. Der Ex-Teufel nickte. »Gib der Hölle, was ihr zusteht. Wenn nicht, dann holt sie es sich doch.«

Armakath, die weiße Stadt, verschwand nach und nach im Boden der Schwefelklüfte. Asmodis sprach weiter. »An welche Stelle willst du? Konzentriere dich nur darauf, dann bringe ich uns hin.«

Zamorra wandte sich an die Amazonen. »Ihr müsst hier ver-schwinden. Fliegt zurück in euer Lager. Und nehmt Lew und das Dreibein mit.«

Barria sah den Mensch verblüfft an. »Warum soll ich mich mit ei-ner Toten belasten?«

Zamorra machte eine ungeduldige Handbewegung. »Bitte, tu es einfach. Du wirst dich wundern.«

Dann konzentrierte er sich auf den Ort in Armakath, den er errei-chen wollte. Asmodis berührte Zamorras Schulter und im gleichen Augenblick veränderte sich die Umgebung.

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Von der Decke der Wurzelhöhle prasselten Steine und pflanzliche Überrest zu Boden. Asmodis errichtete wortlos einen flachen Schutzschirm über sich und den Franzosen, der ihre Köpfe vor di-cken Beulen schützte.

Gemeinsam gingen sie zum Zentrum der Höhle. Zamorra blickte zu Asmodis.

»Die Hölle nimmt sich das wieder, was Armakath ihr gestohlen hatte. Da ist nichts mehr, das an die weiße Stadt erinnert – also auch nichts mehr, was den natürlichen Prozess hier behindern könnte, nicht wahr?«

Asmodis nickte nur. Zamorra fuhr fort. »Mag es wohl einen Ort im Universum geben, der so ohne Leben ist, wie dieser hier? Was denkst du?«

Asmodis lächelte unergründlich. »Ich glaube, so langsam begreife ich, worauf du hinaus willst. Ob es einen Ort gibt, der so tot wie Ar-makath ist, kann ich dir nicht sagen. Aber ich kann dir versprechen, dass alles, was die Hölle einmal geschluckt hat, nie wieder aufge-taucht ist. Also, tu, was du tun willst.«

Zamorra nahm die Sphäre aus Asmodis Hand, die der im gleichen Augenblick vergehen ließ. Der Kristall fiel in Zamorras Hand hinein. Und sofort startete er einen weiteren Versuch, den Parapsychologen zu übernehmen, ihn zu seinem Wirtskörper zu machen. Es gelang nicht. Zamorra ballte seine Hand zu einer Faust und trat direkt auf die Wurzel zu, die einmal der Ursprung der Stadt gewesen war. Jetzt war sie nur noch ein Stück Holz – voller hässlicher Flecken und … tot.

Zamorra holte aus. Dann schlug seine Faust in den Wurzelkorpus hinein. Knirschend gab das Material nach. Als der Franzose seine Hand zurückzog, war sie leer.

Der schwarze Dhyarra hatte eine Heimat gefunden, die ihn für alle Ewigkeiten binden würde.

Hier, in dem Bauch der weißen Stadt, in der es absolut kein Leben gab.

Und das würde sich auch nie wieder ändern.

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Zamorra ließ sich von Asmodis zum Lager der Amazonen bringen.»Den Rest schaffst du sicher ohne mich.« Asmodis schien in Eile

zu sein.»Ich schulde dir einen Gefallen, alter Teufel.« Zamorra versuchte

zumindest ein wenig die ganze Situation aufzulockern. Doch Asmo-dis ging nicht darauf ein.

»Mehr als einen, Zamorra, mehr als nur einen.« Dann war er ver-schwunden.

Im Lager hieß man den Feind willkommen. Wohl zum ersten Mal betrat Zamorra ein Amazonenlager, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Barria kam ihm direkt entgegen. »Du hast den Tod unserer Schwester Testia gerächt?« Zamorra nickte. Barria sprach weiter. »Gut, dafür danken wir dir. Aber nun sag mir sofort, warum ich die-ses tote Dreibein mit mir herumschleppen musste?«

Zamorra grinste. »Wo hast du sie?«Barria blickte ihn mit einer Mischung aus Wut und Unverständnis

an. Dann erst bemerkte Zamorra, dass die hünenhafte Amazone Tie-kar auf den Armen trug. Das Dreibein wirkte darauf wie ein kleiner Vogel in den Armen einer Riesin. Zamorra lächelte, denn sah er zu Barria hoch, denn die überragte den Professor locker um eine Kopf-eslänge.

»Also dann – pass mal gut auf. Simsalabim – hey, Tiekar. Genug gestorben … werde wieder wach.« Er klatschte in die Hände und das Dreibein schlug die Augen auf. »War ich gut? Nun sag schon … war ich gut?« Im nächsten Moment schwieg sie jedoch, denn Barria hatte sie vor Schreck fallen lassen. Zamorra bückte sich und hob die Kleine hoch.

