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Thomas F. Monteleone Das Siebte Siegel Das Blut des Lammes 2 scanned 12/2010 corrected 05/2011 Der aus dem Blut Christi geklonte Peter Carenza, inzwischen Papst und Herrscher des Vatikans, entdeckt in uralten Geheimdokumenten Hinwei- se auf die »Sieben Siegel«, die über den Fortbe- stand der Welt entscheiden. Während sich die Anzeichen einer drohenden Apokalypse häufen, stellen sich Peters ehemalige Geliebte Marion und seine Mutter Etienne den teuflischen Plänen des übermächtigen Papstes. ISBN: 978-3-453-43250-5 Original: THE RECKONING Aus dem Amerikanischen von Karin König Verlag: Heyne Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Monteleone, TF - Das Siebte Siegel

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Page 1: Monteleone, TF - Das Siebte Siegel

Thomas F. Monteleone

Das Siebte Siegel

Das Blut des Lammes 2

scanned 12/2010

corrected 05/2011

Der aus dem Blut Christi geklonte Peter Carenza, inzwischen Papst und Herrscher des Vatikans, entdeckt in uralten Geheimdokumenten Hinwei-se auf die »Sieben Siegel«, die über den Fortbe-stand der Welt entscheiden. Während sich die Anzeichen einer drohenden Apokalypse häufen, stellen sich Peters ehemalige Geliebte Marion und seine Mutter Etienne den teuflischen Plänen des übermächtigen Papstes.

ISBN: 978-3-453-43250-5 Original: THE RECKONING

Aus dem Amerikanischen von Karin König Verlag: Heyne

Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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BUCH

In den Geheimarchiven des Vatikans entdeckt Peter Carenza, mittlerweile Papst Peter II., geheimnisvolle Hinweise auf gewisse »Sieben Siegel«, die ihn in ih-rer Faszination magisch anziehen. Der Mann, der einst aus dem Blut Jesu geklont wurde, um die Menschheit zu retten, droht nun, seine göttlichen Kräfte zu missbrauchen und auf die Seite des Bösen zu wechseln. Einzig die geheimnisvolle Macht der Sieben Siegel vermag die endgültige Verdammung der Welt aufzuhalten. Während ehemalige Vertraute des Papstes die Sieben Siegel zu sammeln versuchen, um ihn zu stoppen, verfolgt Peter fieberhaft jeden Hinweis auf dieselben und setzt alles daran, sie zu zerstören. Längst hat er sich von allem Heiligen ab-gewandt und verfolgt wahrhaft teuflische Absichten. Der Jahrtausendwechsel ist nahe, und die Anzeichen einer drohenden Apokalypse häufen sich.

Die Fortsetzung des Bestsellers Das Blut des Lammes ist ein hochspannender Thriller, der den Leser in die tiefsten Geheimnisse des Vatikans führt.

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AUTOR

Thomas F. Monteleone wurde 1946 geboren. Mit dem Schreiben begann er 1972, schuf zahlreiche Fantasy- und Horrorwerke, darunter Short-Stories und Romane. Er lebt in New Hampshire.

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THOMAS F. MONTELEONE

DAS

SIEBTE SIEGEL

Roman

Aus dem Amerikanischen von Karin König

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe THE RECKONING

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 09/2007

Copyright © by Thomas F. Monteleone

Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe

by area verlag GmbH, Erftstadt

Copyright © 2007 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Printed in Germany 2007

Umschlagfoto: © Philippe de Croy (c. 1450-1511)

Seigneur of Sempy, right wing from a diptych (oil on panel),

Weyden, Rogier van der (1399-1464)/Koninklijk Museum voor

Schone Kunsten, Antwerp, Belgium, Giraudon /

The Bridgeman Art Library

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-43250-5

http://www.heyne.de

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Dieses Buch ist Brandon & Olivia

sowie allen Baseballs und Barbie-Puppen und ewig strahlenden Träumen gewidmet.

Daddy liebt euch.

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DANKSAGUNG

Die Vervollständigung dieses Buches erforderte aus einer Vielzahl von Gründen mehr als meine übli-chen Anstrengungen. Ich hätte es ohne den Glau-ben, die Unterstützung und schlicht die gute alte Arbeit folgender Menschen buchstäblich nicht be-werkstelligen können: Elizabeth Monteleone für die Liebe und Inspiration; Frank Monteleone für jene düsteren Tage im Dezember; und Melissa Ann Singer dafür, dass sie alles zusammengehalten hat. Danke. Danke. Danke.

Die Wissenschaftler der New York Times (AP) am California Institute for Solar Research im Mojave Center berichteten über Beobachtungen unge-wöhnlicher und ungleichmäßiger Muster von Son-neneruptionen. »Wir haben noch nie etwas annä-hernd Ähnliches gesehen«, sagte Dr. Patrick G. Karger vom CISR. »Die Daten deuten darauf hin, dass unsere Sonne einige sehr grundlegende Ver-änderungen erfährt. Alle Sterne durchlaufen bedeu-tende, erkennbare Stadien, und es ist möglich, dass

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unser eigener Stern – die Sonne – in ein neues Sta-dium ihrer Lebensphase eintritt.« Als man ihn frag-te, was dies für die Erde und ihre Bewohner bedeu-te, zögerte Dr. Karger anfänglich, Vermutungen zu äußern, räumte schließlich jedoch ein, dass »die Sonne möglicherweise eine ›Eruption‹ ausreichen-der Stärke produzieren könnte, um die Erde zu Asche zu verbrennen«.

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TEIL EINS

Der geheimnisvolle Sinn der sieben Sterne, die du auf meiner rechten Hand gesehen hast, und der sieben gol-denen Leuchter ist: Die sieben Sterne sind die Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind die sieben Gemeinden.

Offenbarung des Johannes, Kapitel 1, Vers 20

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Prolog

Auszug aus der Leitartikelseite der Catholic Review, Maryland, 15. Mai 2000

nscheinend wurde die Geschichte des Lebens von Peter Carenza in dem Jahr, in dem er als

Papst Peter II. in den Vatikan einzog, in jeder Pub-likation und Medienshow des Planeten unzählige Male erzählt. Wir haben alle gelesen, gesehen oder gehört, wie er in einem kirchlichen Waisenhaus aufwuchs, Gemeindepastor in Brooklyn wurde, von Tausenden bezeugte Wunder zu vollbringen begann und beim Internationalen Gebetstreffen im Los Angeles Palladium einem Attentat entging.

Aber tatsächlich wurde kaum mehr enthüllt, und einige unter unseren Kirchenmitgliedern fra-gen sich allmählich, wer genau unser neuer Papst ist.

Seine einstimmige Wahl durch das Kardinals-kolleg kennzeichnet einen phänomenalen Wandel in der kirchlichen Tradition, da Carenza der erste Papst ist, der aus den Vereinigten Staaten stammt. Diese Tatsache an sich ist vielleicht nicht so be-merkenswert, aber die Millennium-Kultisten, die sich »die Nostradamani« nennen, halten es für ein Zeichen, dass das Ende der Welt unmittelbar be-

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vorsteht (weil Nostradamus in einem seiner Vier-zeiler prophezeite, der »letzte Papst« würde aus der Neuen Welt kommen).

Viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche glauben, Peter Carenza sei die Art charisma-tischer und revolutionärer Führer, der notwendig wäre, um eine alternde, theokratische Institution wie die römisch-katholische Kirche im einund-zwanzigsten Jahrhundert lebendig zu erhalten. Es gibt jedoch aus dem Vatikan Hinweise und Ge-rüchte, Peter entwerfe eine Agenda umwälzenden Wandels – eine Strategie, die letztendlich die Mut-ter Kirche vernichten könnte. Die Zeit wird es zei-gen.

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Marion Windsor – Vatikanstadt 1. August 2000

er Papst wird heiraten.« Peter Carenzas Worte verblüfften Marion

Windsor dermaßen, dass sie sich zunächst nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben.

Als er diese Ankündigung machte, hatte sie an einem der Fenster gesessen, die auf die vatikani-schen Gärten hinausgehen, und eine willkommene Frühlingsbrise strich durch ihr Haar. Auf der ande-ren Seite des gewaltigen Empfangszimmers, im Schatten der hohen Rokokodecken und wuchtigen Wandteppiche, saß Peter Carenza, der Heilige Va-ter, an einem glänzenden Marmortisch. Von Stö-ßen ledergebundener Bücher und Stapeln Papier umgeben, lächelte er ihr wie ein spitzbübischer kleiner Junge zu.

Es war ein Lächeln, das sie zu hassen gelernt hatte.

»Heiraten?«, sagte Marion, während sie sich vom Fenstersitz erhob und dem Heiligen Vater näherte. »Peter …«

»Nicht nur der Papst. Nicht nur ich. Jeder Geist-liche. Ich werde eine päpstliche Erklärung abgeben:

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Geistliche dürfen jetzt heiraten. Und natürlich muss ich mit gutem Beispiel vorangehen. Das wer-de ich tun, indem ich dich heirate.«

Noch vor einem Jahr hätte sie der Gedanke, Pe-ter Carenza zu heiraten, in einen leidenschaftli-chen Wachtraum versetzt. Aber damals war er ein anderer Mensch gewesen – und Marion Windsor ebenso. Seitdem sie ihm begegnet war, hatte sie sich ihm und seiner Mission völlig geopfert und ihre eigenen Bestrebungen, ihre Karriere, ihre Be-dürfnisse aufgegeben, um ihm zu folgen und zu tun, was immer er brauchte.

Sie war ihm gefolgt, in Ordnung. Den ganzen Weg bis nach Rom.

Und es hatte eine Zeit lang funktioniert: Marion hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, ihre Erfüllung gefunden zu haben. Die Wunder durch Peters Hand, deren Zeugin sie gewesen war, hatten ihren Glauben an Gott erneuert und, was vielleicht noch wichtiger war, den Glauben an sich selbst. In der Annahme, dass sie und Peter Gottes Werk ausführten, fühlte sie sich spirituell gestärkt. Sie erkannte, dass das Leben einen höheren Sinn hatte, als nur die schnöde materielle Welt zu über-leben. Sie war zum ersten Mal wirklich zufrieden gewesen – nicht einfach glücklich, sondern im Frieden mit sich selbst.

Es war mehr geschehen, als dass sie sich nur in Peter Carenza verliebt hatte. Dadurch, dass sie die Macht seiner persönlichen Aura erfahren hatte, sich

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in seinen unsichtbaren, begnadeten Strahlen ge-sonnt hatte, war sie verwandelt worden. Sie hatte eine Erregung und ein Gefühl der Erfüllung verspürt, die ihr ihre eigenen Bestrebungen, so bedeutsam sie auch gewesen waren, niemals vermittelt hatten.

Sie merkte, dass sie in letzter Zeit häufig mit einer mit dem bitteren Geschmack der Weisheit versetz-ten Wehmut an ihre Kindheit in Ohio und ihre Vergangenheit dachte. Sie war in einer Familie auf-gewachsen, die von ihrem Vater dominiert wurde, indem er mit physischer Bestrafung drohte, und in der Meinungen auf Vorurteilen, Fehlinformationen und reinem Unwissen basierten. Marion und ihre Brüder hatten in einer Atmosphäre ständigen Um-bruchs gelebt, alles war unvorhersehbar wie das Wetter und weitaus schlimmer. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie einen Sommerjob im Büro eines Zahnarztes hätte antreten sollen. Mit ihren fünfzehn Jahren wirkte sie in der marineblauen Jacke und der weißen Bluse, als käme sie aus einer Konfessionsschule, aber ihr Vater fand den Saum ihres Rockes viel zu kurz. Er verkündete laut, dass sie nicht zur Arbeit gehen könne, wenn sie »wie eine Hure« aussähe – und sie konnte tatsächlich nicht zur Arbeit gehen, denn ihr Vater rief den Zahnarzt an und erklärte ihm, seine Tochter trete von dem Job zurück. Marion vergaß die Demüti-gung jenes Tages niemals, und Jahre später, als sie am College angenommen wurde, erzählte sie ihm

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nichts davon, bat ihn nie um Hilfe beim Lernen, nichts. »Frauen gehören nicht aufs College, um genauso klug zu werden wie Männer« war einer von Sam Windsors Sprüchen in der Firma Dayton gewesen, wo er arbeitete.

Als er sie Anfang September die Treppe herab-kommen sah, mit ihrer marineblauen Jacke, bis zum Oberschenkel reichendem Saum und einem kleinen Koffer, war er sehr überrascht. Obwohl ihm die Symbolhaftigkeit ihres Aufzuges entging, wollte er wissen, wohin sie zu gehen beabsichtigte. Marion informierte ihren Vater darüber, dass sie an der Universität von Syracuse angenommen worden sei, ein Studiendarlehen von der Bank erhalten habe sowie einen Job in der College-Bücherei und eine Busfahrkarte, mit der sie zu ihrem Wohnheim fahren würde. Den größten Teil ihrer Habe hatte sie bereits vorausgeschickt. Sie sagte ihm auch, sie würde nicht in seinen kleinen Bungalow zurück-kehren. Niemals.

Und das tat sie auch nicht. Ein einziges Mal kehrte sie in ihre Heimatstadt

zurück – zu seiner Beerdigung. Und das auch nur, um ihre Brüder und ihre Mutter zu beruhigen. Ma-rion hatte jedem – und besonders sich selbst – klargemacht, dass sie für die Behandlung ihres Va-ters im Leben, oder im Tod, keinerlei Schuld süh-nen müsse, und sich geschworen, dass sie sich niemals in die Hand eines irrationalen Menschen begeben würde.

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Wie konnte sie es also zulassen, dass Peter Carenza sie so unterjochte?

Seit sie im vergangenen Jahr mit Peter nach Rom gekommen war, lebte sie praktisch wie eine Gefan-gene des Vatikanpalastes.

In Ordnung, dachte sie, vielleicht keine Gefan-gene, aber doch nicht wesentlich mehr als eine Mätresse. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Peter es tatsächlich für nötig befinden sollte, sie zu heiraten.

Aber andererseits war Peter völlig unberechen-bar geworden. Marion betrachtete ihn einen Mo-ment. Seine dunklen Augen und scharf geschnitte-nen Züge ließen ihn attraktiv erscheinen, aber da war etwas an seiner Haltung, was Marion schon so manches Mal veranlasst hatte, ihm zu misstrauen, ihn zu fürchten, ihn sogar zu verachten.

Und doch legte er eine gewisse, auf unheimliche Art verführerische Macht über sie und alle anderen an den Tag, mit denen er zu tun hatte. Anschei-nend konnte niemand Peter Carenza sehr lange verabscheuen.

»Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht und einige Nachforschungen dazu angestellt. Und die Statistiken erzählen eine recht betrübliche Ge-schichte«, sagte er und unterbrach damit ihre Ge-danken.

»Was? Was hast du gesagt?« Während er sprach, fuhr er sich mit den Fingern

durch sein dunkles Haar. »Die Kirche verliert ihre

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Macht, weil keine jungen Männer an den Semina-ren teilnehmen.«

»Ich weiß. Du sagtest …« »Und wer könnte es ihnen vorwerfen?«, fragte

er, erhob sich, trat zu einem der hohen Fenster, wandte sich dann um und sah sie an. »Jeder, der sich heutzutage entscheidet, katholischer Priester zu werden, muss verrückt sein oder von der Taille abwärts gefühllos.«

»Du hast es selbst getan, Peter«, erwiderte Mari-on mit unverhohlenem Sarkasmus. »Warst du eines von beidem?«

Er sah sie einen Moment lang finster an. Er mochte es nicht, wenn man ihn herausforderte. »Bei mir war es anders, und das weißt du! Francesco ließ mich in einem katholischen Wai-senhaus aufziehen. Ich wurde für die Priesterschaft erzogen, seit ich ein kleiner Junge war! Es ist nicht dasselbe, wenn man ein Teil des grandiosen Plans eines anderen ist.«

Er hatte recht, aber sie musste ihm zusetzen. Ein Teil von ihr hatte sich ihm nie unterworfen, ebenso wie ein Teil von ihr wünschte, er könnte eines Ta-ges wieder der Mann werden, in den sie sich ver-liebt hatte.

Dieser Mann war Gemeindepastor gewesen. Sie hatte sich in einen Priester verliebt und war so selbstzufrieden geworden, dass diese einfache Wahrheit sie nur noch selten schockierte. Wenn es denn einmal geschah, fragte sie sich erschreckt, was

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sie tat und wie sie zur Beauftragten des Papstes für Öffentlichkeitsarbeit … und zu seiner Mätresse geworden war.

Peter sah sie mit einem Ausdruck an, der seine Verärgerung bewusst nicht verbarg. Vielleicht wür-de ihn eine Frage ablenken.

»Wann willst du deine Entscheidung verkünden?« Er zuckte mit den Achseln und kam auf sie zu.

Jeder, der auf seine Bewegungen achtete, konnte viel über ihn lernen. Peter hatte einen katzenhaften Gang und eine gewisse stolze Haltung, die seine Arroganz und sein ungeheuerliches Selbstvertrauen kaum verbarg. Er bewegte sich stets so, als würde ein eleganter Umhang hinter ihm herwehen. Betrat er einen Raum, vermittelte er den Eindruck, ihn schon immer dominiert zu haben. Worte wie Prä-senz, Charisma und Macht wurden so häufig zu sei-ner Beschreibung verwendet, dass Marion schon übel wurde, wenn sie sie hörte.

»Marion, mach dich nicht über mich lustig und versuch auch nicht, mich mit nutzlosen Fragen abzulenken.« Er lächelte düster. »Es kümmert dich nicht wirklich, oder?«

»Es betrifft mich«, sagte sie. »Daher kümmert es mich natürlich.«

Sie konnte sehen, wie sich seine Stimmung ver-änderte, als er herantrat, um sie in die Arme zu nehmen.

»Nun, es ist interessant, wie du die Dinge aus-drückst. Ich hatte mir gerade Gedanken über die

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Durchführung meines Plans gemacht. Ich denke, wir sollten eine große Sache daraus machen und die Publicity-Maschinerie diese Woche in Gang setzen, indem wir etwas über die üblichen Kanäle durchsickern lassen.«

Peter küsste sie aufreizend auf die Stelle zwi-schen Hals und Schulter, eine Berührung, die sie stets erschauern ließ. Der Bastard!

»Was durchsickern lassen?«, fragte Marion, seine Umarmung nur widerwillig erduldend.

»Dass der Papst eine ungeheure Verkündigung machen wird! Eine Verkündigung, durch die die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert wird! Ich weiß nicht, es muss gut klingen – so geheimnisvoll und dramatisch wie möglich, ohne etwas preiszu-geben. Dann werden wir es, irgendwann im nächs-ten Monat, auch wirklich tun.«

Peter ließ sie los und trat wieder an seinen über-füllten Schreibtisch. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ich habe die Sixtinische Kapelle besucht«. Er genoss es, gegen die Traditionen der Kirche zu handeln, auch wenn er sich nur in der Zurückgezogenheit ihrer Suiten so leger kleidete. Peter war viel zu intelligent, als dass er seine Mit-arbeiter und Beigeordneten mit banalen Dingen befremdet hätte. Er wählte seine Schlachtfelder sorgfältig und bevorzugte es, das Kardinalskolleg mit den gewichtigeren Themen des Kirchendogmas zu konfrontieren, als die angemessene Haltung des Pontifex zu diskutieren.

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»Also, was meinst du?« Er sah sie an und grinste, als wolle er damit sagen, es kümmere ihn nicht wirklich, was sie von seinen Plänen hielt, sondern er erwarte nur, ihre Antwort amüsant zu finden.

»Ich denke, du beschwörst Schwierigkeiten her-auf«, sagte sie.

»Inwiefern?« »Die Kirche ist sehr traditionell eingestellt. Du

planst, das Herz dessen herauszureißen, was sie von allen anderen christlichen Glaubensrichtungen unterscheidet. Die Kardinäle werden einen Herzin-farkt bekommen.«

»Dann ernennen wir neue«, sagte er. »Oh, zweifellos.« Peter lächelte. »Mir ist klar, dass die Traditiona-

listen öffentliche Missbilligung demonstrieren müssen und sich nur das rare Mitglied der alten Garde erheben und einräumen wird, es gefiele ihm, aber insgeheim werden sie alle vor Freude tanzen!«

Er lachte leise. Anscheinend belustigte ihn die Vor-stellung, wie die alten Männer in ihren roten Roben in rhythmischer Ausgelassenheit umhersprangen.

»Was ist mit den Menschen? Mit den gewöhnli-chen sonntäglichen Kirchgängern?«

Peter machte eine abwehrende Geste. »Du meinst diejenigen, die üblicherweise dort sitzen und allem aufmerksam lauschen? Es kümmert sie nicht wirklich. Sie haben immer wieder bewiesen, dass sie letztendlich alles mittragen, was immer die Kirche tut.« Peter kicherte und deutete auf seine

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Brust. »Was bedeutet, dass sie tun werden, was immer ich will.«

»Wie hochherzig«, sagte sie. »Wo liegt also das Problem?« Marion wandte den Blick einen Moment ab und

versuchte den Mut aufzubringen, das zu sagen, was sie wirklich dachte.

»Nun, ich meinte eigentlich nicht sie – ich meinte mich«, sagte sie. »Ich bin ein Problem.«

Peter konnte seine Überraschung nicht verber-gen. Er kaschierte seine Empfindungen rasch hinter einem weiteren Lächeln, aber Marion erkannte dennoch, dass sie ihn erreicht hatte.

»Du?« Er sprach es gemächlich, auf sanfte, fast spielerische Art aus, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er mit jeder verstreichenden Sekunde wütender wurde. »Was genau bedeutet das, Marion? Welche Art ›Problem‹ könntest du für mich darstellen?«

»Nun, vielleicht ist Problem das falsche Wort …« Während sie gegen den Drang ankämpfte, aus dem Raum zu flüchten, zwang sie sich, seinen hasser-füllten Blick zu erwidern. »Aber was ich meine, ist – nun, was verleitet dich zu dem Glauben, dass ich dich heiraten will?«

Ihre Worte schienen durch den gewaltigen Raum zu hallen und sich zu verstärken.

Peter stand einen Moment wie erstarrt, sah sie nur an, nahm sowohl die Gehässigkeit als auch die Absurdität ihrer Worte auf.

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»Tatsächlich hat das, was du willst, nicht viel zu bedeuten – ich denke, das weißt du.« Er sprach kühl, mit gefährlich sanfter Stimme.

»Peter, ich will nicht an irgendeiner … Schau teilhaben.« Die Worte brachen aus ihr hervor. »Das kannst du mir nicht antun!«

»Du weißt, dass ich das kann. Du weißt, dass ich dich zwingen kann zu tun, was auch immer ich für nötig halte. Warum verhältst du dich so?«

Marion wich vor ihm zurück, quer durch den Raum, auf den Fenstersitz zu. Er folgte ihr langsam, die Hände in den Taschen, und versuchte, so ent-spannt und unbesorgt wie möglich zu wirken.

Aber sie kannte ihn zu gut. Sie wusste, dass er allmählich in Wut geriet.

»Peter, ich bin schon seit Neujahr hier. Ich bin müde. Ich werde verrückt, wenn ich sehe, wie du dich veränderst.«

»Verändern? Ich mich? Zu was?« Sie schüttelte den Kopf und wandte den Blick

ab. »Ich weiß es nicht! Zu jemandem, den ich nie-mals lieben könnte.«

»Warum hat deine Liebe zu mir etwas mit mei-nen Plänen zu tun?« Sein Tonfall änderte sich, und sie spürte, wie ihr kalt wurde.

Aber sie hielt stand und sprach aus dem Herzen. »Weil es eine Zeit gab, in der es mir alles bedeutet hätte.«

Das schien ihn einen Moment aufzuhalten, und Marion verspürte eine Art Erleichterung. Seine äu-

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ßere Schale war also noch nicht undurchdringlich. Noch immer konnte Marion das erreichen, was von dem ursprünglichen Peter übrig geblieben war. Sie vermutete, dass er sich an die Zeit erinnerte, als sie dieselbe Vision geteilt hatten, denselben süßen Wein des Gebens, ohne etwas von dem anderen zu erwarten, und doch alles zu bekommen.

Aber Peter Carenza war jetzt eindeutig ein ande-rer Mensch – etwas Dunkles versuchte ihn nun zu beeinflussen, etwas Nichtgöttliches, etwas unaus-sprechlich Gegenteiliges. Marion glaubte nicht, dass er sich den entgegengesetzten Mächten des Universums schon ganz ergeben hatte, aber es war eindeutig, dass er wie ein schreckliches Pendel von einem Extrem ins andere verfiel. Sie wollte glau-ben, dass sie für ihn noch immer den Unterschied bedeuten, das unvorhersehbare Element in seinem Leben sein könnte, das ihn für immer auf die Seite Gottes und der Menschheit zurückholte.

Und die einzige Möglichkeit, diesen Unterschied zu bewirken, bestand darin durchzuhalten, auf lange Sicht im Spiel zu bleiben.

Darum war sie ihrem Gefängnis nicht entflohen, darum hatte sie ihm so viel Kontrolle über ihr Le-ben zugestanden, trotz ihrer jugendlichen Hoff-nungen, und darum konnte sie sich jetzt nicht zu-rückziehen.

Peter sah sie an, als lese er ihre Gedanken. Viel-leicht konnte er das tatsächlich – sie wäre nicht überrascht. Und er schien seine Reaktion auf ihre

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herausfordernde Behauptung abzuwägen, dass Lie-be für seine Lebensaufgabe einen Unterschied be-deuten könnte.

»Nun, Peter«, sagte sie fast flüsternd. »Habe ich recht?«

»Manchmal ist es nicht gut, recht zu haben«, er-widerte er. »Manchmal kann es … Menschen … wirklich abschrecken.«

»Ich möchte nur, dass du über dein Tun nach-denkst, darüber, wer du bist, wer du früher warst und wer du werden könntest.«

Er lachte leise. »Marion, hast du überhaupt eine Ahnung, wie selbstgerecht du klingst?«

»Wohl nicht selbstgerechter als du.« Ihre letzte Bemerkung schien etwas in ihm aus-

zulösen. Sein Gesichtsausdruck wechselte schlagar-tig von belustigter Duldung über Verärgerung zu rasender Wut.

»Du kannst so dumm sein, weißt du das?« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die sie nicht

einmal sah, packte er sie an der Kehle und stieß sie rückwärts. Sie hatte keine Chance, der Kraft seiner Hände zu widerstehen, und kein Laut entwich ih-rer Kehle, als sie etwas zu sagen versuchte, was ihm Einhalt gebieten könnte.

»Wie kannst du nur daran denken, dich mir zu widersetzen? Ich bin der verdammte Papst!« Seine Augen verengten sich, während seine Stirn zornige Falten warf.

Sie hatte ihn schon früher in diese Art Wut ab-

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gleiten sehen, und der Gedanke, wozu er in diesem Zustand fähig war, ängstigte sie. Panik kam auf, erfüllte sie mit der plötzlichen Erkenntnis, dass sie genau in diesem Moment sterben könnte. Sie tau-melte an die Kante des Fenstersitzes zurück, seinem Zorn gegenüber vollkommen machtlos.

Ihre Sicht verschwamm, während die hohe ge-meißelte Decke an ihr vorbeizuwogen schien.

Sie fiel rückwärts, langsam, gewichtslos, war sich nur vage einer kühlen Brise auf ihrem Gesicht be-wusst. Ein Fleck üppiges Grün kreuzte ihr Sichtfeld, und sie spürte, wie die Panik verging, während der Sauerstoffmangel allmählich alles dämpfte.

»Es ist so leicht«, sagte Peter. So leicht zu töten, wie sie wusste. Und wenn der

Zeitpunkt zu sterben für sie jetzt gekommen war, dann war es in Ordnung. Gelassenheit umgab sie mit ruhigem Trost.

Jäh wich der Druck von ihrer Kehle, und Luft strömte in sie ein wie kaltes Feuer. In sie, um sie herum und an ihr vorbei. Wenn sie sich wirklich bewusst war zu fallen, tatsächlich durch das Nichts auf die gepflegten Gärten und die Steinmetzarbei-ten zuzustürzen, dann war es eine abstrakte Wahr-nehmung, die keiner wahren Sorge bedurfte.

Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war das Ge-sicht Peter Carenzas, der aus einem hohen Fenster auf sie herabblickte.

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2

Gaetano – London 6. August 2000

aetano saß in der gemieteten Wohnung meh-rere Blocks von der Victoria Station entfernt.

Der Klang des unaufhörlichen Verkehrs erfüllte den Raum mit einer städtischen Atmosphäre, die mit der Zeit eher tröstlich als störend geworden war. Er war als Schadensregulierer bei Lloyd’s In-ternational angestellt, aber in letzter Zeit in ein weitaus persönlicheres Projekt verwickelt. Gaetano richtete die Fernbedienung in seiner Hand auf den Videorekorder und spulte ein Band mit den Ereig-nissen des Weihnachtstages 1999 zurück.

Es war das Band, das er so gut kannte, dass er es in seiner Erinnerung ebenso wirkungsvoll abspie-len konnte wie sein Videorekorder, aber den Inhalt wirklich zu sehen machte es für ihn realer.

Das Gerät klickte laut, als das Zurückspulen be-endet war, und Gaetano drückte die Play-Taste:

Eine große Menschenmenge reiht sich in ei-nen gewaltigen Kessel ein, das Los Angeles Palladium. Menschen strömen durch alle Zu-gänge, tragen die Roben und Gewänder ihrer

G

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verschiedenen Glaubensrichtungen und Tä-tigkeiten. Die Luft knistert unter den Spra-chen von hundert verschiedenen Ländern.

Jeder Ehrengast erhält einen Mikroprozes-sor, wenn er oder sie den gewaltigen Raum betritt und auf ein riesiges zentrales Podest zuhält, eine erhöhte kreisrunde Plattform. Die Liste der Ehrengäste reicht vom Bürger-meister und seinen Politikerkollegen bis zu einer scheinbar endlosen Reihe religiöser Pandits und Kirchendemagogen.

Gaetano weiß, dass die Gäste in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit oder, genauer gesagt, der interna-tionalen Präsenz auftreten.

Die hochrangigsten Gäste erscheinen schließ-lich gemeinsam. Ein Wirbelsturm von Hoch-rufen und Schreien erschüttert das Palladium, und Gaetano kann nicht entscheiden, ob Pa-ter Peter Carenza oder der Papst selbst der Liebling der Menge ist.

Die Musik der Eröffnungszeremonie steigt zu einem majestätischen Crescendo an, und der eintausend Mitglieder umfassende Chor erreicht gerade im richtigen Moment den Höhepunkt.

In der dem Abbruch der Musik folgenden Stille scheint die gesamte Arena den Atem anzuhalten. All die Würdenträger, gut sechzig

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Personen, nehmen ihre Plätze ein, und die riesige runde Plattform beginnt ihre fast nicht wahrnehmbare Drehung – sodass jedermann in der Arena die Vorgänge schließlich unmit-telbar sehen kann, wenn auch nur kurz.

Der Gastgeber und Leiter des Gebetstref-fens, Freemason Cooper, erhebt sich, glättet seinen Designeranzug und schreitet auf die Mitte des Podests zu.

Gaetano faszinierte es, beim Betrachten dieses Ban-des die diversen Gesichtsausdrücke der Menschen auf dem Podest zu interpretieren. Es war die übliche Mischung aus Neid, Erwartung und Zufriedenheit.

Bis er die wenigen Nahaufnahmen des Papstes betrachtete.

Die Aufmerksamkeit des alten Mannes scheint beständig auf Peter Carenza gerichtet. Der Papst wirkt verwirrt, misstrauisch und manchmal weise. Der Ausdruck in den Augen des alten Prälaten erinnert häufig an den in den Augen eines Hasen, der sich einem Raub-tier gegenübersieht. Aber es ist auch Wider-stand zu erkennen … und unterdrückter Zorn. Auch Verständnis – eine absolute Klar-heit, durch eine einzige jähe, überraschende Offenbarung geschärft.

Peter Carenza wird als nächster Sprecher angekündigt.

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Da fängt es an, denkt Gaetano. Da wird es ver-dreht.

Ein Mann springt plötzlich auf und fuchtelt mit den Armen, während er sich durch die Versammlung drängt. Alle sehen ihn an, als er schreit, aber niemand rührt sich, um ihn aufzuhalten.

»Peter! Halt! Halt! Geh da weg!« Seine Stimme klingt seltsam gedämpft und weit weg, von der ungeheuerlichen Stille der Men-ge fast verschluckt.

Ein Sicherheitsmann reagiert sofort, tritt vor, löst eine dunkle, hässliche Handfeuer-waffe aus ihrem Schulterholster, versucht er-folglos, sie zu verbergen.

»Sie werden dich töten!«, schreit der auf-geregte Mann, während sich Hände nach ihm ausstrecken. »Um Gottes willen, Peter! Geh!«

Andere VIPs bilden bereits eine Gasse für den plötzlich Verrückten, während sie sich Schutz suchend ducken. Der Papst jedoch sitzt starr auf seinem Platz und beobachtet das Geschehen, als hätte er es erwartet. Alle verfügbaren Sicherheitsleute dringen zu dem Podest vor.

Peter Carenza verfällt beim ersten Anzei-chen der Störung in Schweigen, bleibt aber noch immer auf dem Podium stehen.

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Der schreiende Mann springt über die Ba-lustrade um die Logenplätze und wirft sich auf den untersetzten Mann, der die Waffe schwingt, sich umwendet und die Waffe her-umschwenkt wie eine Lafette.

Das grelle Aufblitzen einer Pistolenmün-dung, und der Schuss durchschlägt die Brust des Aufwieglers. Er wird seitwärts in die Luft geschleudert und landet am Rand des Po-dests. Schockwellen durchlaufen die Menge. Der Schütze scheint einen Moment verwirrt und springt dann vom Podest auf die Aschenbahn.

Dann ertönt der kurze, bellende Laut einer kleinen Explosion jenseits der Kameras, ir-gendwo nahe dem oberen Rand des Palladi-ums.

Peter Carenza birgt den gestürzten Mann in den Armen.

Gaetano beugt sich näher zum Bildschirm, beo-bachtet aufmerksam, wie eine neue Gestalt in dem weißen Overall der Technikcrew auftaucht. Er weiß, dass der Name des Mannes Targeno ist, ein sehr selbstbewusster und prahlerischer Mensch. Targeno bewegt sich nur zu einem einzigen Zweck durch die Menge, nähert sich dem Schützen wie ein Marschflugkörper. Gaetano lächelt, obwohl er weiß, was als Nächstes geschehen wird.

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Der Schütze zielt jetzt mit seiner Waffe auf Pater Carenza.

Der Priester blickt plötzlich zu ihm hoch, mit einer kalten Leere, die den Mörder dort festnagelt, wo er gerade steht, ihn davon ab-hält, den Abzug durchzuziehen.

Dies ist der entscheidende Moment. Eine Salve aus einem Maschinengewehr durch-schlägt den Schützen mit der Wirksamkeit ei-nes chirurgischen Instruments. Knochenzer-schmetternde Einschläge tanzen die gesamte Länge seines Oberkörpers hinauf, während seine Brust in Blut- und Gewebeklumpen ex-plodiert.

Peter wendet sich um und sieht den neuen Schützen an – Targeno. In Weiß gekleidet, die Waffe noch immer zum Schuss erhoben, wirkt er wie ein rächender Erzengel.

Die Menge drängt, von Entsetzen gepackt, in alle Richtungen. Plötzlich ziehen alle Waf-fen, richten sie aufeinander. Der Mann in Weiß senkt seine Waffe jedoch und sieht Pa-ter Peter Carenza zum ersten Mal in die Au-gen …

… die unendlich dunkel sind, wie zwei schwarze Löcher, die alles auf ihrem Weg so machtvoll in sich einsaugen, dass ihnen sogar das Licht der Hoffnung niemals entfliehen könnte.

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Gaetano wunderte sich an dieser Stelle des Videos jedes Mal darüber, dass er, obwohl er nur eine Me-dienkopie der Ereignisse betrachtete, unausweich-lich das Gefühl hatte, die Zeit verlangsame sich. Es lag eine gewisse Macht darin, nur Zeuge der Ereig-nisse zu sein – eine spröde, messerscharfe Vorah-nung.

Targeno erkennt etwas und nimmt ruhig eine klassische Duellantenhaltung ein. Er richtet seine Waffe aus.

Peter hebt eine Hand, wie als Warnung oder Verleugnung, und plötzlich keucht die Menge im Palladium auf, als sich eine blau-weiße Feuerzunge von Peters Handfläche im Bogen zu Targeno wölbt.

Gaetano zwingt sich, das anzusehen, was nun ge-schehen wird. Es ist eine Szene, die sich ebenso in seine Erinnerung wie auch in seine Netzhäute ein-gebrannt hat.

Der als Targeno bekannte Mann verwandelt sich in eine reine, weiße Flamme und ist plötzlich verschwunden. An seiner Stelle wankt eine widerliche Kohlesäule leicht hin und her. Schmieriger Rauch weht aufwärts, als die Säule endlich stürzt und in leuchtende Anthrazitkristalle zerbricht.

Alle Bewegung endet.

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Alle Geräusche. Die Menschen sehen Peter an, und die Stil-

le im Palladium wird bedrückend, wie von Verdorbenheit erstickt. Noch immer äußert niemand einen Laut. Niemand rührt sich.

Bis … Auf dem Podest erhebt sich jemand. Der Papst, in seinen zeremoniellen Ge-

wändern eine Art reine, leuchtende Weiße ausströmend, sieht Peter an und tritt vor.

»Io ti conosco«, sagt er. Ich erkenne dich. Pater Peter Carenza sieht den alten Mann

mit der hohen Mitra an und lächelt schief. Mitten im Schritt hält der Papst jäh inne,

wie eine Marionette, deren Fäden sich plötz-lich ineinander verwickelt haben. Er umfasst mit der rechten Hand seinen linken Arm. Sein edelsteinbesetzter Ring funkelt im mit-täglichen Sonnenlicht. Dann presst der Ponti-fex die mit Leberflecken übersäten Hände auf seine Brust, während sich seine Augen weiten und sich sein runder kleiner Mund öffnet. Er bricht in den Armen seines Gefolges zusam-men und ist schon tot, bevor sie ihn auch nur auf den Boden legen können.

Ein gewaltiger Lärm steigt von der Ver-sammlung auf: Die vielen Menschen stim-men sich auf den übergeordneten Geist ihres neuen Herrschers ein.

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Gaetano atmete langsam aus, entnahm dem, was er bezeugt hatte, Kraft und Inspiration. Seine Vor-bereitungen waren abgeschlossen, und er war be-reit, die Reise einen verschlungenen Weg hinab zu beginnen, der nur zu einem möglichen Ziel führte, zu einem einzigen Zeitpunkt.

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Pater Giovanni Francesco – Vatikanstadt 7. August 2000

ater Giovanni Francesco erhob sich schwerfäl-lig von seinem Schreibtisch und trat langsam

zum Bürofenster. Es kostete ihn äußerste Mühe, aufzustehen und sich in Bewegung zu setzen, was ihn daran gemahnte, wie alt und müde er gewor-den war. Oder eher, wie alt er sich fühlte, denn er hatte niemals zuvor zugelassen, dass sein voran-schreitendes Alter seinen wesentlichen Interessen im Wege stand. Francesco war es gewohnt, dass seine Pläne genau so funktionierten, wie er es sich vorgestellt hatte. Ein Mann, der unangefochtenen Gehorsam und höchsten Erfolg erwartete.

Obwohl er ein Mitglied der Gemeinschaft Jesu war, was ihn innerhalb der Infrastruktur der Kirche de facto als eine Art Außenseiter brandmarkte, war er ungeachtet seiner jesuitischen Ausbildung stets als radikaler Individualist bekannt gewesen. Mit seinem Doktorgrad in Politikwissenschaft erwies er sich bei den endlosen Manövern und Palastintri-gen des Vatikans als hervorragender Gegner. Er hatte seinen offiziellen Titel als Päpstlicher Verbin-dungsmann der Gemeinschaft Jesu schon mehr als

P

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eine Generation inne, und die ihm Gleichgestellten stimmten darin überein, dass es niemals eine kompetentere – und skrupellosere – Persönlichkeit auf diesem Posten gegeben hatte.

Aber Francesco wurde nun, ungeachtet seiner früheren Leistungen, nicht nur seiner Arbeit, son-dern seines Lebens im Allgemeinen rasch müde. Seit der Verwandlung seines Protegés von einem Priester in Brooklyn zu Papst Peter II. schienen Francescos komplizierte Intrigen wirkungslos.

Seltsam, dachte er, er hätte nie geglaubt, sich von seiner Arbeit, von seiner Mission so losgelöst fühlen zu können …

Der Jesuit erreichte das hohe, schmale Fenster und sah wie abwesend hinaus, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sein Aussichtspunkt war das Ver-waltungsgebäude des Vatikans, das Governorate – ein ausgedehntes Labyrinth von Büros, die auf die vatikanischen Gärten hinausgingen und einen Pa-noramablick auf die dahinterliegenden Ziegeldä-cher Roms boten. Aber Francesco beachtete weder die urtümliche Schönheit der Gärten noch die die-sige terrakottafarbene Stadt in der Ferne.

Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz allmählich auf ein Gebäude schräg gegenüber, in dem sich die päpstlichen Wohnräume befanden, und dort auf ein bestimmtes Fenster, aus dem Ma-rion Windsor … gefallen war.

Sie war nach dem fünfzig Fuß tiefen Sturz auf Kopf und Schultern sofort tot gewesen. Dennoch

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hatte sie nur wenige Augenblicke zu den Verbli-chenen dieser Welt gehört – bis Peter II. hinun-tereilte, sie auf seine Arme hob und das Wunder der Auferstehung vollbrachte. Das alles war so schnell geschehen, dass praktisch niemand jemals davon erfuhr außer der diensthabenden Schwei-zergarde und einigen wenigen Assistenten.

Tatsächlich hätte vielleicht nicht einmal Giovanni davon Kenntnis erlangt, hätte er nicht über ein schon lange bestehendes Netzwerk aus Palastspionen und Informanten verfügt. Den Wert eines tadellos funktionierenden Informationssys-tems hatte er schon bald nach Antritt seines Pos-tens im Herzen der katholischen Kirche erkannt. Francesco registrierte Bedürfnisse am gesamten Hei-ligen Stuhl und bediente sie im Austausch für Gunstbezeugungen. Ein uralter Mechanismus, der gut funktionierte – obwohl seine Grenzen durch die besonders delikate Art der Beziehung zwischen Marion Windsor und Papst Peter II. wiederholt ausgetestet worden waren.

Zur Vorsicht war Marion zu eingehenden Unter-suchungen und zur Beobachtung ins Krankenhaus des Vatikans gebracht worden, und nun wartete Francesco auf Nachricht über ihren Zustand.

Seine Sprechanlage summte, gefolgt von der Stimme seines Sekretärs: »Verzeihen Sie, Pater …«

Denn ich habe gesündigt, dachte Francesco. »… Kardinal Lareggia ist hier.« Francesco kehrte an seinen Schreibtisch zurück

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und drückte die entsprechende Taste. »Schicken Sie ihn herein.«

Fast augenblicklich öffneten sich die Doppeltü-ren zu seinem prunkvoll verzierten Büro und ga-ben den Blick frei auf einen fettleibigen Mann in der traditionellen scharlachroten Soutane. Paolo Kardinal Lareggia stand ein massiver Herzinfarkt bevor. In den Siebzigern und mit vielleicht zwei-hundert Pfund Übergewicht schien sein Gesicht in den Falten seines Halses und seiner Hängebacken eingequetscht zu sein. Er betrat den Raum weniger, als dass er auf dicken, baumstammartigen Beinen vor- und zurückwankte und kaum eine Vorwärts-bewegung zustande brachte. Sein Gang schien ebenso mühsam wie langsam und unbeholfen. Lareggia trat zum nächstbesten Stuhl und ließ sei-ne massige Gestalt darauf nieder, wie ein Hafen-kran seine Ladung abließ.

»Guten Tag, mein Freund«, sagte der Kardinal. »Haben Sie sie gesehen?« Lareggia nickte, während er ein Taschentuch

hervorkramte, um sich die schweißnasse Stirn ab-zuwischen. »Ja, ich habe sie persönlich gesehen. Es geht ihr gut.«

»Tatsächlich habe ich nicht weniger erwartet«, sagte Francesco verbittert. »Es würde nicht viel Sinn haben, jemanden von den Toten zu erwecken, oh-ne auch über gute Gesundheit zu verhandeln.«

»Es ist so unangenehm!«, sagte der Kardinal. »Und wir haben es vertuscht! Können Sie sich vor-

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stellen, wie es gewesen wäre, wenn die Medien von dieser Angelegenheit erfahren hätten?«

»Er zerstört die Heiligkeit seines Amtes.« Francesco trat zu seinem Schreibtisch und nahm eine Packung Gauloises aus einer der Schubladen. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt dann inne, um den Rauch tief in seine Lungen einzusaugen.

»Und Sie zerstören mit diesem stinkenden Kraut Ihre Lunge.«

Francesco sah ihn verächtlich an. »Wir haben al-le unsere Schwächen, oder?«

»Giovanni, ich …« »Sie wissen, dass sie nicht aus diesem Fenster ge-

fallen ist«, sagte Francesco mit einer Mischung aus Zorn und Frustration. »Ich frage mich nur, warum er es getan hat, wenn er sie dann wieder zurück-holt. Welchem Zweck hat der ganze Vorfall ge-dient?«

»Ich dachte, es könnte vielleicht eine Warnung für uns alle gewesen sein.« Lareggias Tonfall spie-gelte seinen Respekt dem Papst gegenüber und sei-ne Angst vor diesem Thema wider. »Oder es war wirklich ein Unfall.«

Francesco nickte kaum wahrnehmbar. »Was ha-ben wir getan? Was haben wir da auf die Welt los-gelassen?«

»Ich weiß, ich weiß!« Kardinal Lareggia schüttel-te mit einem verzweifelten Lächeln den Kopf. »Wenn dies die Wiederkunft Christi ist, dann hat uns jemand etwas vorgemacht.«

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Francesco begann, in dem großen Büro auf und ab zu schreiten, während er weiterhin seine filter-lose Zigarette rauchte. Seine dünne Gestalt und die abgehackten Bewegungen ließen ihn wie ein wach-sames Tier erscheinen, das die Grenzen seines Kä-figs abmaß. Er hatte schon gewusst, dass seine Zü-ge an einen Fuchs erinnerten und daher verschla-gen und räuberisch wirkten. Und sein hageres, hungriges Aussehen hatte er im Umgang mit Geg-nern und Verbündeten stets gleichermaßen zu sei-nem Vorteil genutzt.

»Ein halbes Jahr, seit er die Macht übernommen hat«, sagte Francesco. »Und sehen Sie nur, was er getan hat.«

»Sie meinen die Veränderungen, die er einge-führt hat?« Der Kardinal unterdrückte ein spötti-sches Lachen. »Warum sollten Sie etwas dagegen haben? Haben Sie nicht Ihr ganzes Leben lang er-klärt, wie mittelalterlich die Kirche geblieben sei? Haben Sie nicht für genau die Art weitgreifender Veränderungen gekämpft, die Peter bereits verkün-det hat?«

Giovanni hob einen Aufmerksamkeit gebieten-den Zeigefinger. »Ah, ja, mein großer karmesinro-ter Freund, aber überdenken Sie Ihre Worte. Sie sagten, die Art Veränderungen! Ich sage: nicht ge-nau diejenigen, die er eingeführt hat.«

»Sie tanzen auf der Kante der Klostermauer«, erwiderte Lareggia.

»Nein, das glaube ich nicht. Wenn man die er-

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schreckenden Lebensumstände großer Familien in vielen südamerikanischen Ländern bedenkt, wo die Wirtschaft unstet oder schlicht nicht existent ist, halte ich es für möglich, dass Geburtenkontrol-le – in einer von der Kirche sanktionierten Form – tatsächlich als hilfreich oder sogar humanitär ange-sehen werden könnte.«

»Aber?« »Aber vorehelichen Sex gutzuheißen ginge mei-

nes Erachtens zu weit – nicht nur wegen des mög-lichen Sündenquotienten, sondern auch wegen des Zeichens, das die Kirche setzen würde, wenn sie so weitgehend die Kontrolle über ihre Mitglieder auf-gibt.«

Francesco schüttelte heftig den Kopf, um sein Missfallen an diesem Gedanken zu unterstreichen. »Ich halte es auch für eine sehr schlechte Idee, uns an den globalen Strategien zu beteiligen, die die Weltwirtschaft betreffen. Das Vermögen der Kirche sollte nicht offengelegt und auf keinen Fall in ge-fährlichen oder politisch heiklen Gebieten inves-tiert werden.«

Lareggia nickte ernst. Es war offensichtlich, dass er es genoss, mit Francesco einer Meinung zu sein. »Und Sie haben zweifellos die Gerüchte gehört, Peter plane weitere einschneidende Veränderun-gen?«

»Natürlich! Und ich denke progressiv«, sagte Francesco. »Ich erkenne einen Fall von ›zu schnell zu viel‹. Das wird die Kirche in ihren Grundfesten

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erschüttern. Sie hat den Prüfungen der Zeit gerade wegen ihrer Art, ihrer Unbeugsamkeit, ihrer Unver-änderlichkeit als Organisation standgehalten.«

Lareggia grinste. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Sie einmal Derartiges sagen hören würde!«

»Ich habe mich stets für progressive Verände-rungen eingesetzt. Aber nie für als Sensation ver-kleidete Anarchie.«

»Gut gesagt, Pater.« Francesco ignorierte das Kompliment und fuhr

fort: »Und ich bin, offen gesagt, überrascht, dass er uns am Leben gelassen hat – wir gehören doch schließlich zu den wenigen, die sein wahres Wesen kennen, oder zumindest seinen Ursprung.«

»Das ist richtig«, stimmte Lareggia ihm zu, saß weiterhin nahezu unbeweglich auf seinem Stuhl und steckte schließlich das feuchte Taschentuch wieder ein. »Sein wahres Wesen ist noch immer unbekannt.«

Francesco blickte ins Leere, als erinnere er sich einer Szene von vor langer Zeit. »Können Sie sich die Folgen vorstellen, wenn die Menschen von un-serem Geheimnis erführen?«

»Nein, das kann ich nicht. Und das will ich auch nicht.«

Bedenkt man, welche Sensation das Klonen die-ses albernen Schafes bedeutet hatte, dachte Giovanni, dann würden die Weltmedien die irrwit-zigsten Spekulationen anstellen und schwerste mo-ralische Vorwürfe erheben, wenn sie jemals ent-

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deckten, dass Peter aus dem Blut vom Turiner Grabtuch geklont und in der jugendlichen Gebär-mutter einer jungfräulichen Nonne zur Reife ge-bracht worden war.

»Wie vermessen wir waren, hm?«, sagte Giovan-ni.

»Vermessen oder verrückt.« Francesco lachte leise. »Wissen Sie, bevor diese

Legende von Peter Carenza aufkam, hatte ich schon begonnen, alles anzuzweifeln.«

Lareggia sah ihn an und fragte sich, ob Francesco begriff, was er da sagte. »Sie meinen eine Glaubenskrise?«

»Genau. Sie erkennen diese äußerst dummen Gedanken, die Fragen, die Empfindungen, wenn Sie die Werke einiger Renaissancemaler betrachten, die zu stark vereinfachenden Ideologien von Sünde und Bestrafung …«

»Ja, ich kenne sie.« Dieses Eingeständnis machte den Kardinal ganz offensichtlich verlegen.

»Aber da kommt unser ›Gottessohn‹ daher, Peter Carenza, der unleugbare Wunder vollbringt, und das Wirken einer größeren Macht und der Beweis ihrer Existenz liegen plötzlich unmittelbar vor uns.«

»Ja«, sagte Lareggia. Seine feste Stimme täuschte über eine gewisse Angst hinweg.

Francesco hielt inne und wandte sich rasch um. »Ja, aber es ist offensichtlich, dass er mit der … Erlaubnis … wenn nicht der Billigung von Gott

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persönlich handelt. Er hat Peter Carenza zu einem bestimmten Zweck in unsere Welt geschickt. Ge-wiss ein heiliger Zweck! Wir haben nur noch nicht erkannt, worin er bestehen könnte.«

»Sind wir solchen Wissens möglicherweise nicht würdig?«

»Kardinal, bitte! Wir sind Mitglieder der Kir-chenhierarchie. Wenn nicht so erhabene Männer wie wir, wer dann?«

»Giovanni, Sie scherzen, oder? Manchmal durchschaue ich Sie nicht mehr.«

»Was macht das schon?« Francesco drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. Da war eine Intensität in seinen Augen, ein Licht, das wie heiße Kohlen glühte. »Woran wir uns hal-ten müssen, ist Folgendes: Wir wurden aus einem bestimmten Grund am Leben gelassen.«

»Von wem am Leben gelassen?« »Von Gott? Oder von Peter?« Francesco lächelte.

»Das ist unwichtig. Verstehen Sie nicht? Man hat uns eine Aufgabe zugeteilt. Wir sind diejenigen, die Peters Bestimmung auf Erden ergründen müssen.«

Kardinal Lareggia verlagerte sein Gewicht auf dem Holzstuhl. Ihm war unbehaglich zumute. »Warum?«

»Weil ich es spüre. Ich denke schon seit einiger Zeit über unsere Situation nach, und der Zwischen-fall mit Marion Windsor hat mich klarsehen lassen. Ich bin mir nun völlig sicher.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

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»Hören Sie, stimmen Sie mit mir darin überein, dass die heilige Mutter Kirche unter Belagerung steht – durch die bloße Anwesenheit Carenzas im Vatikan?«

»Natürlich!« »Was hat Peter heute getan?« Lareggia war eindeutig verwirrt und schwieg. »Er hat Marion wieder zum Leben erweckt!«,

sagte Francesco. »Wenn er gewollt hätte, dass sie stirbt, hätte er das nicht getan – was bedeutet, dass etwas schiefgegangen ist. Entweder ist sie gesprun-gen, um ihm zu entkommen, oder es war ein Un-fall.«

Lareggias Augen weiteten sich. »Was auch im-mer die Wahrheit ist, er ist außer Kontrolle gera-ten!«

»Genau. Was bedeutet, dass sich unser Papst in einer Art metaphysisch unbeständigem Zustand befindet. Er ist ein göttlich inspiriertes Gemisch, das noch immer geformt wird, und wir sind bei diesem Prozess zugegen.«

Der Kardinal runzelte die Stirn. »Giovanni, bitte sprechen Sie nicht in Metaphern, nicht jetzt, wenn ich allmählich zu begreifen glaube, wovon Sie sprechen.«

Francesco schüttelte den Kopf. »In Ordnung, lassen Sie es mich so einfach wie möglich ausdrü-cken. Ich glaube, dass Peters Seele noch immer, wie die Amerikaner sagen, ›zu haben‹ ist. Das heißt: Welche Bezeichnung wir den zentralen Kräf-

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ten der Welt auch zuschreiben – Gut und Böse wird genügen –, ich glaube, dass sie immer noch in heftigem Streit um die letztendliche Kontrolle über Peter Carenza liegen.«

Der Kardinal nickte. »Ich hoffte, das sei eine Möglichkeit. Meine Gebete haben denselben Wunsch zum Gegenstand. Peter hat sich vielleicht noch nicht der falschen Seite verschrieben.«

Francesco atmete rasch aus und hob einen Zei-gefinger. »Genau, mein lieber Kollege, aber die Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Welche Seite ist die falsche?«

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Huang Xiao – Peking 30. August 2000

in Erdbeben kommt. Dieser Gedanke hatte sich bei Huang Xiao stets unvermittelt eingestellt.

Nichts Dramatisches oder körperlich Schmerzhaf-tes oder Traumatisierendes, nur ein Gedanke, der ihm plötzlich kam. Unverhüllt. Manchmal dachte er nicht weiter an das bevorstehende Erdbeben, bis es tatsächlich begann. Bei anderen Gelegenheiten wurden ihm auch Zeit und Ort des Bebens vermit-telt.

Xiao war ein großer, dünner Junge von achtzehn Jahren, der seine Tage in sich endlos hinziehenden, übertrieben disziplinierten Unterrichtsstunden über Agrartechnik und seine Abende mit der Für-sorge für seine Großeltern, Li Ping und Dao Tu, verbrachte. Xiaos Eltern waren vor fast zehn Jahren während einer brutalen Kampagne gegen Intellek-tuelle, die den Kapitalismus als geeignetes Mittel zum wirtschaftlichen Überleben ansahen, umge-kommen.

Xiao, der am Esstisch seiner Großeltern saß, hat-te innegehalten, bevor er das Steingutgeschirr von der grob bearbeiteten Tischplatte räumte. Das Haus

E

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stand in einem schäbigen Vorort Pekings namens Kow Pei, ein Bezirk, der für seine Schwarzmarktak-tivitäten bekannt war. Der illegale Handel mit westlichen Waren hatte mittlerweile so ungeheuer-liche Ausmaße angenommen, dass die Polizei und die Armee ihre Bemühungen, dem Einhalt zu ge-bieten, schon vor langer Zeit aufgegeben hatten. Sogar einige Polizeibeamte und Soldaten waren unter den größten Händlern dieses Marktes zu fin-den. Wann immer Xiao das Marktgeschehen beo-bachtete, dachte er an seine Eltern, die in einer sol-chen Atmosphäre wohl niemals ermordet worden wären.

»Mi-mi«, sagte er sanft zu seiner Großmutter. »Ich spüre es wieder.«

Mit ernstem Gesichtsausdruck schaute sie von ihrer Näharbeit auf. Sie war es, die Xiaos unheimli-che Begabung als Erste erkannt hatte, als er im Al-ter von fünf Jahren arglos über ein bevorstehendes Erdbeben sprach. Seit diesem allerersten »Erspü-ren« hatte er sich niemals geirrt, auch wenn er sich das immer wieder wünschte.

»Es geschieht im Moment anscheinend häufiger, oder?«

Xiao nickte. »Was passiert mit der Welt?« »Ich weiß es nicht, Mi-mi.« »Dieses letzte – weißt du, wo es stattfindet?« Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Vielleicht

bald.«

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»Wirst du sie warnen?« »Ich werde es versuchen.« »Du musst sehr vorsichtig sein, mein großer

Junge«, sagte die alte Frau. »Das letzte Mal war es sehr schlimm für dich.«

Sie bezog sich damit auf die Gerüchte, dass die Regierung ihn suche.

»Sie werden mich nicht kriegen.« Xiao erhob sich, stapelte das Geschirr aufeinander und brachte es zur Waschwanne. Er versuchte, sich mit einer geistlosen Aufgabe zu beschäftigen, um sich davon abzulenken, dass das People’s Committee on Na-tural Disasters deutlich gemacht hatte, dass es die Person, die die Bergdörfer in der Nähe von Hsing-tai davor gewarnt hatte, dass am Morgen des 22. April um 3:15 Uhr ein Erdbeben stattfände, mit Sicherheit ausfindig machen würde.

Da Xiao in das Universitätsleben eingebunden war, wusste er, dass umfangreiche Forschungen an Tieren als Instrumente zur Erdbebenvorhersage durchgeführt wurden, aber nur sehr wenige zu den möglichen Fähigkeiten bei Menschen.

Wie auch immer: Er hatte auf den Gängen der von der Regierung nur geduldeten Akademie in letzter Zeit immer wieder Gerüchte darüber gehört, dass die Armee sehr an ihm interessiert sei. Es gab unter den Studenten eine kleine Gruppe, die den Gerüchten der Bauern über einen gertenschlanken, dunkeläugigen Jungen, der Erderschütterungen mit absoluter Genauigkeit voraussagen könne, Glau-

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ben schenkte. Eine solche Begabung, so argumen-tierten sie, könnte eine höchst wirksame Waffe ge-gen die Feinde des Volkes sein.

Wanderten Xiaos Gedanken in diese Richtung, wurde ihm schwindelig und benommen zumute, und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müs-sen. Allein der Gedanke, seine Fähigkeit dazu zu benutzen, Menschen zu verletzen, Menschen zu töten …

Nein! Er würde niemals zulassen, dass sie ihn benutz-

ten. Er würde … »Xiao!«, rief sein Großvater. »Ich werde Hilfe bei

den Reissäcken brauchen. Du musst sie aus der Kornkammer tragen.«

Xiao ließ das Geschirr zum Einweichen in der Wanne, verbeugte sich höflich vor seinem Groß-vater und kam der Aufforderung des gebrechli-chen alten Mannes sofort nach. Als er an ihm vorbei auf die geöffnete Tür zuging, zupfte ihn seine Großmutter am Ärmel, zog ihn zu sich her-ab und küsste ihn auf die Wange. »Du bist ein guter Junge. Alles, was wir auf der Welt haben – du bist das Gefäß aller unserer Träume und Hoff-nungen.«

»Ich weiß, Mi-mi«, sagte er respektvoll. »Darum musst du sehr vorsichtig sein. Immer

vorsichtig.« »Ich bin sehr vorsichtig.« Sie tätschelte zärtlich seine Hand. »Denk daran,

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es gibt Menschen, die dich wie eine Ratte fangen würden.«

»Er weiß das, alte Frau!«, sagte sein Großvater mürrisch. »Lass ihn seine Arbeit machen. Danach kann er mit dir reden.«

Xiao nickte und ging mit dem alten Mann hin-aus. Als sie nach den Reissäcken greifen wollten, hielt Li Ping inne und sah seinen Enkel ernst an. »Sie will nicht, dass du fortgehst, um die Welt zu retten. Sie befürchtet, dass du niemals zurück-kehrst.«

»Ich weiß.« »Aber du musst dennoch fortgehen, oder?« Xiao grinste schief. »Ja, das muss ich.« Li Ping nickte. »Ich verstehe. Ich bin ein Mann.« »Es ist notwendig, es zu tun. Sonst werden viele

Menschen sterben.« »Du weißt, wo es stattfindet, nicht wahr?« Xiao nickte verlegen. »Sag es mir.« »Kweiyang«, antwortete Xiao traurig. »Ich wollte

nicht, dass sie erfährt, dass es an einem so weit ent-fernten Ort geschieht.«

Sein Großvater nickte. »Fast tausend Meilen.« »Ja.« »Wann?« »In zwölf Tagen.« »Wie willst du diesen langen Weg zurücklegen?« Xiao hob zwei Säcke hoch und knickte unter ih-

rem Gewicht ein, wünschte aber, die Last seines

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eigenartigen Talents wäre ebenso leicht zu tragen. »Ich weiß es nicht, aber ich muss es tun.«

Li Ping zuckte die Achseln. »Es gibt Züge … aber …«

»Ich weiß. Damit könnte ich am schnellsten und einfachsten reisen, aber auch am leichtesten gefan-gen werden.«

Sie brachten die Reissäcke ins Haus und stellten sie in den Vorratsschrank. Li Ping winkte seinen Enkel wieder nach draußen, und Xiao folgte ihm. Als sie die Tür hinter sich schlossen, fegte ein kalter Wind über den Hof und durchdrang ihre Jacken. Die Sonne war schon fast untergegangen, und die Landschaft schien sich um sie zusammenzuziehen.

Sein Großvater führte ihn hinter die Kornkam-mer, kauerte sich gegen den Wind hin und sprach leise. »Deine Großmutter weiß nichts davon, aber einige sagen, die Armee suche nach jemandem, dessen Beschreibung auf dich zutrifft, während andere behaupten, sie würden deine Identität be-reits kennen.«

»Ich habe diese Gerüchte gehört«, sagte Xiao und tat sie mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Es ist das Gerede der Bauern. Was wissen sie schon?«

»Großer, deine Großeltern sind Bauern. Sind wir so dumm?«

Xiao beugte den Kopf. »Ich wollte nicht respekt-los sein. Es tut mir leid.«

Li Ping lächelte. »Ich bin noch nicht so alt, dass

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ich die ungestüme Art eines jungen Mannes verges-sen hätte. Aber wir kommen vom Thema ab. Weißt du, was es heißt, wenn die Gerüchte der Bauern stimmen?«

»Du meinst, wenn sie mich bereits beobachten?« »Ja.« »Nun, sie werden darauf warten, dass ich mich

auf eine weitere Reise begebe.« Xiao hielt inne, um darüber nachzudenken, was sein Eingeständnis tatsächlich bedeutete. »Aber, Großvater, das ändert für mich nichts. Ich weiß, warum ich diese Gabe habe – um Leben zu retten. Ich kann mich dieser Wahrheit nicht verschließen.«

»Es gibt noch eine weitere Wahrheit, der du dich ebenfalls nicht verschließen kannst: Die Armee wird dich zum Töten benutzen.«

Xiao nickte und flüsterte, als hätte der Wind Oh-ren: »Ja, aber jede große Gabe trägt stets das Poten-zial für den Tod ebenso wie für das Leben in sich. Das ist kein Grund, sie niemals zu benutzen.«

Sein Großvater atmete hörbar aus und ließ seine Schultern herabsinken. »Du hast recht, aber ich wünschte, du wärst nicht immer so weise.«

»Danke.« Li Ping tätschelte liebevoll Xiaos Arm. »Wann

brichst du nach Kweiyang auf?« Xiao zuckte die Achseln. »Ich habe zwölf Tage

Zeit. Ich sollte jetzt aufbrechen, um Verzögerungen zu vermeiden.«

»Ja, du tust gut daran, es so zu machen. Sag Mi-

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mi nichts. Überlass das mir. Es ist besser, wenn du einfach fort bist.«

»In Ordnung. Ich werde heute Nacht packen, wenn sie schläft.«

Li Ping nickte. »Das ist das Beste.«

So weit, so gut. Der Güterzug ratterte über die Taiyuan-Brücke,

die einen Gebirgspass auf dem Weg nach Penyang überspannte. Xiao saß an der Tür und beobachtete den konvexen Mond, der mit dem schlingernden, schwankenden Zug Schritt hielt. Die öde Land-schaft zog wie ein endloses Gemälde von Dörfern und rauen Straßen an ihm vorüber.

Xiao hatte an seinem ersten Reisetag über zwei-hundert Meilen zurückgelegt. Er fragte sich, ob er verfolgt wurde, konnte es aber nicht herausfinden. Soweit er wusste, drängten sich Geheimagenten der Regierung in dem Wagen unmittelbar hinter ihm. Natürlich hatte er sich bemüht, vorsichtig zu sein, war jedoch kein Experte in Sachen Heimlichtuerei. Kopfschüttelnd blickte er wieder in sein Buch, eine Übersetzung der Geschichten des amerikanischen Schriftstellers E. A. Poe, um seine Gedanken von einer möglichen Gefangennahme abzulenken. Sie wäre ein Ereignis, auf das er keinerlei Einfluss hat-te, und daher durfte er sich keine diesbezüglichen Gedanken oder gar Sorgen erlauben.

Und das tat er auch nicht, bis der Güterzug sehr spät in dieser Nacht in den Viehhöfen außerhalb

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der Provinzstadt Yungchi langsam zum Stehen kam. Da Xiao durch den sanften Rhythmus der schaukelnden Wagen in einen unsteten Schlaf ge-fallen war, schreckte er hoch, als er hörte, wie die Waggontür geöffnet wurde.

Er regte sich nicht und hielt die Augen bis auf ei-nen schmalen Schlitz geschlossen, so, als döse er noch. Aber er konnte deutlich sehen, wie das Mond-licht die Tür des Güterwaggons ausfüllte und die Silhouette eines hageren, jungen Mannes sich ab-zeichnete, der gerade in den Waggon klettern woll-te. Xiaos Körper spannte sich unwillkürlich an, wäh-rend er sich auf einen möglichen Angriff vorbereite-te, aber der im Hineinklettern begriffene Mann hielt inne, sobald er merkte, dass er nicht allein war.

Xiao war fast davon überzeugt, dass der Ein-dringling, seiner Körpersprache nach zu urteilen, von der Anwesenheit eines weiteren schwarzfah-renden Zuggasts ehrlich überrascht war. Er schien unentschlossen, ob er sich aus dem Waggon zu-rückziehen und einen anderen aufsuchen sollte.

Xiao beobachtete, wie der Mann in die geöffnete Waggontür schaute, in der Taille gebeugt, halb drinnen und halb draußen.

Der Kopf des Mannes drehte sich wie auf einem Drehzapfen. Seine Augen reflektierten leicht das Mondlicht und glühten einen Moment katzenhaft, während er Xiao direkt ansah, seine Situation ab-schätzte und weiter hereinkletterte.

Das würde niemand tun, der ohne Fahrkarte mit

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dem Zug fährt, dachte Xiao. Ich bin in Schwierig-keiten. Sie wissen, wer ich bin.

Sein erster Gedanke war davonzulaufen. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt. Wenn sich ein Regierungsvertreter in den Wartungsbetrieben der Bahn aufhielt, würde er gewiss nicht allein sein. Xiao musste warten, bis die Umstände günstiger waren. Seine Chancen wären besser gegen den in den Waggon steigenden Mann allein als gegen eine ganze Abordnung.

Der Eindringling befand sich jetzt vollständig im Waggon und kehrte ihm den Rücken zu, um die Tür langsam zuzuschieben. Als er den Riegel schloss, regte sich Xiao und murmelte leise vor sich hin, als sei er soeben aus tiefem Schlaf aufgestört worden. Er beobachtete, wie sich der Mann lang-sam umdrehte und ihn ansah.

»He, was ist los?«, fragte Xiao und bemühte sich, schläfrig und desorientiert zu klingen.

»Hoho! Kein Grund zur Panik, mein Bruder!« Der Mann streckte ergeben die Arme hoch und machte einen Schritt zurück, weiter von Xiao fort.

»Was tun Sie hier?« Der Fremde verbeugte sich ehrerbietig. »Ich will

ebenso wie Sie nach Süden reisen, und dies war der einzige unverschlossene Waggon.«

Xiao sah ihn wachsam an. »Woher glauben Sie zu wissen, was ich hier tue?«

»Nun, ich hatte einfach angenommen, Sie wären …«

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»Wie wollen Sie wissen, dass ich nicht für die Volkseisenbahn arbeite?«

»Das weiß ich nicht, mein Bruder.« »Und nennen Sie mich nicht so – wir sind nicht

verwandt, das kann ich Ihnen versichern.« Xiaos aggressive Haltung bedeutete ein Risiko

für ihn, aber er musste sehen, wie weit zu gehen sie bereit waren, um ihre List aufrechtzuerhalten.

Plötzlich setzte sich der Zug ruckartig in Bewe-gung, brachte Xiao und den Unbekannten aus dem Gleichgewicht und ließ sie unbeholfen über die staubigen Bodenbretter rollen. Als der Güterzug schließlich Geschwindigkeit aufnahm, rappelten sich die beiden Männer auf und setzte sich jeder in einer Ecke des Waggons auf den Boden.

»Tut mir leid«, sagte der Eindringling. »Ich kann wieder aussteigen, wenn Sie wollen …«

Xiao grinste. »Jetzt, wo wir erneut fahren, kön-nen Sie dieses Angebot leicht machen. Nicht allzu praktisch, denke ich.«

Der Güterzug gewann weiterhin an Geschwin-digkeit, als er die Viehhöfe des Zugknotenpunkts verließ und auf die freie Landschaft südlich von Yungchi zuhielt. Xiao spähte kurz durch einen schmalen Spalt in der Seitenwand des Waggons – die Landschaft war vom niedrig stehenden Mond überschattet, rau und voller böser Vorzeichen. Er hatte dennoch das Gefühl, es im Inneren des Wag-gons mit etwas weitaus Bedrohlicherem und Un-bekannterem zu tun zu haben.

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»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe«, sagte der junge Mann, der vielleicht Mitte zwanzig sein mochte. Er trug locker sitzende, wärmende Sport-kleidung, die seine recht muskulöse Gestalt nicht ganz verdeckte. »Ich hatte nicht erwartet, dass die-ser Waggon besetzt wäre.«

»Aber Sie sind dennoch eingestiegen.« Xiao sah ihn misstrauisch an.

»Ich hatte keine andere Wahl! Die Signale hat-ten sich schon gedreht, und wenn ich mit diesem Zug mitfahren wollte, musste ich einsteigen!«

»Verstehe …« »Ich will Ihnen nichts Böses, das schwöre

ich!« Xiao blieb zurückhaltend. Der Mann war sehr

überzeugend. Ein guter Regierungsagent musste vermutlich auch ein guter Schauspieler sein.

»Wer hat was von Böse gesagt?« Der Fremde gab sich ehrerbietig. Er wich zurück,

verbeugte sich und hob die Hände. »Wissen Sie, ich sollte mich vor Ihnen in Acht nehmen! Sie haben sehr zurückhaltend und abweisend reagiert. Wa-rum verstecken Sie sich, Kamerad?«

»Ich bin nicht Ihr ›Kamerad‹«, sagte Xiao. Er konnte das stetige Holpern der Räder an den Ver-bindungsstellen der Gleise spüren. »Nein, das sind Sie wirklich nicht«, sagte der Mann und lächelte zum ersten Mal, während er mehrere Schritte auf Xiaos Ecke zuging.

»Ich weiß, warum Sie hier sind«, meinte Xiao

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und erhob sich langsam, um sich dem Eindringling zu stellen.

Der Mann nickte. »Wir haben Sie nicht für einen Dummkopf gehalten.«

»Was haben Sie jetzt vor?« »Wir wollen wissen, wohin Sie fahren.« »Tut mir leid«, antwortete Xiao. »Das kann ich

Ihnen nicht sagen.« Der Mann lächelte. »Würden Sie es vorziehen,

dass wir das Ziel aus Ihren Großeltern herausho-len?«

»Sie wissen nicht, wohin ich fahre.« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Xiao sah den Regierungsvertreter an. Er konnte

nur schwer verstehen, wie jemand sein Leben so sehr dem Staat verschreiben konnte. Wie wenig ein Mensch von sich halten muss, um so zu leben, dachte Xiao.

Er zuckte die Achseln, lehnte sich an die Wand und sprach eine einfache Wahrheit aus: »Meine Großeltern sind alt. Sie können sie nicht mehr ängstigen. Und beide würden eher sterben, als mich zu verraten.«

Xiao spannte sich an und war nur unwesentlich erleichtert, als der Mann ein Handy statt einer Waf-fe zückte.

»Warten Sie!«, sagte Xiao und trat einen Schritt näher. Er beruhigte sich und zwang sich, die hol-pernde, schwankende Bewegung des Zuges unmit-telbar wahrzunehmen.

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Der Mann, der begonnen hatte, eine Nummer einzugeben, hielt inne und lächelte wissend. »Ich dachte, wir könnten über einiges reden.«

»Ja, vielleicht können wir das …« Der Mann nickte und steckte das Handy betont

lässig wieder ein. Xiao hatte nur einen Augenblick Zeit zu reagie-

ren. Er hatte den Regierungsmann genau beobach-tet und auf diesen kurzen Moment der Unauf-merksamkeit gewartet.

Xiao lief los, ohne nachzudenken, ergriff den inneren Riegel an der Tür des Waggons, riss ihn herunter und schob die Tür auf – alles mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung.

Die schwere Tür glitt sofort auf, und ein kalter Luftzug traf sie beide. Der Agent hing mit einem Arm in seiner Jacke fest. Er wandte sich um und wollte nach Xiao greifen, aber Xiao nutzte seinen Vorteil und trat ihm aus aller Kraft zwischen die Beine.

Alles geschah in einer Reihe blitzschnell auf-flammender Bilder: die vor Schmerz hervortreten-den Augen des Agenten, der heulende Luftzug und das Verschwimmen des Waggoninneren, als Xiao herumfuhr, um den vornübergebeugten Agenten in die Dunkelheit zu stoßen, die mit tödlicher Ge-schwindigkeit an ihnen vorüberraste.

Während Xiao beobachtete, wie der Agent, durch das Rattern des Zuges übertönt, geräuschlos verschwand, zog er sich von der Tür zurück und

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ließ Panik, Angst und Anspannung auf sich ein-stürmen. Er fühlte sich einen Moment von dem plötzlichen Schock über das, was er ohne nachzu-denken getan hatte – nämlich einen Menschen zu töten –, wie gelähmt.

Er hatte einen Menschen getötet, der seine Großeltern getötet hätte.

Xiao hielt sich an diesem Gedanken fest – er ver-lieh ihm Kraft und ließ seine Tat gerechtfertigt er-scheinen. Er schloss einen Moment lang die Augen, sammelte sich und ließ langsam den Atem in den lauten nächtlichen Wind entweichen, der ihn heu-lend umgab.

Egal. Er hatte alles unter Kontrolle. Als er nach der schweren Tür griff, um sie wieder

zuzuschieben, hörte er die dumpfen Schritte auf dem Dach des Waggons.

Wie Xiao bereits befürchtet hatte, war der Agent nicht allein gewesen. Rasch schätzte er seine Mög-lichkeiten ab – und stellte fest, dass es nur sehr wenige waren. Er bemühte sich, mit seinem Blick die Dunkelheit außerhalb des dahindonnernden Güterzuges zu durchdringen, und wusste, dass ihm nur wenig Zeit blieb. Welches Gelände auch immer an ihm vorüberraste, er hatte keine andere Wahl. Es war besser, bei einem Fluchtversuch in die Frei-heit zu sterben, als unter dem Joch von Gefäng-niswärtern zu leben.

Die Schritte über ihm wurden lauter: Jemand kletterte an den Haltegriffen des Waggons herab.

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Also sprang Xiao, sich vom Rahmen der geöffneten Tür abstoßend, in das unsichtbare Gelände …

Aber der erwartete Aufprall fand nicht statt. Er fiel immer tiefer, mit zunehmender Ge-

schwindigkeit, was bedeutete, dass der Zug über eine Brücke oder an einem Damm entlanggefahren war. Er würde entweder zwischen Bäumen und Felsen zerschmettert oder in das eisige Wasser eines starken Stromes geschleudert werden.

Während die kalte Dunkelheit vorbeirauschte und ihn umherstieß und -schleuderte, bemühte er sich zu akzeptieren, dass er sterben würde. Und genau in diesem Moment sah er die Lady, ihr wal-lendes Gewand in einem inneren Licht leuchtend, die sich nach ihm ausstreckte …

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Marion Windsor – Vatikanstadt 7. August 2000

ls sie wieder zu Bewusstsein kam, war es so, als würde sie sich langsam durch einen engen

Schacht hinaufziehen, der sie jeden Moment zu erdrücken drohte. Ihre Bemühungen, wach zu werden, schienen endlos und ohne jeden Sinn. Die Dunkelheit hielt sie in ihrem sanften Handschuh fest. Das einzige Licht, hoffnungslos fern und uner-reichbar, erschien als winziger Punkt.

Es wäre so leicht, dachte Marion, sich der Dun-kelheit zu überlassen. Aber jemand rief ihren Na-men, reichte ihr aus der Realität ein Halteseil, ein Lebensretter für eine unterkühlte Schiffbrüchige. Die Stimme erschien ihr vage vertraut, sanft, aber beharr-lich. »Marion … Sie werden jetzt aufwachen …«

Mehrmals wiederholte die Stimme diesen Satz, bis Marion gehorchte, die Augen freiblinzelte und sich rasch in dem Raum umsah, in dem sie sich befand. Die nüchtern weißen Wände, der durch-sichtige Beutel mit der Infusionslösung und die elektronischen Monitore erschreckten sie. Sie war im Krankenhaus. Einen kurzen Moment war sie vollkommen desorientiert.

A

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»Marion, es geht Ihnen gut.« Wieder die Stimme. Weiblich. Mit einem leich-

ten Akzent. Die Person an ihrem Bett war eine Frau. Klein.

Zierlich. Eine Nonne im graubraunen Habit der Sisters of Poor Clares beugte sich über Marion, be-rührte sanft ihre Wange, versuchte zu lächeln und scheiterte kläglich.

Marion erkannte die Nonne, obwohl sie nie zu-vor miteinander gesprochen hatten. Der Name kam ihr leicht über die Lippen.

»Schwester Etienne.« Die Ordensschwester legte einen Finger an ihre

Lippen und nickte. Marion betrachtete sie. Obwohl das Gesicht der

Nonne glatt und faltenlos war, schien sie Ende vierzig zu sein. In Etiennes hageren mediterranen Zügen glaubte Marion einen gewissen Ausdruck der Reife, der Weisheit zu erkennen, der sich mit dem Alter einstellt. Es war das erste Mal, dass die beiden Frauen einander begegneten, und Marion fühlte sich von einem seltsamen Gefühl durch-drungen – einer Mischung aus Respekt und Ehr-furcht.

Etienne war Peter Carenzas Mutter. »Bitte seien Sie ruhig«, sagte die Nonne. »Schwester Etienne, warum sind Sie hier? Hat …

hat Peter Sie geschickt?« »Nein, mein Sohn spricht nicht viel mit mir.« »Warum dann?«

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»Erinnern Sie sich an das, was geschehen ist?« Marion nickte und spürte, wie sie errötete. »Wir

haben gestritten. Ich stolperte rückwärts, gegen den Fenstersims. Peter …« Ihr Herz hämmerte, als die Erinnerung an den Sturz zurückkam. Sie war voll-kommen ruhig gewesen, während sie jetzt Panik überkam. Etienne berührte sanft ihre Hand, trös-tend.

»Wichtig ist nur, dass es Ihnen jetzt wieder gut geht.« Erneut tätschelte Etienne Marions Hand und lächelte. »Ich bin hier, weil ich von diesem Mo-ment geträumt habe, davon, Ihnen hier zu begeg-nen. Es wurde von Gott bestimmt.«

Marion hörte sie sprechen – langsam, mit der genauen Aussprache eines Menschen, der die engli-sche Sprache erst vor Kurzem gelernt hat. Sie wuss-te, dass Etiennes Gabe, in Träumen und Visionen Dinge zu »sehen«, im Vatikan schon seit mehreren Jahren ein beliebtes Gesprächs- und Spekulations-thema war. Sogar Gerüchte darüber, dass Etienne den Tod des vorigen Papstes vorausgesehen und wiederholt versucht hatte, ihn zu warnen, waren Marion zu Ohren gekommen. Doch niemand hatte Etienne ernst genommen.

»Haben Sie diese Träume häufig?«, fragte Mari-on.

»Nein, aber wenn, dann sind sie bedeutsam.« Marion richtete sich in ihrem Krankenbett auf.

»Hat Ihr Traum zukünftige Ereignisse vorausgesagt? Hatte er mit uns zu tun?«

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Etienne zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und sah Marion mit ihren mandelförmigen Augen an. »Ich habe geträumt, dass ich hier in diesem Raum sitzen würde, bei Ihnen. Dass wir miteinander sprechen würden, wie wir es jetzt tun.«

Marion beugte sich näher zu ihr. Sie sprach lei-se, obwohl sie allein waren. »Ich meine, ob Ihnen besondere Ereignisse enthüllt wurden?«

»Nein. Das wird später kommen.« Marions Ent-täuschung musste auf ihrem Gesicht abzulesen gewesen sein, denn Etienne fuhr fort: »Bitte, haben Sie Geduld. Ich weiß, dass Sie verängstigt und auf-gewühlt sind. Aber wir können das Werk Gottes nicht vorantreiben. Er berührt meine Träume auf diese Weise, und ich bin mit seiner Art zu handeln vertraut.«

»Okay …« Noch immer zweifelnd. Etienne lächelte. »Dieser Traum, Ihnen zu be-

gegnen, ist der Schlüssel, verstehen Sie. Die Art, wie Gott mich auf das vorbereitet, was als Nächstes geschehen wird. Da es genau so eingetroffen ist, wie ich es geträumt habe, weiß ich, dass uns bald Wei-teres enthüllt werden wird.«

Marion schwieg zunächst, fühlte sich unendlich klein und sehr schwach. Sie spürte, dass die Bühne für eine Reihe überaus wichtiger Ereignisse bereitet wurde, fragte sich, welche Rolle ihr dabei zuge-dacht war. Ihre alte Zuversicht und ihr Selbstver-trauen schienen jetzt, wo sie sich darauf vorbereite-te, an den Rand des Universums zu treten und sich

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in den Wind des Schicksals selbst zu lehnen, nur schwache Verbündete.

»Was wird mit uns geschehen?«, fragte sie nach einiger Zeit.

»Gott wird uns beschützen. Er wird uns zeigen, was er von uns erwartet und wie es geschehen soll.«

Marion nickte, während sie sich zurücksinken ließ. Sie hatte diese ganze Sache mit Gott noch nie begreifen können. Während der Jahrhunderte und in fast allen heiligen Texten bat stets irgendein Gott einige Sterbliche darum, etwas zu tun, und Marion hatte sich stets gefragt, warum. Wenn er wirklich Gott war, warum brauchte er dann die Hilfe ge-wöhnlicher Menschen? Und das Seltsamste war: Als sie und Peter mit dem Versuch begonnen hat-ten, seine wahre Natur und seine Mission in der Welt aufzudecken, hatte sie nicht nach irgendwel-chen göttlichen Motiven oder Plänen oder Anfor-derungen gefragt. Sie hatte sich vollkommen dem Augenblick überlassen, und zum ersten Mal in ih-rem Leben war sie mit sich im Einklang gewesen.

Vielleicht war das der Schlüssel dafür, die Ant-worten auf diese Art Fragen zu finden. Wenn man vollkommen in ein Glaubenssystem verstrickt ist, sorgt es für einen, tröstet es einen und macht drän-gende Fragen gegenstandslos. In ihrer Zeit als Fern-sehjournalistin hatte sie über unzählige Tragödien berichtet und Tausende interviewt, die geliebte Menschen durch Autounfälle oder brutale Verbre-chen, durch Naturkatastrophen oder andere tödli-

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che Begebenheiten verloren hatten. Stets hatte sie die Frage fasziniert, wie die Menschen einfach wei-termachen, mit dem plötzlichen, unsinnigen Tod eines Kindes, eines Ehemannes oder einer Ehefrau fertig werden konnten.

Wenn Marion sich in ihre Situation versetzt hat-te, sah sie sich als so gebrochen, dass kaum noch ein Lebenssinn übrig blieb. Aber die Menschen hatten sie mit ihren Gemeinplätzen über den Wil-len Gottes und das Jenseits und Ähnliches immer wieder erstaunt. Und sie hatten überlebt. Irgend-wie. Marion sah die Macht des Glaubens, konnte sie aber nie wirklich begreifen.

Dann, an Peters Seite, hatte sie diese Macht er-fahren, und als sie sie wieder verließ, blieb eine schreckliche Leere in Marions Seele zurück. Jetzt aber, wo sie diese Nonne betrachtete – Peters Mut-ter, deren Glaube an Gott trotz der jüngsten Angrif-fe auf alles, was göttlich sein könnte, unerschüttert war –, erkannte Marion, dass es noch immer Hoff-nung für sie gab.

Sie ließ es zu, dass ein leichtes Lächeln ihre Züge erhellte. »Schwester Etienne, ich möchte Ihnen ei-nige Fragen stellen. Wenn sie Ihnen zu offensiv oder zu persönlich erscheinen, dann sagen Sie es mir bitte. Ich verspreche, Ihre Empfindungen zu respektieren. In Ordnung?«

»Ja.« »Sagen Sie mir«, begann Marion, »haben Sie

Angst vor Ihrem Sohn?«

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»Ja.« Ohne Zögern. »Können Sie mir erklären, warum?« Schwester Etienne blickte auf die kahle, weiße

Wand des Krankenzimmers. Marion beobachtete sie, wohlwissend, dass ihr Gegenüber zu einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit blickte. Dann konzentrierte sich Etienne jäh wieder auf Marion, ihre eisblauen Augen wie helle, warnende Leuchtfeuer. »Es ist viele Jahre her, dass ich ihn in meinem Leib trug«, sagte sie, »aber ich erinnere mich beinahe täglich dieser Erfahrung, als wäre es gestern gewesen. Man hat eine sehr innige Bezie-hung zu dem winzigen Menschen, den man in sei-nem eigenen Körper trägt. Ich lernte das Kind sehr gut kennen und wusste vom ersten Tag an, dass Peter nicht wie andere Babys war.«

»Woher? War er gefährlich? Böse?« Etienne schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts der-

gleichen. Nur anders. Nicht wie ich. Nicht wie ir-gendjemand von uns.«

Marion kam ein erschreckender Gedanke. Schwester Etienne hatte den größten Teil ihres Le-bens als Nonne im Kloster verbracht, abseits des gewaltigen Informationsstroms der modernen Welt. Möglicherweise wusste sie nicht, wie ihr Sohn entstanden war.

Sie konnte Etienne nicht danach fragen, ohne bei der älteren Frau Misstrauen oder Besorgnis zu erwecken. Marion musste mit einer der Personen sprechen, die für Peters Existenz verantwortlich

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waren – mit der Äbtissin Victorianna des Klosters der Sisters of Poor Clares oder Paolo Kardinal Lareggia vom Kardinalskolleg. Es gab noch einen weiteren Mann, einen Jesuiten namens Giovanni Francesco, aber Marion lehnte diesen Mann so ins-tinktiv ab und misstraute ihm so sehr, dass sie sich schwor, mit ihm nichts zu tun haben zu wollen.

Sie fragte Etienne so beiläufig wie möglich: »Wenn Sie sagen, er war ›anders‹ – wie meinen Sie das?«

»Ich wusste von Anfang an, dass das Kind auf ir-gendeine Weise von Gott berührt war. Ich erinnere mich, wie ich im Dunkeln in meinem Bett lag und das noch ungeborene Baby sich in mir bewegen und, auf seine Art, zu mir sprechen spürte. Er er-zählte mir, dass er besonders sein und die Welt verändern würde.«

Marion nickte. Mütter sprachen häufig von einer besonderen Verbindung, einem Kommunikations-kanal zwischen sich und ihren heranreifenden Kindern.

In diesem Moment wurde Etienne noch auf-merksamer. Ihre blauen Augen blickten intensiver drein, und doch sprach sie gefühlvoll. »Glauben Sie mir?«

Marion zögerte überrascht, aber ihre Antwort war ehrlich. »Ja, natürlich …«

»Aber da ist noch mehr – Sie wollen wissen, ob ich weiß, wie mein Sohn entstanden ist.«

Marion spürte, wie sie unter einer Mischung aus

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Verlegenheit und Erregung errötete. »Ja, aber wie konnten Sie …«

»Ich wurde während der vergangenen Jahre vom Klerus, der mich befragte und prüfte, als ›übersen-sibel‹ bezeichnet.« Etienne beugte sich näher zu Marion heran und lächelte schelmisch, aber doch bitterernst.

Marion brauchte einen Moment, um ihre Ge-danken zu ordnen, und empfand tiefen Respekt für die zurückhaltend wirkende Nonne. »Es tut mir so leid, Schwester Etienne. Ich wollte Sie nicht belei-digen oder angreifen.«

»Das habe ich auch nicht angenommen. Aber bitte glauben Sie mir – ich weiß genau, was sie mir angetan haben.«

»Woher? Wer hat es Ihnen gesagt?« Etienne sprach in sanftem, verschwörerischem

Tonfall. »Letztes Jahr, als Peter dieses gewaltige Rockmusik-Festival leitete …«

»Mountain Rock Neunundneunzig«, sagte Mari-on nickend, während sie sich daran erinnerte. Sie war dort gewesen.

»Ja, richtig.« Etienne hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. »Unmittelbar nachdem der Unfall geschah, als Peter den Fluss ansteigen ließ und alle diese Menschen ertranken …«

Marion unterbrach sie: »Sie starben fast vor Durst. Er versuchte, sie zu retten.«

»So sehe ich es auch«, stimmte Etienne ihr zu. »Zu dieser Zeit nahm Dr. Rudolph Krieger mit mir

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Kontakt auf. Da ich im Kloster lebte, kannte ich seinen Namen nicht. Ich wusste nicht, dass er den Nobelpreis für Genetik erhalten hatte. Ich wusste nicht, warum er mich sehen wollte. Aber er war sehr freundlich, sehr gentlemanlike, und ich spür-te, dass ich ihm vertrauen konnte.

Er erzählte mir, dass er seit mehr als dreißig Jah-ren mit einem Geheimnis von großer Bedeutung lebte und diese Last nun unerträglich geworden sei.«

»Woher wussten Sie, dass er Ihnen die Wahrheit sagte?« Marion hatte das Gefühl, dass Etienne ihr Dinge anvertraute, die sie noch nie jemandem er-zählt hatte, und dass die Nonne eine Verbündete und, vielleicht noch wichtiger, eine Freundin such-te.

»Er wusste so viel über das, was mit mir gesche-hen ist, damals, als ich erst sechzehn Jahre alt war.«

»Sie haben ihn nicht als den Arzt erkannt, der Sie behandelte?«

Etienne schüttelte den Kopf. »Pater Francesco ließ nicht zu, dass ich das Gesicht des Arztes sah.«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe. Bitte fahren Sie fort«, sagte Marion.

Etienne nickte. »Er erzählte mir, dass ich für das Projekt ausgesucht wurde, weil ich Jungfrau war … weil sie eine jungfräuliche Geburt brauchten. Äb-tissin Victorianna hatte mir gesagt, ich sei von Gott auserwählt worden, eine göttliche Pflicht zu erfül-len, aber Dr. Krieger hat mir deutlich gemacht, dass

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nichts Göttliches an dem war, was sie mir angetan haben.

Und dann, als ich vollständig begriff, was sie mit mir angestellt hatten, war ich von der Schuld befreit – für Sünden, die ich nicht begangen habe. Ich hätte schon lange vorher erkennen müssen, dass Gott nicht zornig auf mich war. Denn wäre er es gewesen, hätte er mir nicht die Gabe der Vision und der Voraussicht geschickt.«

»Und Sie sind sicher, dass es eine Gabe und kein Fluch ist?« Marion konnte der Frage nicht wider-stehen.

Etienne lächelte. »Man kann vom Schöpfer nur Gaben erhalten. Probleme entstehen lediglich aus der Art, wie man sie gebraucht.«

Marion nickte. Sie mochte Schwester Etienne. Die Nonne offenbarte eine Klarheit des Geistes, die mit großem Mut und Entschlossenheit einherging. »Ich will nicht überheblich klingen«, sagte Marion, »aber Sie sprechen mit so viel Zuversicht, mit sol-chem Glauben, und doch kann ich nicht verstehen, warum Sie mit mir reden wollen.«

Etienne lächelte sanft. »Sie sind sehr scharfsich-tig. Wie ich bereits sagte, sind wir auf sehr spezielle Arten mit Peter verbunden, und ich glaube, dass Gott uns für eine wahrhaft göttliche Mission aus-erwählt hat.«

Jetzt war Marion sicher zu wissen, worauf Eti-enne hinauswollte. Es harrte bereits in ihrem Un-terbewusstsein, seit die Nonne zu sprechen begon-

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nen hatte. »Glauben Sie wirklich, wir können etwas tun, um ihn zu ändern, um ihn aufzuhalten?«

Etienne lächelte. »Ich bin mir nicht sicher. Gott wird mir den Weg weisen, wenn es soweit ist, das weiß ich. In diesem Moment hege ich in meinem Herzen nicht den Wunsch, Peter möge zu Schaden kommen, sondern ich möchte ihn nur dem Ein-fluss Satans entziehen.«

»Denken Sie, das ist so einfach?« Etienne schüttelte den Kopf. »Nein, nichts ist

jemals einfach. Komplexität ist das Schönste, was die Welt zu bieten hat.«

Marion hatte es noch nie jemanden so ausdrü-cken hören, aber es gefiel ihr. »Aber was ist, wenn mehr nötig ist?«

»Was meinen Sie?« »Angenommen, Gott verlangt … oh, Sie wissen,

was ich meine … etwas Drastischeres? Wären Sie bereit zu tun, was auch immer nötig wäre?«

»Sie meinen, meinen Sohn zu töten.« Es war kei-ne Frage. »Hat er nicht dasselbe von Abraham ver-langt? Warum sollte meine Antwort anders lauten? Was ist mit Ihnen, Marion?«

»Nun … ich …« Sie war sich nicht mehr sicher, was sie empfand.

»Sie haben Peter Carenza geliebt, ja?« »Schwester Etienne, ich wusste, dass er Priester

war. Ich wusste es, aber … oh, es tut mir so leid …« Etienne berührte sanft ihr Handgelenk, ergriff

dann ihre Hand und drückte sie. »Bitte, Marion,

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ich klage Sie nicht an. Nehmen Sie nicht an, nur weil ich eine Nonne bin, verstünde ich die Ehr-furcht gebietende Macht der Liebe zu einem ande-ren Menschen nicht. Ich werfe es Ihnen nicht vor, dass Sie sich in Peter verliebt haben.«

»Ich war bei ihm, als er entdeckte, was er für Menschen tun kann, als er entdeckte, wer er war … oder vielmehr sein könnte.« Sie seufzte. »Ich könn-te ein wenig von Ihrer Weisheit und Ihrem Mut brauchen«, sagte Marion. »Ich muss Ihnen sagen – ich war nahe daran, aufzugeben.«

»Sie werden gebraucht. Sie dürfen jetzt nicht klein beigeben. Haben Sie es schon mit dem Gebet versucht? Mit Gottes Hilfe ist alles möglich.«

»Das glaube ich auch«, sagte Marion, »aber ich fühle mich schwach. Sind Sie sicher, dass Sie mei-ne Gefolgschaft wollen?«

»Ja. Wir sind vielleicht die Einzigen, die wirklich wissen, was er der Kirche und der Welt antut. Mög-licherweise auch die Einzigen, die in der Lage sind, etwas dagegen zu unternehmen.«

Marion betrachtete die Nonne mit wachsendem Respekt. Ihre Beherrschung der englischen Sprache war beeindruckend. Ihre Augen sprühten vor Intel-ligenz und großem Empfindungsvermögen.

»Schwester Etienne, ich bin mir nicht sicher, wie Peters letztendliche Pläne aussehen könnten. Er weiß es vielleicht nicht einmal selbst, jedenfalls noch nicht, aber da gibt es etwas, was ich Ihnen erzählen sollte – über eine seiner unmittelbarsten

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Absichten. Er bereitet eine päpstliche Proklamation vor, in der er verkünden wird, dass der Klerus hei-raten darf.«

Marion hielt inne, wartete auf eine Reaktion von Etienne, war aber nicht überrascht, als die ältere Frau diese Neuigkeit mit ausdrucksloser Miene entgegennahm. Sie sagte nur: »Ich habe dies früher oder später erwartet.«

Marion kicherte nervös, verlegen. »Ja, aber wis-sen Sie, was das bedeutet? Er will heiraten – mich!«

Etienne nickte. »Und?« »Was soll ich tun, Schwester?« »Ihn natürlich heiraten.« »Was? Warum?« »Sie werden unser Hauptinformationskanal über

ihn und seine Aktivitäten und Pläne sein. Sie müs-sen wieder seine verständnisvolle Verbündete wer-den.«

Marion erkannte, dass das, was die Nonne sagte, vernünftig war, aber es machte ihr die Aufgabe nicht schmackhafter. Den Papst bei einer schändli-chen öffentlichen Zeremonie zu heiraten wäre das Selbstverachtendste, was sie jemals tun würde. »In Ordnung«, sagte sie, beugte den Kopf und schämte sich dafür, dass sie übel nahm, was von ihr ver-langt wurde. »Ich verstehe. Sie haben recht.«

Etienne tätschelte ihre Hand und erhob sich dann. »Sie sollten sich eine Weile ausruhen. Ich habe Ihnen so vieles zum Nachdenken gegeben. Ich entschuldige mich dafür, aber es war notwen-

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dig, mit Ihnen zu sprechen. Wir werden tun, was auch immer Gott von uns verlangt – das schwören wir ihm und uns selbst. Wenn er will, dass wir Pe-ter der Welt opfern, dann werden wir es erfahren.« Etienne richtete sich ein wenig auf. »Und wir wer-den es tun.«

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Pater Giovanni Francesco – Vatikanstadt 24. August 2000

ch wurde hierher geschickt, um Sie zu töten.« Diese Worte sagte ein großer, muskulöser

junger Mann in einem maßgeschneiderten Anzug, ergänzt durch einen schwarzen Alpakamantel, ei-nen passenden Filzhut und eine verchromte 9-mm-Glock mit Schalldämpfer.