»Gut? Du warst perfekt! Diesen Trick musst du dir patentieren las-sen, der ist große Klasse.«

Tiekar blieb stumm, denn sie wusste ja nicht, was ein Patent war.Zamorra verabschiedete sich von den Amazonen, die ihn – zumin-

dest für diesen Tag – als Freund zum Tor begleiteten.Der Transfer zur Erde war Routine.Zamorra war müde, als er im Château Montagne angekommen

war.Er spürte sofort, dass Nicole noch immer nicht zurück war.

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Er schlief lange, sehr lange, doch als er aufwachte fühlte er sich noch immer wie gerädert. Es war halt nicht seine Zeit. Es konnte im Grunde nur noch besser werden.

Oder?

Ein ganzes Stück außerhalb des Amazonenlagers begrub Alguun ih-ren Timofej. Er war in ihren Armen gestorben. Mehr Zeit war ihnen nicht vergönnt gewesen. Doch nun wusste sie ihn zumindest in ihrer Nähe. So gerne hätte sie aus seinem Mund die Geschichte des Dok-tor Timo Lew gehört, hätte ihm von ihrem Leben erzählt.

Sein Grab zierte nur eine einfache Holztafel auf der Timofejs Name stand. Bevor er gestorben war, hatte Alguun mit ihrer Bega-bung noch erkennen können, wie krank er gewesen war. Auch ohne den Kristall hätte er keinen Monat mehr zu leben gehabt. Sicher hat-te er das nicht gewusst. Doch Alguun redete sich ein, dass es diese Krankheit gewesen war, die den Dhyarra in ihm so sehr geschwächt hatte. Der Kristall hatte sich einen Todkranken zu seinem Opfer ge-wählt.

Tage nach Timofejs Beerdigung, an der selbst Irfana teilgenommen hatte, begann Alguun mit einer Arbeit, die so gar nicht zu ihr passte. Sie besorgte sich eine kreisrunde Holzscheibe und ein Schnitzmes-ser.

Viele Wochen saß sie an jedem Abend in ihrem Zimmer und bear-beitete die Scheibe. Endlich war sie fertig und Alguun ging zu Timo-fejs Grab.

So gut sie es konnte, befestigte sie ihr Werk oben an der Holzplat-te. Dann trat sie ein paar Schritte zurück. Sie nickte zufrieden. Es war kein Meisterwerk, denn sie war alles andere als eine Künstlerin, doch die Ähnlichkeit war durchaus vorhanden.

Hier, am Himmel der Hölle, an dem es keine Sonne, keine Sterne und keinen Mond gab, hätte Timofej lange nach seinem Nacht-freund suchen können.

Das war der Grund, warum Alguun, die Timofej als kleine Darja geliebt hatte, ihm aus dem Gedächtnis das Antlitz des Erdtrabanten in diesen Kreis geschnitten hatte.

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Sie war sicher, dass ihm das sehr gefallen hätte …

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Nachwort

In diesen Tagen, in denen ich dieses Buch geschrieben habe, jährte sich zum 40. Mal der Tag, an dem Apollo 11 auf dem Mond gelandet ist. Ein denkwürdiger Moment, sicherlich. Armstrong sagte seinen berühmten Spruch und sprang die Leiter nach unten. Staubige An-gelegenheit, dachte ich mir damals, als ich – 13 Jahre alt – gemein-sam mit meiner Mutter spät in der Nacht vor dem Fernseher hockte.

Ich hoffe ja wohl, dass der Bursche sich vor seiner Rückkehr in das Landemodul die Schuhe abgetreten hat …

Egal – jedenfalls habe ich in Gedenken an diesen Tag den guten Professor Zamorra noch einmal auf den Mond gejagt, wenn auch nur in einer kurzen Passage.

Am Beginn des Romans spielt die Geschichte im Jahr 1969 in ei-nem Teil der ehemaligen UdSSR. Ich habe die Handlung in einen Gulag verlegt, ein Gefangenenlager, wie es von ihnen dort unzähli-ge gegeben hat. Erst mit Glasnost endete dieses Kapitel.

Ich habe Recherchen angestellt und bin dabei völlig in diese Szene-rie gerutscht. Irgendwie fiel es mir schwer, dann wieder zu einer nor-malen Zamorra-Handlung zurückzukehren.

Arbeitslager … Besserungslager für politische Gefangene … keine leichte Thematik, mit der wir hier in unserem Land ja durchaus be-sonders vorsichtig umgehen müssen. Kein leichter Brocken …

Ich kann nur hoffen, dass ich diesem Thema zumindest einigerma-ßen gerecht geworden bin.

Volker KrämerGelsenkirchen im Juli 2009