Er stand auf der Schwelle von Giovannis Woh-nung an der Via Cola di Rienzo, als er die Frage beantwortete, die der alte Priester ihm gerade ge-stellt hatte: »Was zum Teufel wollen Sie um diese Zeit?«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Giovanni ge-konnt gelangweilt. Der vor ihm stehende Fremde war offensichtlich ein Ausführungsorgan des Servi-zio Segreto Vaticano. »Möchten Sie hereinkommen? Oder müssen Sie schießen und dann davonlau-fen?«

Der Mann sah Giovanni mit verwirrter, nach-denklicher Miene an. Er zögerte einen Moment in dem dunklen Flur und betrat dann den Raum. Giovanni wich automatisch vor ihm zurück, als er bemerkte, dass sich der Mann mit der verstohlenen

I

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Anmut eines Panthers bewegte. Eine Atmosphäre der Kontrolle und des Selbstvertrauens ging von ihm aus wie eine tödliche Strahlung. Die Waffe noch immer auf Giovanni gerichtet, sagte er er-neut: »Die meisten sind vollkommen überrascht. Warum Sie nicht?«

Giovanni lächelte und schüttelte den Kopf. »Hö-ren Sie, Sohn, ich erwarte so etwas nun schon eine ganze Weile.«

»Interessant.« Der Mann wirkte von dieser Ant-wort ehrlich beeindruckt. »Ich muss zugeben, dass ich überaus schockiert war, als ich Ihren Namen auf meiner ›Einkaufsliste‹ sah.«

Giovanni wich weiterhin langsam in den Raum zurück. Der Mörder folgte seinen Bewegungen, und sie drangen allmählich tiefer in die Wohnung des Priesters vor. Giovanni hatte, trotz der drohenden Haltung des Agenten, keine Angst, vielleicht weil er glaubte, dass er die Strafe, die der Mann zu voll-strecken gekommen war, verdiente. »Ich glaube nicht, dass Sie angewiesen wurden, sich jemals um solche Dinge zu kümmern.«

»Normalerweise tue ich das auch nicht, aber dies … Sie … das ist etwas anderes. Sagen Sie mir, was Sie darüber wissen. Warum haben die mich ausgerechnet zu Ihnen geschickt?«

Giovanni musste unwillkürlich grinsen. »Sie wollen wissen, warum?«

Der große Mann nickte. »Also sind Sie nicht nur der Vollstrecker, son-

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dern auch der Richter?! Sie werden entscheiden, ob ich mein Urteil verdiene oder nicht?«

Die beiden Männer waren langsam bis zur Mitte des Wohnzimmers vorgedrungen. Der Agent deute-te mit seiner glänzenden Waffe auf einen Stuhl in einer Ecke. »Setzen Sie sich, Pater. Ich bin neugierig zu erfahren, wie ein Mann Ihres Rufes zu meiner Zielperson wurde.«

»Woher kennen Sie mich?«, fragte Giovanni. »Sie haben mit Targeno zusammengearbeitet,

oder?« Giovanni nickte. »Nun, theoretisch hat er für

mich gearbeitet, aber …« »Sie nannten ihn gewöhnlich den ›Chirurg‹. Er

war der beste Agent, den wir jemals hatten. Viel-leicht der beste auf der Welt.«

»›Eine Legende seiner Zeit‹, wie es heißt?« Giovanni lächelte, während er sich der Wortgefech-te erinnerte, in die er und Targeno häufig verstrickt gewesen waren.

»Man wird noch lange Zeit über einige seiner … Fertigkeiten reden«, sagte der Agent, der sich keine Mühe gab, den Respekt in seiner Stimme zu verbergen.

»Und meine Verbindung zu ihm kann mich vielleicht retten? Wollen Sie mir das sagen?«

Der Mann schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Couch und legte die Glock auf seine Knie. Sie deutete noch immer auf Giovannis Bauch. »Nein, nicht wirklich. Aber wir sind alle vollkommen da-von überzeugt, dass Targeno von Peter Carenza

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getötet wurde. Und wenn es tatsächlich die gegen-wärtige Rechtfertigung ist, die wir für einen Papst haben, der Sie nun tot sehen will, dann muss das für mich ein Grund sein nachzudenken.«

Giovanni lächelte offen. »Wissen Sie, mein Sohn, Sie denken zu viel! Das ist eine gefährliche Eigenschaft bei einem ausführenden Organ. Das war auch das Problem Ihres gefallenen Helden.«

»Alle haben große Angst vor Peter Carenza«, sag-te der junge Mann. »Das ist wohl kaum die richtige Einstellung gegenüber dem Heiligen Vater, meinen Sie nicht?«

»Ja, aber wir leben in seltsamen Zeiten.« »Pater, warum will der Papst Sie eliminieren las-

sen?« »Was ist der übliche Grund für eine solche An-

weisung?« Der Agent zuckte die Achseln. »Sie bedeuten für

ihn eine Art Bedrohung.« »Tatsächlich schmeichelt es mir, dass er so

denkt. Ich denke in der Tat, er sollte sowohl aus seinem Amt als auch aus diesem Leben entfernt werden, und ich habe tatsächlich Pläne und Ver-schwörungen geschmiedet, um diese Ziele zu errei-chen, aber …«

»Aber was?« Giovanni lachte leise. »Aber ich bin ein alter

Mann! Meine Verschwörer sind ein fetter Kardinal, der noch älter ist als ich, und eine Nonne! Was könnten wir schon tun?«

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Der Agent neigte nachdenklich den Kopf. »Men-schen fürchten andere Menschen nicht immer we-gen dem, was sie tun könnten – sondern eher we-gen dem, was sie wissen.«

»Sie sind ein sehr scharfsinniger junger Mann.« »Irgendetwas, was Sie mir erzählen können?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Giovanni,

während er erwog, wie viel er riskieren würde, wenn er sich und seine Vergangenheit offenbarte. Er traute diesem düsteren jungen Mann nicht wirk-lich, der sein Bestes tat, ihm behilflich zu sein. Aber er war einsam, und er hatte das Bedürfnis zu reden, selbst wenn diese Unterhaltung letztendlich von einer Kugel beendet würde.

Er griff nach einer Gauloise und zündete die Zi-garette mit seinem Zippo-Feuerzeug an. »Wissen Sie, ich habe in letzter Zeit heftige Kämpfe mit et-was ausgefochten, wovon ich geglaubt hatte, dass es mich schon vor vielen Jahrzehnten verlassen hätte – mein Gewissen.«

Der Agent nickte. »Eine vertraute Nemesis.« »Ja, und es geschieht üblicherweise spät in der

Nacht, diese einsame und grüblerische Zeit für alte Bastarde wie mich, die nicht einschlafen können. Es ist schlimm, wenn man in der Dunkelheit liegt und darauf lauscht, wie das Leben verrinnt. Ich habe ständig das Gefühl, als würden mich all die unangenehmen Dinge einholen, die ich in meinem Leben getan habe.«

Der Mörder beugte sich vor und hörte genauer zu.

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»Die Sünden eines Menschen sind eine Angele-genheit zwischen ihm selbst und seinem Gott«, sagte Giovanni. »Aber ich war wohl der Architekt dessen, was die größte Sünde des Stolzes sein könnte, die jemals gegen Gott begangen wurde.«

»Das klingt sehr ernst«, sagte der Mann mit der Waffe.

»Wenn es tatsächlich eine Hölle gibt, werde ich gewiss in deren Epizentrum landen.«

»Ich habe Dante gelesen, Pater. Wegen des Stol-zes wird das nicht geschehen.«

Giovanni lächelte. »Dann lassen Sie es mich so sagen: Ich bin für Peter Carenza verantwortlich. Vollkommen. Würde ich nicht existieren, wäre er nicht unser Papst. Es gäbe ihn nicht einmal!«

Der Agent betrachtete ihn wachsam und fragte sich wahrscheinlich, ob er gerade dem patheti-schen Gerede eines Schizophrenen lauschte. Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Sie wollen ihn ver-nichten.«

»Mehr als alles andere.« »Haben Sie Angst vor ihm?« Giovanni zog heftig an seiner Zigarette, sog den

Rauch tief in die Lungen und stieß ihn beim Spre-chen wieder aus. »Mehr als vor allem anderen.«

Der Agent erhob sich jäh und überprüfte die Patronenkammer seiner Waffe.

»Wissen Sie, Pater, Sie haben mir gerade einen äußerst überzeugenden Grund dafür geliefert, Ihr Leben zu verschonen.«

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Giovanni zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass ich das wirklich versucht habe.«

»Ein Mann, den ich für ein Ungeheuer halte, hat Ihren Tod befohlen«, sagte der Agent. »Ich stelle seine Motive infrage. Wissen Sie von seiner Mätres-se? Was letzte Woche geschehen ist?«

Giovanni nickte. »Stehen Sie auf, Pater.« Giovanni befolgte den Befehl augenblicklich

und sah den großen, breitschultrigen Mann starr an. Was passierte hier? Würde der junge Agent sei-ne Befehle, trotz seiner verkündeten Überzeugun-gen, dennoch ausführen?

»Hier«, sagte er und reichte Giovanni seine Waffe. »Wofür ist das?« »Haben Sie jemals zuvor eine Waffe abgefeuert?« Giovanni verzog das Gesicht. »Leider ja.« »Sie werden auf mich schießen müssen …« »Was?« »Nicht um mich zu töten«, fügte der Agent rasch

hinzu. »Aber es muss echt aussehen.« »Sie wollen, dass ich mit Ihrer eigenen Waffe auf

Sie schieße?« Der Mörder nickte, ein angedeutetes Lächeln in

seinen Mundwinkeln. »Haben Sie eine bessere Idee?«

Giovanni reichte ihm die Glock zurück. »Sie er-warten von Ihren Vorgesetzten zu glauben, dass ein siebzigjähriger Priester Sie entwaffnet und auf Sie geschossen hat?«

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»Ich werde Ihnen sagen, dass Sie wohl vorge-warnt gewesen seien.«

Giovanni lachte leise und schüttelte den Kopf. »Nein. Es macht mehr Sinn, wenn ich mit meiner Waffe auf Sie schieße.«

»Sie haben eine?« Der Agent konnte ein Lächeln, das eine Mischung aus Bewunderung und Überra-schung war, nicht unterdrücken.

Giovanni holte die Smith & Wesson .38 Police Special aus der Nachttischschublade in seinem Schlafzimmer und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wobei er sie wie einen verletzten Vogel sanft in der Hand hielt. »Sie ist seit Jahren nicht mehr abgefeu-ert worden und klingt wie eine Kanone, wenn sie losgeht.«

»Welche Munition?« »Standardladung.« »Gut. Ich will nicht von einem Hohlspitzge-

schoss zerfetzt werden.« »Wohin soll ich schießen?« »In den linken Arm, durch den Muskel. Das ist

ein sauberer Schuss und heilt schnell.« »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?« Der Agent lächelte. »Ich habe bei meiner Arbeit

gelernt, dass man manchmal instinktiv handeln muss. Und mein Instinkt sagt mir jetzt, dass ich Sie nicht töten soll, Pater. Verstehen Sie, was ich mei-ne?«

»Ja.« »Sehr gut. Dann müssen Sie mich daran hin-

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dern, meine Befehle auszuführen.« Der Agent hielt inne, sah sich prüfend im Raum um und schaute dann wieder zur Tür. »Ist das der einzige Ausgang?«

»Nein. Es gibt noch einen Hinterausgang zur Gasse.«

»Gut. Machen wir weiter.« Giovanni betrachtete die Waffe in seinen Hän-

den. Er kämpfte gegen ein unfreiwilliges Zittern an. Konnte er das durchstehen? Er musste. »Wie wol-len Sie es inszenieren?«, fragte er tonlos.

»Ich werde draußen vor der Wohnungstür ste-hen. Sie haben mich erwartet. Sie öffneten die Tür einen Spalt, feuerten ein Mal und entkamen dann durch den Hintereingang. Ich werde mehrere Schüsse durch diese Tür abgeben, Sie aber offen-sichtlich verfehlen.«

»In Ordnung«, sagte Giovanni, der spürte, wie sich seine Bauchdecke anspannte.

Der Agent trat zur Tür, hielt inne, bevor er sie öffnete, und sah Giovanni mit einem freundlichen Gesichtsausdruck an, der weder herablassend noch unecht wirkte. »Bereit?«

Der Priester nickte. »Ich werde zuerst die beiden gedämpften Schüs-

se abgeben. Wenn Ihre Achtunddreißiger mit dem Kanonenschlag losgeht, werden wir Aufmerksam-keit erregen.«

»Natürlich«, sagte Giovanni. »Noch eins«, sagte der Agent. »Sobald Sie ge-

schossen haben, müssen Sie um Ihr Leben rennen.

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Nehmen Sie nur mit, was Sie wirklich greifen könnten, wenn Sie um Ihr Leben fürchteten. Ver-stehen Sie? Ich werde behaupten, Sie wären vorge-warnt worden und hätten gerade Fluchtvorberei-tungen getroffen, als ich Sie unterbrach, also – eine kleine Reisetasche mit dem Nötigsten. Mehr nicht.«

»Ich verstehe.« »Dann presto. Holen Sie eine Tasche – tun Sie es

jetzt! Ich kümmere mich derweil um die Ballistik unserer Scharade.«

Giovanni wandte sich seinem Schlafzimmer zu und betrachtete die gemütliche Einrichtung der Wohnung. Er wohnte schon seit über vierzig Jah-ren hier, jeder Gegenstand trug sowohl seine phy-sischen als auch seine psychologischen Fingerab-drücke, repräsentierte seine Vorlieben und Abnei-gungen, seine Ängste und Freuden. Hätte ein Fremder die Wohnung jemals betreten, wäre es für denjenigen schwierig gewesen, sie als das Heim eines Jesuitenpaters zu erkennen. Die einzige reli-giöse Ikone war ein Kreuz, das in jedem anderen römischen Domizil beinahe allgegenwärtig war. Die Jalousien waren fast immer geschlossen, sodass das spärliche Tageslicht, das hereindrang, die dunklen Eichenmöbel kaum zur Geltung bringen konnte. Die Räume waren karg, maskulin, unge-zwungen – sehr ähnlich Pater Francescos Verhalten und Erscheinungsbild.

Diese Wohnung war sein Zuhause gewesen, und nun schien es, als würde er sie vielleicht niemals

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wiedersehen. Er nahm rasch eine kleine Reiseta-sche zur Hand und stopfte einige wenige Klei-dungsstücke, sein Erspartes, ein Taschenmesser, sein Notizbuch und eine Bibel hinein. Nur wenige Minuten waren vergangen, als er zur Wohnungstür zurückkehrte.

»Gut. Sehr gut«, sagte der Mann, während er die Vorbereitungen des Priesters begutachtete. »In Ordnung, Pater, bringen wir es hinter uns.«

Giovanni beobachtete, wie sich der Mann jen-seits der Eingangstür in Position brachte und die Tür dann bis auf wenige Zentimeter schloss.

»Treten Sie zurück«, sagte der Mann und zielte dann sorgfältig mit seiner glänzenden Handfeuer-waffe.

Pffffftttt! Pffffftttt! Zwei Geschosse entwichen der Waffe fast laut-

los. Eins traf die gegenüberliegende Wand des Raumes, ohne Schaden anzurichten, das andere verwandelte einen gerahmten Druck von Caravag-gio zu einer glitzernden Blüte gesplitterten Glases.

»Presto! Kommen Sie jetzt zur Tür, öffnen Sie sie so weit, dass Sie mich sehen können, und zielen Sie, wie ich es Ihnen sage.«

Giovanni gehorchte wortlos und ließ es zu, dass der Mann ihn und seine Waffe in Position brachte.

»Ich will nicht, dass Sie meinen Oberarmkno-chen zerschmettern, also müssen wir es gleich beim ersten Mal richtig machen.« Der Mann trat zurück, brachte sich sorgfältig in Position und

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stand, als er schließlich zufrieden war, starr wie das Modell eines Bildhauers. »Jetzt, Pater … werden Sie bitte den Abzug durchdrücken.«

Denk nicht darüber nach. Giovanni zog den Abzug vorsichtig durch, löste

den Schlagbolzen aus. Durch den Rückstoß der Waffe stolperte er leicht nach hinten und erschrak vor dem ohrenbetäubenden Knall des Schusses. Er erhaschte einen kurzen Blick darauf, wie der Agent herumgeworfen wurde, als die Kugel seinen Arm durchschlug und den Stoff seines Mantels zerfetz-te. In Giovannis Ohren dröhnte es, und seine Nase brannte vom Geruch des Kordits. Die Zeit schien einen Augenblick ausgedehnt, unwirklich. Er fühl-te sich desorientiert und geriet in Panik, als er sich zu erinnern versuchte, was er als Nächstes tun soll-te.

»Gehen Sie!«, flüsterte der Agent barsch. Giovanni konzentrierte sich blinzelnd auf die

Gestalt des Agenten, der zusammengesunken auf dem Boden des Treppenhauses lag. Während das Echo des Pistolenschusses in Giovannis Erinnerung widerhallte, hörte er bereits die ersten beunruhig-ten und neugierigen Rufe von Nachbarn. Der Agent hatte recht – er durfte keine Zeit verlieren.

Giovanni wandte sich zur Flucht, zögerte eine Sekunde, wollte noch einmal nach seinem nieder-gestreckten Verbündeten sehen, aber der Mann musste seine Absicht gespürt haben. Während er sich langsam an der Wand des Korridors aufrichte-

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te, zeigte er ihm rasch den emporgereckten Dau-men, bevor er wieder zusammensackte und still vor sich hin blutete.

Giovanni ergriff seine Reisetasche, warf die noch rauchende Pistole hinein, riss den Reißverschluss zu und lief zum Küchenausgang. Als er in die Nacht hinaustrat, schlug ihm ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kalter Wind entgegen. Es war ein angenehmes Gefühl. Giovanni Francesco lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Unmittelbarkeit des Augenblicks und fühlte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren unleugbar und vollkommen leben-dig.

Sehr seltsam … Er wollte der Nacht trotzen und das Gefühl auskosten, aber die Jagd war eröffnet. Keine Panik! Beweg dich einfach. Achte auf deine Füße. Er durfte nicht zum Fuhrpark des Vatikans oder der Schweizergarde gehen. Man konnte nicht wissen, wer mit in Peters Todesspirale hineingezo-gen worden war. Giovanni bewegte sich stetig, halbwegs im Joggingtempo, die Gasse hinab, die zur Via Germanico führte. Er erwartete, jeden Mo-ment die Schritte seiner Verfolger zu hören oder den Aufprall einer Kugel zu spüren.

Aber nichts außer dem ihn umgebenden Wis-pern der Nacht und einem gelegentlich vorbeifah-renden Auto unterbrach die nächtliche Stille. Zu-mindest für den Moment war er entkommen.

Während Giovanni innehielt, um Atem zu ho-len und seine Gedanken zu sammeln, lehnte er

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sich an die Mauer eines Gebäudes und erkannte, dass er tatsächlich nirgendwo hingehen konnte.

Er hatte keine Freunde oder Verwandten, die ihm Unterschlupf gewährt hätten. Aber er hatte Mitarbeiter und Kollegen, die in vielen Kreisen der römischen Gesellschaft als unangenehm erachtet worden wären.

Bevor er Priester geworden war, als noch junger Mann, hatte er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem OSS in Rom zusammengearbei-tet. Er war eigensinnig, unbekümmert, aber auch furchtlos gewesen und hatte sich den Respekt älte-rer Mitarbeiter erworben, weil für ihn kein Auftrag zu anspruchsvoll war. Seine Tätigkeit brachte ihn mit allen Gesellschaftsschichten der italienischen Kultur in Kontakt, und er merkte sich noch offene und bereits beglichene Rechnungen.

Er konnte offensichtlich nicht in der Stadt blei-ben. Vielleicht nicht einmal in Italien. Es gab Leu-te, die ihm helfen würden wegzukommen.

Giovanni blickte auf seine Uhr, und er wusste, dass er nicht länger in dieser Gegend bleiben durf-te. Er drang südlich bis zum Tiber vor, wohlwis-send, dass er in den Werften und Docks des unte-ren Flusslaufs verschwinden könnte. Einige Leute, die diese Orte aufsuchten, schuldeten Giovanni einen Gefallen – und nun war es an der Zeit, ihn einzufordern. Er blieb gerade lange genug im Schein einer Straßenlampe, um die Straße zu über-queren, und wich dann wieder in die Dunkelheit

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zurück. Die Sirene eines Krankenwagens wurde zunehmend lauter, während das Fahrzeug auf sei-ne Wohnung zuhielt. Weitere Sirenen wetteiferten um seine Aufmerksamkeit: Polizei und andere Zu-ständige.

Giovanni lächelte. Das Tyrrhenische Meer warte-te auf ihn wie eine düstere und vertraute Geliebte. Sie würde ihn willkommen heißen, keine Fragen stellen und keine Geheimnisse offenbaren.

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Peter Carenza – Vatikanstadt 2. September 2000

ch muss lernen, mich unter Kontrolle zu halten. Pe-ter wiederholte diese Worte still für sich, als wä-

ren sie ein heiliges Mantra. Obwohl mehrere Wo-chen vergangen waren, verfolgte ihn noch immer, was er Marion angetan hatte. Er hatte sie nur ein-schüchtern wollen, ihr deutlich machen wollen, dass er die höchste Instanz in ihrem Leben war. Er hatte sie nicht wie eine Stoffpuppe aus dem Woh-nungsfenster stoßen wollen.

Was geschah mit ihm? Nie war er so impulsiv, so sehr von niedrigen

Empfindungen getrieben gewesen. Es geschah jetzt häufig, dass er meinte, an einem riesigen Pendel zu hängen, das von einem emotionalen Extrem ins andere schwang. In früheren, einfacheren Zeiten hatte er einmal eine solche Beschreibung von ei-nem seiner Gemeindemitglieder in Brooklyn ge-hört. Peter hatte sofort ein manisch-depressives Syndrom dahinter vermutet, aber in seiner eigenen Situation konnte eine solche Erklärung ihn nicht befriedigen.

Nicht nur hatte er eine lange Geschichte der Be-

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ständigkeit aufzuweisen, sondern er besaß auch Macht. Und doch plagte ihn zunehmend die Vor-stellung, dass er irgendetwas gegenüber, allem ge-genüber, verwundbar sein könnte.

Darum hatte er dem Gedanken, dass er Francesco loswerden müsse, nachzugeben be-schlossen.

Er hielt inne, atmete langsam ein und dann wieder aus, während er an den leoninischen Mau-ern stand, der letzten Verteidigungslinie gegen die Sarazenen-Angriffe vergangener Jahrhunderte. Es war sehr spät am Abend, und statt der üblichen Touristenscharen liefen kleine Gruppen Fremder hier und da auf dem großen Petersplatz umher, die durch die Steinkolonnaden und Brunnen, den Obelisk und die Basilika zur Bedeutungslosigkeit degradiert wurden. Peter rückte seine Baseballkap-pe zurecht und zog den Kragen seiner Jacke bis dicht unters Kinn. Zusammen mit der Sonnenbrille war seine Verkleidung perfekt, sodass er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, und er eilte zuversichtlich seinem Ziel entgegen.

Er durchschritt das Tor von Saint Anne, wählte den Bogengang, der am Osservatore Romano vorbei-führte, und lief rasch weiter. Bisher hatte er es im-mer genossen, sich unerkannt unter die Gläubigen zu mischen. Ein spitzbübischer Humor ließ ihn dies immer wieder tun, nur um zu sehen, ob er entdeckt würde.

Heute war es jedoch anders.

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Peter näherte sich der vatikanischen Bibliothek und dem Belvedere-Hof, dem Sitz der Geheimar-chive. Als er die reich verzierte Treppe zu dem Ge-bäudekomplex hinaufstieg, bemerkte er, dass die Schweizergarde, die von seinem Besuch in Kennt-nis gesetzt worden war, das Gelände vorzeitig ge-räumt hatte. Normalerweise würde jeder, der die-sen Bereich zu betreten versuchte, von mehreren Reihen Wachen und schließlich vom Präfekt der Archive selbst überprüft.

Aber beim Heiligen Vater waren solche Formali-täten nicht nötig, dachte Peter – und der Heilige Vater bin ich.

Als Peter die Statue des Hippolyt passierte, der berüchtigte Anti-Papst des dritten Jahrhunderts, lächelte er und nickte ihm zu. Er verspürte eine seltsame Verwandtschaft mit dem römischen Phi-losophen. Da es schon so spät war, hatten die regu-lären Angestellten das Gebäude bereits verlassen, und nur wenige auf Abruf bereitstehende Auser-wählte sollten Peter jegliche benötigte Hilfe leisten. Während er den Eingangsflur entlangging, bemerk-te er, dass seiner Sicht verborgen blieb, wer auch immer sich noch in dem Gebäude aufhielt.

Peter hatte während einer seiner ersten Unter-haltungen mit Paolo Kardinal Lareggia nach seiner Rückkehr nach Rom und seiner Wahl zum Papst von den Geheimarchiven erfahren.

»… und ich dachte, Sie möchten Ihre ›Mission‹

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vielleicht im Vatikan besprechen«, sagte der Kar-dinal offensichtlich besorgt.

»Nein«, hatte Peter mit kaum wahrnehmba-rem Lächeln geantwortet. »Ich wollte eine Weile improvisieren.«

»Nun, ich möchte, dass Sie wissen, dass ich zu Ihrer Verfügung stehe, Heiligkeit, wenn Sie ir-gendwelche Fragen zu Ihrem Amt oder dem Pro-tokoll haben. Und natürlich gibt es die Ge-heimarchive, wenn es um Präzedenzfälle oder historische Angelegenheiten geht.«

»Die Geheimwas?« »L’Archivio Segreto Vaticano«, sagte Lareg-

gia. »Das ist der Aufbewahrungsort der heiligen und wichtigsten Dokumente des Vatikans. Paul V. Borghese hat ihn im siebzehnten Jahrhundert eingerichtet.«

»Ich habe noch nie davon gehört«, sagte Peter. »Er wird in den Touristenführern erwähnt, ist

aber für die Öffentlichkeit nicht zugänglich – nur für die hochoffiziellen Würdenträger der Kirche, die den Papst davon überzeugen können, dass ih-re Angelegenheit es erfordert, in den alten Texten zu forschen.«

»Wie alt? Welches Material haben wir da?« Lareggia zuckte die Achseln, während er ver-

suchte, im Geiste zu katalogisieren und zusam-menzufassen, was in den Archiven lag. »Die übli-chen päpstlichen Aufzeichnungen, nuncios, fogli d’avvisi und diverse fondi. Aber auch viele Do-

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kumente und Texte, die über die Anfangszeit der Kirche berichten. Ursprünge von Riten, Auflis-tungen von Prophezeiungen und Wundern, die päpstliche Korrespondenz, wissenschaftliche und medizinische Abhandlungen … Es gibt dort so vieles, dass ich nicht alles erwähnen kann. Mehr als neun Meilen Bücherregale!« Peter lächelte. »Ich möchte diesen Ort sehen«, sagte er.

*

Der Kardinal hatte ihn beim ersten Besuch der Ar-chive begleitet. Es war eine formelle, fast zeremo-nielle Unternehmung gewesen, die Peter kaum mehr lehrte als die grundsätzliche Anordnung des geheimen Aufbewahrungsortes. Erst während spä-terer Besuche, so wie der jetzige, konnte er sich genauer umsehen und feststellen, was sich in den Gewölben und Kisten und endlosen Bücherregalen verbarg.

Peters Interesse an den Archiven war nicht das eines Archäologen oder Historikers. Nein. Es war etwas weitaus Elementareres. Er konnte es tief im Kern seines Seins spüren. Wie ein umgelegter Schalter – die Geheimarchive. Er musste sie sehen, sie erforschen, die Tiefen ihrer Mysterien und ihres vergessenen Wissens ergründen.

Peter wusste nicht, warum, aber er konnte den in ihm wütenden, unbezähmbaren Drang nicht leugnen. Offensichtlich erwarteten ihn in den Ar-

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chiven wichtige Informationen, denn er hatte auf die Enthüllung ihrer Existenz durch den Kardinal reagiert, als wäre er ebenso konditioniert wie einer von Pawlows Hunden.

Der Heilige Vater schüttelte den Kopf, während er die steile Treppe zum ältesten Teil der Archive hinaufstieg – dem Turm der Winde, ursprünglich als Observatorium erbaut. Sein erster Besuch an diesem Ort mit Paolo Kardinal Lareggia schien schon sehr lange her zu sein, aber tatsächlich wa-ren seitdem noch keine sechs Monate vergangen.

Schon während dieser ersten Besuche war Peter von den Archiven fasziniert gewesen, und er merk-te, dass er deren Nischen und Räume mit zuneh-mender Häufigkeit erkundete. Seine Verpflichtun-gen als Papst stellten eine niemals endende Reihe von Terminen, Audienzen und öffentlichen Auftrit-ten dar. Der Zeitplan war eng und unerbittlich, aber er achtete peinlichst darauf, einen Teil seiner Tage oder Abende für die Archive zur Verfügung zu haben.

Er war sich nicht sicher, wonach er suchte, nur dass er es erkennen würde, wenn er es endlich fän-de.

Und so durchforschte er mit sorgfältiger, erwar-tungsvoller Geduld die umfangreichen Indizes der Archive. Eine schwierige Aufgabe, wenn man be-dachte, dass die Archive keine alphabetische Kartei zur Katalogisierung ihrer Bestände besaßen. Jeder Index war eine mehr oder weniger vollständige

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Zusammenstellung des in den Archiven aufbe-wahrten Materials, jeder ein gewaltiger Wälzer und über die Jahrhunderte von verschiedenen Archiva-ren handschriftlich fortgeführt. An die Benutzung von Computern war nicht einmal annähernd zu denken.

Als er am Meridianraum vorbeikam, fern vom Turm, wurde Peter an etwas erinnert, was der Prä-fekt ihm bei seinem Einführungsbesuch gezeigt hatte. Ein einzelner Raum, an den Meridianraum angrenzend, enthielt neuntausend Bündel uner-forschter und unregistrierter Dokumente, jedes nicht viel größer als ein kleiner Stapel Zeitschriften. Normalerweise, hatte der Präfekt erklärt, würden zwei seiner Assistenten ungefähr eine Woche brau-chen, um den Inhalt eines einzigen Bündels zu inventarisieren, und wenn man das als Maßstab nähme, würde allein das Material in diesem ein-zelnen Raum über 180 Jahre bibliografische Arbeit erfordern.

Peter hatte schnell erkannt, dass eine systemati-sche Erforschung der Archive nahezu unmöglich und bei seiner Suche nur mit Zufallsfunden zu rechnen war. Aber er hoffte – und war sich dessen fast sicher –, sich auf einen glücklichen Zufall und vielleicht auch eine Art übernatürliches Eingreifen verlassen zu können, und musste einfach seinem Instinkt vertrauen. Er glaubte fest daran, etwas für seine »Mission auf Erden« (wie der Kardinal es ausdrückte, was Peter stets belustigte, da es so

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klang, als wäre er ein Alien …) Wichtiges zu fin-den.

Sein scheinbar angeborenes Interesse an den Geheimarchiven war auch auf anderer Ebene von Bedeutung. Peter war nicht blind den Veränderun-gen gegenüber, die ihm selbst und der Welt aufer-legt worden waren, seit er sich zu einem neuen Menschen »entwickelt« hatte. Wie jeder, der ihn kannte und ihm und seiner wahren Identität wi-dersprüchliche Gefühle entgegenbrachte, unterzog auch Peter sich langen, seine Seele erforschenden Sitzungen bezüglich seiner Beziehung zur Religion, der Welt und dem Geist Gottes.

Manchmal hatte er das Gefühl, sich und seine Position in der Welt vollkommen unter Kontrolle zu haben. Zu anderen Zeiten jedoch glaubte er manipuliert und wie eine Marionette jenseits der Realität vorgeführt zu werden.

Vielleicht, dachte er manches Mal, werde ich die Schlüssel zum Verständnis meiner selbst in den staubigen Gängen der Archive finden.

Dieser Eindruck beschlich ihn vor allem dann, wenn er den Raum betrat, in dem er bereits viele Stunden mit dem Studium von Dokumenten und Büchern verbracht hatte. Das gegenwärtige Objekt seiner Aufmerksamkeit war ein Index Verbotener Texte, der während der Zeit Lotario di Segni, besser bekannt als Papst Innozenz III., geschrieben wor-den war. Diesen wuchtigen Band mit seinen un-zähligen kalligrafischen Einträgen, die alle in La-

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tein verfasst worden waren, hatte eine Gruppe en-gagierter Mönche unter dem Schwur des lebens-langen Dienstes für den Papst zusammengetragen und im Jahre 1210 fertiggestellt.

Peter setzte sich an den glänzenden Mahagoni-tisch und konzentrierte sich auf den Index. Er such-te nach weiteren Verweisen auf eine Wendung, die während seiner häufigen früheren Besuche in den Archiven seine Aufmerksamkeit erregt hatte: das Geheimnis der Sieben. Mehrere Erwähnungen dieses »Geheimnisses« und darauf verweisende Texte hat-te er bereits gefunden, musste aber noch die eigent-lichen Handschriften oder Bände ausfindig ma-chen, die die Bedeutung des Satzes erhellen oder, besser noch, das Geheimnis und die Identität der Sieben offenbaren würden.

An der lästigen Unvollständigkeit der Archive konnte Peter nichts ändern. Es war so viel Material in den meilenlangen Regalen abgelegt und in den Gewölben gelagert, dass niemals genügend Men-schenzeit oder menschliche Arbeitskraft zur Verfü-gung stünde, um alles angemessen zu klassifizie-ren, zu kodifizieren und alle in den Dokumenten enthaltenen Informationen zu ordnen. Querver-weise anzulegen lag völlig außerhalb der begrenz-ten Fähigkeiten und Zeit der Mitarbeiter.

Das Geheimnis der Sieben. Als er diese Worte das erste Mal las, hatte seine

ganze Seele einen Augenblick reinen Nachhalls erlebt – wie eine seinen Körper entlangwogende

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und -singende elektrische Entladung. Er erkannte, dass der Satz eine besondere Bedeutung enthielt, für ihn und für die Welt im Allgemeinen.

Seine Suche nach entsprechenden Verweisen erwies sich als qualvoll mühsam, und doch hatte er mehrere kleine Entdeckungen gemacht, die seine Fantasie nährten und seine Zuversicht stärk-ten.

Begleitende Verweise auf das Buch der Offenba-rung ließen vermuten, dass das Geheimnis der Sie-ben vielleicht mit der Endzeit zu tun haben könn-te, wie sie bei Johannes dargestellt wurde. Dieses Thema war für Peter von großem Interesse, weil er als Brennpunkt des Millenniums auserwählt zu sein glaubte. Wenn er tatsächlich das Schicksal der Welt zum Zeitpunkt des Jüngsten Tages symboli-sierte, dann, glaubte er, war es seine Pflicht, sein Schicksal zu entdecken und zu ergründen, worin seine wahre Rolle bestand.

Manch einer empfand seine Agenda über die die Grundfesten erschütternden Veränderungen in der Politik und die Vorgehensweise der katholischen Kirche als tückisch, übel, gar absurd. Peter war nicht dieser Ansicht, obwohl er das Ausmerzen so vieler Kirchendogmen manchmal als belustigend, manchmal als experimentell und manchmal als provokativ empfand. Er räumte freimütig ein, zu-mindest sich selbst gegenüber, dass er viele der durchgreifenden Veränderungen ohne jeglichen objektiven Grund veranlasst hatte. Sein Interesse

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galt den weltweiten Reaktionen auf seine Verkün-digungen.

Er zuckte die Achseln, während er im letzten Moment davor zurückschreckte, seine Motive in-frage zu stellen – auf diesem Weg erwartete ihn eine eigenartige Art von Wahnsinn. Er sollte besser mit dem schweren, verstaubten Index aus uraltem, gerissenem Leder ringen.

Geheim. Allein dieses Wort quälte ihn schon mit seiner

Überfülle an Bedeutungen. Und das Schlimmste war, dass es auch überhaupt nichts bedeuten konn-te. Die frühen Gefolgsleute der Kirche waren erfüllt von Mystizismus und Aberglauben. Peter war sich einiger radikaler Auslegungen der Heiligen Schrift von Glaubensgemeinschaften wie den Essenern und anderen sehr bewusst. Wenn einige der jahr-hundertealten Schriftrollen und Texte von solchen theosophischen Extremisten verfasst worden wa-ren, könnte das »Geheimnis« in Auszügen aus ei-nem wirren religiösen Wahnsinn bestehen.

Wenn man eine solche Vorstellung zuließ, wäre es durchaus möglich, dass sich Peter auf eine voll-kommen sinnlose Suche begeben hatte. Der Ge-danke, dass er von der Jagd nach etwas so … so Albernem vereinnahmt sein könnte, war ihm zu-wider. Unter allen Umständen inakzeptabel.

Nein, so konnte es nicht sein. Außerdem war die Zahl Sieben von Bedeutung – daran bestand kaum ein Zweifel. Aufgrund seiner im Seminar und in

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Kollegkursen in vergleichender Religionswissen-schaft erlangten Kenntnisse war er sich der heraus-ragenden Rolle der Sieben in manchen Mytholo-gien und Theologien stets bewusst gewesen. Als er seine Notizen durchsah, um seine Überzeugung zu untermauern und vielleicht eine plötzliche Einge-bung zu bewirken, hakte er einige der Verweise des heiligen Johannes auf die fragliche Zahl ab: sieben Kirchen in Asien, sieben Geister, sieben goldene Leuchter, sieben Engel, sieben Sterne, sieben Tage und Nächte …

Peter schüttelte den Kopf. Er hatte dies alles schon mehrere Male überprüft. Dabei gab es, eben-so wie bei einigen Passagen der Offenbarung, so viele Möglichkeiten zu erklären, worüber Johannes geschrieben hatte, wie es Menschen gab, die seine Worte lasen. Nach der Lektüre der alten Texte der Upanischaden, der ägyptischen und tibetischen Totenbücher und sogar der amerikanischen münd-lichen Überlieferungen der Indianer, wie sie von Castaneda zusammengetragen worden waren, hat-te Peter eine recht gute Vorstellung von dem, was halluzinatorische Schriften ausmachte. Er war überzeugt davon, dass der heilige Johannes wäh-rend der Erschaffung seines letzten Buches etwas »auf der Spur« gewesen war.

Aber jetzt nicht mehr. Er war durch seine mächtige, außergewöhnliche

Anziehung zu den Archiven und ihren endlosen Regalen voller Mysterien und Offenbarungen über-

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zeugt worden. Hier erwartete ihn spezifisches Wis-sen, das sich wie eine überaus listige Beute oder ein Räuber verbarg. Er würde es finden, weil er es fin-den sollte. Was er mit der Information anfangen würde, wenn er sie erhielt, war ein weiteres Myste-rium, aber das war unwichtig. Entweder würden die kommenden Ereignisse seine Aktivitäten be-stimmen, oder er würde sich etwas ausdenken.

Während er dort saß und langsam die Seiten des Index studierte, traf ihn jäh die Erkenntnis, wie allein er war. Nicht nur in diesem Moment, in dem er sich abgesondert in einem praktisch unbekann-ten Gebäude innerhalb des Vatikans befand, son-dern auch in seinem privaten Leben. Es schien un-endlich lange her zu sein, dass es in seiner unmit-telbaren Umgebung jemanden gegeben hatte, den er als seinen Freund bezeichnen konnte.

Peter lehnte sich sardonisch lächelnd zurück. Solche Beziehungen waren für ihn inzwischen unmöglich. Ja, das war es, oder? Es gab niemanden auf der Welt, dem er vertrauen konnte.

Diese Erkenntnis betrübte ihn eher, als dass sie ihn beunruhigt hätte. Besonders seit es eine Zeit gegeben hatte, in der Marion die beste Freundin und Vertraute gewesen war, die sich ein Mensch erhoffen konnte. Aber er hatte den wie auch immer gearteten Bund zwischen ihnen zerstört, ohne zu wissen, warum. Es war einfach so geschehen – als folge er einem vorbestimmten Programm und füh-re die Bewegungen aus, ohne die geringste Mög-

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lichkeit zu haben, sich zu widersetzen. Nur selten hielt er inne, um sein Handeln und die diesem zugrunde liegenden Motive zu überdenken, aber es war etwas an der kargen Ausstattung der Archive, was eine solche Innenschau förderte.

Während er über seine Beziehung zu Marion nachdachte, wurde er sich einer verdrehten Duali-tät des Geistes bewusst: Ein Teil von ihm vermisste die stillschweigende Nähe, die sie geteilt hatten, und er hätte ihre Hilfe beim Durchforsten der Ar-chive nach zusätzlichen Hinweisen auf die Sieben sehr zu schätzen gewusst. Aber ein anderer Teil von ihm empfand absolut nichts für Marion. Sie unter-schied sich in nichts von all den anderen Men-schen, die er manipulieren und für seine eigenen Zwecke benutzen musste – als was diese sich auch immer erweisen würden.

Was ihn bei einem Blick auf seine Armbanduhr daran erinnerte, dass er inzwischen vom Geheim-dienst des Vatikans hätte hören sollen.

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Gaetano – Salisbury Plain 4. September 2000

r lief jetzt seit über drei Wochen. Es war die erste aktive Phase seines körperlichen Trai-

nings, und es war unglaublich schwer, sich an die-se Routine zu gewöhnen. Er hatte als Junge, in der ummauerten Stadt Arezzo, nicht viel Futbol ge-spielt, und er war nie besonders sportlich gewesen. Als Erwachsener hatte er die Fitness-Bewegung so weit wie möglich gemieden und eine Vorliebe für die üppige kontinentale Küche und Sportwagen entwickelt. Die vielen Jahre des Lebens und Arbei-tens in London hatten ihn dazu gebracht, das blässliche, rachitische Aussehen des durchschnittli-chen Briten stillschweigend zu würdigen. Übung um ihrer selbst willen war ebenso, wie sich von Meinungsforschern befragen zu lassen, eines jener Dinge, die nur andere Menschen taten.

Aber nun lief Gaetano zielbewusst, als Beginn eines strengen Trainingsprogramms, das er für sich ausgearbeitet hatte. Der wohlbekannte erste Schritt einer tausend Meilen weiten Reise. Während er die Landstraße entlangjoggte, bemerkte er, ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden, dass das Ge-

E

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lände weniger eine Ebene als eine Reihe sanft an-steigender Hügel war. Die meiste Zeit lief er sanfte Gefälle hinab oder erklomm Wiesen, die eine Farm oder eine Straßenkreuzung verbargen. Er erinnerte sich, wie er das erste Mal auf Stonehenge traf, als er über die Ebene fuhr, und wie sehr es ihn erschreckt hatte, den Kreis aufrecht stehender Steine jenseits einer sanften, grasbewachsenen Kuppe jäh auftau-chen zu sehen. Gaetano hatte immer geglaubt, die großen Plinthen stünden kühn auf einer riesigen windgepeitschten Hochebene, starr aufragend vor einem aufgewühlten Himmel voll farbenreicher Dramatik. In Wahrheit lag Stonehenge wie ein schiefer Schuppen auf abfallendem Gelände.

Er näherte sich Stonehenge auch jetzt, und wäh-rend er an dem Parkplatz vorbeijoggte, winkte er einem vorüberfahrenden Bus mit Touristen zu. Gaetano lächelte und trieb sich noch ein wenig härter voran. Sein Trainingsplan schrieb für die nächsten zwei Wochen sechs Meilen pro Tag vor, die dann in den darauffolgenden sechs Wochen allmählich auf bis zu fünfzehn Meilen gesteigert würden. Er hatte keine Vorstellung davon, welche Ausdauer er nach diesem Training hätte.

Allerdings nur, wenn das Wetter mitspielte. In England hatten in der letzten Zeit einige außeror-dentlich heftige und absonderliche Stürme gewü-tet, und viele Flüsse waren über die Ufer getreten. Die Wasserpegel schienen zwar seit Kurzem wieder zu sinken, aber die Fischhändler in den Dörfern

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sprachen immer noch davon, dass das merkwürdi-ge Wetter ein Zeichen des Weltuntergangs sei.

Er lächelte. Albernes Geschwätz für alberne Leu-te.

Gaetano befreite sich von diesen Gedanken und konzentrierte sich wieder ganz aufs Laufen. Zwar hasste er diese körperliche Anstrengung, aber ange-sichts der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war sie absolut notwendig.

Es würde schwer werden, sich mit seinen fünf-unddreißig Jahren innerhalb kürzester Zeit in ei-nen hocheffizienten Sportlertyp zu verwandeln, aber er wusste, dass er es schaffen konnte. Er war, trotz seiner Vorliebe für die schöneren Dinge der europäischen Kultur, kein fettes Schwein mit »ame-rikanischem Bauch und Hintern« geworden. Die Arbeit als Schadensregulierer bei Lloyd’s hatte ihm die Möglichkeit gegeben, den Kontinent zu berei-sen, und ihn in der Kunst der Intrige und Täu-schung geschult, und die Belastung durch eine Frau und Kinder hatte er bewusst vermieden. Er betrach-tete sich als schlau, aufmerksam, vital und in der Lage, jedes Ziel erreichen, sich jeder Herausforde-rung stellen zu können.

Zusätzlich zum Lauftraining hatte Gaetano mit einem wissenschaftlich fundierten und bis ins De-tail ausgearbeiteten Abspeckprogramm begonnen. Während seine Ausdauer zunahm, würden auch seine Kraft, seine Stärke und sein Selbstvertrauen wachsen. Zu guter Letzt wollte er noch seine

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Schnelligkeit und seine Koordination mit etwas Kampfsporttraining verbessern.

Als er seine persönliche Sechs-Meilen-Marke er-reichte, ein Kreisverkehr, von dem aus sternförmig Straßen zu mehreren kleinen Dörfern führten, machte er kehrt und lief zu seinem Wagen zurück. Er atmete in tiefen Zügen, beugte sich vor und be-schleunigte seinen Schritt. Vor ungefähr einer Wo-che war er an diesem Punkt vollkommen ausge-laugt gewesen, aber heute fühlte er sich fit und be-reit für alles, was ihm auf seinem Weg begegnen sollte.

Gaetano lächelte, während er über den Asphalt lief. Ja, dachte er, das ist genau die Haltung, die ich brauche. Meine Zukunft ist wie dieser Weg – ich muss bereit sein für das, was auch immer dort auf mich wartet.

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Charlie Green – Lebanon, New Hampshire 25. August 2000

harlie Green ließ sein 1966er Corvair-Kabriolett die lange Auffahrt zur Straße hinun-

terrollen, die zur Interstate führte, und obwohl zurzeit Berufsverkehr herrschte, 7:40 Uhr morgens, war der Highway nicht von einer endlosen Phalanx von Fahrzeugen verstopft – das war er nie. Einer der Hauptgründe, warum Charlie gerne in der Re-gion von New Hampshire lebte, die Upper Valley genannt wurde. Während er stressfrei die Straße entlangfuhr, sann er zufrieden darüber nach, wie es ihn hierher verschlagen hatte: Vor ungefähr fünf Jahren waren Charlie und seine Frau vor dem Ver-kehr, der Übervölkerung, den hohen Preisen, den Steuern und den Verbrechen auf Long Island zu diesem abgeschiedenen Fleck in der Nähe des Connecticut River geflüchtet.

Wenn Charlie zurückdachte, wusste er, dass es ein kühner Schritt gewesen war. Nach zwanzig Jah-ren bei der Polizei von Suffolk County hatte er sich für einen völlig neuen Lebensstil entschieden: ein Haus in den Wäldern, eine kleine Stadt, kein Job, neue Freunde, ein völlig neues Leben.

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Nun, alles war gut geworden, bis auf die Vorstel-lung, dass er tatsächlich in Rente gehen könnte. Charlie war sein ganzes Leben lang so aktiv gewe-sen, dass der Gedanke, jeden Tag aufzustehen, oh-ne einen festen Zeitplan zu haben, für ihn zu etwas Verhasstem geworden war. Zwar hatte er stets lei-denschaftlich gern gelesen, aber das konnte er kei-ne sechzehn Stunden am Tag tun. Landschaftsma-lerei, Zimmerhandwerk, Autoreparaturen und selbst seine Aktivitäten innerhalb der örtlichen Mormonen-Gemeinde – nichts davon genügte ihm. Charlie war klar, dass er einer dieser Burschen war, die einen Job brauchten, um jeden Tag aufzu-stehen und den Tag vernünftig hinter sich zu brin-gen.

Es war nicht so, dass er das Geld benötigt hätte. Er, Charlie, brauchte vielmehr das zeitliche Gefüge, das mit einer festen Arbeit verbunden war und sei-nen Tag strukturierte, und die Kameradschaft mit den Kollegen. Jetzt arbeitete er für Federal Express. Es war keine so große Anpassung nötig gewesen. Als Cop hatte er eine Uniform getragen, seit er in Hofstra abgegangen war, sodass ihm das nichts ausmachte. Autofahren war seine zweite Natur, und verglichen mit dem Polizeirevier war die Schreibarbeit bei FedEx keine große Sache. Natür-lich war das Ganze mit einer Menge Vorschriften und Regeln verbunden – man lud den Karton mit gefrorenem Heilbutt nicht am Dienstagabend bei einem Typen in Presque Isle, Maine, ein und liefer-

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te ihn am nächsten Tag in Carmel, Kalifornien, ab, es sei denn, eine Menge Leute machten ihre Arbeit richtig, das heißt nach Vorschrift.

Das war für Charlie in Ordnung. Ein Teil von ihm hielt auf Ordnung und Disziplin. Genauso wie es einen anderen Teil gab, der sich zu dem ehrli-chen, ungekünstelten Lebensstil hingezogen fühlte, der im Robert-Frost-Land so weit verbreitet war. Er hatte die kleinen New Hampshire-Städte mit ihren weißen Kirchturmspitzen, den Steinwällen und den besserwisserischen Postamtsvorstehern lieben gelernt.

Noch immer dachte er über diese Dinge nach, als er auf den Firmenparkplatz von Lebanon einbog, den Wagen auf einem freien Parkplatz abstellte und in die Fahrzeughalle ging. Es waren schon andere Kurierfahrer da, von denen einige die morgendli-chen Kontrollen durchführten und andere in klei-nen Gruppen beisammenstanden, Kaffee tranken und darauf warteten, den CTV entladen zu können. Charlie ging zum Stempeln in den Fahrerraum, nahm seine Ausrüstung und eilte zu seinem Fahr-zeug hinaus, ein Grumman-Bus, der lief, als hätte er eine Kontrollvorrichtung für die alte Geschwindig-keitsbegrenzung von fünfundfünzig Meilen. Wäh-rend er das Fahrzeug der üblichen Kontrolle unter-zog, begann er sich ein wenig schwindelig zu füh-len, als spürte er eine Migräne aufkommen.

Was nicht sein konnte. Er bekam selten Migräne und fragte sich daher,

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warum er überhaupt in diese Richtung dachte. Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück, atmete tief durch und schaltete das Radio und den Bordcom-puter ein, der DADS-Einheit genannt wurde – ein Akronym für eine Reihe technischer Begriffe, die er sich nie würde merken können. Eine weitere selt-same Empfindung durchfuhr seinen Körper – so als säße er in völliger Dunkelheit auf Eisenbahn-schienen und würde plötzlich von den Scheinwer-fern einer mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zurasenden Lokomotive durchbohrt. Etwas ging in seinem Kopf vor. Das Gefühl eines bevor-stehenden großen Ereignisses oder Wandels, dro-hend, unheilvoll und voller Omen – tatsächlich wurde ihm schwindelig davon.

Was ging mit ihm vor? »He, Charlie, bist du okay?«, fragte Harold

Shaw, der Fahrer des Trucks zu seiner Rechten. Shaw hatte gerade seine Fahrertür geöffnet und wollte auf den Garagenboden hinabspringen, als er gemerkt hatte, dass Charlie sehr unsicher wirkte.

»… ich weiß nicht … Ich fühle mich irgendwie merkwürdig …«

Charlie konnte spüren, wie er das Gleichgewicht verlor, und ließ sich auf den Stufen der Beifahrer-seite langsam in eine sitzende Position nieder. Harold sah ihn zunehmend besorgt an. Als Charlie wieder sprach, hörte er sich selbst, als lausche er einem Fremden. »Hat keinen Zweck zu schrein. Weil keiner hier is’, der dich hör’n kann.«

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Er sprach die Worte bedächtig aus, voller Ver-zweiflung und vielleicht noch etwas, was Entsetzen nahe kam. Sein ausgeprägter Long-Island-Akzent war verschwunden und durch einen leicht westli-chen Tonfall ersetzt worden.

»Was hast du gesagt?«, fragte Harold. »Du has’ dieses Mal bestimmt alles geregelt … das

sieht ziemlich schlimm aus … o ja.« »Charlie, wovon redest du?« Die Frage wirkte wie ein Schlüsselwort, das je-

manden aus einer Trance zurückholte. Jäh wieder völlig klar, aber erschreckt, sah Charlie seinen Freund an. »Ich weiß nicht. Ich hörte mich reden, aber es war, als lauschte ich jemand anderem!«

»Hast du dir den Kopf gestoßen oder so?«, frag-te Harold und lächelte in dem Versuch, die Situa-tion herunterzuspielen, ließ aber wieder davon ab, als er den ernsten Ausdruck auf Charlies Gesicht sah.

»Nein, nicht dass ich wüsste …« »Nun«, sagte Harold und schlug ihm auf die

Schulter, »dann los, die Fracht kommt das Band herab, und wir haben heute Dosendienst.«

»Dosen« waren die Metallfrachtcontainer, die so gebaut waren, dass sie wie riesige Bauklötze genau in den Rumpf eines Frachtflugzeuges passten. Je-den Morgen brachte ein Neunachser vier Container mit Dokumenten und Paketen zur Auslieferungs-stelle, die auf die alte Art entladen werden mussten – per Hand und mit Muskelkraft. Charlie mochte

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diese Arbeit, da er mit seinen fünfzig Jahren nicht viel Training bekam und sie wie eine kostenlose Mitgliedschaft in einem Fitnessclub betrachtete.

Der restliche Vormittag verging ohne Zwischen-fall, und Charlie absolvierte seine Auslieferungs-tour durch die Städte Plainfield und Cornish. Er liebte diese Strecke durch die von Granitadern durchzogenen Berge und die Täler, Flüsse und überdachten Brücken, Scheunen und Steinwälle überall. Aber während er eine Pause machte und Thunfisch auf jüdischem Brot aß, kam die Stimme zurück.

»Hallloooo!«, rief er plötzlich, lang und klagend, von wissender Traurigkeit geprägt. »Ist da draußen jemand? Irgendjemand! Gottverdammt! Könnt ihr mich hören?«

Seine Stimme hatte wieder denselben seltsamen Tonfall und den Akzent wie am Morgen ange-nommen und brach aus ihm hervor wie Schimpf-worte bei einem Tourette-Patienten, unkontrollier-bar und unerwartet.

Was geschah mit ihm? Hatte er sich irgendeine seltsame Krankheit zugezogen, die ihn befiel wie Efeu einen Schornstein und ihn allmählich in Be-sitz nahm? Charlie Green erschauderte bei dem bloßen Gedanken daran. So erschreckend banal dem Ende entgegenzugehen schien ihm eine abso-lut unschickliche Art zu sterben. Und viel zu lang-sam für ihn – aber auch für Joan und seine Kinder, die, auch wenn sie alle erwachsen und bereits ver-

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heiratet waren, gelegentliche Pilgerreisen zurück nach Hause machen müssten, um zu sehen, wie sehr sich Daddys Zustand in diesem Jahr wieder verschlechtert hätte.

Er würde mit seinem Grumman zunächst die Bergstraße verlassen. Auch wenn dieser Gedanke vernünftig war, fühlte sich Charlie nicht besser. »Da draußen muss doch jemand sein«, sagte die Stimme. Verzweiflung schwang darin mit, von ei-nem unzureichenden Gefühl der Hoffnung ge-nährt.

Dann, einfach so und völlig unvermittelt, wich das Gefühl, die Stimme eines anderen Menschen zu hören, jemandem als Sprachrohr zu dienen. Nicht ganz, wie er merkte, aber so, als wende ihm die Macht, welche auch immer ihn beeinflusste, zumindest im Moment den Rücken.

Mit dem Gefühl, seine Gedanken wieder voll-kommen unter Kontrolle zu haben, schwor sich Charlie, dieser Sache rasch auf den Grund zu ge-hen. Es hatte keinen Zweck, es verbergen zu wol-len, sich einzureden, es geschähe nicht, oder sich Gedanken darüber zu machen, was die Leute über ihn dachten. Charlie hatte sein Leben lang in der Überzeugung gelebt, dass er selbst alle Schwierig-keiten und Hindernisse aus dem Weg würde räu-men können.

Und so war es auch immer gewesen. Charlie war einer der Guten. Alle mochten ihn, und er war da-für bekannt, hart, aber fair zu sein. Ein Kerl, der

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alles für dich tun würde, ein Kerl, der rücksichts-voll und hilfsbereit war, ohne ein Märtyrer zu sein.

Das Erste, was er tun musste, war, Joan zu erzäh-len, was vor sich ging. Sie war seit fast achtund-zwanzig Jahren seine Frau und beste Freundin. Er würde jetzt nicht damit anfangen, Dinge vor ihr geheim zu halten.

»… das ist so ungefähr alles«, schloss er, als er an diesem Abend auf ihrer Bettkante saß. Der Raum war dunkel, bis auf das unheimliche blaue Schim-mern des Fernsehers, in dem die Elf-Uhr-Nachrichten liefen.

»Charlie«, sagte Joan und nahm seine Hand, »du weißt, dass ich dir glaube.«

»Das habe ich nie bezweifelt. Aber wir müssen etwas dagegen unternehmen. Kannst du morgen Früh Dartmouth-Hitchcock anrufen? Sehen, ob du bei jemandem einen Termin für mich bekommen kannst?«

Sie nickte. »Ich werde dich von unterwegs anrufen. Wenn

nicht, fahre ich nach der Arbeit einfach zur Not-aufnahme. Früher oder später werde ich mit je-mandem sprechen.«

»Charlie, das macht mir ein bisschen Angst.« Er sah sie an und lächelte. Sie war anders als der

sommersprossige Rotschopf, dem er vor dreißig Jahren begegnet war. Mehr Falten und Linien, graue Haare, weniger Farbe, weniger Glanz und

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Spannkraft. Aber es war seltsam, dachte Charlie: Sie war jetzt weitaus hübscher, als sie mit zwanzig gewesen war.

»Hab keine Angst. Es geht mir gut. Irgendetwas geschieht, und wir werden herausfinden, was es ist.«

»Okay, Charlie.« Sie küssten sich. »Gute Nacht. Ich liebe dich.«

Er schaltete den Fernseher aus, und sie rückte näher an ihn heran, umarmte ihn fest und ließ ihn nicht los. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so geschlafen hatten. Vielleicht auf dem College. Aber es gefiel ihm.

»… und ich werde dich immer lieben«, sagte Char-lie mit dieser Stimme, die nicht seine war. Er hatte von einem dunklen Ort geträumt, irgendwo, wo es keine Luft und keinen Raum gab. Er hatte sich mit seiner dröhnenden Cowboystimme selbst geweckt.

»Margaret, auch wenn ich nicht immer richtig ge-handelt habe, bist du für mich stets …«

»Margaret?«, fragte Joan. Ihr entsetzter Ausruf blieb unbemerkt, während Charlie auf sehr lang-same und bedächtige Art weitersprach, als diktiere er seine Worte einem Stenografen.

»… das Wichtigste in meinem Leben. Ich werde dich mehr vermissen, als du jemals wissen kannst. Es ist schwer, so zu denken, aber ich muss es tun. Ich bin mir nicht sicher, wie die Gesetze in Arizona sind, aber ich weiß, dass ich kein Testament gemacht habe, sodass … wenn sie diese Notiz finden … und ich hoffe sicher, dass sie mich hier unten früher oder später finden …

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Ich möchte dies als Beleg dafür, dass alles, was wir all diese Jahre hatten, an dich geht.«

»Charlie!« Joans Stimme klang schrill und pa-nisch.

Er spürte, wie sich ihre Finger in seine Arme gruben, aber der Schmerz genügte nicht, um das Gewebe zu durchbrechen, das ihn hielt. Er sprach in seinem halbwachen Zustand weiter: »… und ich bin kein Anwalt, also weiß ich nicht, wie ich das an-ders formulieren soll als so, wie ich es immer zu sagen versucht habe. So wahr mir Gott helfe, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, Scott Raney.«

»Wovon sprichst du?«, fragte Joan, und ihre Stimme durchdrang den Kokon, der ihn um-schloss. »Wer ist Margaret?«

Als Charlie sich zu ihr umwandte, bemerkte er, dass es draußen schon fast dämmerte, und es kam ihm der Gedanke, dass es draußen immer noch dunkel wäre …

… wo draußen? Er wusste es nicht. Charlie konnte den Gedanken nicht vervoll-

ständigen. Er war ebenso wirr und bruchstückhaft wie die Satzfragmente, die ihm entwichen waren.

»Charlie!« »Joan, es ist in Ordnung. Ich höre dich, Lieb-

ling.« Er fuhr sich mit einer Hand über den fast kahlen Kopf, eine Gewohnheit, die dadurch ent-standen war, dass er sich früher das lange Haar aus den Augen gestrichen hatte.

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»Wer ist Margaret?« Ihre Stimme klang leise, kontrolliert, aber er konnte die Mischung aus Qual und Verletztheit hinter ihren Worten hören.

»Ich weiß es nicht … jemand, den die andere Stimme kennt, würde ich sagen.«

»Die andere Stimme?« Charlie sah dem Gesichtsausdruck seiner Frau

an, was sie nicht ausdrücken konnte: Sie wusste, dass jemand anderes durch ihren Mann sprach, wie eine Stimme durchs Radio, aber aus Angst, es da-mit realer zu machen, war sie noch nicht bereit, es zuzugeben.

»Du weißt, was ich meine, Joan. Ich kann es ebenso wenig erklären wie du, aber es hat keinen Sinn, so zu tun, als wäre nichts.«

»Ja, aber …« »Aber was? Glaubst du, ich träfe eine andere

Frau, deren Name Margaret ist?« Charlie saß auf der Bettkante und sah sie hilflos an.

Joan senkte einen Moment den Blick. »Nein … nein, das glaube ich wirklich nicht.«

»Dann wollen wir versuchen, uns selbst zu helfen«, sagte Charlie. »Wir müssen alles, was ich sage, und alles, was ich bereits gesagt habe, notieren. Je mehr wir über diese Stimme wissen, desto leichter sollte es sein herauszufinden, was es damit auf sich hat.«

Er erhob sich und verließ das Schlafzimmer. »Wohin gehst du?«, fragte seine Frau. »Es ist mit-

ten in der Nacht.« »Ich bin gleich zurück«, antwortete Charlie, eilte

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zum Schreibtisch im Arbeitszimmer, ergriff einen Kugelschreiber und ein Notizbuch von einem der Regale und eilte zurück.

»Was tust du? Das ist für meine Rezepte.« Er blätterte zu den letzten Seiten durch, die leer

waren. »Nun, im Moment muss es für etwas ande-res herhalten«, sagte er und hob den Kugelschrei-ber an. »Jetzt musst du mir helfen, Joan. Versuche, dich an alles zu erinnern, was ich gesagt habe. Du weißt schon, mit dieser anderen Stimme.«

Sie wandte den Blick von ihm ab und rang die Hände. Tränen glänzten in ihren Augenwinkeln. »Charlie, ich kann nicht.«

Er lächelte und berührte zärtlich ihre Wange. Sie hatte Angst vor dem, was sie vielleicht entdecken könnten. Er auch, aber er durfte nicht zulassen, dass sie diesen Versuch abbrachen. »Gewiss kannst du es – du willst nur nicht. Aber du kannst es, Liebling, ich weiß, dass du es kannst.«

Joan nickte, schwieg jedoch. Charlie versuchte, den Anfang zu machen, indem er sich an so viel wie möglich von dem erinnerte, was die Jungs ihm in der FedEx-Halle gesagt hatten: dass es so klang, als hätte die Person, die »durch« ihn sprach, einen Unfall gehabt, dass er sich anhörte, als wäre er in Schwierigkeiten oder hätte Schmerzen, dass er ir-gendwo war, wo er glaubte, dass niemand ihn hö-ren könnte, wenn er um Hilfe rief.

Charlie sprach langsam und schrieb alles akri-bisch in das Notizbuch. Dann sah er Joan erwar-

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tungsvoll an. »An mehr kann ich mich nicht erin-nern. Jetzt bist du an der Reihe.«

Seine Frau wiegte sich auf dem Bett sanft vor und zurück, schloss die Augen und zwang sich, die Erinnerung an das wachzurufen, was Charlie von sich gegeben hatte. »Es klang, als hättest du ein Testament aufgesetzt. Du sagtest, du hättest keines und wärst nicht sicher, wie die Gesetze in Arizona seien, was auch immer das bedeutet. Und du sprachst darüber, dass jemand namens Margaret alles bekommen sollte und sie dich wahrscheinlich irgendwann finden würden …«

Joan hielt inne, und ihr war deutlich anzusehen, wie aufgeregt sie war. »Hier unten! Das hast du gesagt, ›hier unten‹. Das könnte etwas bedeuten, richtig?«

Charlie hatte alles aufgeschrieben und nickte mehrmals. »Ja, Liebling, das bedeutet bestimmt etwas. Kannst du dich an noch etwas erinnern?«

»Du sagtest deinen Namen, aber ich weiß nicht mehr, wie er lautete. Oh, Charlie, es tut mir leid!« Joan wirkte traurig. »Ich hörte dich den Namen einer anderen Frau erwähnen und habe mich ver-mutlich darauf eingeschossen. Ich weiß nicht, ob ich danach noch weiter zugehört habe.«

»Du hast es bestimmt gehört«, sagte er sanft. »Zeugen hören mehr, als ihnen bewusst ist. Ent-spann dich einfach, und wir werden sehen, ob die Erinnerung daran sich wieder einstellt.«

Joan saß mit geschlossenen Augen da, hielt die

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Tränen zurück, wiegte sich immer noch sanft und schüttelte den Kopf. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen, das die Möglichkeit leugnen möchte, dass etwas so Normalem wie der Dunkelheit Böses innewohnt.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Teil des Namens Scott war. Vorname oder Nachname – o Gott, Charlie, ich kann mich nicht erinnern. Es tut mir leid. Es tut mir so leid!«

Charlie lächelte. »Joan, du hast es großartig ge-macht. Ich habe jetzt schon einiges beisammen!«

Auch wenn es für die meisten Neuengländer ei-ne unchristliche Zeit war, wusste er, dass er ohne-hin nicht mehr schlafen könnte. Außerdem hatte er in Suffolk County Freunde, Jungs, die noch im-mer auf dem Polizeirevier arbeiteten, und Jungs, die noch immer Leute an den richtigen Stellen kannten, zum Beispiel beim FBI, auch wenn sie inzwischen im Ruhestand waren.

Charlie handelte rasch, verließ sich auf seine Er-fahrung und seine Übung als Ermittler und hatte bald einige Stichworte zusammengestellt, anhand derer er seinen Kontaktpersonen genaue Anwei-sungen geben würde. Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer im Polizeirevier Smit-htown, die er auswendig kannte.

»Suffolk County Police«, sagte eine männliche Stimme. Charlie hatte auf der »Hausleitung« ange-rufen, die nur von Polizeikräften und Mitarbeitern benutzt wurde. »Was gibt’s?«

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»Hier ist Detective Sergeant Charles Green, im Ruhestand«, sagte Charlie. »Wer ist da?«

»Charlie! Bist du’s wirklich? Hier ist Moe! Moe Gagne!«

»Ja, Moe, ich bin’s. Wie geht es Rachel? Und den Kindern?«

»Kann mich nicht beklagen, aber, he! Es ist vier Uhr dreißig morgens. Bist du in Schwierigkeiten oder was?«

»Nein, nein, nichts dergleichen«, sagte Charlie. »Aber ich muss mit Emil Pornelos sprechen – er ist doch noch da, oder?«

»Poney? Ja, sicher, er ist jetzt hier der große Boss.«

»Kannst du mich mit seiner Mailbox verbinden? Ich muss ihm so schnell wie möglich eine Nach-richt zukommen lassen.«

»Ja, sicher, Charlie, sicher. Und du hast be-stimmt keine Schwierigkeiten?«

»He, ich sagte dir doch, es ist nichts derglei-chen«, antwortete Charlie. »Danke für alles, Moe.«

Der ehemalige Kollege versprach, mit Charlie in Kontakt zu bleiben, und verband ihn dann mit Lieutenant Pomelos’ Mailbox, auf der Charlie eine kurze Nachricht hinterließ, die konkret genug war, um die Neugier des großen Hawaiianers zu we-cken. »Poney, hier ist Charlie Green! Ich brauche von dir eine ASAP-Auskunft. Es könnte um Leben oder Tod gehen, Kumpel.«

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»Dann lass mich dir alles berichten, was ich habe«, sagte Charlie. Er hielt das Telefon fest umklam-mert. Detective Lieutenant Pornelos hatte ihn um 7:30 Uhr zurückgerufen. »Irgendwo in Arizona … Der Name des Burschen ist Scott … könnte der Vor- oder der Nachname sein … Der Name seiner Frau ist Margaret … und ich glaube, er hatte einen schweren Unfall. Er könnte sich verirrt haben oder irgendwo festsitzen oder Schlimmeres. Er sagte et-was darüber, dass niemand ihn ›hier unten‹ jemals hören würde, was vieles bedeuten könnte.«

»Und du hast das aus deinem Kurzwellenra-dio?«, fragte der Detective.

»Ja«, sagte Charlie und erstickte fast an der Lüge. »Auf welcher Frequenz?« »Hm?« Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet,

und er sann hektisch nach einer Antwort, die prä-zise genug war, weitere Nachfragen zu verhindern. »Ich bin mir nicht sicher. Warum? Ich muss auf meinem Empfangsgerät nachsehen.«

»Damit wir Leute darauf ansetzen können, die Frequenz auf weitere Hinweise auf ihn abzuhö-ren.«

»Oh, ja, richtig … sicher«, stammelte Charlie, während er seine Erinnerungen an seine Zeit als Funkamateur durchsuchte. Welche Frequenz wäre plausibel? »Es war irgendwo zwischen … vierzig und dreiundvierzig Metern. Ich erinnere mich nicht genau, und ich war so aufgeregt, dass ich ver-gessen habe, es zu notieren.«

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Emil Pornelos glaubte ihm anscheinend und versprach, die Polizeiarbeit sofort aufzunehmen, bevor er auf Charlies neues Leben in Neuengland kam. Charlie wollte das Gespräch jedoch möglichst rasch beenden, da er wegen seiner kleinen Notlüge ein schlechtes Gewissen hatte. Aber er wusste, dass die meisten Cops nicht viel davon hielten, nach dem »Gefühl« vorzugehen.

Als er schließlich den Hörer auflegte, sammelte Charlie seine Notizen ein. Nun musste er nur noch Joan davon überzeugen, dass alles gut würde.

Poney lachte leise in sich hinein, als er ihn zurück-rief. »Seht ihr euch nie die Nachrichten an, Detec-tive Green?«

»Nun, wir vermeiden es möglichst. Warum? Was hast du herausgefunden?«

»Ein Rancher namens Scott Raney, verheiratet mit Margaret Springer Raney, aus Randell, Arizona, wurde seit drei Tagen vermisst. Der örtliche Sheriff fand sein Pferd, das an ihrem Zaun entlanglief, aber kein Zeichen von Raney. Wir brachten sie auf die Idee, dass er in oder unter etwas gefangen sein könnte, und weißt du was? Sie haben ihn gefunden! Dreißig Fuß tief in einem verlassenen Brunnen.«

Charlies Wangen hatten von dem immer breiter werdenden Grinsen auf seinem Gesicht schon zu schmerzen begonnen. Er war wohl von Gott aus-erwählt worden, das Leben eines Menschen zu ret-ten, und er hatte es geschafft!

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»Aber da ist noch was«, fuhr Lieutenant Pornelo fort.

»Was? Geht es dem Mann gut? Lebt er noch?« »Oh, sicher, Charlie, es geht ihm gut. Aber weißt

du, was wirklich seltsam ist? Scott Raney hatte gar keinen Kurzwellensender dort unten im Brunnen.«

Charlie schwieg. Er bekämpfte einen Moment den Drang, einfach aufzulegen, vor der ganzen Ge-schichte davonzulaufen.

»Charlie, bist du noch da?« »Ja, ich bin hier.« »Was sagst du also dazu, hm, Kumpel? Außer-

dem sagen mir meine Techniker, dass ein Sender so tief unter der Erde vollkommen nutzlos wäre. Ziemlich verrückt, hm?«

»Völlig verrückt, Poney.« Charlie schluckte schwer. Seine Lüge würde jetzt noch schlimmer, und er hasste es, die Unwahrheit sagen zu müssen. »Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll – ich hörte, wie der Mann zu mir sprach. Was kann ich sonst sagen?«

»Charlie …« Er konnte Poney fast verschlagen grinsen hören. »Komm schon, sag mir, was los ist. Woher wusstest du von diesem Burschen?«

»Aber das weißt du doch: Ich habe ihn reden hören.«

»Aber nicht auf einem Kurzwellenradio …« »Ich kann es nicht erklären, Poney. Ich schwöre,

ich kann nicht.« »Okay, Charlie, ich dachte, du hättest vielleicht

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etwas für mich – wie du es gemacht hast, woher du es wusstest. Ohne deine Informationen wäre Raney wahrscheinlich ums Leben gekommen.«

»Danke, Poney, danke für alles.« »Kein Problem, Sarge. Wir bleiben in Verbin-

dung.« Charlie Green lehnte sich in seinem Lesesessel

zurück und schlief ein. Und hatte seinen ersten Traum von der Lady im Licht.

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TEIL ZWEI

Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen mit den sieben letzten Plagen getragen hatten. Er sagte zu mir: Komm, ich will dir die Braut zeigen, die Frau des Lammes.

Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, Vers 9

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Peter Carenza – Vatikanstadt 14. September 2000

eter beobachtete, wie Marion zur Tür der päpstlichen Wohnung hereinkam und sie leise

hinter sich schloss. Die aus einem Träger, dem Fah-rer und der Schweizergarde bestehende Begleitung hatte sich zurückgezogen, und Marion wirkte sehr verletzlich. Sie war über einen Monat fortgewesen, da sie eine Zeit lang zur Erholung in Etiennes Kon-vent geblieben war.

»Willkommen zu Hause«, sagte er, ohne seine gegenwärtige Stimmung preiszugeben. »Die Ärzte sagen, es geht dir gut. Tatsächlich sagten sie das schon vor einer Weile.«

»Ja, das stimmt vermutlich.« Sie blieb an der Tür stehen, die Arme vor der

Brust gekreuzt. Er fand diese Haltung anziehend, weil Marion so wehrlos wirkte. Ihr dunkles Haar und die grünen Augen, von den kantigen Flächen ihres Gesichts betont, hatten sie stets so bemer-kenswert aussehen lassen, so einzigartig. Als Fern-sehjournalistin hatte sie auf dem Bildschirm stets großartig ausgesehen.

»Es wird vermutlich nicht viel nützen, wenn ich

P

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dir sage, dass es mir leidtut.« Tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch zur Reue fähig war, aber er wollte es zumindest versu-chen. Er glaubte, sie zu lieben, fragte sich jedoch, ob seine Gefühle noch lebendig waren.

»Ich weiß nicht, Peter. Niemand kann mehr mit dir reden. Du veränderst dich, und wenn es dich in den Wahnsinn treibt, wenn ich dir das sage, nun, ich kann nicht viel dagegen tun. Offen gesagt ver-stehe ich nicht, warum du mich in deiner Nähe haben willst.«

»Das weißt du doch – wir werden heiraten. Wir müssen dem Rest der Welt ein Beispiel geben.«

»Warum versuchst du deine Kirche zu vernich-ten?«

»Das tue ich nicht. Ich zerre sie nur in ein neues Jahrhundert, auch wenn sie um sich tritt und schreit.«

»So nennst du es also?« Sie entfernte sich von ihm, ging in Richtung der Schlafzimmer. Ganz of-fensichtlich verhielt sie sich ihm gegenüber deut-lich kühler als früher, und er bedauerte zutiefst, bei ihrem letzten Zusammensein die Kontrolle über sich verloren zu haben. Es wäre das Beste für alle, wenn er sie dazu bewegen könnte, wieder in seiner unmittelbaren Umgebung zu leben, aber er wusste, dass das Zeit brauchen würde.

»Nun, ich halte es beispielsweise für an der Zeit, dass die Kirche die Euthanasie befürwortet. Das ist doch vernünftig – besonders, wenn ein Mensch so schneller zu Gott zurückkehren möchte.«

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»Peter, glaubst du wirklich, das sei dein wahrer Grund?«

»Wichtiger ist, was die Welt glaubt, und viele Ka-tholiken stimmen mit mir überein – wir brauchen Veränderungen, um überleben zu können.«

Sie schwieg und ging weiter. Er holte sie ein und berührte sie an der Schulter. »Du und meine Mut-ter seid Freundinnen geworden, wie ich höre.«

»Sie war so besorgt über das, was geschehen ist, dass sie mich sehen wollte, um mich zu trösten. Ich bin froh, dass sie es getan hat. Sie ist ein wun-dervoller Mensch.«

Er lächelte, schwieg jedoch. Marion runzelte die Stirn und entzog sich ihm.

»Das würdest du wissen, wenn du häufiger mit ihr Kontakt hättest.«

»Wir hatten nie die Zeit, einander kennenzuler-nen.«

Nun lächelte sie sardonisch. »Ich habe die meiste Zeit in den Archiven gear-

beitet.« Er folgte ihr den Flur hinab. »Wonach suchst du?«, fragte sie, und er hatte

den Eindruck, dass sie ehrlich interessiert war. Dies könnte der Zugang sein, den er suchte, um

ihre Unterstützung und Treue zurückzuerlangen. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, ich wer-de es erkennen, wenn ich es finde, wenn ich es in Händen halte.«

Sie betrachtete ihn mit einem Ausdruck, den er nicht sofort deuten konnte. Eine Mischung aus

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Angst und Belustigung. Er fuhr fort: »Marion, ich brauche deine Hilfe.«

»Du hattest sie zuvor, freiwillig, und du hast sie verwirkt.«

»Das weiß ich, aber ich brauche dich jetzt.« »Woher willst du wissen, ob du mir jemals wie-

der trauen kannst, nach dem, was du mir angetan hast?«

»Weil du solch ein guter Mensch bist, Marion.« »Du verdienst mich nicht, Peter. Und wenn ich

nicht ein weitaus schlechterer Mensch bin, als ich jemals dachte, verdiene ich dich, so sicher wie die Hölle, auch nicht.« Sie stolzierte ins Schlafzimmer und schloss die Tür vor seiner Nase.

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Pater Giovanni Francesco – Vatikanstadt 24. August 2000

eder Schatten, jeder Laut lähmte ihn. Seine Sinne waren so geschärft, dass er sich desorientiert, fast

verwirrt fühlte. Giovanni erwartete überall Schwie-rigkeiten und wusste, dass sie ihn letztendlich fin-den würden. Er musste aus dieser verdammten Stadt heraus! Dieser Gedanke schien ihn zu ver-höhnen, während er sich eine schmale, verkom-mene Gasse entlangtastete, die nach Müll und ver-dorbenem Fisch stank. Licht aus einer unbekann-ten Quelle versuchte erfolglos, sich um die ferne Ecke zu stehlen. Die Dunkelheit kann dein Freund oder dein Feind sein, je nachdem, wie man es be-trachtete, dachte er.

Was wäre sie heute Nacht? Seine Flucht war von einem einzigen Gedanken

geprägt – dass Peter Carenza seinen Tod befohlen hatte. Kaum zu glauben. Wie dem auch sei, Giovanni fühlte sich in gewisser Weise geschmei-chelt – Carenza empfand ihn als Bedrohung. Aber warum? Welche Kräfte könnte er schon gegen den jungen Papst aufbringen, der immer mächtiger zu werden schien? Und was war mit Lareggia und

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Schwester Victorianna? Waren auch Mörder zu ih-ren Wohnungen geschickt worden? Waren sie be-reits tot?

Er konnte nicht verschwinden, ohne eine Ant-wort auf diese Fragen zu erhalten, ohne versucht zu haben, sie zu warnen.

Schließlich hatte er die Docks am Tiber ohne Zwischenfälle erreicht. Das Gelände war ein Gewirr aus Lagerhäusern, Hellingen, Werften und dem Yachthafen wohlhabender Römer. Obwohl Giovanni seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, kannte er das Hafenviertel gut. Er war durch Gas-sen und über erhöhte Fußwege südwärts gelaufen, auf das Dock eines speziellen Fischers zu, der Francesco und dem SSV in den vergangenen Jahren verschiedene Dienste erwiesen hatte.

Wegen seiner extremen Vorsicht kam er nur langsam voran. Er wusste nicht, wie sich die Dinge in seiner Wohnung entwickelt hatten oder ob er verfolgt wurde. Besser, das Schlimmste anzuneh-men und so nicht überrascht zu werden. Er würde …

Jemand sprang aus dem Schatten, eine hagere Gestalt, die in einem nicht einsehbaren Eingang gekauert hatte. So wie der Mann schwankte und stierte, war er offensichtlich angeschlagen – oder er war gut darin, so zu tun, als ob. Giovanni ver-schmolz mit den Schatten, drückte sich an die feuchten Ziegelsteine einer Hauswand. Die dürre Gestalt wankte an ihm vorüber und bewegte sich

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torkelnd auf das entgegengesetzte Ende der Gasse zu.

Giovanni beobachtete den Betrunkenen, wäh-rend er die Handfeuerwaffe aus seiner Jacke nahm und auf den Davonwankenden richtete, der sich langsam von ihm entfernte. Er würde in seinem hohen Alter kein Risiko eingehen – wenn der Be-trunkene irgendwelche Anzeichen machte, sich umzuwenden oder ihm entgegenzutreten, würde der Priester einige schallgedämpfte Schüsse auf ihn abgeben.

Aber der Bursche stolperte weiter, und seine Sil-houette verschwand schließlich in der Dunkelheit. Die engen, feuchten Durchgänge entlangzugehen war wie das Durchlaufen eines Labyrinths, aber Giovanni bewegte sich instinktiv. Die Docks hatten sich seit seiner Jugendzeit kaum verändert, und er ging planvoll voran, schlich um Ecken und mied das aus einigen Lagerhausfenstern dringende Licht, bis er schließlich zu den Stufen von Enzos Boots-haus kam. Die Treppe führte zu einem Dachboden und einer unbeleuchteten Tür. Giovanni stieg laut-los die Stufen hinauf, drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und schlüpfte hinein.

Von mehreren Öllampen kärglich beleuchtet, roch der Schuppen nach dem Fluss und nach Din-gen, die besser im Meer geblieben wären. Voller Netze, Landungshaken, Riemen, Segeltuchfetzen und Maschinenteilen, die niemals wieder funktio-nieren würden, machte er eher den Eindruck eines

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Schrottplatzes als eines Wohnquartiers. Tatsächlich war er jedoch beides. In der entgegengesetzten Ecke, unter einer einzelnen, sich nach oben ver-jüngenden Lampe, saß ein bärtiger Mann unbe-stimmbaren Alters und schaute auf einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Wenn er gehört hatte, wie sich die Hintertür öffnete oder wie sich Giovanni auf dem schmutzigen Boden näherte, ließ er es sich nicht anmerken.

Plötzlich jedoch fuhr er zu Giovanni herum und offenbarte eine Harpunenbüchse, die an seinem ausgestreckten Bein gelehnt hatte.

»Bleib genau da stehen, mein Freund, bevor ich dich in Fischfutter verwandle …!« Das Kinn des Mannes sank langsam herab, als er seinen uneinge-ladenen Gast schließlich erkannte. Er ließ die Waf-fe sinken.

»Enzo, bitte, es ist dein Beichtvater.« Giovanni kicherte.

»Jesus! Pater Francesco, was tun Sie hier?« Enzo sprang auf, kam zu Giovanni und hieß ihn mit offenen Armen willkommen.

Giovanni setzte sich und gab dem Seemann eine kurze Zusammenfassung der abendlichen Ereignis-se.

»Der Bastard! Ich wusste, dass etwas an ihm seltsam war, besonders da ich von Ihnen nichts darüber gehört habe. Schweigen kann manchmal laut sein.«

Giovanni sah Enzo an und staunte über seine

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Gabe, von der Zeit unberührt zu bleiben. In den zwanzig Jahren, in denen sie schon Geschäfte mit-einander machten, hatte er sich kaum verändert – ein grob gestutzter grau melierter Schnurrbart, kleine, blutunterlaufene Augen und die schwärzes-ten Zähne, die Giovanni je gesehen hatte. Er konn-te ebenso gut ein viel beanspruchter Vierzigjähriger wie ein vitaler Sechzigjähriger sein.

»Hast du ein Telefon?« »Ja, aber ich muss es erst einstöpseln. Ich benut-

ze es nicht oft. Und«, sagte er lächelnd, »so spät abends erwarte ich keine Anrufe.«

Giovanni nickte. »Hast du immer noch die Aus-rüstung vom SSV?«

»Sicher! Warum sollte ich sie loswerden wol-len?«

»Gut. Sie könnte dein Leben retten.« Das Telefon war alt, mit einer sich langsam dre-

henden Wählscheibe, aber immerhin war eine kleine Plastikdose daran angeschlossen – moderns-te Technik, die verhinderte, dass ein auf dieser Lei-tung geführter Anruf zurückverfolgt werden konn-te.

Giovanni wählte. Während er beobachtete, wie die Wählscheibe wieder in ihre Ausgangsposition zurückglitt, dachte er, die Verbindung käme viel-leicht niemals zustande. Schließlich jedoch waren wohlvertraute Klingelgeräusche zu hören. Giovan-ni wartete nervös und fragte sich, ob jemand ab-nehmen würde.

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Er ließ es lange läuten. Kein gutes Zeichen. Den toten Hörer an seinen Schädel gedrückt und von den erschreckend kalten Augen Enzos fixiert, fühlte er sich plötzlich töricht.

Dann, gerade als er auflegen wollte, sagte eine raue Stimme: »Hallo?«

»Paolo, sind Sie in Ordnung?« »Hm? Wer ist da?« Der Kardinal klang voll-

kommen verschlafen. Ein gutes Zeichen. Giovanni gab sich zu erkennen und informierte

Lareggia über die jüngsten Ereignisse. Sein Kollege war entsetzt. »Was werden Sie unternehmen? Was sollen wir tun?«

»Ich muss verschwinden.« »Wie? Wohin?« Paolo Lareggia wurde von Panik

ergriffen. Seine Stimme war so schrill geworden, dass Enzo sie durch den alten Telefonhörer krei-schen hörte. Der Seemann grinste hämisch und schüttelte den Kopf.

»Beruhigen Sie sich!«, sagte Giovanni und flüs-terte dann energisch: »Hören Sie mir zu. Wenn sie heute Abend nicht gekommen sind, um Sie zu tö-ten, dann wird Ihnen vermutlich nichts gesche-hen.«

»Glauben Sie?« Der Kardinal atmete durch und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekom-men.

»Ja«, sagte Giovanni, der sich nicht wirklich si-cher war, ob er glaubte, was er gerade gesagt hatte. Aber er nahm an, dass Paolo Lareggia zumindest

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heute Abend nicht in Gefahr wäre. »Was aber nicht bedeutet, dass Sie untätig bleiben oder weniger umsichtig sein sollten. Nehmen Sie Kontakt mit Victorianna auf. Sagen Sie ihr, was geschehen ist.«

»’Vanni, ich weiß nichts über diese ganze Ge-schichte … Sie müssen mich instruieren.«

»Peter hat Sie aus einem bestimmten Grund ver-schont. Er empfindet Sie nicht als Bedrohung. Und ich habe das Gefühl, dass das bei Victorianna noch weniger der Fall ist.«

»Also hat er Ihnen nicht mehr getraut?« »Das ist der Punkt, ja.« »Wohin werden Sie gehen?« Giovanni sah Enzo an und schüttelte zögernd

den Kopf. »Das kann ich nicht verraten.« »Woher werde ich wissen, ob Sie in Sicherheit

sind?« »Ich werde Mittel und Wege finden, mich zu

melden. Im Moment müssen Sie sehr wachsam sein, sehr vorsichtig. Ich werde vielleicht versu-chen, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Wenn ich es tue, werde ich Informationen brauchen. Das wird mein einziger Schutz gegen Peter und seine Ma-chenschaften sein, wie auch immer diese aussehen mögen.«

»Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen«, sagte der Kardinal, »aber Sie wissen, dass ich nicht zum Spion geeignet bin.«

»Tun Sie einfach Ihr Bestes.« »Worum geht es bei alledem, ’Vanni? Was haben

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wir getan? Es gibt Gerüchte, dass Peter die Kirche zu vernichten versucht.«

Giovanni lachte sarkastisch. »Oh, es könnte noch viel schlimmer kommen, Paolo. Er hat viel-leicht die ganze Welt im Sinn.«

»Kann man ihn aufhalten?« »Ich weiß es nicht.« Eine Pause entstand, und Giovanni konnte die

sich in seinem Kollegen aufbauende Anspannung und Angst spüren. Dann: »Ich habe Angst, Pater. Große Angst.«

»Ich auch.« »Nein«, sagte der Kardinal. »Ich glaube, Sie wis-

sen nicht, was ich meine … nicht so sehr um mein Leben …«

»Um Ihre Seele«, sagte Giovanni. »Ja, ich verste-he. Nur zu gut.«

»Ich muss ununterbrochen daran denken. Was wir getan haben, ’Vanni – wird Gott uns auch nur annähernd vergeben können?«

»Wenn Sie die Absolution wollen – ich bin Pries-ter, erinnern Sie sich? In nomine patris et filius …«

»Seien Sie nicht frevlerisch!« »Dann reden Sie nicht wie ein Narr. Wenn Sie

wahrhaft glauben, dann sollten Sie wissen, dass Gott uns bereits vergeben hat. Es gibt keine Sünde, die zu groß ist …«

Paolo lachte leise. »Das war vor uns … und un-serer großartigen Idee!«

»Tatsächlich war es meine Idee, wenn Sie sich

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dadurch besser fühlen. Oder sollte ich lieber sagen: weniger schuldig?«

Der Kardinal antwortete nicht. Er räusperte sich und atmete tief ein. »Gibt es hier niemanden, dem ich vertrauen kann? Wer könnte mir helfen?«

»Ich weiß es nicht.« »Bitte, Giovanni, denken Sie nach!« Angst

schwang in Paolos Stimme mit. Es war traurig, ei-nen Mann so reden zu hören.

»Nun, es könnte tatsächlich jemanden geben«, sagte Giovanni, während er nervös über sein kno-chiges Kinn strich. »Achten Sie genau auf das, was Sie morgen Früh hören.«

»Was meinen Sie?« »Finden Sie so unauffällig wie möglich den Na-

men des Agenten heraus, der mir heute Abend ge-holfen hat. Er könnte vielleicht auch für Sie und Victorianna von Nutzen sein.«

»Glauben Sie das wirklich?« »Paolo, ich bin mir nicht sicher, aber er hat sich

immerhin von mir eine Kugel in den Arm schießen lassen.« Giovanni rief sich die Szene in diesem Moment in Erinnerung. »Und ich, undankbar wie ich bin, habe ihn nicht einmal nach seinem Na-men gefragt.«

»Ich werde ihn herausfinden«, sagte Paolo. »Gut. Nun, bleiben Sie wachsam. Sie werden

wieder von mir hören.« »Danke, Pater«, sagte Paolo. »Ich wusste nicht,

dass Sie mich als Freund betrachten.«

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Ein weiteres leicht nervöses Lachen. »Ich wusste es auch nicht. Habe ich Sie deshalb angerufen, Paolo?«

»Ja, das nehme ich an.« »Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Mann wäre,

der Freunde haben könnte, nur Feinde.« »Wo auch immer Sie hingehen – Gott sei mit

Ihnen.« »Wenn er noch mit irgendjemandem von uns

ist«, sagte Giovanni. »Gute Nacht, Kardinal.« Er legte den Hörer auf und gab Enzo das Telefon

zurück. »Danke.« Der Seemann zog den Stecker wieder heraus

und stellte das Telefon auf einem Stapel Zeitungen ab. Lächelnd glättete er seinen Bart. »Warum habe ich das Gefühl, dass Sie nicht nur wegen eines An-rufs hierhergekommen sind?«

»Weil du ein niederträchtiger Bastard bist und unsere Denkungsart kennst.«

Enzo grinste und nickte. »Vor unserem Geschäft ein wenig Sambucca?«

»Das wäre gut, ja.« Während Enzo eine Flasche und zwei verstaubte

Gläser aus einer Holzkiste unter seinem Tisch her-vorkramte, lehnte Giovanni sich zurück und streck-te seine verspannten Hals- und Schultermuskeln. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, als er daran dachte, dass er zu dieser Stunde in diesem erbärmlich stinkenden Schuppen war. Wohl kaum der Ort, an dem ein hochrangiger Jesuitenpriester

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zu finden sein sollte. Was genau der Grund dafür war, dass er sich, angesichts der Umstände, so si-cher fühlte.

Enzo goss die Gläser voll. Sie stießen an und tranken den schweren Likör, auf dessen Grund sich Kaffeebohnen befanden. Ein alter Brauch, dachte Giovanni vergnügt. Gästen ein Glas mit einer ge-wissen Anzahl Bohnen anzubieten, bedeutete, dass man willkommen war und wiederkommen sollte.

Sein Glas enthielt drei Bohnen. »Also werden Sie es mir jetzt erzählen.« »Ich kann dir für das, was ich erbitte, nichts ge-

ben.« Enzo zuckte die Achseln. »Pater Francesco, ich

habe Sie nie ernsthaft als Geschäftspartner angese-hen!«

»Es sei denn, du verspürst ein Bedürfnis nach Hochdramatischem, weil du mein Leben in der Hand hast.«

»Sie wollen hierbleiben?« Giovanni schüttelte den Kopf. »Das hat keinen

Sinn. Nein, mein Freund. Ich brauche eine Über-fahrt zu einem Ort, wo sie mir nichts antun kön-nen, selbst wenn sie mich finden.«

Enzo lächelte. »Ich kenne einen solchen Ort.« »Wir kennen ihn beide.« Der Seemann griff nach seiner Rettungsweste

und zog sie an. »Dann lassen Sie uns gehen. Wir fahren heute Nacht.«

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Carlos Accardi – Buenos Aires 11. September 2000

ochstahl. So nannten die Amerikaner den Ort, an dem Carlos Accardi arbeitete. Es war

ein allgemein gebräuchlicher Begriff für absurd hohe Gebilde – Wolkenkratzer, Brücken, Sen-detürme. An diesem Morgen schritt Carlos Turm Nr. 1 des neuesten Gebäudes der Stadt ab – die Río-de-la-Plata-Hafenbrücke, die größte Hängebrü-cke in der südlichen Hemisphäre. Carlos ging einer Gruppe von Bauingenieuren voran, die die Kon-struktion und Bauausführung überwacht hatten. Sie befanden sich gerade draußen zwischen den Trägern und Seilen der Brücke, die sie für die Ab-nahme überprüften.

Da Carlos mehrere Jahre mit diesem Projekt zu-gebracht hatte, empfand er eine gewisse Traurigkeit darüber, sich nun bald von ihm verabschieden zu müssen. Wie bei jedem monumentalen Bau neigte man dazu, einen Teil von sich selbst in dem Werk zurückzulassen. Er hatte auf der ganzen Welt gear-beitet, aber nichts hatte ihm jemals die Befriedigung verschafft, eine so beeindruckende Arbeit zu been-den, wie diese in seinem Heimatland Argentinien.

H

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Er schaute vom Turm auf den mehr als dreihun-dert Fuß tiefer verlaufenden, achtspurigen Fahr-damm hinab, der seit über einer Woche für den allgemeinen Verkehr geöffnet war, aber er verspür-te immer noch große Aufregung, wenn er die win-zigen, wie Käfer wirkenden Fahrzeuge über die ma-jestätische Länge der Straße hinwegrasen sah. Ich habe das möglich gemacht, dachte er lächelnd. Es war kein Stolz, nur eine Widerspiegelung des un-glaublichen Gefühls von Zufriedenheit, das er bei der Erschaffung von etwas so Wunderbarem emp-fand. Carlos glaubte nicht, dass erfinderische Men-schen des Stolzes fähig waren, nur der Freude über die Vollendung ihrer einzigartigen Werke.

Der Klang von Arbeitsstiefeln auf Stahl ertönte hinter ihm, und Carlos wandte sich um und sah Omar, seinen Vorarbeiter, von der Zugangsleiter steigen. »Wie sieht sie aus?«

»Besser, als meine Zeichnungen je gewesen sind«, sagte Carlos. Beide wussten, dass dieser letz-te Durchgang eher eine Gewohnheit als eine Not-wendigkeit war. Im Zeitalter von CAD und der Entwicklung von Supercomputern waren die tech-nischen Daten immer wieder so genau überprüft worden, durch jedes Stadium der Planung und des Baus hindurch, dass die Inaugenscheinnahme der Brücke eher lächerlich als ernst zu nehmen war. »Komm, wir sind hier fertig.«

Sein Vorarbeiter stieg vor ihm die Leiter hinab, während unberechenbare Windstöße an ihrer Klei-

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dung rissen und unter ihre Schutzhelme fegten. Carlos folgte in sicherem Abstand, bis sie den ers-ten Absatz erreichten, wo sie den Turm wieder be-traten. Sie kamen an dem Raum vorbei, der alle Relais, Verstärker und Stromanschlüsse barg, die für die Beleuchtung der Brücke bei Nacht nötig waren, und kamen auf Fahrdammhöhe heraus.

Ihre Unterhaltung während des Abstiegs kreiste um die Nachricht über das Erdbeben, das heute Morgen eine Stadt namens Kweiyang in China er-schüttert hatte. Carlos dachte darüber nach, was ein Erdbeben dieser Stärke seiner Brücke antun würde, und bemühte sich dann, diesen verrückten Gedanken wieder aus seinem Geist zu verbannen. Die Nachrichten schienen über immer mehr Na-turkatastrophen und von Menschen verursachtem Unheil zu berichten, und Carlos fragte sich unwill-kürlich, ob Gott seine Geduld mit diesem kleinen Planeten verlor.

Westlich des Brückenbogens waren die Ausläu-fer von Buenos Aires zu sehen, einer Stadt mit ei-ner nahezu unglaublichen Ausdehnung. Carlos hielt inne, um den Anblick einen Moment zu ge-nießen, und eilte dann auf den Firmenjeep zu, der auf einer eigens für sie abgesperrten Fahrspur stand. Der Verkehr rauschte mit einem höllischen Tempo über die drei anderen Spuren an ihm vor-bei.

Während Omar von der Bordsteinkante trat und ebenfalls auf ihr Fahrzeug zuging, blickte Carlos

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über die Straße jenseits ihres Standplatzes hinweg. Es war eine aus langer Gewohnheit erwachsene Wachsamkeit, da auf dem Hochstahl stets Vorsicht geboten war. Gerade als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Jeep zuwenden wollte, nahm er in der Ferne eine ungewohnte Bewegung wahr. Ein glän-zend roter Pick-up mit Radaufhängung und Reifen in Übergröße kam in Sicht – er fiel nicht nur we-gen seiner Größe und Farbe, sondern auch wegen seiner unsteten Fahrweise auf.

»Vorsicht«, sagte Carlos und deutete auf den ro-ten Truck, der ständig die Fahrspur wechselte.

»Was für ein Pendejo!«, sagte Omar, der die Fahrertür des Jeeps erreicht hatte.

Carlos trat rasch zur Beifahrerseite, hielt aber noch einmal inne, um den Pick-up im Auge zu behalten. Er war jetzt ein gutes Stück näher ge-kommen und befand sich fast an der Stelle, wo sich die vier Fahrspuren zu dreien verengten. »Er fährt zu schnell!«, sagte Carlos, bemüht, seine zu-nehmende Besorgnis zu verbergen.

Der rote Truck schien tatsächlich eher zu be-schleunigen als abzubremsen. Unfähig, etwas an-deres zu tun, als nur danebenzustehen, registrierte Carlos die folgenden Ereignisse wie in Zeitlupe. Er spürte, wie ihn ein schmerzliches Gefühl der Hilflosigkeit beschlich, als der Monster-Truck von einer Seite zur anderen zu schwanken begann.

Die Reifen des Fahrzeugs blockierten, und es erwischte ein kleines weißes Coupé. Wie ein

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Queue, das auf eine Billardkugel trifft, schob der Truck den kleineren Wagen gegen mehrere davor befindliche Fahrzeuge. Carlos beobachtete be-nommen, wie das Coupé hoch über einen tiefer gelegten Sportwagen flog. Dann, halb in der Luft, kippte es auf die Seite und glitt über die Dächer der Fahrzeuge, die sich auf der äußeren Fahrspur be-fanden, auf den Rand der Brücke zu. Er konnte die Schreie der Insassen hören, als der kleine weiße Wagen das Geländer erreichte und kurz schwankte, bevor er vorwärtsschoss und in das kabbelige Was-ser des Rio de la Plata stürzte.

Carlos, der wie erstarrt zusah, wie der Wagen in der Tiefe verschwand, hatte das Gefühl, ein voll-kommen irreales Geschehen zu beobachten, als betrachtete er ein stümperhaft geschnittenes Video. Was er sah, schien einfach nicht möglich.

Die Zeit selbst schien sich auszudehnen. Der stürzende Wagen brauchte anscheinend furchtbar lange, bis er auf dem Wasser aufprallte.

Um Carlos herum wurde plötzlich alles voll-kommen still. Der Verkehr, der wirbelnde Wind. Alles.

Totenstill. Carlos lehnte sich an das Geländer und blickte

hinab, als er vor sich Licht und Bewegung wahr-nahm, auf gleicher Höhe mit dem Fahrdamm. Er hob den Kopf, um das zu betrachten, was offener Raum sein müsste, und war wie betäubt von dem, was er sah.

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Eine Frau in lohfarbenen und dunkelbraunen fließenden Gewändern wie die einer Nonne und von einer leuchtenden Aura des wundervollsten Lichts umgeben, das er je gesehen hatte. Gleitend, wankend, das Licht brechend und widerspiegelnd, schwebte sie wie ein Weihnachtsengel vor ihm. Sie wirkte wie eine der biblischen Gestalten auf einem Gemälde der alten Meister, und sie streckte die Hand nach ihm aus.

Rette sie. Nur du kannst es tun. Carlos spürte, wie sein Herz gegen seine Rippen

hämmerte, als wollte es seinen Brustkorb sprengen. Er blickte prüfend in die Gesichter der Menschen, die sich am Geländer versammelt hatten.

Niemand von ihnen sah oder hörte sie. »Ich kann es nicht tun!«, hörte er jemanden

schreien und erkannte, dass er es selbst war. »Ich kann kaum schwimmen.«

Ich brauche dich. Tu es, weil du etwas Besonderes bist. »Nein!« Jetzt, Carlos … Es war etwas an der Art, wie die leuchtende Frau

ihn bat und ihm gleichzeitig jedoch auch Befehle erteilte, wie sie seinen Namen aussprach, mit einer Vertrautheit, einem Mitgefühl und einer Wahrhaf-tigkeit, wie er sie nie zuvor erfahren hatte.

Sich der Menge um sich herum nur vage be-wusst, ergriff Carlos eines der dicken vertikalen

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Seile, schwang sich auf das Geländer und sprang – ohne nachzudenken, ohne Angst. Stattdessen spür-te er, wie ihn eine Woge der Energie durchströmte – das reinste blauweiße Feuer des Glaubens.

Die Luft rauschte an seinen Ohren vorbei, wäh-rend er mit den Füßen voran auf die grüne Ober-fläche des Río de la Plata zuhielt. Sein Fall schien gleichzeitig endlos und blitzschnell zu erfolgen. Als er auf der Oberfläche aufschlug, empfand er keinen Schreck, keinen Schmerz.

Er konnte sich nicht erinnern, einen letzten Atemzug getan zu haben, aber seine Lungen waren bis zum Bersten mit Luft gefüllt, und seine Sicht war bemerkenswert klar, während er die dunkler werdenden Tiefen nach seinem Ziel absuchte.

Ich kann nicht schwimmen. Aber er tat es. Er sah den weißen Rumpf des

Coupés unter sich versinken, große, ungestalte Luftblasen ausstoßen und mit jedem Ausstoßen der eingeschlossenen Luft tiefer taumeln. Carlos schoss wie ein Torpedo auf den Wagen zu. Als er näher kam, konnte er die an die Fenster gepressten angsterfüllten, lautlos schreienden Gesichter der Insassen sehen.

Er streckte die Hände aus und packte, sich durch den schweren Sog seiner vom Wasser durchtränk-ten Kleidung nur langsam bewegend, den Türgriff. Als er an die Scheibe klopfte, gerieten die Insassen einen Moment in Panik, bis sie erkannten, dass ihnen jemand zu helfen versuchte. Das Innere des

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Wagens hatte sich mittlerweile fast vollständig mit Wasser gefüllt – was insofern hilfreich war, als der ausgeglichene Druck es zulassen würde, leichter eine Tür oder ein Fenster zu öffnen. Carlos winkte sie von dem linken, hinteren Fenster fort, zog die Knie an die Brust und streckte sie dann kraftvoll wieder.

Als die Glasscheibe zerbarst, bog sich Carlos durch, wand sich durch die klaffende Öffnung des Fensters und packte die Insassen – drei Mädchen im Teenageralter. Mit einer Hand löste er den Rie-gel der gegenüberliegenden Tür und stieß sie gegen den Druck des Wassers auf. Mit der anderen Hand dirigierte er die Mädchen hinaus.

Eine von ihnen schluckte Wasser. Carlos sah ih-ren Körper erschlaffen, und das Mädchen begann zu sinken, dem Coupé in unvorstellbare Tiefen folgend. Während die beiden anderen Teenager um sich traten und an die Oberfläche zu gelangen ver-suchten, tauchte Carlos hinab, ergriff die Ertrin-kende und riss sie hoch. Sie hatte die Augen ver-dreht und hing leblos in seinem Arm. Carlos schaute aufwärts, sah die Wasseroberfläche wie eine unglaubliche Barriere geborstenen Glases glit-zern und wusste, dass sie sie niemals rechtzeitig erreichen würden.

Er stieg zu langsam auf, spürte den Druck des Flusses nur sehr langsam schwächer werden, wäh-rend die restliche Luft in seinen Lungen zu einer explosionsbereiten Bombe wurde. Verbissen hielt

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er den schlaffen Körper des Mädchens fest, ihr Ge-wicht wie ein Anker. Es wäre so leicht, einfach los-zulassen …

Nein! Sie war bei ihm. Lächelte und nickte. Die Lady,

die wie eine Heilige erstrahlte … Es ist nicht mehr weit, Carlos. Nur noch ein Schwimmzug aufwärts. Und dann, plötzlich, brannte die Sonne auf ihn

hernieder, und der Himmel aus Luft umarmte ihn, rauschte in ihn und über ihn hinweg, und Carlos konnte das tumultartige Schreien der Menge hö-ren, die vom Fahrdamm hoch über ihm hinab-blickte, sowie die Motorengeräusche der mit voller Kraft herbeieilenden Rettungsboote. Die Luft traf seine Kehle wie süße Säure. Seine Beine fühlten sich an, als würden sie von der enormen Anstren-gung, gegen den Sog des Wassers anzukämpfen, abfallen. Und dann griffen Hände nach ihm und nach dem leblosen Körper, den er noch immer mühsam über Wasser hielt. Nachdem er aus dem Wasser gezogen worden war, spürte er, wie er in Decken gehüllt und von helfenden Händen wei-tergereicht wurde.

Als sie ihm zujubelten, hatte er keine Kraft mehr, ihren Jubel zu teilen. Der Held in ihm hatte den Dingen ihren Lauf gelassen, und nun erst kam ihm wirklich zu Bewusstsein, was er tatsächlich getan hatte. Er fühlte sich so unglaublich müde, so vollkommen ausgelaugt.

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Carlos Accardi, der sonst mit der Anmut eines Ambosses schwamm. Wie hatte er das gemacht?

Aber noch wichtiger war: Warum? Diese überraschend klaren, ruhigen Gedanken

gingen ihm durch den Kopf, während seine Retter und Bewunderer um ihn herum lärmten. Die Ge-räusche der Bootsmotoren verschwammen mit dem Murmeln und den Rufen der ihn umgeben-den Männer und Frauen.

»Holt noch mehr Decken!« »Hier rüber!« »Sie lebt noch!« »Er hat es geschafft!« »Fragt ihn nach seinem Namen! Jemand soll ihn

nach seinem Namen fragen!« Die Worte vermischten sich. Er hörte sie, begriff

aber ihren Sinn nicht. Er wollte nur die Augen schließen und alles eine kurze Weile ausblenden. Sie hoben ihn von dem kleineren Boot in ein grö-ßeres. Er nahm vage mehrere Kameras und Mikro-fone wahr, aber er hatte weder die Kraft noch das Verlangen, auf die ihm zugerufenen Fragen zu antworten.

Wenn es sich so anfühlte, ein Held zu sein, dachte er, während er sich dem Sog vollkommener Erschöpfung hingab, dann wurde das schrecklich überbewertet.

Während ihn der süße Sog der Bewusstlosigkeit hinabzog, hoffte Carlos, er würde sie wiedersehen – die Lady in den Gewändern aus Licht.

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Peter Carenza – Vatikanstadt 22. September 2000

eter saß, wie er es schon seit drei Wochen je-den Tag mehrere Stunden tat, in dem Flügel

der Geheimarchive, der einst als die Villa Borghese bekannt geworden war. Das Innere des Gebäudes war mit reich verzierten Täfelungen aus Mahagoni und Kirschholz versehen, mit kunstvoll gearbeite-ten Stuckornamenten und schön gearbeiteten Tür-schwellen. Die Balustraden waren auf Hochglanz poliert, und die Lüster aus dem siebzehnten Jahr-hundert verbreiteten ihr elektrisches Licht in alle Ecken des Raumes. Während er die Seiten eines weiteren Index durchblätterte (dieser aus der Drui-den-Chronik des vierten Jahrhunderts), erkannte er, dass er der Aufgabe nicht seine volle Aufmerksam-keit zuteil werden ließ. Obwohl es ihn dazu trieb, das Rätsel der Sieben zu lösen, lenkten andere An-gelegenheiten ihn ab – nicht zuletzt Marion Wind-sor.

In diesem Moment sollte sie die Medienverlaut-barung zusammenstellen, welche die Welt für die bevorstehende Ankündigung eines welterschüt-ternden Ereignisses innerhalb der katholischen

P

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Kirche wachrütteln würde: ihre Hochzeit und eine umfassende Aufhebung des Eheverbots für Kleri-ker. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus und dem Konvent (nein, meide das Thema nicht län-ger, schon seitdem er sie aus dem Fenster gestoßen hatte), hatte sie die Tage und Nächte wie ein Robo-ter durchlebt. Sicher, sie tat, was auch immer er verlangte, aber das war bereits ein Teil dessen, was ihn störte – sie tat es ohne Gefühl, ohne Reaktion oder innere Beteiligung.

Peter schüttelte zögernd den Kopf. Er hatte es wirklich mit ihr verdorben, indem er seinem Zorn freien Lauf gelassen hatte. Nein, warte, dachte er. Wen wollte er täuschen? Er wusste, dass er es mit etwas weitaus Gefährlicherem zu tun hatte als schlechter Laune. So wenig er auch darüber nach-denken mochte, wusste er doch, was geschehen war. Tief in ihm wand sich, wie eine schreckliche Symbiose, eine dunkle Macht, die durch seine Ausbrüche genährt wurde und daraus Kraft zog, ihm die Energie auf eine seltsame Art zurückgab und ihm in der Welt der Menschen fast unbe-schränkte Macht verlieh. Aber um an dieser Macht festzuhalten, musste Peter dauerhaft zulassen, dass ausbrach, was auch immer sich in seiner tiefsten Seele wand, und dass es seinen Willen bekam.

Diese Gedanken zermürbten ihn so sehr, dass er sie gewöhnlich mied, sie unter Verschluss hielt. Sich besser nicht darauf einlassen. Wie die Zeilen

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mittelalterlicher Gedichte und Mythen es oft aus-drücken: Hier schlummern Drachen.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Prolegomena des Textes aus dem vierten Jahrhun-dert zu und durchsuchte die Absätze nach irgend-einem Hinweis, der ihn tiefer in das Geheimnis der Sieben führen würde. Als er bereits über die Hälfte durchgesehen hatte, erschien Pater Erasmus, der Präfekt der Archive, zögernd auf der Schwelle des alkovenartigen Raumes.

»Verzeihung, Eure Heiligkeit …« »Ja«, sagte Peter und wandte sich von den Seiten

aus schwerem Pergament dem Priester mittleren Alters zu.

»Kardinal Lareggia ersucht um ein Gespräch. Er sagt, er wisse, dass er keinen Termin habe, aber er müsse Euch sofort sprechen. Er meint, es sei äu-ßerst dringend.«

Peter nickte. Er konnte sich gut vorstellen, was der dicke Mann wollte. Besser, sich ihm zu stellen und die Dinge rasch hinter sich zu bringen. »In Ordnung. Sagen Sie ihm, er soll mich gleich im Salon des Belvedere-Hofes treffen. Und sorgen Sie dafür, dass wir dort auch zu Mittag essen können.«

Der Präfekt nickte und ging langsam rückwärts aus dem Raum. Peter schloss sein Notizbuch, das nur dürftige bibliografische Bruchstücke enthielt, verließ den Raum ebenfalls, eilte am Meridian-raum vorbei und dann durch den Turm der Winde. Er hatte sich vor dem Betreten der Archive mit dem

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neu gegründeten Kurienkomitee für geopolitische Angelegenheiten getroffen, sodass er mit einer weißen mit Goldbrokat verzierten Soutane beklei-det war. Jedoch trug er nicht die »lustigen Hüte« der meisten Päpste, aber immerhin die schwere Halskette und das Goldkreuz des Konstantin.

Lareggia. Es bestand kein Zweifel, warum der Kardinal ihn sprechen wollte – Pater Giovanni Francesco.

Als Peter den Salon betrat, ein Raum mit hoher Decke und Paneelen aus brasilianischem Rosen-holz, die von schmalen, hohen Bleiglasfenstern unterbrochen wurden, war er nicht überrascht, den Kardinal auf ihn wartend vorzufinden.

Aber Lareggia war nicht allein. Peter betrachtete Lareggias Begleiter: Egon

Leutmann, der Hauptmann der Schweizergarde, und Schwester Victorianna, Äbtissin des Konvents der Sisters of Poor Clares. Beide betrachteten ihn mit einer Miene, die bestenfalls verbittert genannt werden konnte. »Nun, hallo alle zusammen«, sagte Peter. »Ich wusste nicht, dass wir beim Essen zu viert wären.«

Paolo Lareggia neigte seinen runden Kopf nur leicht. »Ich hielt es für das Beste, es … eh, Ihnen nicht zu sagen.«

Peter lächelte und schaute zu einer Ecke des reich ausgestatteten, mit dunklen, geölten Paneelen versehenen Raumes, wo ein Mitarbeiter, ein junger christlicher Bruder, stand, um die Wünsche seines

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Papstes entgegenzunehmen. »Sagen Sie dem Koch, er soll ein Essen für vier Personen zubereiten.«

Sie warteten darauf, dass Peter seinen Platz ein-nahm, bevor sie sich an den anderen drei Seiten des viereckigen Tisches niederließen. Peter lächelte erneut und hielt die Hände in klassischer pontifi-kaler Pose geöffnet.

»Heiligkeit«, sagte Hauptmann Leutmann, »der Kardinal hat mich gebeten, ihn zu dieser Audienz zu begleiten, und nachdem er mich über gewisse Dinge in Kenntnis setzte, fühlte ich mich auch ge-zwungen, daran teilzunehmen.«

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum«, sagte Peter.

Lareggia hatte dagesessen, die Fingerspitzen sei-ner dicklichen Hände vor dem Gesicht fest anei-nander gepresst. Nun beugte er sich vor und legte die Hände flach auf den Tisch. »Pater Giovanni Francesco hat mich vor Kurzem angerufen. Er war auf der Flucht und fürchtete um sein Leben!«

»Und hat er Ihnen gesagt, warum?«, fragte Peter. »Er sagte, Sie hätten den Befehl zu seiner Hin-

richtung gegeben. Durch den SSV!« Peter schaute seine Ankläger an. Sie zeigten alle

denselben Ausdruck der Kühnheit, gemildert durch die Entschlossenheit der Gerechten. Dass sie es wagten, so aufzutreten und ihn an das Fiasko mit dem alten Jesuiten zu erinnern, regte ihn auf, aber er wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Wenn er

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aus der Geschichte mit Marion etwas gelernt hatte, dann war dies der Moment, es umzusetzen.

Es gab nur eine Möglichkeit für ihn, aus diesem Treffen als Sieger hervorzugehen: Lareggia und sei-ne Begleiter frontal anzugehen.

»Nun, da hatte der alte Mann endlich einmal mit einer Sache recht.«

»Was meinen Sie?«, fragte Victorianna. »Francesco«, Peter lächelte schalkhaft, was als

Einschüchterung gedacht war. »Er konnte keines-falls sicher sein, dass ich sein Ende befahl, aber ich habe auch kein Problem damit zuzugeben, dass seine Anklage richtig ist.«

Das Gesicht Kardinal Lareggias war vollkommen starr, als er ihn ansah. »Peter, warum?«

»Weil Pater Giovanni Francesco, falls Sie es noch nicht bemerkt haben, ein sehr gefährlicher Mann ist. Er hat schon in der Vergangenheit getötet, mit eigenen Händen, und ich fürchte, solange er lebt, nicht nur um mein eigenes Leben, sondern auch um die unmittelbare Zukunft der heiligen Mutter Kirche.«

»Sie erwarten, dass wir das glauben?«, fragte Vic-torianna.

»Ich erwarte, dass Sie an die Unfehlbarkeit des Papstes glauben.«

»Wie bitte?«, fragte sie. Peter fuhr fort: »Lassen Sie es mich deutlicher

sagen: Ich bin sicher, dass Pater Francesco die Zu-kunft der römisch-katholischen Kirche bedroht.

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Deshalb hielt ich zu diesem Zeitpunkt – und auch jetzt noch – die einschneidende Maßnahme für notwendig, um uns alle zu schützen.«

Der Hauptmann der Garde hatte die ganze Zeit nur dagesessen und still zugehört. Er hatte sich lediglich gerührt, um sein dünner werdendes rotes Haar zu glätten, das elektrisch geladen wirkte und als büscheliger Heiligenschein um seinen Kopf schwebte. Offensichtlich wusste Leutmann nicht, wie albern er aussah, als er Peter mit sehr ernster Miene betrachtete. »Euer Heiligkeit«, sagte er sanft, »wir bezweifeln Ihre Motive oder Ihren Glauben nicht. Aber Pater Francesco hat den Kardinal und die Äbtissin gewarnt, dass sie ebenfalls in Gefahr sein könnten.«

Peter zuckte die Achseln. »Und …?« »Und ich bin hier, um festzustellen, ob das wahr

ist«, sagte Hauptmann Leutmann. Peter lächelte. »Hauptmann, ich denke, Sie sind

als Versicherungspolice hier.« »Was meinen Sie?« »Sie als unparteiischer Zeuge und vielleicht mit

einem verborgenen Abhörgerät – meinen Sie nicht, es würde ein sehr schlechtes Licht auf mich werfen, wenn jemandem von Ihnen in der Folge etwas Un-gewöhnliches zustieße?«

Paolo Lareggia hatte sich einen kurzen Moment angespannt, als Peter das Abhörgerät erwähnte. Mehr brauchte er nicht. Sie hatten geglaubt, schlau zu sein, und das amüsierte ihn.

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»Nun, das ist vermutlich wahr«, sagte der Hauptmann.

»Ich denke, dass wir so offen wie möglich mitei-nander sprechen sollten«, sagte Peter. »Daher versi-chere ich Ihnen, dass die verrückten Ängste des Je-suiten unbegründet sind. Ich habe für niemanden von Ihnen ›Mordaufträge‹ erteilt. Sie alle sind vor dem bösen Papst Peter dem Zweiten sicher.«

Er lächelte, während er innehielt, um ihre Reak-tion auf seine Worte abzuwarten. Ihre Mienen zeig-ten überwiegend Bestürzung. Sie hatten eindeutig erwartet, dass er schweigsamer wäre, und es ver-blüffte sie, es mit jemandem zu tun zu haben, der so freimütig war.

»Heiligkeit«, sagte Hauptmann Leutmann, »ich wollte nicht andeuten, dass Sie etwas Falsches ge-tan hätten oder …«

»O doch, das wollten Sie«, sagte Peter rasch. »Aber ihr Leute steckt den Kopf in den Sand! Es ist an der Zeit, dass ihr euch einiger Dinge bewusst werdet. Die katholische Kirche ist ein Moloch, ein schlafender Riese hinsichtlich ihrer geopolitischen Macht. Ein Teil meines Planes besteht darin, die Kirche voll-kommen in das einzubeziehen, was politisch in der Welt vor sich geht. Der Vatikan ist eine furchterre-gende Macht, und ich beabsichtige, die übrige Welt erkennen zu lassen, wie mächtig wir sind.«

»Ich bin mir nicht sicher, dass ich den Zusam-menhang verstehe«, sagte Kardinal Lareggia.

»Paolo, bitte. Wenn man in der politischen Are-

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na mitspielen will, hält man sich an die Regeln der Politiker. Und eine ihrer wichtigsten Direktiven lautet, dass man sich vor Bedrohungen schützen muss – vor externen und internen. Und das tut man, indem man alles und jeden eliminiert, was dem Überleben im Wege steht.«

»Sie sprechen von Spionage und Krieg«, sagte Hauptmann Leutmann. »Das wären die einzigen Rechtfertigungen, jemanden zu töten.«

Peter lächelte und nickte. »Dann betrachten Sie sich als im Kriegszustand.«

»Mit wem?«, rief Victorianna. »Mit allem, was die neuen Ziele der katholi-

schen Kirche bedrohen könnte.« Victorianna sah ihn lange an und sagte dann:

»Ich glaube, es sind Ihre ›neuen Ziele‹, die uns Sor-gen bereiten.«

Der Kardinal faltete die Hände und rang sie ner-vös. »Ja, das ist richtig! Heiliger Vater, bitte, Sie sprechen davon, bestimmte Standpunkte einzu-nehmen und eine Politik zu verfolgen, für die es keinen Präzedenzfall gibt, kein …«

»Darin irren Sie sich, Paolo«, widersprach Peter, sich für das Thema immer mehr erwärmend. »His-torisch gesehen, war die Kirche lange Zeit eine wahre Weltmacht. Die Kreuzzüge, das Heilige Rö-mische Reich! Davor ließ der Vatikan über tausend Jahre lang die Muskeln spielen!«

»Ja«, sagte Victorianna sanft. »In einer Zeit, die heute als das dunkle Zeitalter bezeichnet wird.«

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Peter nickte grinsend. »Ein Fehler, der dieses Mal nicht wiederholt werden wird.«

Lareggia beugte sich vor. »Was ist mit Giovanni? Was wird jetzt mit ihm geschehen?«

Peter zuckte die Achseln und machte dann eine Geste, die andeuten sollte, seine Gefühle in dieser Angelegenheit seien mezzo-mezzo. »Ich habe nicht viel über ihn nachgedacht. Inzwischen hat er sich wahrscheinlich sehr weit von Rom entfernt und stellt im Moment keine direkte Bedrohung und auch kein lästiges Problem mehr dar.«

Sie wurden durch das Auftragen des Mittages-sens unterbrochen, von einer kleinen Gruppe Be-dienter serviert, die den Tisch rasch mit Geschirr, Kerzen, Weinkaraffen und anderen Getränken so-wie mit Körben voller Brot, Käse und Obst und den Vorspeisen eindeckte. Alle verharrten schwei-gend, bis der Tisch bereitet war und Peter das Per-sonal mit kaum wahrnehmbarem Kopfnicken ent-lassen hatte.

Seine Gäste warteten darauf, dass er ihnen die Ehre erweisen und einen Toast ausbringen würde. »Auf die Zukunft«, sagte er mit nur leicht angedeu-tetem Lächeln.

Widerwillig schlossen sie sich ihm an und inspi-zierten dann mit unterschiedlich starkem Interesse ihre Teller. Der fettleibige Kardinal ignorierte den gebackenen Kapaun überraschenderweise weitge-hend. Nach wenigen unbehaglichen Minuten schweigenden Essens fragte Lareggia leise:

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»Also werden Sie ihn verfolgen?« »Ich weiß es nicht.« Peter war ehrlich. Er hatte

sich noch nicht entschieden. »Werden Sie … werden Sie mir sagen, wenn Sie

irgendwelche neuen Entscheidungen in Bezug auf ihn getroffen haben?«

»Damit Sie ihn warnen können?« Peter lächelte. »Ich weiß es nicht …« Der Kardinal war eben-

falls um Zurückhaltung bemüht. »Damit ich mich selbst warnen kann, wäre vielleicht die bessere Antwort.«

»Lassen Sie es mich so sagen, Paolo. Sie werden erfahren, was vor sich geht – auf die eine oder an-dere Weise.«

Peter trank einen Schluck Wein und betrachtete seine Gäste mit amüsiertem Blick. Er hatte sie mit seiner Offenheit und seiner Gastfreundschaft aus dem Konzept gebracht, und sie hatten keine Ah-nung, was sie von ihm zu erwarten hatten. Obwohl er sie nicht wirklich als Feinde betrachtete, erkann-te er, dass man sie sich besser auf Armeslänge vom Leib halten und aufmerksam beobachten sollte, um Zeichen von Verrat oder drohender Gefahr rechtzeitig erkennen zu können. Er fragte sich, ob dieses Spiel der Palastintrigen ihm wirklich gefiel. Einige Leute waren dafür überaus geeignet, wäh-rend sich andere als ungeschickt darin erwiesen.

Die Geschichte würde seine Leistung beurteilen. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt Gedanken darüber zu machen.

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Die restliche Mahlzeit verlief mit belangloser Plauderei, die dazu diente, jedermanns Ängste zu verschleiern, und Peter langweilte sich. Da er alles erfahren hatte, was er über ihre Empfindungen, Motive und Pläne wissen musste, wollte er sie ih-ren unbedeutenden Ängsten überlassen und seine Forschungen wieder aufnehmen.

Sobald die Dienstboten den Tisch abgeräumt hatten, schob Peter seinen Stuhl zurück, ein un-missverständliches Zeichen dafür, dass ihr Treffen beendet war. Er erhob sich langsam und sah seine Gäste nacheinander scharf an.

In Protokollfragen erfahren, legten alle drei ihre Leinenservietten auf den Tisch und erhoben sich.

»Danke, dass Sie zum Essen geblieben sind«, sag-te er. »Ich hoffe, ich konnte alle Missverständnisse klären und Ihre Fragen ausreichend beantworten.«

Sie murmelten Dankesworte und Beteuerungen. Peter begleitete sie bis zum Foyer des großartigen, imposanten Gebäudes. Während er neben Kardinal Lareggia einherging, fragte er sanft: »Sagen Sie mir, Paolo, haben Sie jemals von etwas gehört, was sich das ›Geheimnis der Sieben‹ nennt?«

Lareggia hielt auf der Schwelle inne, während Hauptmann Leutmann Victorianna durch die Doppeltüren hinaus und die kurze Treppe hinun-terbegleitete. »In welchem Zusammenhang?«, frag-te er.

»Ich bin mir nicht sicher. Bei meinen Nachfor-schungen in den Archiven bin ich mehrmals auf

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diesen Hinweis gestoßen. Jedoch ist er immer sehr rätselhaft.«

»Welche Art ›Nachforschungen‹?« Lareggia wirk-te misstrauisch.

»›Apokalyptische‹ wäre wahrscheinlich die beste Beschreibung.«

»Aus welchem Grund?« Peter legte dem Kardinal eine Hand auf die

Schulter und spürte, wie sie in das weiche Fleisch einsank. »Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, Paolo. Ich bin mir nicht vollkommen sicher, was vor sich geht, worum es sich bei alledem handelt, aber ich versuche es herauszufinden.«

Der Kardinal sah ihn an und schüttelte zögernd den Kopf. »Es tut mir leid, Peter, Sie werden mir verzeihen müssen, aber ich fürchte, ich glaube Ihnen nicht.«

»›Das Geheimnis der Sieben‹ – was wissen Sie darüber?«

»Nichts. Absolut nichts.« »Warum hören Sie sich nicht einmal um? Bei

einigen Ihrer Theologie-Freunde. Finden Sie her-aus, ob jemand darüber Bescheid weiß.«

Lareggia neigte den Kopf. »Haben Sie irgendet-was für diese Information … eh … anzubieten?«

Peter sah den großen Mann an und suchte nach einem Hinweis auf Sarkasmus oder Angst. Es gab keinen. Lareggia meinte es ernst.

»Das ist nur allzu fair«, sagte Peter. »Ich werde über eine passende Belohnung nachdenken müssen.«

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Grace Allbright – Hartstown, South Carolina 3. September 2000

ch wollte Sie nicht damit belästigen, Grace«, sag-te Sheriff DeWayne Davis. »Aber, Gott helfe mir.

Ich wusste nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten sollte.«

Grace Allbright wandte sich von der Tastatur ih-rer Orgel ab und betrachtete den jungen Mann, der die First Baptist Church of Hartstown an diesem Samstagnachmittag betreten hatte. Sheriff Davis war mittelgroß und dünn, wirkte nicht schwach, aber auch nicht gerade hart und zäh. Seine blassen Wangen waren so glatt, dass er sich noch nicht zu rasieren schien, aber Grace wusste, dass er bereits um die dreißig war. Seine Augen waren so dunkel wie reife Blaubeeren und zuckten in ihren Höhlen umher, als suche er ständig nach etwas, was nicht in Ordnung war.

Was wahrscheinlich eine gute Einstellung für ei-nen Polizeibeamten war, dachte Grace mit leisem Lächeln. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff Davis?«

»Nun, zunächst könnten Sie es mir etwas leich-ter machen, indem Sie mich einfach DeWayne nennen.«

I

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Grace nickte. »In Ordnung, DeWayne, das kann ich tun.«

Sie hielt einen Moment inne, um aus ihren wei-chen, flachen Glanzlederschuhen zu schlüpfen (diejenigen, die sie nur trug, wenn sie die Pedale der alten Pfeifenorgel betätigte), und zog ihre Stra-ßenschuhe an. Dann erhob sie sich und deutete auf die Tür zur Kirchenvorhalle. »Gehen wir dort hinaus«, sagte sie. »Wir können im Garten reden.«

Der Sheriff nickte und folgte ihr durch den klei-nen Raum zu einer schmalen Bank, die in einem gepflegten, von einer halbrunden Hecke umschlos-senen Bereich des Gartens stand, der von spätblü-henden Gardenien und Petunien dominiert wurde. Eine sanfte Brise brachte eine Vielzahl angenehmer Gerüche mit sich. Grace setzte sich auf ein Ende der Bank, glättete ihren Rock und sah DeWayne erwartungsvoll an.

»Vermutlich wissen Sie, warum ich hier bin«, sagte er. Seine Miene fügte seinen Worten hinzu, dass er in gewisser Weise verängstigt und frustriert war und sich zugleich töricht fühlte.

»Derselbe Grund wie beim letzten Mal, nehme ich an. Sie sprechen von der Carstairs-Sache, rich-tig?«

»Haben Sie den Fall verfolgt?« Grace schüttelte den Kopf. »Nicht direkt, aber

man hört unwillkürlich im Fernsehen und in der Stadt davon, weil alle darüber tuscheln.«

»Zweifellos. Dennoch sage ich Ihnen«, fuhr Da-

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vis fort, »dass die Leute überall anscheinend immer besorgter werden. Offensichtlich haben unheim-lich viele Städte im ganzen Land mit Mördern und Irren zu tun.«

»Zeichen der Zeit«, sagte Grace. »Das sagt uns die Bibel. Haben Sie etwas von dem bemerkt, wo-rüber die Leute reden – dass die Sonne ganz selt-sam und nicht wie normal scheint? Das ist ein Zei-chen der Zeit, wenn ich je eines gesehen habe!«

»Vielleicht haben Sie recht.« Der Sheriff hielt in-ne. »Nun, was wissen Sie über den bestimmten Fall?«

»Nicht viel. Ich muss das nicht wirklich so ge-nau verfolgen, weil … weil, nun, wissen Sie, wenn ich eine Sache ›erspüren‹ will, nun, dann erspüre ich sie einfach. Und das ist alles.«

DeWayne nickte ernst. Er vermied es, ihr unmit-telbar in die Augen zu sehen, und sie war sich nicht sicher, ob es aus Angst oder aus Respekt ge-schah. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, sodass sie hoffte, es wäre eher Respekt als Schre-cken.

»Die State Police und alle meine Mitarbeiter in der County stecken ziemlich fest, Grace.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe mich vermutlich schon gefragt, wann Sie mich aufsuchen würden.«

Sie lächelte sanft und berührte seine Hand, als wollte sie ihm vermitteln, dass er nicht so nervös zu sein brauche, und er verstand es als Zeichen fortzufahren. Seine Stimme nahm einen hoff-

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nungsvollen Ton an. »Bedeutet das, Sie haben et-was, was Sie uns erzählen können?«

»Nein, nicht direkt. Noch nicht.« Grace zögerte. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Das-selbe wie immer, wenn sie bereit war, etwas zu er-spüren …

So hatte ihre Urgroßmutter es genannt – das Erspü-ren. Sie konnte sich daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Großmutter und deren Momma auf einer Verandaschaukel gesessen hatte und beide Frauen an dem Tag, an dem sie so durcheinander gewesen war, solch großes Aufhe-bens um sie gemacht hatten. Grace’ Mutter arbeite-te in einer Fabrik außerhalb der Militärbasis in Sumter, wo Uniformen für alle Soldaten angefertigt wurden.

Alle Soldaten, die gegen die Deutschen und die Japaner kämpften.

Grace’ Daddy war eingezogen worden, und ihre Mutter sagte, seine Einheit sei eine der ersten Ne-ger-Kompanien gewesen, die in Europa gekämpft hatten. Grace war sechs Jahre alt gewesen, als er South Carolina verließ, um niemals zurückzukeh-ren. Das Seltsame war, dass sie damals schon wuss-te, dass er nicht zurückkehren würde.

Sie sagte es niemandem in der Familie. Nicht an dem Tag, an dem er ging, als sie dieses Gefühl hat-te – dieses bittere Gebrannte-Mandel-Wissen, dass etwas der Wahrheit entsprach –, erst Monate spä-

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ter. Als es geschah, hatte sie auf dem Hof gespielt, in einem Reifen geschaukelt, den einer ihrer Brüder immer höher in den Sommerhimmel stieß. Plötz-lich hörte sie Bomben explodieren, die Luft wurde von Tausenden von Kugeln zerrissen, und unzähli-ge Männer brüllten und schrien. Und einen sehr kurzen Moment sah sie die Dinge durch die Augen ihres Vaters: Laufen über eine leere Straße, in der alle Gebäude ausgebrannt und halb eingestürzt waren; er, wie er unvorbereitet erwischt wurde, als ihm ein Tiger-Panzer plötzlich in den Weg krachte, mitten durch die Ziegelmauer eines Hauses hin-durch; ein riesiges, graues Monster, breit und flach, kam einen Moment rasselnd voran, und dann blitzte sein langes Geschützrohr auf, als eine Gra-nate daraus hervorschoss.

Das war es gewesen. Ein ganz kurzer Blick und ein Lichtblitz. Dieser

Blitz war das Letzte gewesen, was ihr Daddy gese-hen hatte, und es war so schnell geschehen, dass er das Dröhnen der Geschützexplosion nicht mehr hörte. Grace wusste das, weil sie es auch nicht ge-hört hatte. Aber sie hatte in diesem Moment nicht darüber nachgedacht. Als sei ein Zauber gebro-chen, wand sie sich aus dem Reifen, während die Tränen als brennender, heißer Strom aus ihr her-vorbrachen. Sie weinte und schrie, dass ihr Daddy tot sei, und ihre Urgroßmutter erreichte sie als Ers-te und nahm sie auf den Arm.

Grace hatte immer wieder schluchzend gesagt,

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dass ihr Daddy gerade gestorben sei. Alle versuch-ten, sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass sie nur durcheinander und verängstigt, aber alles in Ord-nung sei, aber sie wollte nichts davon wissen. Da war es, dass sich ihre Urgroßmutter auf die Veran-daschaukel setzte und Grace auf ihren Schoß hob. Das Gesicht der alten Frau war verwittertes Maha-goni, voller Sprünge und Risse, und das Blau ihrer Augen war vom grauen Star getrübt, aber für Grace war sie wunderschön.

»Du hast was geseh’n, nich’, Liebling?«, fragte Urgroßmutter. Die alte Frau hatte sie mit einer fast beängstigenden Intensität angesehen.

Grace hatte zögerlich genickt, fürchtete zu erzäh-len, was sie gesehen hatte, als könnte es dadurch realer werden.

»O Gott«, sagte Urgroßmutter. »Diese kleine, süße Murmel – sie hat das Erspüren, das hat sie.«

Ihre Großmutter nickte zustimmend, und die beiden alten Frauen drückten sie an sich und wieg-ten sie und sangen ihr Lieder vor. Es war wie eine erstarrte, in der Erinnerung verankerte Zeitspanne, zu der sie zurückgehen und die sie ansehen konn-te, wann immer sie wollte, und es wäre immer so, als würde es gerade erst geschehen. Genauso, wie zu ihrer alten Zedernholzkiste zu gehen, in der sie ein Medaillon mit einer Sepiadruck-Fotografie ih-rer Urgroßmutter aufbewahrte.

Und dann, ungefähr drei Tage später, als ihre Mutter das Telegramm wegen ihres Daddys bekam,

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begriff Grace plötzlich, wovon ihre Urgroßmutter gesprochen hatte. Das Seltsamste war – sie mussten nie viel darüber reden. Sie beide, das kleine Mäd-chen und die drahtige, alte, halbblinde Frau, schienen einfach zu erkennen und zu akzeptieren, was vor sich ging. (Später, als Erwachsene, dachte Grace, dass Urgroßmutter wahrscheinlich selbst das Erspüren hatte, was vieles erklärt hätte …) Und was das Erspüren an sich betraf, nun, tatsächlich machte es sich erst wieder bemerkbar, als Grace ungefähr zwölf Jahre alt war, als sie bekam, was Großmutter den »Mondfluch« nannte; aber selbst dann geschah es nur sehr selten, wenn etwas Wich-tiges oder Folgenschweres in Grace’ Leben gesche-hen würde – dann bekam sie vielleicht ein Gefühl, das ihr eine Vorstellung davon vermittelte, was geschehen könnte.

Oder was geschehen würde. Und so war es weitergegangen – Grace, wie sie

einfach eine Art besonderes Licht auf die Vorgänge in ihrem eigenen Leben ausstrahlte – bis vor unge-fähr vier Jahren, als sie in ihrem Ford Escort nach Hartstown zurückfuhr und der Nachrichtensen-dung des lokalen Radiosenders nur unachtsam zu-hörte. Dann brachte der Ansager einen Bericht, der sofort ihre Aufmerksamkeit erregte – Floyd Wan-neker war angeschossen und getötet worden. Er war der Geschäftsführer des ThriftMart mitten in der Stadt, und Grace hatte ihn fast ihr ganzes Le-ben lang gekannt.

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Unglaublich. Floyd tot. Mit einer tödlichen Kopfwunde auf dem Boden

hinter der Kasse aufgefunden, sagte der Ansager, und …

Nein, warte … Grace traf das Bild, das durch sie hindurchriesel-

te, so plötzlich, dass sie abrupt bremsen und den Wagen auf den Seitenstreifen der Mulberry Branch Road lenken musste. Sie bekam Atemnot, und ihre Hände hatten zu zittern begonnen, als sie jäh er-kannte, was mit ihr geschehen war.

Der Ansager hatte nichts von einer Kopfwunde oder davon, wo das Opfer lag, oder ähnliche Ein-zelheiten erwähnt. Aber Grace hatte den armen Floyd gesehen, wie sie ein Foto betrachtet hätte, und sie wusste einfach, dass es die Wahrheit war. Sie lehnte sich an die Kopfstütze ihres Wagens zu-rück, schloss die Augen und ließ das Bild durch sich hindurchströmen: ein magerer Junge mit Blue Jeans, einer rot-weißen Basketball-Jacke mit der Nummer 23 darauf und einer schwarzen Baseball-kappe, eine große, blauschwarz glänzende Pistole in beiden Händen, die er auf Floyd Wanneker rich-tete und einmal abfeuerte. Dann lief der Junge um die Theke herum, um die Kasse auszuräumen, be-vor er zur Tür hinausrannte und in einen verbeul-ten, alten Pick-up mit einem Kennzeichen aus Ge-orgia stieg.

Grace hatte die Augen wieder geöffnet und tief durchgeatmet.

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Hatte sie das alles wirklich gesehen? Ein Gefühl traumähnlicher Irrealität färbte ihre Wahrnehmun-gen. Sie verlor das Zeitgefühl und saß eine Weile so da, bevor sie den kleinen Wagen schließlich wieder startete und in Richtung Stadtmitte fuhr.

Sie war sich nicht sicher, wohin sie wollte, bis sie auf den kleinen Parkplatz neben dem Büro des Sheriffs einbog, das nur aus einem winzigen Raum im ersten Stock des Rathauses bestand. Ein Kran-kenwagen vom Sumter General war dort geparkt, zusammen mit zwei Streifenwagen der State Police und Sheriff Davis’ großem weißen Chevy. Grace schaltete den Motor des Escort ab und atmete tief ein und langsam wieder aus. Sie wusste, warum sie hier war, und sie würde darauf vertrauen müssen, dass Gott ihr Kraft gab.

Sie hatte sich überlegt, dass der leichteste Weg, es all den sich in dem kleinen Büro des Sheriffs drän-genden Menschen zu erzählen, darin bestand, ein-fach damit herauszuplatzen, sodass sie genau das tat. Grace erzählte ihnen Dinge, die sie eigentlich nicht wissen konnte, und sagte ihnen, nach was für einem Wagen sie auf dem Highway suchen mussten.

Die Polizisten waren zunächst so verblüfft, dass sie ihr nicht glaubten, aber dann meinten sie, dass nur ein Komplize solche Einzelheiten wissen konnte, und wollten sie verhaften. Sheriff Davis gebot seinen Kollegen Einhalt und nahm sich die Zeit, Grace wirklich zuzuhören. Er schloss die Tür seines Büros, setzte sich hin und ließ sie alles auf

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ihre Art erklären. Davis sagte ihr, er sei kein eng-stirniger Mensch und wüsste von vielen Fällen, bei denen Medien für die Aufklärung von Verbrechen äußerst hilfreich gewesen seien, und wenn er in eine solche Situation käme, dann – nun, dann wä-re er bereit, sich darauf einzulassen.

Grace lächelte bei der Erinnerung daran. Es war nicht so, als ginge es um etwas Mühsames oder Schwieriges. Sheriff Davis gab einen Fahndungsbe-fehl für den blauen Pick-up mit dem Kennzeichen aus Georgia heraus, sodass sie den Jungen inner-halb von nur drei Stunden fanden. Er hatte die Mordwaffe noch unter dem Sitz und das Geld aus der Registrierkasse in einer von Floyds ThriftMart-Tüten direkt neben sich.

Kinderleicht, das war es gewesen. Grace hatte den Sheriff gebeten, ihre Rolle bei der Sache ge-heim zu halten, und er versprach ihr, das zu tun. Tatsächlich versicherte er ihr, er würde sie niemals um ihre Hilfe bitten, wenn es nicht um etwas so furchtbar Entsetzliches ginge, dass sie einfach wis-sen würde, dass er sie brauchte. Sie war ihm dafür wirklich dankbar, und wenn sie bedachte, dass er sein Wort nun schon jahrelang gehalten hatte, ver-stand sie vollkommen, warum er glaubte, sie auf-suchen zu müssen …

… und er beugte sich auf der Bank vor, die Hände so ordentlich gefaltet wie die Bügelfalten seines gestärkten Uniformhemdes. Grace hatte eine ganz

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kurze Vision, wie DeWaynes Frau diese Hemden einsprühte und bügelte, und das zauberte ein klei-nes Lächeln auf ihr Gesicht. Genau in dem Mo-ment richtete er sich auf, nickte und sah sie mit diesem Hundeblick an, den einige Männer als Jun-gen perfektionieren und ihr ganzes Erwachsenenal-ter hindurch beibehalten. Ein Blick, der Frauen stets anfällig dafür macht, sie zu mögen und etwas für sie tun zu wollen.

»Nun, Grace, dann überlasse ich Sie wohl wie-der Ihren musikalischen Übungen und fahre ins Büro zurück.« Er erhob sich, strich seine Hose glatt und richtete das Halfter mit dem großen Revolver. »Wenn Sie irgendetwas über den Carstairs-Fall brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen, okay?«

Grace nickte und erhob sich ebenfalls. »Das wird vermutlich der Fall sein. Ich werde diese gan-ze Sache überdenken und sehen, was dabei her-auskommt.«

»Meinen Sie nicht, Sie brauchen einige der … Fakten, die wir bisher herausfinden konnten?«

»Vielleicht, aber wir werden einfach sehen müs-sen, was kommt. Dieses alte Erspüren ist etwas, was sich nicht kontrollieren lässt, DeWayne. Es überkommt mich einfach so, und zack, da ist es.«

»Zack, da ist es«, sagte er lächelnd. »Gab es nicht ein Lied mit diesem Titel?«

Grace nickte. »Ja, aber dieses alte Zack gab es schon vor dem Song.«

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Der Sheriff kicherte, nickte, nahm ihre Hände in seine und sah sie mit seinem treuesten Dackelblick an. »Danke, Grace. Ich meine es ernst, ich danke Ihnen.«

»Sie wissen, dass ich gerne helfe.« »Was auch immer hieraus wird, selbst wenn es

nicht vielversprechend aussieht – ich weiß es zu schätzen.«

Sie verabschiedeten sich, und Grace kehrte zu ihrer Orgel zurück, nachdem sie DeWayne hatte wegfahren sehen. Sie setzte sich auf die Bank und begann, »Nearer My God to Thee« zu spielen, wo-bei sie sich nur halbwegs auf die Melodie kon-zentrierte. Sie merkte, dass sie im Geiste die Liste der Dinge durchging, die sie über den Carstairs-Fall gehört hatte und von denen sie wusste, dass es Tat-sachen waren und …

… und plötzlich saß sie da, die Arme an den Seiten herabhängend, der Blick starr geradeaus, und Bilder liefen vor ihren Augen ab, als säße sie in der Bibliothek und bewegte den Kurbelgriff an einem jener alten Mikrofilm-Lesegeräte. Alles ver-schwommene, in Hochgeschwindigkeit ablaufende Informationen. Woher kamen sie und warum ka-men sie zu ihr? Diese Fragen brannten sich durch die Flut von Bildern hindurch, beunruhigten sie aber nicht wirklich …

Und langsam, als würde ein Gefäß gefüllt, nahm Grace die Einzelheiten von Abigail Carstairs’ Ver-schwinden in ihre Seele auf …

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Vorletzten Sonntag hatte ein vierzehnjähriges Mädchen namens Abby Carstairs mit ihrer besten Freundin, Miranda Jones, in deren Elternhaus für eine wichtige Geografiearbeit gelernt. Ungefähr um vier Uhr nachmittags hatte sie die Schulbücher in ihren hellgelben L. L.-Bean-Rucksack gepackt, sich von Miranda verabschiedet und das Haus verlas-sen. Abby war irgendwo in den vier Vorortblocks zwischen dem Haus der Jones’ und ihrem eigenen verschwunden. So, als wäre sie in eine bodenlose Grube gestürzt. Die ganze Stadt Sumter hatte sich bei der Suche nach Abby beteiligt, ohne eine Spur der hübschen, blonden Cheerleaderin entdecken zu können. Staats-, Kreis-, Stadt- und sogar Bun-desbehörden waren jedem möglichen Hinweis ge-folgt, hatten aber nichts zutage gefördert. Obwohl noch immer die Möglichkeit bestand, dass Abby davongelaufen war, ließ keine der Aussagen das vermuten. Die einzigen Verdächtigen waren ein Freund und Abbys eigene Eltern, aber das nur auf-grund von Statistiken, da kein einziger Hinweis sie mit dem Verschwinden in Verbindung brachte. Eine Entführung, eine Vergewaltigung, ein Mord oder eine Kombination dieser Verbrechen schien am wahrscheinlichsten zu sein. Es war bisher keine Lösegeldforderung eingegangen, und eine Kontakt-aufnahme oder ein sonstiges Zeichen des Täters hatte es nicht gegeben. Abigail Carstairs war ein-fach verschwunden.

Aber das war nicht alles, was Grace erfüllte,

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während sie regungslos dasaß und die Tasten ihrer Orgel betrachtete, ohne sie wirklich zu sehen. Als würden die Schichten einer Zwiebel abgeschält, bekam sie allmählich einen tieferen, deutlicheren Einblick in die Fakten des Falles. Zunächst fühlte sich nichts logisch oder vernünftig an. Es war nur ein beständiges Auftauchen von Bildern, die all-mählich mehr Substanz annahmen. Der gelbe Rucksack, blondes, zu einem Pferdeschwanz zu-sammengebundenes Haar, schwarze Motorradstie-fel mit abgelaufenen Hacken, eine verwitterte Scheune, eine Reklametafel für Red Man Chewing Tobacco, ein schwarzer Mini-Van, Streifen nassen Rohleders, Stücke eines PVC-Rohrs, eine Trauer-weide. Weitere Gegenstände und Szenen zogen an ihr vorbei, aber so, als sähe Grace sie durch einen Schleier oder aus großer Entfernung. Nicht klar oder erkennbar, aber mit dem allem zugrunde lie-genden Glauben, dass alles ausreichend klar würde … bald genug.

Antworten, dachte sie ruhig, boten sich ihr ge-wöhnlich in Träumen dar.

Und das taten sie. Spät in dieser Nacht.

Nachdem sie die Elf-Uhr-Nachrichten ausge-schaltet und die Türschlösser überprüft hatte, be-trat Grace ihr Schlafzimmer und sank zum Abend-gebet auf die Knie. Während sie mit der vertrauten Litanei begann, streifte ihr Blick das schwarzweiße Porträtfoto ihres Mannes Herman, der im kom-

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menden Winter fünfzehn Jahre tot war. Sie ver-misste ihn sehr und lebte für den Tag, an dem der Herr sie nach Hause rufen würde, damit sie wieder mit ihrem Mann vereint sein könnte. Aber Grace war geduldig und vollkommen dem ergeben, was auch immer Gott für sie bereithielt. Darum konnte sie die Gabe des Erspürens so freimütig und angst-frei akzeptieren. Und so legte sie sich hin, nach-dem sie alle in ihre Gebete mit eingeschlossen hat-te, mit besonderer Erwähnung Hermans und Abby Carstairs’, und wartete darauf, dass der Schlaf sie umfangen würde wie eine warme Woge an einem einsamen Strand.

Als es geschah, träumte Grace. Ein altes Steinge-bäude, das wie ein Schloss oder ein Burgverlies aussah, aber sie wusste, dass es keines von beidem war. Regen peitschte das raue Gestein des Gebäudes, eine einzige Kerze beleuchtete ein einzelnes, offenes Fenster, und Grace schien über diesem gotischen Gebäude zu schwe-ben wie ein kreisender Falke, aber das Gefühl des Flie-gern war weder erheiternd noch beängstigend. Eher so, als sollte es so sein. Dann schoss sie herab und glitt direkt durch das Fenster, an der Kerze vorbei und einen langen gemauerten Korridor mit gewölbter Decke ent-lang. In einem Alkoven am Ende des Ganges stand eine Statue – in die braunen und lohfarbenen Gewänder eines unbekannten Nonnenordens gekleidet. Während Grace sich der Statue näherte, begann diese mit einem sanften inneren Licht zu leuchten, und es war plötzlich offensichtlich, dass dies gar keine Statue war, sondern

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eine Frau unbestimmbaren Alters, von einer Heiterkeit umgeben, die sie recht anziehend machte. Grace lächel-te, und die Frau erwiderte die Geste.

Nun, was, um alles in der Welt, sollte das?, fragte Grace sich, seltsam von dem Traum losgelöst und doch auch vollkommen darin verstrickt.

Sie hatte diese Fähigkeit schon immer besessen, aus ihren Träumen »herauszutreten« und solche Fragen zu stellen, aber sie hatte kaum jemals, wenn überhaupt, das Bedürfnis danach verspürt. Aber dieses Mal ge-schah es fast automatisch – weil dieser Traum nicht wie alle anderen war. Sie hatte dieses alte Steingebäude noch nie gesehen und gewiss nie mit irgendeiner Frau gesprochen, die so aussah wie diejenige, die sie nun vor sich sah. Etwas an alledem wirkte sehr katholisch, und das störte sie. Der Pastor an der First Baptist hatte nie viel Gutes über diese Menschen zu sagen …

Hier geht eindeutig etwas Seltsames vor. »Folgendes ist geschehen«, sagte die Frau. »Wer sind Sie?«, fragte Grace, aber die Traumlady

schien sie nicht zu hören. Stattdessen nahm eine neue Vision Gestalt an.

Abby Carstairs verließ das Haus ihrer Freundin, ge-rade als die Sonne hinter die Baumkronen sank. Die Abenddämmerung drang in die Straßen und färbte alles grau, als ein schwarzer Mini-Van um eine Ecke bog und sich Abby aus der entgegengesetzten Richtung näherte. Er fuhr sehr langsam an ihr vorbei, aber das Mädchen konnte nicht erkennen, wer hinter dem Steuer saß – die Scheiben waren dunkel getönt. Abby erreichte das Ende

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der Straße und wandte sich nach rechts, in die Verbin-dungsstraße zu ihrem Zuhause. Es war eine lange, brei-te Allee, von hohen, alten Eichen und Pappeln über-wölbt und von gepflegten Rasenflächen und Hecken gesäumt. Eine recht nette Nachbarschaft, bei den Orts-ansässigen noch immer als »Pillenhügel« bekannt, weil es die Straße war, in der einst alle Ärzte der Stadt leb-ten. Die meisten Häuser standen ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt, in abfallenden Senken aus Rasen und Gärten, von Zweigen und Sträuchern umge-ben und vom Verkehr ungestört. Daher sah niemand, wie der Mini-Van am Bürgersteig hielt, die Seitentür wie der Rachen eines Raubtiers aufglitt und sich ein hagerer, großer Mann aus dem Fahrzeug schwang, eine Pferdedecke über Abby Carstairs warf und sie ins Wa-geninnere zog. Nachdem er ihr mit einem Totschläger geschickt auf den Hinterkopf geschlagen hatte, fesselte er sie, knebelte sie und fuhr auf der State Road 384 neunundzwanzig Meilen weiter, bis er die Kreuzung erreichte, an der es zu einer einst Conway genannten Stadt abging, ein Ort, der jetzt nur noch aus einer Tankstelle und einer Telefonzelle bestand.

Jenseits der Kreuzung verdeckte eine vergessene Red-Man-Reklametafel halbwegs einen überwucherten Weg, aber der Van verfehlte ihn nicht, bog rasch dort ein und schaukelte durch die verlassenen Felder einer Farm, die vor der Zwangsvollstreckung stand. Die baufällige Scheune aus grauen Latten nahm den Mini-Van auf, und erneut sah niemand zu. Der große, hagere Mann trug Röhrenjeans, eine passende Jacke und Motorrad-

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stiefel, und er bewegte sich mit einer Steifheit, die ver-muten ließ, dass er ständig Schmerzen hatte. Er fuhr den Van neben eine große Grube, die er bereits in den Scheunenboden gegraben hatte. Vom fahlen Licht einer Coleman-Laterne beleuchtet, ähnelte sie sehr einem Grab, und das war sie auf vielerlei Arten auch. Auf dem Boden der Grube lag ein geöffneter Kühlschrank, ausgestöpselt, von Alter und mangelnder Pflege fleckig, und aus seinem geöffneten weißen Gehäuse ragte eine hölzerne Malerleiter heraus. Der hagere Mann hob Abby, die sich nach dem Überfall gerade zu regen be-gann, wie ein Feuerwehrmann an, der ein bewusstloses Opfer birgt, und stieg die Leiter hinab. Nachdem er sie in den alten Kühlschrank gelegt hatte, schloss er die Tür, die so weit verändert worden war, dass sie ein PVC-Rohr von eineinhalb Zoll Durchmesser aufneh-men konnte. Der hagere Mann fügte rasch mehrere Stücke des Rohres in die Kühlschranktür ein – bis zu ebener Erde –, stieg dann die Leiter hinauf, zog sie aus der Grube und begann mit der mühsamen, aber uner-bittlichen Aufgabe, die Grube wieder mit Erde zu fül-len. Als er fertig war, entfaltete er neben dem Rohr, das vom Boden bis in eine Höhe von ungefähr achtzehn Zoll reichte, einen Gartenstuhl. Er setzte sich hin und betrachtete einfach das Rohr, als lausche er auf ein daraus hervordringendes Geräusch …

»Was bedeutet das?«, fragte Grace die Traumlady. »Das weißt du bereits. Und du weißt, was zu tun

ist.« »Ja«, sagte Grace. »Das weiß ich.«

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»Und wenn du es erledigt hast, werde ich dich wie-dersehen.«

Grace nickte und wandte sich von dem Alkoven ab, als bereitete sie sich darauf vor, die Länge des Korridors entlangzuschreiten. Aber als sie die ersten wenigen Schritte getan hatte, begannen sich die Steinmauern aufzulösen, und sie schwebte erneut durch den Nacht-himmel …

Sie erwachte ruckartig und war überrascht zu se-hen, dass es jenseits des Fensters noch dunkel war. Der Traum war so real gewesen, so lebendig, dass es ihr schien, als würde sie jetzt gerade eine Erinne-rung durchleben – dort zu sein, tatsächlich mit diesem grässlichen dünnen Mann in der Scheune zu sein. Seltsamerweise hatte sie das, was sie ihn hatte tun sehen, weniger aus der Fassung gebracht als erzürnt. Grace hatte keine Angst, weil sie an die Macht Gottes glaubte und wusste, dass sie die Mit-tel dazu besaß, das Ungeheuer der Gerechtigkeit zuzuführen. Ihre Gedanken waren, trotz des man-gelnden Schlafes, klar und scharf, und sie erhob sich aus dem Bett, nahm ihren Morgenmantel und stieg die Treppe hinab zu ihrem Schreibpult, an das sie sich jeden Monat setzte, um ihre Rechnun-gen zu bezahlen. Sie nahm einen Notizblock und begann zu schreiben.

Grace wollte alle Fakten sortieren, bevor sie She-riff Davis anrief. Während sie sorgfältig die Einzel-heiten notierte, merkte sie, dass sie ein wenig abge-lenkt war.

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Was geht hier vor? Ich bin keine Katholikin, also wer war diese Nonne, die mit mir sprach?

Sie konnte das Bild der Frau nicht aus ihren Ge-danken verbannen. Wann immer sie Dinge mithil-fe des Erspürens betrachtet hatte, all die Träume, all die wundervollen und schrecklichen Dinge, die vor ihrem inneren Auge erstanden waren … nie-mals hatte sie etwas dieser Vision mit der Traum-lady Vergleichbares erlebt. Es war so, als wäre die Frau unmittelbar dabeigewesen und habe Grace’ Traum geteilt.

Und das war unmöglich, oder? Diese Frage verfolgte sie, während sie ihre Noti-

zen beendete. Aber sie schrieb schwungvoll und mit Zuversicht. Sie würde alles so rasch wie mög-lich niederschreiben. Der Sheriff würde alle Details ihres Traumes benötigen, wenn sie das Leben die-ses jungen Mädchens retten wollten.

Und Grace freute sich darauf, die Traumlady wiederzusehen. Sie wollte ihr einige Fragen stellen.

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Schwester Etienne – Vatikanstadt 20. September 2000

er Konvent der Sisters of Poor Clares war in seiner gotischen Gewaltigkeit ungewöhnlich

eindrucksvoll: große Steinblöcke, hoch aufragende Türme, hohe Fenster. Etienne hatte gehört, dass er vielen Touristen wie eine Festung oder ein Gefäng-nis erschien. Und sie hatte das Gefühl, dass er in gewisser Weise stets beides gewesen war. Denn für die Frauen, die ihr Leben innerhalb seiner Mauern verbrachten, stellte der Konvent ein spirituelles Bollwerk gegen die Versuchungen der Außenwelt und auch ein physisches Gefängnis dar, das die Mitglieder seines Ordens davon abhielt, jemals in das Leben der weltlichen Gesellschaft zu flüchten.

Der Konvent war ein Ort, zu dem äußerst weni-ge Informationen durchdrangen zu einer Zeit, die sich das Informationszeitalter nannte, ein Ort, an dem die moderne Technik nahezu keine Bedeu-tung besaß und der nur sehr wenige Berührungs-punkte mit dem hatte, was außerhalb seiner Mau-ern geschah. Etienne hatte den größten Teil ihres Lebens so verbracht, bis zu dem Zeitpunkt, da ihr Sohn die dreißig erreichte.

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Seitdem war sie zur Empfängerin halluzinierter Träume, fugierter Zustände und dessen gewesen, was manche Menschen »Visionen« nennen wür-den. Sie hatte sich manchmal versucht gefühlt, ih-ren Vorgesetzten, Äbtissin Victorianna oder sogar Paolo Kardinal Lareggia, davon zu erzählen, aber bis vor Kurzem hatte niemand großes Interesse daran gezeigt.

So lange nicht, bis ihre Schöpfung, der geheim-nisvolle Peter Carenza, entgegen dem Plan, der Form, den Erwartungen zu handeln begann.

So lange nicht, bis sich alle in Peters Dunstkreis zu fragen begannen, wie und warum Gott so etwas hatte zulassen können.

So lange nicht, bis sie nirgendwo sonst mehr nach Antworten suchen konnten.

Etienne lächelte in sich hinein, während sie diesen Gedanken nachhing. Sie spazierte lang-sam über die gewundenen Steinpfade der Kon-ventgärten, erwartete die Ankunft Marion Wind-sors, der einzigen Person auf der Welt, von der Etienne glaubte, dass sie ihr wahrhaft vertrauen konnte.

Es sei denn, Gott wäre grausam, und das glaubte sie nicht. Er würde niemals fordern oder sogar wünschen, dass sie die Last ihrer kürzlichen Erfah-rungen allein trüge. Nein, hatte Etienne beschlos-sen, sie musste das, was sie entdeckt hatte, was sie jetzt wusste, mit jemandem teilen, sonst würde es sie verschlingen.

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Sie war so in Gedanken verloren, dass sie nicht bemerkte, dass sie nicht mehr allein war.

»Guten Morgen, Etienne«, sagte Marion. Sie stand bei einer Marmorbank, genau dort, wo der Pfad unter den Zweigen eines Eukalyptus eine Bie-gung machte. »Ich hoffe, ich bin nicht zu spät.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich möchte nur drin-gend mit Ihnen sprechen.«

Marion nickte. Sie trug ein unauffälliges Kleid, das bis auf ihre modischen Stiefel reichte. Etienne fragte sich beiläufig, wie es wäre, andere Kleidung als ihre Tracht zu tragen. »Wollen wir spazieren gehen? Oder uns hierher setzen?«

»Gehen wir ein Stück spazieren«, sagte Etienne und ergriff zur Begrüßung Marions Hand. Marion kam näher und küsste sie auf die Wange. Solch eine einfache Geste, und doch sagte sie viel über die wachsende Nähe zwischen ihnen aus.

»Sie klangen am Telefon sehr ernst«, sagte Mari-on, als sie sehr gemächlich dem Weg zu folgen be-gannen. »Wobei ich übrigens überrascht war, dass Sie es benutzt haben.«

»Unsere Telefone sind nur für Notfälle gedacht, aber Victorianna gestattet mir in letzter Zeit zu tun, was immer ich für geboten erachte.« Etienne merk-te, dass sie sehr langsam sprach und ihre Worte in Englisch sehr sorgfältig und mühsam wählte. Sie konnte ihren Akzent nicht verbergen, aber sie woll-te, dass ihre Wortwahl ihre Gedanken so genau wie möglich widerspiegelte.

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»Wirklich? Was hat sie dazu veranlasst?« Etienne zuckte die Achseln. »Ich glaube, sie hat

Angst.« Marion nickte und kicherte nervös. »Ich denke,

das gilt für uns alle, nicht wahr?« »Ich glaube noch immer an den Plan Gottes«,

sagte Etienne. »Daran würde ich auch gerne glauben«, erwider-

te Marion, »aber es wird immer schwerer.« »Vielleicht nicht mehr so sehr, wenn Sie meine

Geschichte gehört haben«, sagte Etienne, hielt inne und räusperte sich. Sie war nervös, als mache sie sich für die Beichte einer großen Sünde bereit. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, wie schwer es sein würde, darüber zu sprechen. Aber sie musste es tun. Gott wollte es offensichtlich.

»Werden Sie mein Englisch verzeihen, wenn ich manchmal nicht das richtige Wort treffe?«

Marion lächelte. »Ihr Englisch ist ausgezeichnet, Sie scherzen.«

Etienne lächelte dankbar und begann. »Marion, Sie wissen, dass ich in der Vergangenheit Botschaf-ten von Gott zu empfangen glaubte.«

»Ja, Kardinal Lareggia sagte mir, dass Sie ver-sucht hätten, den Papst zu sprechen, damals, als Peter durch die Vereinigten Staaten reiste. Sie er-zählten ihm, Sie hätten Visionen gehabt.«

»Ja, das ist richtig. Sie haben nie wirklich aufge-hört. Ich spüre, dass Gott mir aufgrund meiner Rolle bei Peters Erschaffung ›Zeichen‹ oder ›Bot-

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schaften‹ übermittelt. Ich glaube, Peter wurde zu einem bestimmten Zweck in die Welt gesandt. Gott will die Menschen manchmal prüfen, und der Umgang der Welt mit Papst Peter II. wird darüber entscheiden, wie Gott mit der Welt verfahren wird. Nun, ich weiß, ich klinge allmählich verrückt, weil ich – wie heißt das Wort? – Wahnvorstellungen habe, aber Sie sollten mir glauben. Mir wurde der Weg gezeigt … von Gott.«

Marion wandte sich zu der älteren Frau um und sah ihr tief in die Augen, als suche sie etwas. »Eti-enne, bitte. Entschuldigen Sie sich nicht für das, was Sie mir erzählen. Nach allem, was ich gesehen habe, nach allem, was ich bereits als die Wahrheit erkannt habe, können Sie mir nichts erzählen, was zu unglaubwürdig klänge.«

Etienne nickte. Also gut, sie würde einfach wei-tersprechen und mit den einleitenden Bemerkun-gen aufhören. »Ich hatte lange, komplizierte Träu-me«, erklärte sie. »Und manchmal sind es mehr als Träume. Es ist so, als reise ich außerhalb meines Körpers. Ich gehe zu Orten, an denen ich Men-schen treffe, besondere Menschen.«

»›Astralprojektion‹«, sagte Marion. »Das ist die Bezeichnung für das, was Sie beschreiben.«

»Es ist sehr seltsam, aber sehr real, das kann ich Ihnen versichern«, fuhr Etienne fort, während sie weitergingen. »Der erste Traum war anders. Sie müssen ihn kennen, um die anderen zu verstehen. Ich stand auf einer weiten, leeren Ebene, vom

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Wind gepeitscht, und der Himmel war dunkel, obwohl die Sonne hoch und rund dort stand. Während ich sie beobachtete, schien sie zu pulsie-ren, wie ein schlagendes Herz zu pochen. Ich konnte in ihre Mitte blicken, obwohl sie heftig weiß-heiß brannte. Plötzlich lösten sich Feuerarme und erstreckten sich in den Raum. Ich wusste, dass ich einer Manifestation Gottes ansichtig wurde, dass er sich mir auf eine Art zeigte, die ich begrei-fen konnte.

Und er sprach zu mir. Seine Stimme kam aus dem Wind. Er erzählte mir von den Sieben.«

»Von den sieben was?« »In der Offenbarung werden sieben Kirchen er-

wähnt. In meiner Vision sagte er mir, es gäbe sie-ben Schlüssel zu diesen Kirchen – aber es sind nicht wirklich Schlüssel, sondern Menschen. Es sind sieben Menschen, die in der heutigen Welt wie lebende Heilige sind. In der Kabbala waren sie als die Zaddikim bekannt oder die Gerechten. Sie tauchen während der gesamten Geschichte in vie-len Religionen und Glaubensrichtungen überall auf der Welt auf. Von den Abbaye von Babylonien, über die Kanoo-Si der Irokesen-Nation bis zu den Duc Tran Südostasiens. Ungeachtet der Kultur oder Zeit scheint es stets sieben Menschen wie sie gege-ben zu haben. Wenn einer stirbt, wird er oder sie durch einen anderen ersetzt. Und solange auch nur einer der Sieben noch lebt, kann die Welt nicht un-tergehen.«

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»Sieben Schlüssel«, sagte Marion. »Ich habe noch nie etwas Derartiges gehört.«

»Das hatte ich auch nicht«, sagte Etienne. »Ob-wohl ich von den Sieben Siegeln weiß …«

»Auch in der Offenbarung.« »Ja, und dort steht auch die Geschichte von So-

dom und Gomorrha, in der Gott einhundert Ge-rechte auffordert, die Städte zu retten. Was mich verwundert hat – warum einhundert Gerechte für zwei Städte und nur sieben für die ganze Welt? Ich studierte das Alte Testament und entdeckte, dass Gott mit seiner Aufforderung wahrscheinlich sar-donisch war.«

»Was meinen Sie?«, fragte Marion. »Er klagte darüber, dass er nicht einmal einhun-

dert gute Menschen finden könnte – nicht dass er so viele gebraucht hätte.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Marion. »Zumindest glaube ich, es zu verstehen.«

»Aber dieser Hinweis auf die Sieben ist konkre-ter, realer, obwohl ich noch keine Ahnung habe, was das alles bedeutet. Ich weiß, dass Gott es mir zu gegebener Zeit offenbaren wird.«

Marion lächelte ihr herzlich zu. »Etienne, ich liebe Ihren Glauben! So unerschütterlich. So fest. Sie sind eine solche Inspiration.«

»Ich habe die Macht Gottes geschaut«, sagte sie schlicht.

Sie gingen langsam auf dem Gartenweg des Konvents weiter und schwiegen beide einen Mo-

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ment. Dann drängte Marion sie fortzufahren. »Ist da noch mehr?«

»O ja. Sehr viel mehr. Während ich die Sonne am schwarzen Himmel beobachtete, erkannte ich, dass ich eine mögliche Zukunft schaute, als könnte dies die Endzeit sein.«

Marion wirkte bei dieser Vorstellung beunru-higt. »Glauben Sie, dass es so ist?«

Etienne dachte einen Moment darüber nach. »Nein, nicht wirklich. Aber es könnte sein. Wenn wir Gott nicht gefallen. Mein Sohn, Peter, spielt gewiss eine große Rolle bei den zukünftigen Ereignissen.«

»Wissen Sie, oder hat Gott Ihnen gesagt, wie die Welt mit ihm umgehen muss? Ich meine, mit Pe-ter?«

»Irgendwie schon, ja. Ich erzählte Ihnen, dass ich vor gewissen Menschen erschien, und …«

»Die Sieben. Sie sprechen zu ihnen.« »Ja. Noch nicht zu allen, aber das werde ich. Ich

begegne ihnen in besonderen Nächten. Jeder muss auf ganz spezielle Weise von Gott berührt sein, und sie sind alle sehr gerecht.«

»Was will Gott, dass Sie mit ihnen tun sollen?« Etienne blieb auf dem Weg stehen, zeigte

scheinbar großes Interesse an einer Blüte und wandte sich dann zu Marion um. »Überall um uns herum gibt es so viele Mysterien, aber ich vertraue darauf, dass sie geklärt werden. Gott will die Sie-ben zu einem bestimmten Zweck, und diesen wird er uns zu gegebener Zeit mitteilen.«

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»Weiß sonst noch jemand davon?«, fragte Mari-on, während sie wieder weitergingen. »Haben Sie noch jemandem von Ihren Träumen erzählt?«

»Nein, natürlich nicht. Sie sind der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann. Warum wirken Sie so besorgt?«

»Weil ich denke, dass es sehr schlecht für uns wäre, wenn Peter wüsste, was Sie erfahren.«

»Wissen Sie, ich hatte sehr ähnliche Gedanken. Es macht mich so traurig, so schrecklich traurig, dass ich Angst vor meinem eigenen Sohn haben muss. Dass ich etwas so Wundersames vor ihm geheim halten muss – weil er mein gefürchtetster Feind sein könnte.«

»Peter hat Pläne für uns alle«, sagte Marion. »Und ich glaube nicht, dass er Ihre Art mitleidsvol-len Konflikt empfindet.«

»Nein, ich fürchte, das tut er nicht.« »Ich stehe ihm so nahe, wie ihm nur jemand

nahe stehen kann«, sagte Marion. »Er handelt in meiner Gegenwart sorglos – er denkt nicht, dass ich ihm im Weg stehen könnte. Aber er ist mit ge-wissen Nachforschungen beschäftigt, die zuneh-mend Besitz von ihm ergreifen. Ich werde ab jetzt genauer darauf achten, was auch immer er tut. Es könnte wichtig für uns sein.«

»Ich bin froh, dass Sie es so ausgedrückt haben«, sagte Etienne.

»Wie?« »Sie sagten ›uns‹, und so ist es – wir beide, Marion.

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Auch wenn Gott mich unmittelbar anspricht, braucht er uns als Verbündete, die zusammenarbeiten.«

Marion lächelte ihr zu und umfasste ihre beiden Hände. »Danke, Etienne. Gott sei Dank. Sie haben keine Vorstellung davon, wie hilflos ich mich all-mählich fühlte. Aber Sie haben mir solche Kraft gegeben und etwas, von dem ich nie geglaubt hät-te, dass ich es je wieder besitzen würde – Hoff-nung.«

»Gott hegt eine besondere Liebe für diejenigen, die die Hoffnung niemals verlieren.«

Marion lächelte erneut. »Nun, dann sollte ich Ihnen vermutlich sagen, wie sehr ich hoffe, dass Sie recht behalten.«

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Shanti Popul – Delhi, Indien 14. September 2000

er Tag hatte für Shanti Popul, eine junge Frau von vierundzwanzig Jahren, wie jeder andere

begonnen. Sie lebte mit ihrem Mann, Momdar, in einem Arbeiterviertel am Rande der ausgedehnten Stadt, in der er als Maschinist arbeitete und sie sich als Näherin zu Hause abplagte. Obwohl ihre Woh-nung winzig war, hatte Shanti es geschafft, genug Platz für eine alte pedalbetriebene Nähmaschine freizuräumen, an der sie jeden Tag emsig arbeitete, um zusätzliches Geld zu verdienen.

Wenn auch beengt, war ihr Zuhause doch ge-mütlich und voller Gemälde, Wandteppiche, Fa-milienfotos, Nippes, religiöser Gegenstände und Erinnerungsstücke. Es reflektierte sowohl ihre Ju-gend als auch ihre Träume und war das Zentrum ihrer gegenseitigen Liebe und Hingabe zueinan-der.

Aber die Wohnung war nicht groß genug, und da es nur wenige Jobs in der Stadt gab und Mo-mdar so verzweifelt war, weil Shanti arbeiten musste, fühlte sie sich verpflichtet, so viel zu tun wie irgend möglich. Wenn sie nichts sparen könn-

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ten, wären sie für immer in diesem scheußlichen Stadtteil gefangen. Momdar träumte davon, eines Tages eine eigene Maschinenhalle zu haben, aber es wäre viel Geld nötig, um das zu erreichen. Shan-ti liebte ihren Mann, aber sie wurde seiner bestän-digen Tiraden über Geld und Arbeit, Arbeit und Geld, Geld und Arbeit müde. Das Leben hatte ge-wiss mehr zu bieten als das.

Aber sie beklagte sich nicht und stellte auch sei-ne Prioritäten nicht infrage. Sie diente ihm als gute und pflichtbewusste Ehefrau und engagierte sich in ihrer freien Zeit als Freiwillige bei einem der von der Regierung eingerichteten Zentren für obdachlo-se Kinder. Weil sie, genau wie ihr Mann, ihre eige-nen Träume hatte – wunderschöne Kinder zu ha-ben und vielleicht eines Tages ein Kinderfürsorge-Zentrum zu errichten. Aber noch würde sie sich mit ihrer Näherei zufriedengeben, zumal sie durch Mundpropaganda ständig neue Aufträge erhielt. Viele Kunden aus der umliegenden Nachbarschaft nahmen ihre Dienste in Anspruch, da sie für ehrli-che Arbeit und höfliche Behandlung bekannt war. Shanti war sehr stolz darauf.

Sie saß kurz vor der Mittagszeit an ihrer Nähma-schine, als sie durch ein Klopfen an der Tür bei der Arbeit unterbrochen wurde. Das war nicht unge-wöhnlich, da häufig neue Kunden ohne Anmel-dung erschienen. Es war sehr heiß und stickig in der Wohnung, obwohl die Fenster weit offen stan-den. Der Geruch nach Müll und Verwesung wurde

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durch die von den Pflastersteinen abstrahlende Hitze noch verstärkt.

Shanti öffnete die Tür und sah einen Mann mitt-lerer Größe vor sich, der offensichtlich in den Vier-zigern und wie ein moderner Geschäftsmann ge-kleidet war: ein Hemd mit offenem Kragen, eine Gabardinehose und edle Lederschuhe. Er trug mehrere Kleidungsstücke über dem linken Arm, die anscheinend geändert werden sollten, und sei-ne Züge verliehen ihm ein freundliches, vertrautes Aussehen.

Zu vertraut. Der Gedanke durchzuckte Shanti sofort, und

diese Wahrheit traf sie im Kern ihrer Seele. Etwas Seltsames ging mit ihr vor. Nur dazustehen und diesen Mann anzusehen, der ein völlig Fremder für sie war, rief in ihr eine Art unheimliche, unerklärli-che Resonanz hervor.

Als hätte jemand einen Netzschalter umgelegt oder tief in ihrem Bewusstsein ein Absperrventil geöffnet, spürte sie, wie eine Flut von Informatio-nen in sie einströmte wie eine sturmähnliche Kraft. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, und der Schock darüber lähmte sie kurzzeitig und machte sie sprachlos.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte der Mann auf der Schwelle. Er konnte offensichtlich erkennen, dass sie beunruhigt war.

»Oh!«, brachte sie nur hervor. »Ich kenne Sie! Ich kenne Sie!«

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»Tatsächlich?« Der Mann war verblüfft. »Woher kenne ich Sie?« Shanti wich von der

Schwelle zurück und suchte an der Tür Halt. Sie fühlte sich schwach, desorientiert. »Die Götter mö-gen mich beschützen!«

»Madame, man sagte mir, Sie seien eine sehr gu-te Näherin, und dass …«

»Ihr Name ist Sevi! Sie leben in Mathura!« Sie sprach mit lauter Stimme, die sie selbst erschreckte.

Der Mann wirkte benommen. »Das stimmt, aber woher wissen Sie das? Hat Ihnen jemand gesagt, dass ich komme?«

»Wer? Was? Nein! Man hat mir nichts gesagt. Sie sind der Cousin meines Mannes. Der Name mei-nes Mannes ist Sripak, und wir haben drei, nein, vier Kinder.«

»Ich habe einen Cousin dieses Namens, aber woher können Sie das wissen?«, sagte der Mann, der noch immer im Eingang stand und einen linki-schen und verwirrten Eindruck machte. »Und er hat drei Kinder.«

Shanti fühlte sich schwindelig, aber nicht mehr so verängstigt oder verwirrt wie zuvor. Sie spürte die Flut von Informationen in sich einströmen, die aber nun eher tröstlich als bestürzend war.

Und sie begann zu begreifen, was das alles be-deutete.

»… aber der Name der Frau meines Cousins war Ludgi, und sie starb vor langer Zeit.«

»Ich weiß«, sagte Shanti. »Ich bin Ludgi.«

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Nun war Sevi schockiert. Er wich vor ihr zurück und sah sie nun so wachsam an, als wäre sie eine Bedrohung. »Es tut mir leid, aber was Sie sagen, ergibt keinen Sinn. Es ist verrückt!«

»Ich weiß nicht, was das alles bedeutet«, sagte Shanti. »Bitte, kommen Sie herein! Haben Sie kei-ne Angst. Lassen Sie mich Ihnen einige Dinge er-klären, die Ihnen helfen werden zu verstehen.«

Sie streckte eine Hand nach dem Mann aus und bemühte sich, einen möglichst harmlosen Ein-druck zu machen. Der Mann zögerte, umklammer-te seine Kleidungsstücke, als könnten sie ihn be-schützen, und atmete dann aus. Er betrat den Raum, während seine Schultern herabsackten und er sich sichtlich entspannte. Shanti bedeutete ihm, sich zu setzen, was er rasch tat.

»Als Sie noch wesentlich jünger waren, trafen wir uns alle im Haus Ihrer Eltern, erinnern Sie sich? Ich hatte meine Babys, und Ihre Frau, Munga – sie hatte auch Babys. Erinnern Sie sich?«

»Sie kennen den Namen meiner Frau!« »Wie kann ich es Ihnen klarmachen? Hören Sie,

als ich Sie sah, erkannte ich Sie gleich! Sie zu sehen hat etwas in meinen Erinnerungen bewirkt, in meinen Erinnerungen an das vorige Leben. Ich war Ludgi! Ich starb und wurde als diese neue Person wiedergeboren, die Person, die jedermann als Shanti Popul kennt.«

»Wiedergeboren? Das ist unglaublich«, sagte Sevi. »Es ist nicht möglich.«

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Shanti lächelte. »Doch, natürlich ist es das. Ich bin der Beweis dafür. Ist es nicht das, was wir unter Reinkarnation verstehen?«

»Wie ist Ludgi gestorben? Sagen Sie es mir.« »Als ich Ludgi war, starb ich bei der Geburt un-

seres vierten Kindes. Ich kann mich an den Schmerz erinnern und daran, wie die Ärzte und die Familie bei mir standen und dann … nichts mehr. Hat mein Baby überlebt?«

Sevi schüttelte ungläubig den Kopf, aber das verdeutlichte irgendwie, dass er begriff, dass Shanti die Wahrheit sagte. »Ja«, sagte er nach einer Pause. »Ein Junge, der wie Sie aussieht, wie Ludgi, meine ich. Er studiert, um eines Tages ein Doktor zu wer-den.«

»Ein Doktor! Das ist wunderbar.« »Madame Popul, verzeihen Sie, aber ich fühle

mich sehr unwohl, hier so mit Ihnen zu sitzen. Wir reden von Dingen, die nicht möglich sein können, und doch haben sie für uns beide Sinn. Vielleicht sollte ich einfach gehen, und wir könnten vorge-ben, dass dies nie geschehen ist.«

Shanti brach in Lachen aus. »Sie verstehen nicht! Ich kann niemals wieder die Person sein, die ich war, bevor ich Sie sah. Sie zu sehen hat das be-wirkt! Jetzt habe ich vollkommen neue Erinnerun-gen, geliebte Erinnerungen, an Zeiten und Orte. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie seltsam und wundervoll und erschreckend sich das alles für mich anfühlt, aber Sie müssen mir glauben, wenn

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ich Ihnen sage, dass ich Sie nicht einfach gehen lassen und vergessen kann, dass jemals etwas ge-schehen ist.«

Sevi nickte und fuhr sich nervös mit den Fingern durch sein dichtes silbriges Haar. »Was Sie sagen, klingt vernünftig, aber Sie müssen verstehen, dass ich noch immer zweifle oder zumindest nur un-gern akzeptiere, was Sie mir erzählen.«

Shanti lächelte. »Nein, Sir, es tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Ich sage Ihnen Dinge, die niemand wissen kann, es sei denn, ich war die Per-son namens Ludgi.«

»Das kann einfach nicht sein!« »Warum wollen Sie mir nicht glauben?« »Mein Cousin«, sagte Sevi. »Er hat nach Ludgis

Tod nie wieder geheiratet. Er ist nie wirklich dar-über hinweggekommen – er hat sich sogar Vorwür-fe gemacht, dass er weitere Kinder von ihr haben wollte.«

»Das ist so traurig«, sagte Shanti. »Also nehmen wir einmal an, dass das, was Sie

mir erzählen, die Wahrheit ist. Dann wäre es im-mer noch sehr schlimm für meinen Cousin. Ich habe keine Ahnung, wie er auf die Nachricht rea-gieren würde, dass seine Frau irgendwie lebt und mit einem anderen Ehemann zusammen ist. Sehr seltsam. Sehr seltsam, Madame. Verstehen Sie das nicht?«

»Doch, das verstehe ich«, sagte Shanti. »Aber ich möchte so gerne meine Kinder sehen – sie müssen

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inzwischen alle erwachsen sein – und besonders den Sohn, den kennenzulernen mir nie vergönnt war!«

Sevi wedelte mit den Armen wie ein Verkehrspo-lizist. »Nein! Nein! Niemals, bitte! Ich werde Ihnen nichts mehr über ihn erzählen!«

Shanti lächelte sanft und streckte die Hand aus, um ihn zu beruhigen. »Sie vergessen, Sevi, dass ich weiß, wo die Familie in Mathura lebt. Ich kann jeden Raum in Sripaks Haus beschreiben, und auch in Ihrem Haus! Haben Sie immer noch den von Ihrer Großmutter, die in Kalkutta lebte, gefer-tigten Wandteppich?«

Sevi konnte den benommenen und besiegten Ausdruck auf seinem Gesicht nicht verbergen. »Sie sind es, Ludgi. Wie sonst könnten Sie so etwas wis-sen?«

»Ja, wie ich es Ihnen gesagt habe.« Sie erhob sich, trat nahe an ihn heran und nahm ihm die Kleidungsstücke ab. »Kommen Sie, lassen Sie sie mich Ihnen abnehmen. Sind die Änderungen mar-kiert?«

»Ja, aber wie können Sie jetzt über Ihre Arbeit reden? Nach dem, worüber wir zuvor gesprochen haben?«

Shanti trat lächelnd wieder zu ihrer Nähmaschi-ne und legte die neue Arbeit auf einen neben der Maschine stehenden Tisch. »Weil das Leben so ist, und wir leben es beide, Sevi.«

»Aber wie können Sie so … duldsam sein, sich mit dem Wissen so wohl fühlen?«

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Shanti hielt inne, um über ihre Gefühle und die Antwort nachzudenken. Sevi hatte eine wirklich in-teressante Frage gestellt. Und Shanti hatte keine wirkliche Erklärung für die Heiterkeit, die sie nun durchströmte. Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben lang etwas vermisst, als wäre sie irgendwie unvoll-ständig gewesen, ohne wirklich zu wissen, was ihr fehlte. Und jetzt war dieses fehlende Stück wieder an seinen Platz gerückt worden und erfüllte sie dadurch mit einem Gefühl der Ganzheit, des Wohlbefindens, das nicht in Worte gefasst, sondern nur empfunden werden konnte. Da war keine Desorientierung, keine Bestürzung und ganz sicher keine Angst.

Sie sprach langsam, so als versuchte sie, Sevi diese Empfindungen zu vermitteln, und sie musste ihm zugute halten, dass er aufmerksam und res-pektvoll zuhörte.

»Was Sie sagen, ergibt Sinn, und ich glaube Ihnen, dass Sie sich mit Ihrem Wissen wohl fühlen. Aber ich bin mir auch sicher, dass mein Cousin nicht so anpassungsfähig wäre.«

Shanti nickte. »Ich verstehe. Wie wäre es dann damit? Wir werden Sripak, meinem armen Ehe-mann, der noch immer trauert, nicht sagen, dass seine Ludgi wieder lebt.«

»Wirklich?« Sevi wirkte hoffnungsvoll. »Ja, aber Sie müssen mir erlauben, Sie unter ei-

nem Vorwand – vielleicht als eine Geschäftspartne-rin – nach Mathura zu begleiten, damit ich zumin-dest meine Kinder wiedersehen kann.«

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»Und Sie werden nichts sagen?« »Nichts. Ich kann verstehen, dass es nur einen

Bruch im Leben so vieler bewirken würde. Die Ver-gangenheit wird aus sehr gutem Grund Vergangen-heit genannt – sie liegt hinter uns, ist vergangen und unveränderbar.«

»Sie sind sehr weise für einen so jungen Men-schen.«

»Sevi, wie rasch wir vergessen: Ich lebe schon lange Zeit!«

Er wirkte verlegen, schüttelte den Kopf und be-mühte sich um ein Lächeln. »Das ist alles so selt-sam! So schwer für mich zu begreifen. Es tut mir leid, Madame Popul.«

»Bitte, nennen Sie mich Shanti – oder Ludgi, wenn Sie wollen.«

Er hielt inne. »Ich denke, Shanti wird das Beste sein.«

Sie erhob sich ebenfalls und streckte mit einer sehr damenhaften Geste die Hände aus. »Es war so schön, Sie kennenzulernen und Sie wiederzuse-hen.«

Er reichte ihr seine Visitenkarte und nickte. »Sie werden mich anrufen, wenn die Arbeit fertig ist?«

»Ja, und dann werden wir Vereinbarungen tref-fen, damit ich meine andere Familie sehen kann?«

Sevi zuckte die Achseln. »Ja, das können wir wohl tun.«

Sie lächelte, und er murmelte einen hastigen Abschiedsgruß, bevor er rasch aus der Tür schlüpf-

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te. Shanti kehrte zu ihrem Stuhl an der Nähma-schine zurück, buchstäblich von Empfindungen überflutet. Es gab so vieles zu überdenken. Sie be-gab sich automatisch an ihre Arbeit, während sie all die neuen Erinnerungen ihres früheren Lebens in sich einsickern ließ. Einmal fragte sie sich, wie sie Momdar erklären würde, was sie erlebt hatte.

Die Vorstellung verwirrte sie ernstlich. Als sich Shanti daran erinnerte, wie zutiefst ungläubig, verwirrt und hilflos Sevi reagiert hatte, konnte sie sich vorstellen, wie viel ungläubiger, verwirrter und hilfloser ihr hochpragmatischer, absolut ge-schäftsmäßiger Ehemann reagieren würde. Sie ver-suchte sich kopfschüttelnd vorzustellen, wie schlecht er mit diesen Neuigkeiten umgehen könn-te. Gewiss liebte er sie, das aber mit einem hohen Maß an Kontrolle und einer Besitzgier, die manchmal fast an Verzweiflung grenzte. Nein, dachte sie abschließend, das war keine gute Idee.

Während sie das Pedal der alten Nähmaschine betätigte, entschied Shanti, dass sie es vermeiden würde, ihre Neuigkeiten mit Momdar zu teilen – wenn das überhaupt möglich war.

Aber sie konnte ihre erschreckende und wunder-same Erleuchtung doch nicht geheim halten! Was sollte sie tun? Und wie wäre es möglich, mit dem Wissen hier in Delhi zu leben, dass ihre andere Familie (ihre erste Familie?) in der Nähe von Mathura lebte? Sie war noch nicht bereit, diese Fragen zu beantworten, und auch nur darüber

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nachzudenken machte ihr Angst. Und je mehr sie erwog, ihr Wissen vor Momdar zu verbergen, desto mehr quälte sie diese Vorstellung.

Es war nicht gut, Geheimnisse vor seinem Ehe-mann zu haben, und unter den meisten Umstän-den wahrscheinlich eine der schwersten Sünden.

Du wirst nicht sündigen, sagte eine Stimme, die nicht die Stimme von Shantis Gedanken war, son-dern eine andere.

Jemand, der innerhalb der Begrenzung ihrer Gedanken mit ihr hatte sprechen können, aber das war unmöglich …

»Was?«, fragte sie laut und wandte sich auf ih-rem Stuhl um, von dem plötzlichen Verdacht überwältigt, dass sie in dem kleinen Raum nicht allein war. Als sie zur gegenüberliegenden Wand blickte, sah sie erstaunt eine Frau am Esstisch ste-hen, die sie ruhig ansah.

Die Züge der Frau waren sanft und mediterran. Ihr Alter lag irgendwo zwischen Mitte dreißig und Mitte fünfzig, und sie trug ein einfaches, zeitloses Gewand und den Habit eines religiösen Ordens, sehr ähnlich der Kleidung Mutter Teresas. Ihre mandelförmigen Augen waren dunkel und durch-dringend, aber ohne jeglichen Hinweis auf Feind-seligkeit. Und ein seltsames, sanftes und wunder-schönes Licht schien entweder von ihr oder von der dünnen Schicht der sie umgebenden Atmo-sphäre auszustrahlen.

Bitte hab keine Angst, sagte die Frau.

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»Ich habe keine Angst«, sagte Shanti, während sie sich erhob und von der Nähmaschine zurück-trat. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereinge-kommen?«

Ich bin eine Botin Gottes. »Ein Engel?« Nein, nur ein weiteres seiner Kinder, wie du selbst.

Aber Gott braucht dich. Jetzt. »Mich?« Shanti lächelte unwillkürlich und ohne

jede Respektlosigkeit. »Ich bin nur ein junges Mäd-chen! Was kann ich für ihn tun?«

Heute wurde dir das Geschenk eines Blickes in deine Vergangenheit zuteil. Es ist ein Zeichen dessen, wie besonders du bist, in bestimmten Hinsichten besonders, die du noch nicht verstehen kannst. Im Moment musst du einfach glauben, dass du von Gott gebraucht wirst.

Als die Worte der Frau Shanti berührten, fühlte sie sich benommen, so als hätten sie die Macht, ihr die Sinne zu rauben. Shanti konnte die Aura großer Macht spüren, als stünde sie neben einem gewalti-gen, pochenden Generator. »Ich glaube Ihnen«, sagte sie.

Es hat in der Geschichte stets Zeiten der Abrechnung gegeben. Dies ist eine dieser Zeiten, und du wurdest berufen, der Verdorbenheit in der Welt entgegenzutre-ten.

»Ich werde Sie nicht enttäuschen«, sagte Shanti. Nein, nicht mich. Ich bin nur ein Werkzeug. Wisse

dies: Man wird sich an dich wenden, und du musst tun, worum du gebeten wirst.

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»Wann wird das geschehen? Wie werde ich es er-fahren?«

Sobald es mir bekannt ist, wird es auch dir bekannt sein. Gott lebt in dir, Shanti Popul, und du in ihm.

Und dann war die Frau des Lichts verschwun-den.

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Gaetano – Scarpino, Korsika 18. September 2000

eine Reise näherte sich schließlich ihrem Ende. Das Tyrrhenische Meer glühte im letzten Schein

der untergehenden Sonne, als sich sein Boot dem Ufer näherte. Gaetano lehnte am Dollbord und betrachtete den kleinen Hafen, der von der hinter ihm aufragenden kahlen Felswand dominiert wur-de. Sein Ziel war abgelegen, selbst für einen so fer-nen Ort wie Korsika.

»Nehmen Sie Ihre Sachen, Signore«, sagte der Kapitän des Fischerbootes. Der kleine Mann mit der breiten Brust justierte den Kurs, während er sprach. »Wir werden in wenigen Minuten anlegen.«

Gaetano nickte, wandte sich von der fantasti-schen Küstenlinie ab und eilte zu der Kabine zu-rück, in der seine Ausrüstung auf ihn wartete: zwei große Bergsteiger-Matchbeutel, die mit allem voll-gestopft waren, wovon sie gesagt hatten, dass er es brauchen würde. Er konnte spüren, wie sich sein Puls zu beschleunigen begann, als er darüber nachdachte, wie nahe er seinem Ziel war. Sie hat-ten ihm sehr deutlich gemacht, dass er dort nur geduldet würde – und sollte er die Prüfungen nicht

S

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bestehen, die auf ihn warteten, würde er nicht aus dem Programm genommen.

Er würde getötet. So einfach war das. Und er hatte diesen Vertrag

unterschrieben – ohne Zögern. Aus zwei Gründen: Er wusste, dass er nicht versagen würde, und er hatte die Lauterkeit seines allerletzten Auftrags ak-zeptiert, überzeugt davon, dass Gott auf seiner Sei-te war.

Während er seine Matchbeutel auf das Vorder-deck brachte, beobachtete er, wie die Docks immer näher kamen. Weitere Einzelheiten offenbarten sich, und Gaetano war von der äußersten Anonymi-tät des vor ihm liegenden Fischerdorfes beein-druckt. Baufällige Gebäude, einige wenige verfalle-ne Werften und kaum mehr. Das Boot verlangsam-te seine Fahrt, und seine alten Doppel-Chrysler husteten und furzten, während die Rohrverbindun-gen vibrierten. Wasser schlug in kurzen, rhythmi-schen Wellen gegen den Bug und untermalte die gelegentlichen Scherze einer Vielzahl von Leuten entlang der Docks. Und alles roch wie toter Fisch.

Gaetano lächelte. Er mochte diesen Ort. Er wandte sich zum Kapitän um und grüßte kurz. »Ciao, amico mio. Grazie!«

In dem Moment, in dem die Steuerbordseite des Rumpfes gegen die Hafenmauer prallte, hievte Gaetano seine Matchbeutel hinüber und stieg dann von dem sanft schaukelnden Boot. Bevor er sie je-doch hochnehmen und losgehen konnte, rief je-

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mand leise seinen Namen, gerade noch hörbar, aber mit großartigem Timbre und Selbstvertrauen.

»Signore Gaetano, hier herüber. Avanti!« Gaetano sah einen muskulösen Mann von viel-

leicht vierzig Jahren vor einem Stapel zerrissener Netze stehen. Dunkles Haar, wettergegerbter oliv-farbener Teint, dichte Augenbrauen und ein her-vorstehendes Kinn waren seine offensichtlichsten Merkmale, aber Gaetano brauchte nur die abge-nutzte grüne Baseballkappe zu sehen. Er ging rasch zu ihm, ohne sich weiter umzusehen.

Der Mann schien ihn blitzschnell zu taxieren, ließ ein leichtes, anerkennendes Grinsen über seine harten Züge gleiten und führte ihn dann zwischen zwei schmalen Lagerhäusern zu einem wartenden Mercedes SUV. Nachdem der Mann das Gepäck verstaut hatte, bedeutete er Gaetano, auf dem Bei-fahrersitz Platz zu nehmen, und schloss die Tür wie ein Chauffeur. Gaetano sah auf die düstere, schä-bige Straße hinaus. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihnen. Entweder waren der Fahrer und sein Fahrzeug wohlbekannt, oder es kümmerte niemanden.

»Ich bin Verducci«, sagte der Fahrer, während sie sich langsam vom Hafen entfernten. »Willkommen in unserem glücklichen Dorf.«

»Danke, Signore.« Der Fahrer wich einer krank wirkenden Ziege

aus, die über die Straße lief. Dann bog der Merce-des an einer Straßenkreuzung nach links und fuhr

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einen steilen Hang an der Klippenseite hinauf. »Sie haben gewiss viele Fragen, da Sie niemanden von uns kennen. Sie werden Antworten bekommen – wenn Sie überleben.«

»Ich werde überleben.« Verducci lachte leise. »Das sagen sie alle.«

Die Klippen über dem Meer waren, wie Gaetano entdeckte, von Höhlen und Gängen durchsetzt. Sein Fahrer ließ den Wagen in einen Gang rollen, eine Öffnung im Fels, die sich auftat, als ein lautlo-ser Mechanismus einen riesigen Felsbrocken beisei-tegleiten ließ.

Nachdem sie vielleicht einhundert Meter gefah-ren waren, schaltete Verducci den Motor ab. »Von hier aus laufen wir.«

Während er dahinstapfte, dem Licht seiner Ta-schenlampe folgend, merkte Gaetano plötzlich, dass er keine Angst empfand. Obwohl er sein Le-ben einem vollkommen Fremden anvertraute, ei-nem Fremden, der aussah, als könne er ihm ohne Zögern die Kehle durchschneiden. Verducci hatte kein Interesse daran, ihn zu töten. Wenn Gaetano sterben sollte, geschähe es durch sein eigenes Ver-sagen. Er und sein Führer gingen immer tiefer in den Fels hinein, ein gewundener Weg durch ein so komplexes Labyrinth, dass ihm klarwurde, dass er diesen Ort niemals würde verlassen können, wenn es nicht jemand wollte.

Nach weiteren zehn Minuten erweiterte sich das

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endlose Gewirr aus Gängen zu einem kleinen Raum mit drei Stahltüren, die an Luken in U-Booten erinnerten. Verducci gab eine Zahlenkom-bination in einen elektronischen Tastenblock zur Rechten der Tür ein, und ein Geräusch durchdrang quietschend die Stille, als sich der Verschluss der Luke öffnete. Die Tür schwang langsam nach au-ßen auf und offenbarte zwei Gestalten: einen gro-ßen Mann mit zerzaustem roten Bart und einen kleineren, dicken, kahlen Mann. Sie trugen beide die Roben und Kapuzen von Mönchen, obwohl man sie aufgrund ihrer harten Züge kaum für freundliche Kleriker halten konnte.

»Benvenuto, Signor Gaetano«, sagte der kahle Mann. »Ich bin Sforza, der Präfekt unseres Ordens. Dies ist mein Stellvertreter Domenici.«

»Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, Sir.« Sforza lächelte milde und streckte eine Hand

aus. »Vielleicht denken Sie das in vierundzwanzig Stunden nicht mehr.«

»Ich werde überleben. Und ich werde Sie stolz darauf machen, mich in Ihren Reihen zu haben.«

Präfekt Sforza nickte. Wäre sein Blick eine Lanze gewesen, wäre er Gaetano genau zwischen den Au-gen in den Schädel eingedrungen. »Hoffentlich haben Sie recht.«

»Hier entlang«, sagte Domenici, der sich ab-wandte und die Gruppe einen breiten, von goti-schen Bögen gekrönten Gang hinabführte, dessen Wände mit unzähligen Alkoven, in denen Heili-

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genstatuen standen, geschmückt waren. Ihr Weg wurde von nackten Glühbirnen beleuchtet, die vom höchsten Punkt der Decke herabhingen. Die Atmosphäre war allgemein düster, feucht und be-drückend, aber Gaetano hatte auch keine duften-den Gärten erwartet. Tatsächlich wirkte es besser, als es bei seinem Befrager geklungen hatte.

Er folgte seinen Führern einen Quergang hinab, der von kleinen, zellenähnlichen Räumen gesäumt war, die, wenn sie nicht für Gefangene gedacht wa-ren, gewiss eingefleischten Asketen dienten. Dome-nici drängte ihn in eine der Zellen, warf seine Matchbeutel hinterher und verschloss dann die Tür. Gaetano lauschte, ohne aufzublicken, wie sich die drei Männer entfernten, ihr Vorübergehen von Sal-ven sizilianischen Dialekts und Gelächters begleitet.

Bald wurden die Lichter im Außengang gelöscht, sodass Gaetano in völlige Dunkelheit getaucht war. Er hatte nichts zu essen oder zu trinken und fiel bald in einen erschöpften, zeitlosen Schlaf …

… aus dem er so abrupt und mit solcher Gewalt herausgerissen wurde, dass seine Wächter ihm fast die Schultern ausrenkten und das Genick brachen. Völlig benommen, wehrte er sich nicht, als sie ihn für fünfzig Schläge mit einer neunschwänzigen Katze in ein Verlies zerrten.

Anschließend wurde er in einen Brunnen mit von Algen überwucherten Steinwänden gestoßen, aus dem er nicht hinausklettern konnte. Er klam-merte sich an das glitschige Gestein, erkannte, dass

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seine Panik nur stärker würde, wenn er sich nicht zusammennahm, und zwang sich zur Ruhe. Es war eindeutig ein Test für seinen Einfallsreichtum wie auch für seine Kraft und seinen Mut. Daher über-wand sich Gaetano, unter die ölige Oberfläche zu tauchen und blind nach einem Ausgang zu tasten. Zwanzig Fuß abwärts fand er einen schulterbreiten Gang, der parallel zur Oberfläche verlief. Aber sei-ne Lungen barsten bereits fast, als er fand, wonach er gesucht hatte, und er tauchte wieder auf, um sich erneut mit Sauerstoff zu versorgen. Dann stieß er wieder in die Düsternis hinab, wo er den lot-rechten Tunnel nun instinktiv fand. Er wand sich in die Öffnung hinein in der Hoffnung, dass es keine Sackgasse wäre. Wenn er nicht völlig desori-entiert war, schien sich der Unterwassertunnel leicht aufwärts zu neigen. Dann, jenseits des trü-ben Wassers kaum sichtbar, sah er einen winzigen Lichtschimmer, der mit jeder Vorwärtsbewegung unendlich langsam größer wurde. Verengte sich der Gang wie die Spitze eines Kegels, oder spielten Pa-nik und Erstickung seiner Fantasie Streiche? Er trieb seinen Körper vorwärts wie ein Fisch, und der trübe Lichtfleck vergrößerte sich, bis Gaetano mit einem letzten Zusammenziehen der Lungen die Wasseroberfläche durchstieß.

Er zog sich langsam aus der Enge und atmete keuchend die Luft ein. Erst dann, als er die über-standene Qual überdachte, verspürte er nacktes Ent-setzen – Klaustrophobie, Erstickung, Dunkelheit.

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Hände an seinen Armen und Schultern rissen ihn hoch wie eine mit Sägemehl ausgestopfte Pup-pe. Niemand sprach mit ihm, aber Gaetano war ohnehin nicht nach Reden zumute. Sie zogen ihn Treppen hinauf und hinunter und bogen nach rechts und links ab, bis er einem in den Stein ge-hauenen Zugang gegenüberstand, der wie ein Fall-gitter vertikal angehoben wurde. Eine einzelne Glühbirne brannte in einer in der Nähe angebrach-ten Halterung und warf eine fahle Blässe über den Ort. Zwei Männer flankierten Gaetano, hielten ihn unter den Armen und Schultern fest. Er drückte die Knie durch und zwang sich, aufrecht zu stehen, bereit, sich dem zu stellen, was auch immer jen-seits der Tür auf ihn wartete. Wie auf ein Stichwort schwang sie langsam auf und offenbarte … nichts.

Nein, warte. Als sich Gaetanos Augen dem spärli-chen Licht angepasst hatten, konnte er hinter der Barriere einen schmalen Sims sehen, der an der brei-testen Stelle vielleicht acht Zoll betrug. Allmählich hoben sich Sterne von der schwarzen Schneise der Nacht ab. Dann schoben die Männer ihn vorwärts, langsam, um ihn nicht über den Rand zu stoßen, aber unerbittlich, sodass er schließlich auf dem Fels-vorsprung balancierte. Die beiden Männer traten wortlos von ihm fort, und das Fallgitter sank herab. Rasch schätzte er seine Lage ein. Er befand sich an der Klippenseite der Redoute, und der Sims verlief, den Konturen der glatten Vorderseite folgend, in beide Richtungen. Ein kräftiger Wind schüttelte ihn.

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Nach unten zu blicken war keine gute Idee: fünf-hundert Fuß bis zu einem schroffen Felsdamm und einem hässlichen Tod. Gaetano lehnte sich zurück und tastete sich dann nach rechts vor. An manchen Stellen war der Sims kaum breit genug für die Ha-cken seiner Stiefel. An anderen konnte er normal stehen. Die Vorderseite des Vorgebirges bog sich von ihm fort, sodass er nie sah, was vor ihm lag. Nach fast einer Stunde quälend langsamen Vorankom-mens entdeckte er, dass er die falsche Wahl getroffen hatte – der Sims endete abrupt. Wenn es ein Ent-kommen aus dieser misslichen Lage gab, dann an-derswo. Der Wind spielte weiterhin mit ihm, als er seitwärts den Weg zurückging, den er gekommen war, langsamer als zuvor, da er wusste, dass ihn zu viel Selbstvertrauen leichter töten konnte als alles andere. Er brauchte neunzig Minuten, um zu der Stelle am Fallgitter zurückzugelangen.

Er ruhte sich aus und nahm dann das unbehol-fene Seitwärtsmanöver wieder auf, das ihn langsam entlang einer gleichermaßen uneinsehbaren Bie-gung der Klippenwand auf der anderen Seite führ-te. Zwanzig Minuten, um bis zum Scheitelpunkt der Biegung zu gelangen, und dann würde er deut-licher sehen können, da der aufgehende Halb-mond irgendwo hinter ihm stand. Als er überblick-te, was vor ihm lag, war es wie ein Hieb in die Ma-gengrube. Zwanzig Meter zu seiner Linken war der Sims zu Bruchstücken zerbröckelt: unpassierbar. Die Klippenwand schnitt tiefer in den Fels ein und

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verlief dann wieder nach außen, wie ein dünnes Tortenstück. Auf der gegenüberliegenden Seite des fehlenden Stückes befand sich ein weiteres Fallgit-ter, vor dem ein schmaler Abschnitt des Simses verlief – offensichtlich Gaetanos Fluchtweg. Aber wie sollte er von hier nach dort gelangen?

Trotz des kühlen Windes, der sein Gesicht peitschte, schwitzte Gaetano wie ein Stier. Er taste-te sich vorwärts, näher zu der Stelle heran, wo der Sims verschwand, und während er dies tat, löste sich etwas aus den Schatten unter ihm. Zuvor in der Dunkelheit verborgen, stiegen drei Felsenfinger von der Klippenwand auf. Wie mitten im Aufstieg abgehauene Strebebögen boten die Formationen einen gefährlichen, fast selbstmörderischen Weg zu dem Fallgitter. Gaetano drängte vorwärts, bis nahe an den Abfallpunkt des Simses. Von diesem Punkt aus gesehen streckte sich der nächstgelegene der drei Felsfortsätze wie ein leicht gekrümmter Finger nach ihm aus. Es hatte keinen Sinn, über seine Si-tuation nachzugrübeln. Er konnte nichts anderes tun, als in die Hocke zu gehen und die Spannkraft seiner Beine zu benutzen, um so weit wie möglich vorwärts und aufwärts zu schnellen. Er sprang mit fuchtelnden Armen durch den dunklen, bodenlo-sen Raum, seine Unterarme schlugen gegen die felsige Halbsäule, und er versuchte, irgendetwas in Reichweite zu packen. Er trat um sich und fand allmählich Halt. In Sicherheit, für den Moment – und noch zwei weitere Säulen vor ihm.

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Sein Atem kam stoßweise, und das Feuer völli-ger Erschöpfung brannte in seinen Armen, doch er hielt fest. Als er den nächsten, einem Stalagmiten ähnlichen Felsenfinger und dann den letzten da-hinter betrachtete, entdeckte er etwas Furchtbares: Es gab keine Möglichkeit, zur zweiten Säule zu springen und sich daran festzuhalten, wie er es bei der ersten getan hatte. Sie wies keine ebenen Ober-flächen auf, sondern bestand aus vielen kleinen Felsspitzen, wie das runde Maul eines Neunauges. Diese Wendung war so absurd, dass er sich nicht die Zeit nehmen konnte, sie zu analysieren oder zu planen. Tu es einfach – und schau nicht nach un-ten. Und so zog er sich auf den Felsvorsprung und kauerte sich auf eine Fläche, die nicht größer als ein Teller war, wie ein Vogel auf einem winzigen Ast. Von dort sprang er in die Leere, das rechte Bein wie ein Hürdenläufer ausgestreckt, griff nach dem mittleren Felsenfinger, stieß sich ab und setzte sei-nen Sprung zum letzten Felsabschnitt fort. Er sprang durch die Luft wie ein Stein über die Was-seroberfläche eines Sees und schnellte fast an sei-nem Ziel vorbei. Er streckte den linken Arm aus und drückte die Steinsäule fest an seine Brust. Während er dort hing, nach Atem ringend, die Ar-me vor Ermüdung brennend, war er sich bewusst, dass er noch eine letzte Anstrengung unternehmen musste, und er war sich nicht sicher, ob er noch genügend Kraft übrig hätte, um es zu schaffen. Es wäre leichter, einfach loszulassen, vom Felsen zu

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gleiten und den Hochgeschwindigkeitsfahrstuhl ins Untergeschoss zu nehmen.

Keine Chance. Wenn er starb, dann mitten in seinen besten Bemühungen. Der Sims und das Fallgitter waren nur zehn Fuß entfernt, aber durch einen Abgrund von ihm getrennt, der ebenso gut hundert Fuß breit hätte sein können. Gaetano fürchtete, schwach und zitternd, dass er nicht die Kraft hätte, sich zu regen. Aber er musste es tun, denn sein ganzes Körpergewicht zu halten ermüde-te seine Arme und Beine nur noch schneller. Er zog sich auf die unglaublich schmale Spitze des Felsens hinauf und lehnte sich dann zu dem Sims und dem Fallgitter hinaus. Er stieß sich mit der letzten Spannkraft seiner Beine in den freien Raum ab, die Arme ausgestreckt, als ziele er auf einen Rückprall von den Felsen oberhalb des Randes ab … und erreichte den Sims um Haaresbreite, mit zitternden Beinen, trat um sich, gegen die Vorderseite der Klippe, und zog sich schließlich in die relative Si-cherheit des Simses hoch.

Gaetano schrie triumphierend auf und ließ so die Anspannung aus sich entweichen. Eine Woge reiner Freude durchströmte ihn, in diesem einen Moment einfach am Leben zu sein – die intensivste Empfindung, die er je erfahren hatte.

Er hörte nicht einmal, wie das Fallgitter lang-sam, aber unaufhörlich in die Höhe glitt, und war völlig benommen, als er wieder Hände an sich spürte.

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»Nein! Jesus, rette mich! Nicht mehr!« Die Worte drangen aus ihm hervor wie Luft aus

einem billigen Ballon und machten ihn durch ihre Schwäche verlegen. Aber seine Betreuer ignorierten sie und zerrten ihn zu dem, wovon er wusste, dass es der letzte Test wäre, den er entweder bestehen oder der ihn töten würde.

Und genau diese Haltung rettete ihn seltsamer-weise. Er hatte keine Kraft mehr, sich Sorgen zu machen oder Furcht zu empfinden, er hatte nichts anderes mehr als den reinen Instinkt, überleben zu wollen.

Während sie ihn weitertrugen, ließ er sich in ei-ne Art Halbbewusstlosigkeit sinken. Er hatte nur vage das Gefühl, in Bewegung zu sein, und verlor jeglichen Sinn für Zeit und Entfernung. Erst als sie ihn auf den Boden eines von Steinwänden um-schlossenen, engen Raumes stießen, zwang er sich zu völliger Wachheit.

Er befand sich in einer grob geschätzt zwanzig Quadratfuß großen Zelle. Keine Fenster. Gegen-über der Tür, durch die er hereingebracht worden war, machte er eine zweite Tür aus, mattgrün be-malt und von Spuren bedeckt, die anscheinend mit Fingernägeln in den Lack geritzt worden waren. Beleuchtung durch eine einzelne Niedrigwattbirne, die von der Mitte der Decke hing. Schwer, etwas deutlich zu sehen. Keine andere Einrichtung als ein paar Nägel in den Mauern, an denen verschiedene Gegenstände hingen – ein Stück Ankerkette, ein

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Fischernetz, ein Stück Stahlrohr, ein Holzhammer. Es sah nicht vielversprechend aus, dachte Gaetano, während er sich zwang aufzustehen, und hoffte, dass sein Kopf dadurch klarer würde. Er wollte sich nicht damit beschäftigen, was jenseits der gegen-überliegenden Tür auf ihn wartete, aber die Angst begann sich in ihm aufzubauen wie Luft in einem blockierten Druckventil.

Ein einzelnes lautes, metallisches Klick zerbarst die Stille, und die grüne Tür schwang nach außen auf, während etwas von Schatten Verhülltes hin-durchwatschelte.

Gaetano sah die Bewegung am Rande seines Sichtfeldes. Sein ganzer Körper spannte sich an, und er fühlte sich einen Augenblick vollkommen hilflos. Ein dunkelbrauner oder schwarzer Blitz, der sich schnell bewegte – direkt auf ihn zu. Ein Tier irgendeiner Art. Mit wilden Augen und Fän-gen, aber sich in dem trüben Licht so rasch bewe-gend, dass er nicht sagen konnte, was zum Teufel es war. Ohnehin blieb ihm keine Zeit, es zu be-trachten. Er reagierte reflexartig, verließ sich auf seine Ausbildung und stürzte sich in einem Winkel auf seinen Angreifer, was einen Gegner, der ein Abwehrmanöver erwartete, normalerweise verwirr-te und überraschte.

Der Trick funktionierte, während Gaetano halbwegs unter dem jähen Angriff des Wesens hinwegtauchte. Er roch dessen ekelhaftes Fell und hörte es grollen, hatte die Bestie aber immer noch

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nicht erkannt. Es rammte mit dem Kopf voran die Mauer und mühte sich kreischend und knurrend wieder hoch, während auch Gaetano aufsprang und eine wachsam defensive Haltung einnahm. Er warf einen prüfenden Blick auf die Gegenstände an der Wand, merkte sich ihre genaue Position und konzentrierte sich dann wieder auf seinen Gegner.

Das Tier stand einen Moment still und versuchte herauszufinden, was geschah und warum es nicht auf seiner Beute gelandet war. Und in diesem Mo-ment erkannte Gaetano, dass er einen sehr wüten-den Kalahari-Pavian vor sich hatte. Ein breitschult-riges Männchen, über 120 Pfund schwer, mit mächtigen Pfoten und einem Maul voller Zähne, mit denen er einem Menschen in Sekundenschnel-le die Kehle herausreißen konnte. Der Affe sah ihn mit unter den gewölbten Augenbrauen wie Ping-pongbälle hervorstehenden Augen an. Er schrie wie eine Todesfee und stürzte sich erneut auf ihn.

Gaetano wartete bis zum letzten Moment, schätzte Flugbahn und Fallkurve des Affen ab und führte dann einen Tritt aus, der die Bestie flach unter dem Kinn traf. Zusammen mit ihrem eigenen Schwung genügte der Schlag, sie hart gegen die Steinmauer prallen zu lassen. Das Tier begann hek-tisch zu keuchen, während es wieder auf seine mächtigen Hinterbeine zu gelangen versuchte. Gaetano nutzte die Pause, um zum nächstgelege-nen Nagel zu springen und das Stück Ankerkette und das Fischernetz zu ergreifen. Die Kette war

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leichter, als er erwartet hatte, das Netz schwerer. Aber beides waren willkommene Ergänzungen sei-ner Bewaffnung, da ihm bewusst wurde, dass er die tobende Bestie mit seinen Kampfkünsten nicht ewig aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

Gaetano hielt die Kette in der rechten Hand, das ausgebreitete Netz in der linken und wartete, bis ihn das große Männchen erneut angriff. Dann wir-belte er die Kette über seinen Kopf und schwang sie rasch im Kreis umher. Die Glieder trafen die Bestie an der linken Gesichtshälfte, zerschmetter-ten einen großen Eckzahn und zerteilten das Fleisch über dem Unterkieferknochen. Blut und ein wütender Schrei drangen hervor, während das We-sen auf ihn einschlug. Eine seiner gewaltigen Hän-de traf Gaetanos Brust, verursachte drei tiefe Risse und zwang ihn zurückzuweichen.

Der Affe hatte blutigen Schaum vor dem Maul, als er erneut vorwärtssprang und in einem wilden Ausbruch animalischen Zorns auf die Kehle seines Widersachers zielte. Noch immer um sein Gleich-gewicht ringend, hatte Gaetano kaum Zeit, das Fi-schernetz hochzureißen und über den Kopf der Bestie zu werfen. Sie prallten beide gegen die Wand, der Pavian durch das fest um seinen Kopf und das verletzte Maul gewundene Netz verwirrt und verärgert. Das kurzzeitige Zögern der Bestie genügte Gaetano, sich unter dem Tierkörper her-auszuwinden, zur Seite zu springen, die Kette wie-der an sich zu nehmen und den Hammer von sei-

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nem Nagel zu reißen. Er bewegte sich rasch und wie eine Krabbe seitwärts. Obwohl der Affe sich bei seinen wilden Befreiungsversuchen noch fester ver-strickt hatte, konnte sich das Tier jeden Moment befreien und Gaetano wieder angreifen.

Eine Woge der Zuversicht durchströmte Gaetano wie guter Whisky, während er das tödliche Gewicht des Hammers in seiner Hand wog. Jetzt war er an der Reihe anzugreifen. Gaetano zögerte nicht. Er wusste, dass er vielleicht nur wenige Sekunden hat-te, bevor sich die zornige, wilde Bestie aus dem Netz befreite, und näherte sich ihr und schwang in weitem, beschleunigendem Bogen den Hammer. Das untere Ende landete mit einem wuchtigen Aufprall auf der Stirn des Pavians – nicht tödlich, aber ausreichend, um den großen Affen in dump-fes Schweigen zu versenken.

Während Gaetano die Verletzung betrachtete, realisierte er noch etwas – etwas gleichermaßen Wichtiges: Seine Kraft verließ ihn. Völlige Erschöp-fung drohte, und er verstand nun, warum es ihm so schwergefallen war, den Hammer mit großer Kraft zu schwingen. Ermüdung des Armes war kei-ne annähernd ausreichende Beschreibung. Sein Körper wollte ihm vermitteln, dass er die Funktio-nen einstellte.

Der Pavian regte sich unter ihm, und eines sei-ner mächtigen Beine zuckte.

Tu etwas. Denk dir etwas aus. Er betrachtete noch einmal die Nägel an der

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Wand. Rasch ergriff er das Stück Stahlrohr und eilte dann zurück, um es wie den Pfahl eines Vampirjä-gers auf der Brust des Pavians in Position zu brin-gen. Als das kalte Metall das Fell des Wesens be-rührte, richteten sich seine Augen plötzlich auf Gaetano, und seine Stirn furchte sich. Es zog auf widerliche Art die Lippen zurück, entblößte gebo-gene, gelbe Zähne und spannte sich dann an, um ihn durch das Netz anzugreifen.

Ohne darüber nachzudenken, beschwor Gaeta-no seine letzten Kraftreserven herauf, schwang den Hammer in armweitem Bogen und donnerte ihn auf das obere Ende des Rohres. Er traf mit solcher Wucht auf, dass Funken stoben und das Rohr ei-nen Augenblick wie eine Stimmgabel klang, bevor es die Brust des Pavians durchschlug. Sein schriller Schrei klang dieses Mal anders, eher von Erschre-cken und Schmerz als von rasendem Zorn geprägt. Gaetano schwang den Hammer noch einmal, zu einem letzten, dumpfen Totengeläut.

Als das Rohr in das Herz des Pavians eindrang, schoss plötzlich wie ein Geysir ein schwarzroter Strom aus dem offenen Ende. Das Tier versuchte schwach, das glatte Rohr zu packen, aber seine Le-benskraft wich zu rasch. Die Schreie und das Kämpfen wurden schwächer. Gaetano empfand kein Vergnügen. Es bereitete ihm vielmehr Übel-keit, dem Todeskampf der Bestie zuzuhören. Aber es hatte keinen Spielraum für Versagen – oder Gnade – gegeben. Das Tier war offensichtlich so

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rasend gewesen, entweder durch Hunger oder die Qualen, dass ein Kampf auf Leben oder Tod die einzige Möglichkeit blieb.

Gaetano ließ den Hammer fallen und stolperte, sprichwörtlich ausgelaugt, von dem durchbohrten Tier fort. Als er die Tür erreichte, brach er zusam-men und stürzte spiralförmig in einen Abgrund tiefster Erschöpfung …

… bis er von zwei rauen Händen an seinen Schultern geweckt wurde. »Signore Gaetano, Sie werden jetzt aufwachen.«

Die Stimme war ihm bekannt, aber er konnte sie nicht einordnen. Während er sich den Schlaf aus den Augen rieb, wurde ihm bewusst, dass er be-merkenswert klar denken konnte und sein Körper unverletzt und von der schweren Last völliger Er-schöpfung befreit war. Er lag in einem einfachen, aber sauberen Bett.

Er blinzelte mehrmals und konzentrierte seinen Blick dann auf den Präfekt des Ordens, Sforza, als dessen braun gebrannter, kahler Kopf das Licht der ewig präsenten, nackten Glühbirne widerspiegelte. Der kleine, breitschultrige Mann beugte sich über ihn, ein leichtes Lächeln auf dem verwitterten Gesicht.

»Gratuliere, Signore, Sie hatten recht. Sie haben überlebt.«

Gaetano streckte Arme und Beine und bog seine Hände und Finger durch. »Bin ich okay?«

»Mehr als okay. Sie haben es großartig gemacht, ohne ernsthafte Verletzungen.«

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»Tut mir leid um Ihren Affen. Ich hätte ihn nicht getötet, wenn …«

»Kein Grund für Erklärungen. Es ist bedauerlich, aber manchmal notwendig, solche Tiere bei unse-rer Arbeit einzusetzen.«

Gaetano konnte seine Erleichterung nicht verbergen. »Also, was jetzt? Kann ich Ihrem Orden beitreten?«

»Noch nicht ganz, mein Sohn. Sie haben sich das Recht auf eine Bewerbung um Aufnahme in un-seren Orden erworben. Nun müssen Sie sich un-serer Ausbildung unterziehen, die, wie Sie sich vorstellen können, vorsichtig ausgedrückt sehr streng ist. Danach können Sie unserem Orden beitreten.«

»Das wusste ich. Ich meinte nur, dass … schon gut. Sie wissen, was ich meinte. Sie wissen, wie wichtig es ist, dass Sie mir helfen.«

Sforza hob einen Zeigefinger in der universalen Geste, die besagte: Ja, aber warte. »Wir sind nicht hier, um Menschen zu ›helfen‹, Signore. Wir sind keine karitative Organisation. Es wäre weitaus bes-ser zu denken, dass Sie sich selbst und damit wie-derum dem Orden helfen, capisce?«

»Ich verstehe. Aber ohne Sie könnte ich den Weg nicht betreten.«

Sforza zuckte die Achseln. »Es gibt viele Wege. Sie haben nur zufällig unseren gewählt.«

»Okay, was kommt also als Nächstes?« »Sie werden sich uns zur Abendmahlzeit an-

schließen und danach gehen Sie in die Bibliothek,

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wo Sie Ihre Ausbildung beginnen werden. Geistig ebenso wie körperlich.«

Die Mahlzeit war gehaltvoll, aber nicht wirklich erstklassig gewesen. Ein von Steinmauern um-schlossener Speisesaal, lange Holztische, die Mase-rung von vielen Jahren des Gebrauchs glatt ge-wetzt. Der Orden führte seine Angelegenheiten in einer Umgebung, die irgendwo zwischen einem Mönchskloster und einer Armeebaracke einzuord-nen war. Während Gaetano mit ungefähr vierzig weiteren Männern an einem langen Tisch saß, musterte er sie verstohlen. Sie waren im Alter zwi-schen Mitte zwanzig und Mitte sechzig. Alle trugen locker sitzende, mönchartige Gewänder, welche die harten Konturen ihrer Körper kaum verbargen. Obwohl ihre Gesichter eine Phalanx von Kulturen und Blutlinien offenbarten, hatten alle einen ge-wissen Gesichtsausdruck gemeinsam, der von Hin-gabe, Stärke und unermüdlicher Zähigkeit sprach. Er wollte sehr gerne zu ihnen gehören.

Als Gaetano seine Mahlzeit gerade beendete, be-trat ein Mann den Speisesaal und ging direkt zu Präfekt Sforza, der am Kopf des ersten Tisches saß. Als Sforza die von dem Mann überbrachte Bot-schaft vernommen hatte, beorderte er mehrere sei-ner Untergebenen aus dem Raum. Der restliche Tisch diskutierte die Nachricht. Gaetano beobach-tete, wie sie zum nächsten Tisch gelangte, und dann wieder zum nächsten – zu seinem.

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Er lauschte aufmerksam und verstand den grundlegenden Zusammenhang der Sforza über-brachten Mitteilung. Gerade war jemand eingetrof-fen. Pater Giovanni Francesco.

»Der Jesuit? Aus Rom?« Er fragte den Mann zu seiner Rechten.

»Natürlich. Kennen Sie ihn?« Gaetano schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich

würde ihn sehr gerne kennenlernen.« Der andere Mann nickte flüchtig. Und obwohl

Gaetano äußerlich ruhig blieb, wurde sein Inneres von Vorahnungen, Entsetzen und Angst aufge-wühlt. Francesco! Hier? Es war unglaublich. Er trank seine Tasse starken, arabischen Kaffee und zwang sich, die Ruhe zu bewahren, klar zu denken.

Eine Stunde später war Gaetano in die Biblio-thek verwiesen worden, ein langer, höhlenartiger Raum, von zahllosen Nischen mit Büchern, Hand-schriften, kolorierten Drucken, Schriftrollen und anderen Inkunabeln gesäumt. Sein erstes Studien-objekt war eine kurze Geschichtsabhandlung: The Order of the Knights of St. John of Jerusalem. Auch bekannt als die Ritter von Rhodos oder die Malte-serritter oder die Hospitaler, hatten sie eine lange und glänzende Vergangenheit im Dienste der heili-gen Mutter Kirche aufzuweisen. Unter der Schirm-herrschaft von Papst Bonifaz VIII. eroberten sie die Insel Rhodos von den muslimischen Ungläubigen und regierten sie über zweihundert Jahre lang mit großer Güte. Nach einem furchtbaren Zusammen-

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stoß mit den Türken im Jahre 1522 verlegten sie ihre Operationsbasis nach Malta, wo sie bis 1798 blieben. Zu dieser Zeit verkündete der Orden wäh-rend eines Streits mit Papst Pius VI. seine Auflö-sung – eine List, die es dem Orden ermöglichte, in den Untergrund zu gehen und zu einer Geheimge-sellschaft und hoch entwickelten Militärorganisati-on zu werden. Während des zwanzigsten Jahrhun-derts hatten es sich seine Anführer zur Gewohnheit gemacht, die besten militärischen Geister ihrer Zeit zu rekrutieren, und die Schlachten des Zweiten Weltkriegs genutzt, sich zu einer der besten Spio-nage- und Geheimoperationseinheiten der Welt zu entwickeln. Mitglieder des Ordens unterrichteten Organisationen wie den Mossad, den SSV und die CIA in der Mitarbeiterführung und versorgten sie mit Fachwissen. Im Gegenzug profitierten sie von den Schattentechnologien, die von diesen Gruppen entwickelt und angewandt wurden. Den Orden einen Elitekader zu nennen wäre eine gewaltige Untertreibung und …

Gaetano wurde durch das Öffnen und Schließen einer Tür am Ende einer nahe gelegenen Nische bei seiner Arbeit unterbrochen. Schritte tappten lang-sam näher an seinen Arbeitsplatz an einem langen Tisch heran, der durch eine Reihe elektrischer Lampen mit grünen Schirmen geteilt wurde. Als er aufblickte, sah er einen großen Mann im schwar-zen Gewand eines Priesters. In der Nähe des Ti-sches blieb er stehen und schwieg einen Moment,

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während er Gaetano rasch abschätzte. Der Mann hatte silberfarbenes Haar mit einem militärischen Schnitt und das flächige Gesicht eines Fuchses. Seine Augen waren dunkel und tief liegend, und sein Mund erinnerte an eine ziemlich hässlich aus-sehende Schnittwunde.

»Guten Abend, Gaetano. Ich hörte, Sie wollen mich sprechen.« Sein Englisch, wenn auch tadellos artikuliert, behielt einen kontinentalen Anflug bei, einen Widerwillen, ohne gefühlvollen Unterton zu sprechen.

»Sie sind …« Er war benommen, als er jäh er-kannte, wer da vor ihm stand. Donnerwetter! Die herausfordernde Haltung dieses Mannes war eben-so außergewöhnlich wie die Geschichten, die ihm vorauseilten. »… Francesco!«

Er nickte. »Für Sie Pater Francesco. Was wollen Sie von mir?«

»Wissen Sie, wer ich bin?« Der alte Priester zuckte die Achseln. »Nicht wirk-

lich. Man sagte mir, Sie seien ein neuer Rekrut mit guten Empfehlungen. Sollte ich es wissen?«

»Ich möchte Sie einige Dinge fragen – bevor ich Sie töte.«

Francesco grinste. »Sie auch? Sie werden sich an-stellen müssen. Wie lautet Ihr Grund?«

»Sie kannten einen Mann namens Targeno.« Francesco nickte. »Ich bin sein Bruder.«

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Bruder Mauro – Siena, Italien 19. September 2000

ie dürfen sich nicht darüber aufregen«, sagte der Abt. Bruder Mauro Barzini saß vor dem einfa-

chen Schreibtisch seines Vorgesetzten und nickte. Er bemühte sich, äußerlich gelassen und kontrol-liert zu erscheinen, spürte aber, wie ihm alles ent-glitt, während sein Magen rebellierte und sein Kopf im Rhythmus von Furcht und Angst pochte. »Es tut mir so leid, Abt, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Sie müssen sich jetzt entspannen. Haben Sie mir alle Einzelheiten genannt, ja?« Die Stimme des Abtes klang sanft, tröstlich, wie bei einem Priester im Beichtstuhl.

»Ja, mein Superior«, sagte Mauro. »Glauben Sie, es war die Mutter Gottes?«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie trug die Tracht der Poor Clares, sagten Sie.«

»Ja.« »Die geheiligte Maria würde sich nicht auf sol-

che Art verkleiden müssen.« »Aber diese Frau – diese Traumlady –, sie sagte,

Gott hätte Pläne für mich!« Mauro konnte die in

S

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ihm brodelnde Angst nicht bezwingen. »Was soll ich tun?«

Der Abt strich sich nachdenklich über den Bart und rückte seine Brille zurecht. »Mauro, es war schon immer sehr klar, dass Gott spezielle Pläne für Sie hat.«

»Die Stigmata …« Bruder Mauro seufzte. »Ich habe mein Leben dem Herrn geweiht. Was könnte er noch mehr wollen?«

»Sie sind sicher, dass diese ›Traumlady‹, wie Sie sie nennen – Sie sind sicher, dass sie real und kein Produkt Ihrer eigenen komplizierten Träume ist?«

»Was?« Der Abt räusperte sich. »Bruder Mauro, ich den-

ke, ich kann mit Sicherheit sagen, dass wir alle ger-ne direkt von Gott kontaktiert würden. Vielleicht ist dies …«

»O nein«, sagte Mauro mit Nachdruck. »Ich würde Sie niemals mit etwas so Törichtem wie ei-nem Wunschtraum behelligen. Sie erscheint mir, wenn ich schlafe, aber sie ist definitiv real.«

»Es wäre gut, einen greifbareren Beweis zu ha-ben.«

»Sie glauben mir nicht?« Mauro war sehr verle-gen.

»Ich glaube Ihnen. Bitte, seien Sie nicht belei-digt. Aber ich muss Fragen wie diese stellen. Sie werden auch mir gestellt werden, wenn ich dies meinen Vorgesetzten unterbreite.«

Mauro nickte. Er begriff, wie schwierig es war,

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jemanden von solchen Dingen zu überzeugen. »Ja«, sagte er. »Wenn man mit Gott spricht, heißt es, man betet. Aber wenn Gott mit einem spricht, heißt es, man sei verrückt!«

Der Abt lächelte. »Ich weiß, dass Sie nicht ver-rückt sind, Mauro. Ihre Aufrichtigkeit und Integri-tät haben niemals infrage gestanden.«

»Wenn ich wüsste, dass diese Vision etwas so Simples wie ein Traum sein könnte, hätte ich es niemals erwähnt. Nein, mein Superior, wer auch immer diese Frau ist, sie ist definitiv real.«

»Ja, ja. Ich glaube Ihnen. Sie sagte, Sie würden aufgefordert, für Gott Stellung zu beziehen. Das werden Sie doch gewiss tun?«

»Ja, natürlich! Alles für meinen Schöpfer!« Der Abt lächelte und streckte eine Hand aus, um

Mauros bandagierte Hände zu tätscheln. Sie waren immer bandagiert, manchmal auch in Handschu-hen, wenn der Blutfluss stärker wurde als das übli-che Sickern. »Nun, sehen Sie? Sie fühlen sich voll-kommen wohl, wenn Sie etwas für Gott tun.«

»Ich würde mich noch besser fühlen, wenn ich ihre Identität kennen würde – eine der Heiligen vielleicht. Und wenn sie mir sagen würde, was ge-nau sie von mir verlangen wird.«

»Zu gegebener Zeit, sagte sie.« Der Abt bemühte sich, so beruhigend wie möglich zu klingen. »Und wenn sie es Ihnen offenbart, werden Sie es mir mit-teilen, richtig?«

»Ganz gewiss.« Mauro legte die Fingerspitzen

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vor dem Gesicht sachte aneinander. »Aber ich fürchte mich, und ich weiß nicht, warum.«

»Vertrauen Sie auf Gott«, sagte der Abt, während er sich erhob, um deutlich zu machen, dass ihre Unterredung beendet war. »Kommen Sie zu mir, wenn Sie neue Informationen haben.«

Mauro nickte und erhob sich. Der Abt hielt ihn mit einer Geste zurück.

»Fast hätte ich es vergessen! Bruder Tomaso war-tet im Foyer auf Sie.«

»Warum?« »Sie haben Besuch.« Mauros bestürzte Miene musste für den Abt

leicht zu verstehen gewesen sein, denn er fügte hinzu: »Mein Bruder, Sie dürfen sich vor dieser Verpflichtung nicht drücken. Gott hat Ihnen eine besondere Gabe zuteil werden lassen, und er möchte, dass Sie sie nutzen, um den Beweis für seine Liebe und Aufopferung zu verbreiten.«

»Oh, ich weiß, ich weiß!«, sagte Mauro. »Aber zu solcher Stunde!«

»Gott fordert nur von jenen viel, die es wert sind, Mauro. Sie sind wahrhaft geweiht.«

»Danke, mein Superior. Ich schäme mich meiner Geistesschwäche und wünschte, mein Glaube an mich selbst wäre so stark wie mein Glaube an Gott!«

Der Abt lächelte. »Gehen Sie. Zeigen Sie der Welt Ihre Gabe. Die Menschen sehen in Ihnen die Zeichen des Opfers Christi und kehren zur Kirche zurück.«

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Mauro verließ den Raum und ging langsam zum Foyer. Gott vergebe ihm solche Gedanken, aber er war der Aufmerksamkeit so müde. Jedes Jahr, als wäre er eine sommerliche Touristenattraktion wie die Pferderennen auf dem Platz, wurde er von Fernseh- und Presseleuten aufgesucht. Sie parkten ihre Wagen außerhalb der uralten Stadtmauern, drängten durch die engen Straßen, versammelten sich vor den Stufen zum Kapuzinerkloster und war-teten darauf, Bruder Mauro Barzini zu sehen.

Zweiundzwanzig Jahre waren seit seinem Ge-lübde vergangen, und er hatte seine Entscheidung nie bereut. Aber manchmal fragte er sich, warum Gott ihn für seine spezielle »Gabe« auserwählt hat-te.

Als er das Foyer endlich erreichte, ging er an ei-ner Reihe Votivkerzen vorbei und öffnete die schweren Bronzetüren zur Außentreppe. Bruder Tomaso, groß, grau und spindeldürr, unterhielt sich mit drei Männern und einer Frau. Alle wand-ten sich auf Mauros Erscheinen hin um und be-trachteten ihn mit melancholischen Mienen. Einer hielt einen Camcorder, die anderen kleine Kasset-tenrekorder in der Hand. »Guten Abend, meine Freunde«, sagte Mauro. »Sie möchten mich sehen?«

»Ja, Bruder Mauro«, sagte der größte der Män-ner, der etwas nachlässig gekleidet war, wie ein Tourist, der in der malerischen toskanischen Stadt zu Besuch war. »Wir kommen von der Fernsehs-how Oddities und würden gerne in einem Teil einer

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unserer zukünftigen Shows über Sie und die Stig-mata berichten.«

»Natürlich«, sagte Mauro, der dieses Ritual im Verlaufe der Jahre schon unzählige Male durchlebt hatte. Er nickte Tomaso zu, der die Bronzetüren öffnete.

»Hier entlang bitte, wir können in die Atri-umgärten gehen. Es ist ein geeigneter Ort, um mit-einander zu sprechen«, sagte Mauro.

Tomaso begleitete die kleine Gruppe durch das erste Stockwerk des kleinen Klosters. Mauros Ge-danken wanderten zur Traumlady und zu dem zu-rück, was sie von ihm verlangen würde. Er wusste nicht, warum, aber er war sich nahezu sicher, dass sie sehr bald wieder zu ihm käme.

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TEIL DREI

Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ih-rem Haupt.

Offenbarung des Johannes, Kapitel 12, Vers 1

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Peter Carenza – Vatikanstadt 22. September 2000

s ist mir gleichgültig, wie viele Leute das erfor-dert«, sagte Peter, der mit Pater Erasmus

sprach, dem Präfekt der Geheimarchive. »Ich möchte, dass ein Mitarbeiterstab rund um die Uhr an diesen Nachforschungen arbeitet.«

Erasmus saß an seinem Schreibtisch in einem kleinen, an den Turm der Winde angrenzenden Büro. Er schaute mit einer Mischung aus Angst und Wut gleichermaßen über dessen Oberfläche hin-weg zu Peter. »Ich werde die Seminaristen heran-ziehen müssen, und …«

»Dann tun Sie es.« Peter erhob sich, um die Un-terredung zu beenden.

»Aber, Euer Heiligkeit! Diese Männer haben Stundenpläne und Pflichten! Wann werden sie studieren? Wann schlafen?«

Peter grinste. »Nachdem sie gefunden haben, wonach ich suche.«

Erasmus wirkte, als könnte er wie eine schmel-zende Kerze unter dem Schreibtisch versickern. »Die Archive, sie sind so ungeheuer groß. Diese Suche könnte sie ihr restliches Leben lang beschäftigen.«

E

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»Oder sie könnte morgen vorüber sein – wenn sie den richtigen Hinweis finden.« Peter hob Ruhe gebietend einen Zeigefinger. Die Angelegenheit war beendet. »Ich werde einen täglichen Bericht von Ihnen erwarten, Präfekt.«

»Sehr wohl, mein Vater.« Peter lächelte, wandte sich um und verließ den

winzigen Raum, in dem der muffige, aber tröstli-che Geruch nach altem Pergament und Buchbin-derleim hing – ein Geruch, der Eindrücke vergan-gener Jahrhunderte und monolithischen Wissens heraufbeschwor. Obwohl Peter seine Suche nach Hinweisen auf die Sieben hatte für sich behalten wollen, hatte er sich doch widerwillig eingestehen müssen, dass die Bemühungen eines Einzelnen Jahrhunderte dauern könnten. Die Chance auf eine zufällige Entdeckung des richtigen Hinweises war unendlich gering.

Und seine Zeit war sehr begrenzt. Es gab gewisse Dinge, um die er sich selbst kümmern musste. Die Jagd nach Francesco, zum Beispiel. Er musste sie persönlich überwachen. Der drahtige alte Jesuit war, trotz der Bemühungen eines der besten Agen-ten des SSV, entkommen, und das hatte Peter sehr erzürnt. Er hatte den Entschluss gefasst, ihn zu fin-den. Auch wenn ihm sein Instinkt sagte, dass er von Francesco nichts zu befürchten hatte, dass der alte Mann nichts anderes tun würde, als in irgend-einem entlegenen und elenden Versteck zu kauern, wollte Peter dennoch wissen, wo der Priester war.

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Und alles dauerte viel zu lange. Marion arbeitete vermutlich an ihren Medienveröffentlichungen, was sie aber definitiv schleifen ließ. Er wollte seine Heiratspläne verkünden und wurde langsam unge-duldig.

Peter stieg den Turm hinab, verließ den Belvede-re-Hof und lief über die üppig gestalteten Grünflä-chen der Innenhöfe. Er trug eine »zwanglose« pur-purfarbene Soutane mit den üblichen Brokatverzie-rungen. Sie war unbehaglich warm, und er hätte T-Shirt und Trainingshose vorgezogen, aber das hätte zu viele Leute vor den Kopf gestoßen. Während er sich, von Vatikangebäuden flankiert, den päpstli-chen Gemächern näherte, konnte er sehen, wie sich Autos und Übertragungswagen am Westtor aufreihten, um Journalisten für die »ge-schichtsträchtige« Presse- und Fernsehkonferenz auszuspeien. Der Tag war endlich gekommen, und das vermittelte ihm ein Gefühl von Vollkommen-heit – ein guter Ausgleich für den totalen Fehl-schlag, den er in den Archiven erlitten hatte.

Um die früh eintreffenden Interviewer und Fo-tografen zu meiden, ging Peter weiter über die Grünfläche zu einem wartenden Wagen, der mit zwei Mitgliedern der Schweizergarde in Zivil be-setzt war. Die beiden Soldaten benutzten die Pri-vateinfahrt zur unterirdischen Garage, um Seine Heiligkeit zu dem Gebäude zu bringen, das seine Privaträume beherbergte.

Als er die grüne Marmortreppe zu seiner Zim-

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merflucht hinaufstieg, bemerkte er die hektische Aktivität im ganzen Haus. Die Pressekonferenz, die weltweit ausgestrahlt würde, hatte viele Spekulati-onen verursacht, und es amüsierte ihn zu sehen, wie viel Macht und Einfluss er so rasch erworben hatte. Im Salon saß sein Privatsekretär an einem langen Tisch und überprüfte seine Rede auf gram-matikalische und sachliche Richtigkeit. Der Mann schaute besorgt auf, als habe er Peter nicht erwar-tet, sei aber erleichtert, ihn zu sehen.

»Heiligkeit«, sagte er leise. »Ich habe mir die Frei-heit genommen, Kopien Ihrer Rede für die Medien vorzubereiten, die anschließend verteilt werden sol-len, und ich habe bemerkt, dass Abschnitte fehlen.«

»Ja«, sagte Peter. »Aber ich verstehe nicht«, sagte der Sekretär, ein

Priester schweizerischer Abstammung mit sandfar-benem Haar.

»Die Leerstellen sind für meine wichtigsten Ver-kündigungen, die improvisiert werden.« Peter lä-chelte. »Sie werden keine Kopien dessen brauchen, was ich ihnen sagen will. Sie werden es sich auch so merken.«

»Also sollte ich die Leerstellen in den Handzet-teln belassen?«

»Sicher«, antwortete Peter. »Warum nicht?« Die Schultern des Sekretärs sanken herab, als er

sich abwandte. Peter grinste. Es bereitete ihm noch immer großes Vergnügen zu sehen, wie seine Mitar-beiter auf seine unorthodoxen Methoden reagierten.

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Als er die zentrale Halle betrat und auf sein Schlafzimmer zueilte, sah er Marion von einem Raum in einen anderen gehen. Sie trug das halb-formelle Kleid, das er für die Pressekonferenz aus-gesucht hatte, obwohl ihre Haare noch nicht fri-siert waren. Der neue Stil ihrer Kleidung und eine kürzere, modischere Frisur gaben ihrer Erscheinung zusätzliche Eleganz und verliehen ihr die Würde einer Königin.

»Du siehst gut aus, mein Liebling«, sagte er lä-chelnd. »Bereit für die Party?«

»Peter, es wird wohl kaum eine Party werden, nachdem sie von deinen Plänen gehört haben«, sagte sie mit tieftrauriger Stimme.

Er lachte leise. Wie würde die Welt reagieren? Er konnte es kaum erwarten, das herauszufinden.

Marion sah ihn noch immer an, als warte sie auf seine Erlaubnis, gehen zu dürfen, und er hielt ih-ren Blick einen Moment fest, versuchte, ihre Ge-danken zu lesen. Sie hatte sich in letzter Zeit so anders verhalten als früher, und er wusste, dass er einer solch umwälzenden Veränderung bei einer Frau mehr Aufmerksamkeit widmen musste. Ob-wohl er nicht wirklich ein Experte für die weibliche Psyche war, wusste er doch genug, um zu erken-nen, dass etwas Einzigartiges mit ihr vorging.

»Wie auch immer die Reaktion aussehen mag, ich bin sicher, dass wir damit umgehen können«, sagte er. »Wie fühlst du dich – nervös?«

Sie zuckte die Achseln und streckte die Arme

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aus, um das Kleid zu zeigen. »Nicht wirklich. Tat-sächlich fühle ich mich in dieser Aufmachung ein wenig unwohl.«

»Sei nicht albern, du siehst fantastisch aus.« »Ja, wie die Verlobte des Papstes. Irgendwie ha-

be ich das Gefühl, dass du es nicht begreifst.« »Sie begreifen es nicht, Marion. Ich versuche, sie

wachzurütteln. Willkommen im einundzwanzigs-ten Jahrhundert, Leute!«

»Wie du meinst, Peter.« Sie wandte sich halb-wegs ab, deutete damit an, dass sie gehen wollte. Er berührte sanft ihre Schulter, und sie fuhr zu ihm herum.

»Ich habe das Gefühl, dich kaum noch zu ken-nen.«

Sie sah ihn jäh verärgert und leicht sarkastisch an. »Nun, Peter, ich kann dir versichern, dass ich dieses Gefühl kenne.«

»Nein, wirklich. Du bist so … so willfährig. Du scheinst nie eine eigene Meinung zu haben, ein eigenes Gefühl oder eine Vorliebe.«

Für einen Augenblick überzog ein sardonisches Lächeln ihre Züge. »Oh, ich habe viele davon«, sag-te sie. »Ich möchte sie nur nicht mehr mit dir tei-len.«

Bevor sie gestorben war, hätte sie eine solche Bemerkung mit der Absicht gemacht, ihn zu verlet-zen, damit er sich schuldig oder zerknirscht fühlte, aber jetzt war etwas anders. Sie informierte ihn, da sie sich dazu verpflichtet fühlte, und ihr Verhalten

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war weitaus beredter als ihre Worte. Es kümmerte sie in Wahrheit überhaupt nicht, was er dachte.

Er streckte die Hände aus, hielt sie sanft an den Schultern fest und zog sie an sich. »Dinge können sich ändern, Marion. Das tun sie immer. Gib mir eine Chance, ein wenig von dem zu erkunden, wozu ich mich getrieben fühle.«

»Ich stehe dir nicht im Wege.« Er lächelte und küsste sie auf den Hals. »Das ist

vermutlich das Problem.« »Warum?« Ihre grünen Augen konzentrierten

sich ein wenig intensiver auf ihn. »Ich denke, ich würde mich etwas wohler füh-

len, wenn du es tätest.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Es wird spät. Ich sollte

besser weitermachen, wenn du willst, dass ich rechtzeitig fertig bin.«

»Du wirst fertig sein.« Sie nahm das als ihr Stichwort und verließ ihn

schweigend, lief die Halle hinab zu ihrem Anklei-deraum. Peter sah ihr nach und verspürte ein leich-tes Bedauern, als verlöre er etwas, wovon er wusste, dass er es nie wieder besitzen würde. Alles hatte seinen Preis. Er ordnete diesen unter zerbrechliche zwischenmenschliche Beziehungen ein.

Zwei Stunden später stand er am Rednerpult des Presseauditoriums in den päpstlichen Gemächern. Er trug keine traditionelle Kleidung, sondern ei-nen Straßenanzug – eine Mode, die er schon Mo-

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nate vorher als optische Botschaft dafür eingeführt hatte, dass die Dinge im Wandel begriffen waren. Hinter ihm saßen das Kardinalskolleg und eine Horde weiterer vatikanischer Offizieller und Wür-denträger. Vergangene Pressekonferenzen wie die-se waren der Startschuss für bereits erfolgte Ver-änderungen in der Kirchenpolitik gewesen – Peter hatte die Weltwirtschaft mit der Gründung der Vatikanbörse herausgefordert, mit seiner Ankün-digung einer neuen Währung und der Absicht, einer der Hauptakteure in der globalen Wirtschaft und Politik zu werden. Spekulationen waren laut geworden, dass diese letzte Runde der Ankündi-gungen ein geschlechtliches Thema zum Inhalt hätte.

Ein Meer von Gesichtern, Hunderte von Medi-enrepräsentanten, die alle ihre Mikrofone und Ob-jektive auf ihn richteten. Die versammelte Menge wogte wie ein fließender Körper hin und her, nachdem die neuen päpstlichen Erlasse verkündet worden waren: Geburtenkontrolle würde nicht nur sanktioniert, sondern der Vatikan würde darüber hinaus ein Büro einrichten, das bei der Verwaltung und Verteilung von Mitteln zur Geburtenkontrolle – besonders in Dritte-Welt-Ländern – helfen wür-de; Abtreibung wäre in Zukunft ebenfalls erlaubt, aber nicht als Form von Geburtenkontrolle; Ho-mosexualität würde nicht länger als Sünde angese-hen, sondern als »alternative Form von Liebe«; zu vorehelichem Verkehr sollte in der Hoffnung er-

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mutigt werden, dass die Anzahl der Scheidungen verringert würde.

Mit jedem neuen Erlass fegte ein Sturm von Fra-gen aus dem Publikum heran, aber Peter gebot ihnen Schweigen. Sie mussten bis zum Ende war-ten. Hinter ihm gärte das aufgebrachte, rote Meer von Kardinälen in stillem Zorn. Die Luft im Raum knisterte geradezu vor Emotionen und Anspan-nung, und Peter wurde gewahr, dass er sich von der so geschaffenen Energie nährte. Eine unerwartete Symbiose von Geist und Eingeweiden, die ihn zum Gipfel trieb.

»… und nun«, sagte er, als endlich Ruhe einge-kehrt war, »habe ich noch einen letzten Erlass zu verkünden: Das zweitausendjährige Verbot der Ehe für Kleriker innerhalb der Kirche ist hiermit und für alle Zeit aufgehoben.«

Dieser Erlass beschwor die heftigste Reaktion herauf. Eine Kakophonie von Sprachen und Stro-boskoplichtern, und die gesamte Versammlung der Medienvertreter drängte wie eine Gezeitenwoge vorwärts, als hätten sie auf Schleudersitzen geses-sen. Peter ignorierte ihre Fragen, hob Ordnung ge-bietend die Hände und wartete geduldig. Der Tu-mult ebbte langsam wie eine ausrollende Welle ab, und der Geräuschpegel der Menge reduzierte sich zu einem leisen Summen.

Den richtigen Augenblick erspürend, wandte sich Peter der ersten Sitzreihe zu, wo Marion unter den Würdenträgern saß. Er streckte eine Hand nach

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ihr aus und signalisierte ihr, sich nicht nur zu er-heben, sondern zu ihm auf das Podium zu kom-men. Sie tat dies anmutig und formvollendet, wirk-te stilvoll und elegant, und sie kam ihm immer näher, während eine Woge des Entsetzens durch die versammelte Menge lief.

Peter nahm ihre Hand und hob sie in symboli-schem Triumph in die Höhe. »Ich werde Ihnen den Weg weisen«, sagte er sanft, seine Stimme mit gro-ßer Dramatik über die Anwesenden hinwegrollend. »Ich darf Ihnen Marion Windsor vorstellen, meine zukünftige Frau!«

Er behielt seine Pose bei, während dem Kardi-nalskolleg ein kollektives Keuchen entwich. Es klang, als würde abgestandene Luft aus einem zu lange aufgeblasenen Luftballon entweichen. Die Medienleute schienen den Atem anzuhalten, und der Moment zog sich unangenehm in die Länge, die Stille nun ein eigener, ohrenbetäubender Klang. Peter fragte sich in diesem einzigartigen Au-genblick, ob er einen schrecklichen Fauxpas began-gen hatte, und entschied dann, dass diese Frage nicht von Bedeutung war.

Alle waren eindeutig zu verblüfft, um reagieren zu können. Und daher würde er es ihnen zeigen. Er würde sie zwingen, dieses besondere Ereignis zu akzeptieren.

Er erhob die Hände über ihre Köpfe, als erteile er einen Segen, und sagte ihnen, was sie tun soll-ten. Der subtile, unausgesprochene Befehl erreichte

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sie, und ein einzelnes Paar unbekannter Hände begann leise zu klatschen. Dies war das Signal für andere, und der Applaus nahm stetig an Stärke zu, wie die Annäherung einer großen Herde. Peter be-lohnte die Menge mit dem strahlendsten und brei-testen päpstlichen Lächeln, das je bezeugt wurde. Hier sind keine spirituellen Reaktionäre, dachte er mit befriedigendem Zynismus.

Er beantwortete ihre Fragen mit großer Verve und überraschte sie noch mehr mit dem Verspre-chen einer päpstlichen Hochzeit in nur sechs Wo-chen. Tatsächlich hatte er über das Datum noch nicht nachgedacht, bis die Journalisten ihn deshalb bedrängten, beschloss aber, dass es albern wäre, das Ereignis zu verzögern. Und außerdem unter-stand ein unbegrenzter Mitarbeiterstab seinen Be-fehlen, der sich um jede Einzelheit kümmern konnte. Sollten seine Untergebenen doch sehen, wie sie mit seinen Entscheidungen fertig wurden.

Später an diesem Abend speisten er und Marion zusammen. Ihre Unterhaltung beschränkte sich, trotz der bedeutsamen Ereignisse dieses Tages, auf unwesentliche Äußerungen wie die Bitte um Salz. Er wusste, dass sie sein Auftreten missbilligte, und dachte, er wäre auf diese Art Reaktion von ihr, den Kardinälen und ihrem Mitarbeiterstab vorbereitet gewesen. Aber ihre Reserviertheit beunruhigte ihn weitaus stärker, als er erwartet hatte.

»Ich gehe in die Archive«, sagte er, als er seine

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Mahlzeit beendet hatte, und fragte sich sofort, wa-rum er sich die Mühe machte, ihr seine Absichten mitzuteilen. Aber er wusste natürlich, warum – es war zum Verzweifeln, dass sie ihn so vollkommen ausschloss. Stell dich der Tatsache, dachte er sar-kastisch, dass es eine schlechte Idee war, sie aus dem Fenster zu werfen.

»Oh«, sagte Marion. »Ich dachte, du wolltest, dass ich dir bei deinem dortigen Projekt helfe. Was auch immer es war.«

Ihre bereitwillige Antwort überraschte ihn. Bes-ser, verhalten darauf zu reagieren. »Ja, das wollte ich, nicht wahr? Ich habe beschlossen, die Semina-risten mit einzuspannen, um die Dinge zu be-schleunigen, weißt du. Um es für alle leichter zu machen.«

»Was leichter zu machen? Du hast dir nie die Mühe gemacht, mir zu erzählen, wonach du suchst.«

Peter trat einen Schritt vom Tisch fort, so als wollte er sie entlassen, war jedoch gleichzeitig empfänglich für ihre Bemühung, mit ihm zu spre-chen.

»Ich betreibe nur ein paar Nachforschungen, mehr nicht. Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass ich selbst nicht einmal sicher weiß, wonach ich suche.«

»Das stimmt«, lachte sie leise, möglicherweise spöttisch. »Aber du sagtest, du würdest es wissen, wenn du es sähst, richtig?«

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»So ähnlich.« »Peter, das klingt überhaupt nicht nach dir. Du

bist normalerweise so entschieden und zielgerichtet.« »Die Geheimarchive sind gewaltig, weißt du. Ich

habe mich gerade erst mit einigem Material dort vertraut gemacht, und ich stieß auf diesen einen Satz, der – habe ich dir das nicht schon erzählt?«

»Was?«, fragte sie, ohne aufzublicken. Sie war offensichtlich bemüht, Desinteresse zu heucheln. »Oh … ich erinnere mich nicht. Vielleicht hast du es getan.«

»Es war ein Satz, der mich einfach fesselte«, sagte Peter in dem Entschluss, ihre kleinen Spielchen zu ignorieren. »Er sprang mich buchstäblich von der Buchseite an.«

Sie sah ihn auf eine Art an, die ihren Zweifel überaus verdeutlichte. »Peter, also wirklich …«

»Das tat er«, beharrte er. »Es war ein Hinweis auf das Geheimnis der Sieben. Hast du je davon ge-hört?«

Marions unbewegter Blick konzentrierte sich auf ihn. »Nein, ich glaube nicht. Möchtest du, dass ich dir helfe, danach zu suchen?«

»Ich sagte dir bereits, dass ich die Seminaristen dafür einspanne.«

»Ich komme mit dir, wenn du möchtest.« »Wirklich? Warum?« »Ich dachte, du wolltest es. Außerdem«, fügte

Marion hinzu, »hast du mich jetzt auch neugierig gemacht.«

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In diesem Moment musste er sich eingestehen, dass er Frauen überhaupt nicht verstand. Er hatte geglaubt, sie wollte nicht einmal mehr im selben Raum mit ihm sein. Vielleicht hatte er ihre berufli-chen Instinkte als Kriminalreporterin angespro-chen. Sie war immerhin eine der besten Fernseh-journalistinnen New Yorks gewesen, als er sie ken-nenlernte.

»In Ordnung«, sagte er. »Sehen wir mal, was sie inzwischen wissen.«

Peter trat um den langen Tisch herum und streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie ignorierte sie, erhob sich und ging allein auf die Tür zu. Meh-rere Dienstboten hatte am anderen Ende des Rau-mes, nahe der zur Küche führenden Tür, in diskre-ter, respektvoller Distanz gewartet.

Auf eine einzige Geste seiner rechten Hand hin traten sie zum Tisch. Peter folgte seiner zukünfti-gen Frau und fragte sich, ob sie jemals wieder et-was für ihn empfinden würde und warum sie jetzt überhaupt bei ihm war.

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Pierce Erickson – New York 19. September 2000

ierce war noch vor wenigen Augenblicken le-diglich einer der vielen Angestellten der welt-

umspannenden Providential Casualty Insurance gewesen. Nun würde er gleich seine fünfzehn Mi-nuten Ruhm einheimsen.

Er stand am Newark Airport vor dem Eingang zum unterirdischen East-Hudson-Tunnel, von Fernsehreportern, stummen Fotografen und einer ständig anwachsenden Menge Passanten umgeben. Hinter ihm hatte die Polizei zum Schutz ein Ab-sperrband gespannt, und Bataillone von Feuer-wehrleuten und EMT-Personal waren aufgeboten worden. Pierce war noch immer benommen von den Ereignissen der vorangegangenen zehn Minu-ten und konnte nicht klar denken. Seine Worte und Empfindungen waren so verstrickt, dass ein-fach alles aus ihm hervorbrach. Alle redeten und schrien durcheinander, und er bemühte sich her-auszufinden, was um ihn herum vorging.

»Was haben Sie dort unten im Tunnel gemacht, Mr Erickson?«, fragte ihn eine dröhnende männli-che Stimme.

P

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Pierce suchte vergebens nach dem Fragesteller, aber dann umgab ihn und die Menge eine jähe Stille, als sich alle ihm zuwandten und seine Ant-wort erwarteten. Als würde er sich plötzlich der Aufmerksamkeit bewusst, die ihm zuteil wurde, versuchte er automatisch, sein langes dunkelbrau-nes Haar zu glätten und seine Seidenkrawatte zu richten, die ebenso durchnässt war wie sein übriges modisches Ensemble. Er räusperte sich.

»Ich bin Schadensregulierer«, sagte er. »Ich überprüfte gerade die Details und die Beweise für eine Forderung.«

»Was für eine Forderung?«, fragte eine Frau in den vorderen Reihen, die einen tragbaren stimm-aktivierten Rekorder hochhielt.

Gleichzeitig rief die erste Stimme: »Woher wuss-ten Sie, dass die Nordröhre einstürzen würde?«

»Nun, ich wusste es nicht wirklich, ich meine, ich hatte keine Ahnung, bis ich die Frau sah«, sagte Pierce, rieb sich die Schläfen und wünschte sich, das Pochen würde aufhören.

»Welche Frau?«, fragte eine weitere weibliche Stimme. Ein wenig durchdringend, offensichtlich aufgeregt.

»Diejenige, die mir sagte, dass die Schutzwand einbrechen würde«, sagte Pierce und versuchte, die Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren, sich voll-ständig zu erinnern, wie er von hier nach da ge-kommen war.

Die Reporter gierten nach neuen Informationen

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und schrien alle gleichzeitig auf ihn ein. Er musste langsam vor ihnen zurückgewichen sein, denn ein Sanitäter trat in den Kreis und bat darum, Pierce ein wenig Platz zu lassen.

Aber eine junge, schwarze Journalistin hatte sich bereits an Pierce’ Seite gekämpft und sah mit ge-winnendem Lächeln zu ihm hoch. Sie sprach leise, aber ihre Stimme durchdrang dennoch den Lärm. »Eine Frau hat Ihnen von dem Einsturz erzählt, sagten Sie?«

»Ja, sie sah wie eine Nonne aus.« »Eine Nonne? Wo ist sie? Was ist mit ihr pas-

siert?« »Sie ist nicht hier«, sagte Pierce. Ein Teil seines

Verstandes sandte Alarmsignale aus – Halt den Mund! Es reicht! –, aber er sprach weiter. »Sie ging danach fort.«

»Sie ging fort? Was meinen Sie damit?« Der Pulk von Reportern drängte wieder zu ihm

heran, da sie erkannten, dass die einzige Möglich-keit, seine bruchstückhaften Äußerungen mitzube-kommen, darin bestand, ein gewisses Maß an Ruhe zu bewahren.

»Ich stand beim Aufleger, und dann sah ich sie. Sie erschien einfach irgendwie vor mir. Sie …«

»Woher kam sie?«, rief jemand. »Was meinen Sie mit ›erschien‹?« »Sie meinen, wie ein Geist?« Pierce nickte. »Ja, so ungefähr, aber sie war kein

Geist. Sie war sehr real.«

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Einige Leute in der Menge lachten leise. Andere geboten ihnen Schweigen. Pierce betrachtete die Menge mit plötzlich erwachtem Misstrauen.

Die junge Reporterin neben ihm berührte seinen Ellenbogen und gewährte ihm erneut dieses breite Lächeln. »Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Kommen Sie, erzählen Sie mir, was geschehen ist.«

»Sie hat mit mir gesprochen. Ich konnte sie hö-ren«, sagte Pierce. »Sie war real.«

»Was hat sie gesagt?« »Wie sah sie aus?« »Können Sie sich an ihre genauen Worte erin-

nern?« Alle redeten durcheinander, und er merkte, dass

er das Ganze leid wurde. Er wollte hier raus, nach Hause, zu seiner Familie an der Riverside.

»Ich denke, ich sollte jetzt besser aufhören«, sag-te er leise und hielt inne, um sich die Augen zu reiben.

Die Menge wollte erneut auf ihn einreden, als ihn die junge Frau an seiner Seite, diejenige mit dem wunderschönen Schauspielerlächeln, am Är-mel zupfte. »Kommen Sie, Sir. Ich bringe Sie hier raus.«

Pierce nickte und ließ sich von ihr von dem Halbkreis der Reporter wegführen, an einer Pha-lanx von Feuerwehrwagen, Polizeiautos und Bag-gern vorbei. Lichter blitzten beständig auf, begleitet von den Geräuschen von Hubschrauberrotoren, Baggern, Sirenen und Hupen. Mit jeder vergehen-

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den Minute wurde sein Denken klarer, und er er-kannte, dass er nirgendwo in der Nähe des Schau-platzes der Ereignisse sein wollte.

»Wo ist Ihr Wagen?«, fragte die Reporterin. »Sind Sie hierher gefahren?«

»Im Firmenwagen«, sagte Pierce. »Er stand gleich dort drüben, beim Tunneleinstieg.«

»Sie meinen den, der jetzt voller Schlamm ist?« Pierce betrachtete die Verheerung wie zum ers-

ten Mal. Es sah so aus, als wäre ein riesiger Topf heißer, weicher Karamellmasse umgestülpt und der Fluss der Masse gestoppt worden, als sie sich die Ufer des Hudson hinaufwälzen wollte. Wenn sich sein Fahrzeug darunter befand, würde es eine gan-ze Weile dort bleiben müssen.

»Ja«, sagte er kopfschüttelnd. »Nun, zumindest war das ein Firmenwagen.«

»Kommen Sie«, sagte die Reporterin, die noch immer seinen Arm hielt, und führte ihn zum Park-platz außerhalb des umzäunten Baugeländes. »Ich fahre Sie nach Hause. Wo wohnen Sie?«

»An der Riverside an der Achtundachtzigsten Straße.«

»Das ist ein gutes Stück Fahrt.« Sie lächelte er-neut. »Dann haben wir eine Chance zu reden.«

Er antwortete nicht, während sie ihn zu einem Wagen mit einem Channel-38-Logo an der Tür führte.

Während er sich auf dem Beifahrersitz nieder-ließ und die Tür schloss, glitt sie hinter das Steuer.

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In ihrem lindgrünen Kostüm, das viel von ihren langen, dünnen Beinen freigab, wirkte sie professi-onell, aber dennoch trendy und hip. Ihr Haar war im neuesten MTV-Stil gelockt, und ihre Brille erin-nerte ihn an Snowboarder-Ausrüstung. Aber ihre Stimme hatte einen herzlichen Tonfall, und sie sprach mit Respekt, und selbst wenn sie all dies nur tat, um ihm eine Story abzuschwatzen, wäre das okay. Er beschloss, sie zu mögen.

Genau in dem Moment wandte sie sich ihm zu. »Ich bin Shaenara Williamson. Channel 38 News-at-Nite.«

Er lächelte und reichte ihr die Hand zu einem professionellen Händedruck. »Pierce Erickson.«

Shaenara steckte den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Intrepid und fuhr los. »Woher kommt der Name Pierce? Ich weiß, wie das mit Namen ist, weil ich auch ständig nach meinem gefragt werde – wie buchstabiert man ihn, was bedeutet er, woher kommt er, wissen Sie. Nun, meine Mama hat ihn erfunden, mehr weiß ich nicht.«

Er beobachtete sie, wie sie sprach und alles mit einem leisen Lachen und diesem breiten Lächeln unterstrich. Sie war ein erfreulicher Anblick. Wirk-lich ein reizvolles Geschöpf. Er könnte wetten, dass sie alle Infos bekam, die sie haben wollte.

»Meiner ist ein Familienname«, sagte er. »Mein Urgroßvater war mit dem Burschen verwandt, der den Pierce Arrow konstruiert hat.«

»Was ist das?«

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»Ein Auto, das Anfang des Jahrhunderts gebaut wurde. Ein wirklich schöner Wagen, wie mir gesagt wurde.«

»Was geschah damit?« Pierce grinste. »Er ging den gleichen Weg wie der

Packard und der Studebaker.« Shaenara sah ihn mit spöttischem Stirnrunzeln

an. »Noch mehr alte Autos?« »Wissen Sie, Sie sollten wirklich manchmal den

Learning Channel einschalten. Ein Reporter sollte gewisse Dinge wissen.«

»Ich dachte, er muss gute Fragen stellen.« »Das können sie nicht, wenn sie nichts über ihr

Thema und dessen Ursprung wissen.« »Nun, ich versuche, etwas über Sie herauszufin-

den, Mr Erickson. Weil ich hier eine gute Story rie-che.«

Pierce schaute träge aus dem Fenster, während sie über eine Schnellstraße auf die Schilder zur New Jersey Turnpike Richtung Norden zufuhren. Die Lichter des Flughafens und der umliegenden Industriekomplexe vermittelten der gesamten Sze-ne eine weltfremde Vitalität.

»Ja, das weiß ich«, sagte er nach einer Pause. »Und es macht mir nichts aus, Ihnen das meiste davon zu erzählen. Das wird mir den restlichen Mob vom Hals halten.«

»Dann haben Sie vermutlich nichts dagegen, wenn ich dies hier benutze«, sagte sie, während sie in ihre Fendi-Tasche griff und einen kleinen Sony

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Digitalrekorder hervornahm. Sie drückte auf Auf-nahme und stellte ihn dann auf die Konsole zwi-schen ihnen.

»Tatsächlich wäre mir das sogar lieber. So ist es leichter, Ordnung in die Fakten zu bringen.«

Shaenara nickte. »Okay, Sie überprüfen also An-sprüche für eine große Versicherungsgesellschaft. Wie lange tun Sie das schon? Mögen Sie mir kurz Ihren Lebenslauf beschreiben?«

»Ich bin schon seit dem College bei Providential Casualty. Das war in Villanova, vor vierzehn Jah-ren. Verheiratet – einmal und sehr glücklich – mit einer Frau namens Sydney, und wir haben zwei Töchter, Agnes und Sophia, und einen Labrador namens Liberty.«

»Liberty?« Shaenara grinste. Er zuckte die Achseln. »Das war die Idee der

Mädchen – mir gefällt er, da ich Indeterminist bin und so –, und sie nennen sie Libby. Wie dem auch sei, wir besitzen ein altes Haus aus braunem Sand-stein an der Riverside, mit hohen Decken, zugigen Fenstern und viel Stuck. Wir sammeln Antiquitäten aus New Hampshire und Vermont, wir fahren ger-ne Ski, hassen den Strand und lieben im Allgemei-nen unsere Jobs. Oh ja, und Sydney ist Headhunter für eine kanadische Firma, von der die Erdölin-dustrie der Welt mit Personal versorgt wird. Noch etwas?«

»Zu Lieblingsfarben und Ähnlichem komme ich später. Okay, erzählen Sie mir jetzt von dieser Frau,

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die Sie gesehen haben, und, bitte, lassen Sie es mich Ihnen nicht aus der Nase ziehen.«

Pierce räusperte sich. »In Ordnung, hören Sie zu: Ich stehe also dort und rede mit dem Vorarbei-ter von Turnbull, der Firma, der die Maschinen gehört, die wir versichert haben. Er erzählt mir sei-ne Version der Ereignisse, die dazu führten, dass der Aufleger von selbst zerstört wurde. Verstehen Sie, ich bin dort, um zu überprüfen, ob Turnbull irgendwelche Verantwortung dafür trägt oder ob die Maschine von allein versagte, und …«

Er hielt inne, als er bemerkte, dass Shaenara ihn definitiv missbilligend ansah.

»Tut mir leid, das sollte ich wohl ein wenig kür-zer fassen. Okay, ich will gerade in den Führer-stand des Radladers klettern, als ich hinter dem vorderen Ende der Maschine ein helles Licht sehe, wie das blaue Leuchten eines Acetylenbrenners. Ich schaue dorthin, um nachzusehen, was vor sich geht, und sehe diese Frau einfach … erscheinen! Also von einer Sekunde auf die andere ist da dieses blaue Leuchten, und dann puff! – steht sie da und sieht mich an.«

»Hatten Sie Angst?« Shaenara bog auf die rechte Spur, um die Ausfahrt zum Lincoln-Tunnel zu nehmen.

»Nein, nicht wirklich. Ich war einen Moment wie gelähmt, aber dann wusste ich, dass alles in Ordnung war. Ich war mir sicher, dass sie nicht da war, um mir wehzutun oder mich zu ängstigen

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oder so. Sie trug solche gelbgrauen und braunen Gewänder wie diese Leute in der Bibel, und ich dachte eine Sekunde lang, sie wäre die Jungfrau Maria …«

»Sind Sie katholisch?« »Ja, warum?« »Nun, ich könnte mir vorstellen, dass die meis-

ten Leute Halluzinationen in Form dessen haben, woran sie bereits glauben.«

Pierre lachte düster in sich hinein. »Wenn Sie al-so bereits sicher sind, dass das, was ich Ihnen er-zähle, eine Wahnvorstellung ist, warum ver-schwende ich dann meine Zeit, hm?«

Shaenara Williamson sah mit übertrieben miss-billigender Miene zu ihm herüber. »Nun kommen Sie schon, Mr Erickson, es ist mein Job, skeptisch zu sein. Und es ist Ihr Job, mich davon zu über-zeugen, dass ich mich irre.«

»Sie irren sich. Sie war real.« Er bemerkte, dass seine Stimme einen rauen Unterton angenommen hatte. Abwehr? Nein, eher Nachdrücklichkeit. »So real, wie Sie sind, die Sie hier direkt neben mir sit-zen.«

»Okay, also entschieden Sie, dass sie nicht Maria war …«

»Vielleicht irgendeine Heilige, die ich nicht er-kannt habe, oder vielleicht war sie nur ein Engel. Aber hören Sie: Sie nannte meinen Namen, und ich war einfach wie … gefangen, so als könnte ich nicht aufhören, ihr zu lauschen. Sie sagte mir, Gott

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hätte sie aus einem bestimmten Grund zu mir ge-sandt und dass ich bereit sein müsse, zu ihr zu kommen, wenn der richtige Zeitpunkt käme. Sie sagte auch, dass ich mich, obwohl ich von Gott für etwas Besonderes auserwählt wurde, weigern könn-te, wenn ich wollte.«

»Sie wissen, dass das alles nach Kreuzzug-Fantasien klingt, nach klassischem Größenwahn und solchen Dingen.«

»Und Sie wissen, dass Sie wie im Psychologie-kurs klingen«, sagte er rasch.

Shaenara zuckte die Achseln. »He, das ist einer der Pflichtkurse. Tut mir leid. Erzählen Sie weiter. Hat Sie Ihnen gesagt, was Sie tun sollen?«

»Ja, aber zunächst bewies sie mir, dass sie real war, dass sie von Gott gesandt war. Sie erzählte mir von der Schutzwand, dass sie schadhaft sei und jeden Moment einstürzen würde. Ich fragte sie, ob ich noch Zeit hätte, alle zu warnen, und sie sagte Ja.«

»Aber es hat niemand zugehört?« Pierce musste unwillkürlich grinsen. »Natürlich

nicht! Die Kerle haben mich angesehen, als wäre ich ein normaler New Yorker Spinner.«

»Hatten Sie etwas anderes erwartet?« »Nein, aber ich hatte Angst – ich glaubte der

Lady. Also schrie ich weiter und zeigte auf die schwache Stelle in der Wand.« Er hielt inne. »Ha-ben Sie jemals Metall ächzen hören, wenn es zu viel Spannung hat?«

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»Nein.« »Ich vorher auch nicht, aber es war ein sehr be-

ängstigendes und sehr lautes Geräusch, und als die Vorarbeiter das hörten, begannen sie, das Gebiet zu evakuieren. Und das gerade noch rechtzeitig. Wenn sie gewartet hätten, bis alles zusammen-brach, wären sie unter Hunderten von Tonnen Schlamm begraben worden.«

Shaenara verlangsamte die Fahrt und lenkte den Intrepid eine lange, gewundene Abfahrt hinab, die an der Zollstation endete und auf eine gerade Zu-fahrt zum Lincoln-Tunnel in Weehawken führte. »Ja, ich hörte die Techniker darüber reden. Sie ha-ben keine Ahnung, woher Sie vorher von den Baumängeln wissen konnten.«

»Nun, ich erkläre Ihnen gerade haarklein, wie ich es vorher wissen konnte.«

»Was geschah dann, nachdem sie Sie aufgefor-dert hatte, alle hinauszubringen?«

»Sie verschwand. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern. »Als ob man ein Licht löscht. Und dann lief ich los, und ziemlich bald stürzten alle zu den Sattelschleppern oder Zugmaschinen oder lie-fen ganz einfach aus dem Tunnel raus.« Er hielt erneut inne. »Nachdem kein Schlamm mehr aus dem Eingang drang, sah ich sie wieder.«

»Genau wie sie es vorausgesagt hatte.« Shaenara lächelte nun und hörte mit stillem Respekt zu. Er fühlte sich dadurch bestätigt.

»Ich war mit Schlamm und Wasser bespritzt und

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hatte gerade einem der EMT-Teams geholfen, Leute auf Tragen zu legen. Dann, aus den Augenwinkeln, sah ich das blaue Aufblitzen erneut, und ich wusste genau, was es war. Ich wandte mich um, und sie stand da und lächelte sehr sanft. Sie sah aus wie eine ungefähr Fünfzigjährige, aber als sie so lächel-te, wirkte sie weitaus jünger.

Wie dem auch sei, sie sagte mir, sie sei so glücklich, dass ich alle diese Menschen retten konnte, aber nun sei es an der Zeit, etwas ganz Besonderes für sie und für Gott zu tun. Sie mein-te, ich müsste nach Jerusalem gehen, zu dem Grabmal eines Propheten namens Ahnmet. Dort würde sie mich treffen, wenn ich das Grabmal gefunden hätte, und mir mitteilen, was als Nächs-tes zu tun sei.«

»Also werden Sie es tun?« Er lachte leise. »Würden Sie es nicht tun?« »Ich denke, ich würde zuerst herauszufinden

versuchen, ob es dort ein Grabmal dieses Ahnmet gibt.«

»Ms Williamson, glauben Sie, dass ich lüge?« »Nein, natürlich nicht.« »Glauben Sie, ich hätte mir den Namen dieses

Burschen und den Standort seines Grabmals nur ausgedacht?«

»Nein, aber Sie könnten Bibelgelehrter sein, o-der …«

»Haben Sie es nicht gehört? Katholiken lesen niemals die Bibel. Jedenfalls nicht bis vor sehr

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Kurzem. Aber glauben Sie mir, ich bin kein Ge-lehrter irgendeiner Art, besonders kein Bibelge-lehrter.«

Shaenara sah ihn an, während sie an der Zollsta-tion vor dem Tunneleingang anhielt und dann die Maut bezahlte. »Sie haben doch kein Tunneltrau-ma, oder?«, fragte sie mit leisem Lächeln. »Ich meine, als Sie das letzte Mal einen Tunnel betraten, war das nicht so toll.«

»Dieser ist okay«, sagte Pierce. Er mochte ihre Art von Humor. »Ich habe das Gefühl, Gott würde es mir sagen, wenn es nicht so wäre.«

»Warum das?« »Haben Sie nicht zugehört? Weil er große Pläne

für mich hat.« Sie lenkte den Wagen in die Tunneleinfahrt und

sagte dann: »Also reisen Sie nach Jerusalem. Was werden Sie Ihrer Frau erzählen?«

»Dasselbe, was ich Ihnen erzählt habe«, sagte er. »Was mich daran erinnert – meinen Sie, Sie könn-ten diese Geschichte bis morgen Früh zurückhal-ten? Dann hört sie es zuerst von mir.«

»Warum glauben Sie, ich würde sofort veröffent-lichen wollen, was Sie mir erzählt haben?«

Pierce zuckte die Achseln. »Oh, ich weiß nicht … könnte es sein, dass Sie beim Fernsehen arbei-ten?«

Beide lachten und schwiegen dann eine oder zwei Minuten, bis der Wagen den Tunnel an Man-hattans West Side an der Achtunddreißigsten Stra-

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ße wieder verließ. Pierce dachte darüber nach, was Sydney sagen würde, wenn er ihr erzählte, er müs-se das Grabmal eines vergessenen Propheten su-chen. Nun, sie waren nur noch wenige Minuten von seinem Haus entfernt. Er würde es bald wis-sen.

Er atmete tief ein und wieder aus. Ein Gedanke durchzuckte ihn: Nach heute Abend würde er seine Familie niemals wiedersehen.

Vielleicht. Aber das änderte nichts.

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Pater Giovanni Francesco – Korsika 19. September 2000

r hatte nicht gewusst, dass Targeno einen Bru-der hatte. Ein Agent mit Targenos Fähigkeiten

und Statur war irgendwie über die Welt normaler Menschen erhaben. So sehr, dachte Giovanni, dass man sich nicht vorstellen konnte, dass ein Mann wie er je eine Mutter oder gar eine Kindheit hatte. Männer wie Targeno konnten unmöglich gurrende Babys oder unschuldige, lächelnde kleine Jungen gewesen sein. Sie mussten wie Reptilien aus kalten und verlassenen Eiern geschlüpft sein, vollkom-men ausgewachsen und bereit, alles zu verschlin-gen, was in die Nähe ihres Nests geriet.

Giovanni hatte die letzte Stunde damit ver-bracht, der Geschichte des Mannes zuzuhören, den er nur als Gaetano kannte. Er schien Ende dreißig und in ausgezeichneter körperlicher Verfassung zu sein. Wenn er sprach oder Giovanni direkt ansah, tat er dies mit einer Intensität und zielgerichteten Aufmerksamkeit, wie sie der ältere Mann nur selten erlebt hatte. Er gab zu, dass es ihn erschreckt hatte, in der Enklave der Ritter dem berüchtigten Pater Francesco zu begegnen, besonders da er geglaubt

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hatte, er würde lange brauchen, um den Priester aufzuspüren, und noch länger, um für seine Er-mordung nahe genug an ihn heranzukommen.

*

»Also, lassen Sie mich sehen, ob ich es richtig ver-standen habe«, sagte Giovanni, der ein verzerrtes Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Sie haben Ihren Job in London als Investmentfonds-Verwalter aufgegeben, um sich zum professionel-len Killer ausbilden zu lassen?«

»Lächeln Sie, solange Sie noch können, alter Mann. Sie haben mich schon beim ersten Mal rich-tig verstanden«, sagte der Dunkeläugige. »Aber ich habe meinen Job nicht aufgegeben – die Handels-gesellschaft gehört mir. Meine Angestellten küm-mern sich um alles, bis ich zurückkehre.«

Giovanni lachte leise. »Sie meinen, wenn Sie zu-rückkehren, mein Freund. Was Sie vorhaben, könnte einige Gefahren in sich bergen.«

»Ich bin bereits gut gerüstet. Mein Bruder hat mich viele Dinge des Überlebens gelehrt.«

»Sie haben zu ihm aufgeschaut, hm?« »Er war mein Bruder«, sagte Gaetano. »Ich habe

ihn sehr geliebt.« Giovanni nickte, antwortete aber nicht sofort. Er

betrachtete den vor ihm sitzenden Mann. Seine Bewegungen waren schnell, angespannt, wachsam. Er war wie ein komplizierter Mechanismus, der zu

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fest gespannt war und jeden Moment bersten konnte. Gaetano war eindeutig ein Besessener, der die einzige Leidenschaft, die jede seiner Bewegun-gen und jeden seiner Gedanken nährte, nicht leug-nen oder ihr entkommen konnte.

Rache. Giovanni seufzte, während er über dieses älteste

und wohl leidenschaftlichste Motiv der Geschichte nachdachte, Grund für mehr Konflikte und Tode als jedes andere. Er sah Gaetano an und stellte sich vor, wie diese rohe Energie, diese unbeschränkte Kraft für einen höheren Zweck verwendet werden könnte.

»In Ordnung, junger Mann, ich habe Ihrer Ge-schichte zugehört, aber eines verstehe ich nicht. Warum wollen Sie mich eliminieren?«

Gaetano sah ihn ohne jede Regung an. »Soweit ich weiß, sind Sie der Grund dafür, dass mein Bru-der getötet wurde.«

»Ich? Ich habe ihn nicht getötet. Er hat für mich gearbeitet. Er war der beste Mitarbeiter, den wir je hatten! Ich wollte nicht, dass er stirbt.«

»Hätte man ihn nicht Peter Carenza zugeteilt, wäre er nicht im Los Angeles Palladium gewesen, und Carenza hätte ihn nicht getötet.«

Giovanni nickte widerwillig, aber mit seinem charakteristischen verschlagenen Grinsen. »Das stimmt, wenn man ein Fan simpler Logik ist.«

»Was?« »Ihnen muss klar sein, dass Targeno immer Ge-

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fahr lief, getötet zu werden. Das lag in der Natur seines Jobs.«

»Das ist mir klar, aber das ändert nichts an der Wahrheit – dass Sie ihn in den Tod geschickt ha-ben.«

Giovanni lachte leise, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zündete sich eine französische Zigarette an – filterlos und aus schwerem Latakia-Tabak ohne Zusätze. »Ich gehe von der Annahme aus, dass Ihnen die Einzelheiten der Geschichte bekannt sind.«

»Ich habe alle über das Palladium-Ereignis ver-fügbaren Videos gesichtet.«

»Gut! Dann müssen Sie doch wissen, dass Ihr Bruder durch meine Anweisung, Carenza zu be-schatten und, wenn nötig, zu schützen, keineswegs in Gefahr gebracht wurde.«

»Pater Francesco, ich …« »Und wenn Sie mit dem Videomaterial so ver-

traut sind, wie Sie sagen, dann müssen Sie auch die jähe Veränderung in Targenos Verhalten bemerkt haben in der kurzen Zeitspanne, bevor Carenza ihn abfackelte.«

Giovanni beobachtete, wie der junge Mann in-nehielt, während seine sich verändernde Miene seine Gedanken preisgab. Es war offensichtlich, dass ihm die Wandlung seines Bruders tatsächlich nicht entgangen war.

»Der Punkt ging an mich, Signore«, sagte Giovanni. »Geben Sie es zu.«

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»Nun, ja, ich habe bemerkt, was Sie beschrei-ben, Pater.«

»Und was sagte Ihnen das?« Gaetano vollführte die Geste, die mezzo-mezzo

bedeutete. »Ich bin mir nicht sicher. Anscheinend hatte er etwas erkannt.«

»Wissen Sie, was das gewesen sein könnte?« Gaetano wand sich. »Ich habe Sie etwas gefragt, Signore.« Giovanni

nutzte seinen Vorteil. »Was hat Ihr Bruder gesehen, das ihn innehalten ließ? Haben Sie es gesehen?«

»Ich … ich glaube ja.« »Dann sagen Sie es mir, Signore.« Gaetano sprach zögerlich, als erinnere er sich an

eine Erfahrung. »Es geschah, als der Papst schon angeschlagen war. Unmittelbar davor hatte er Peter Carenza in die Augen gesehen und gesagt: ›Ich er-kenne dich‹.«

Giovanni nickte. »Was auch immer der Papst gesehen hat …

mein Bruder, er … er muss es auch gesehen ha-ben.«

Giovanni klatschte spöttisch applaudierend. »Bravissimo, maestro! Solch gekonnte Wahrneh-mung und Schlussfolgerung.«

»Versuchen Sie nicht, witzig zu sein, alter Mann.«

»Gut.« Giovanni setzte eine übertrieben harte Miene auf und sprach mit leiser, gedehnter Stim-me. »Was genau hat Ihr Bruder also gesehen?«

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Der jüngere Mann zögerte erneut, als überlege er, was er einräumen sollte. »Wissen Sie, es ist inte-ressant, dass Sie diese Frage direkt ansprechen. Ich muss zugeben, dass ich viele Stunden damit ver-bracht habe, mir genau diese Momente auf den Videos immer wieder anzusehen.«

»Und Ihre Schlussfolgerung?« »Mein Bruder sah das Böse in diesem Mann

Carenza. Er sah es«, antwortete Gaetano und schloss die Augen, als rezitiere er einen geheimen Schwur, »und erkannte in diesem Moment, dass er versuchen musste, es zu vernichten.«

Giovanni atmete einen langen, dünnen Rauch-faden aus und nickte dann. »Glauben Sie an die Existenz eines solchen Bösen?«

»Ich brauche an nichts zu glauben, was ich leicht bezeugen kann.«

»Gut ausgedrückt«, sagte Giovanni. »Demzufol-ge müssen Sie also im tiefsten Herzen wissen, dass ich Ihren Bruder nicht in den Tod geschickt habe. Sie brauchen mich nicht als Sündenbock. Sie müs-sen Ihren Zorn auf das richtige Ziel richten.«

Gaetano grinste. »Carenza? Pater, warum glau-ben Sie, dass ich das nicht getan habe?«

»Weil der einzige Mensch, den Sie anscheinend unbedingt töten wollen, ich bin!«

»Nein, Sie sind nur ein Name auf der Liste. Eine Liste, die schon immer von Peter Carenza persön-lich angeführt wurde.«

Giovanni atmete aus und löschte den Rest seiner

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Zigarette. Er beugte sich in den vollen Schein der Schreibtischlampe vor und spürte, wie deren Wär-me in die tiefen Linien seines Gesichts einsank. »Dieser Name steht auch auf meiner Liste ganz oben.«

»Warum das?« Gaetano sah ihn mit einer Spur neu gewonnenen Respekts an.

Giovanni beschrieb kurz den Mordversuch an ihm durch den SSV-Mann – auf Befehl Papst Peters II. –, wobei er nur seinen Mut und Einfallsreich-tum besonders beschönigte.

»Unglaublich!«, sagte Gaetano. »Und wir wur-den beide an denselben Ort getrieben.«

»Gewiss bedeutet das etwas, Signore«, sagte Giovanni, während er dem jüngeren Bruder Targe-nos die Hand reichte. »Wir sollen Verbündete sein, nicht Feinde.«

»Vielleicht.« »Ich weiß alles über Carenza und seine Umge-

bung. Ich kann so nahe an ihn herankommen, wie es Ihnen nie möglich wäre.« Giovanni tippte Gaetano auf den Arm. »Sie brauchen mich.«

»Und Sie brauchen mich – um das zu überneh-men, was die Amerikaner die ›Drecksarbeit‹ nen-nen, oder?«

»Sehr dreckige Arbeit. Und ja, so ist es. Wir be-nötigen einander – als Verbündete.«

Der jüngere Mann streckte ebenfalls die Hand aus. »Zumindest seltsame Genossen.«

Giovanni lächelte und zündete sich zur Feier ei-

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ne neue Zigarette an. »Dann ist das abgemacht. Wenn Ihre Ausbildung hier beendet ist, werden wir Sie auf den richtigen Kurs bringen, unseren Heili-gen Vater zu stoppen und zu eliminieren.«

»Ich werde mich dieser einzigen Aufgabe ver-schreiben. Aber was werden Sie in der Zwischen-zeit tun?«

Giovanni lächelte. Er mochte diese jüngere Ver-sion Targenos. Gaetano zeigte dieselbe prahlerische Zuversicht, dieselbe Kühnheit des Geistes. »Gute Frage. Sie zeigt, dass Sie nachdenken. Der Geist muss ebenso wie der Körper bestmöglich geschult werden.«

»Ich denke immer nach, Padre. Nun, könnten Sie die Frage jetzt bitte beantworten?«

Giovanni hielt inne und sog den beißenden Rauch der Gauloise in seine Lungen. »Ich verfüge über langjährige Kontakte im Vatikan. Und dadurch gibt es noch uneingeforderte Gefallen, Verpflichtungen und sogar einige Fälle regelrechter Angst unter dem Personal. Das ist gut, Gaetano, das versichere ich Ihnen.«

Bedächtig nickend sah Gaetano ihn mit vereng-ten Augen an. »Ja, aber wir brauchen einen Plan, ein Ziel.«

»Natürlich, aber zuerst werden wir so viele In-formationen wie möglich sammeln. Wir müssen Peters Reisepläne erfahren, seine Termine, seinen Tagesablauf, Zeiten des Alleinseins, seine Wünsche und Abneigungen … kurz gesagt, alles, was um ihn

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herum vorgeht. Alles, was wir erfahren, werden wir prüfen müssen, und glauben Sie mir, dann wird sich uns ein Plan offenbaren. Wenn man so viel über seine Zielperson weiß, erkennt man bald, dass der Plan längst existiert – darauf wartet, dass man ihn vervollständigt und einfach ausführt.«

»Ich hoffe, Sie haben recht, Padre.« Giovanni sagte: »Wir sollten vereinbaren, uns

jeden Abend hier zu treffen, um uns darüber aus-zutauschen, was wir erfahren haben. Mit der Zeit wird alles deutlich werden.«

»Einverstanden.« »Sehr gut. Gute Nacht, junger Krieger. Sie wer-

den bald ein wahrer Soldat Gottes sein.« »Gute Nacht, Pater.« Giovanni wandte sich vom Tisch ab, ging einige

Schritte auf die Tür zu, hielt dann inne und schaute zu dem jüngeren Mann zurück. »Oh, eines noch, Gaetano. Ich denke, es ist nur fair, es Ihnen zu sa-gen – Sie wären niemals damit durchgekommen.«

»Womit? Damit, Carenza zu töten?« Giovanni grinste. »Nein. Damit, mich zu töten.« »Warum?« »Ich bin schon seit meinem achtzehnten Le-

bensjahr Malteserritter.« Gaetano schien dieses Wissen kalt zu lassen.

»Was bedeutet?« »Was bedeutet, dass der Präfekt alles über Sie

wusste, bevor Sie in die Enklave aufgenommen wurden.«

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»Ich habe nicht versucht, etwas zu verbergen. Mein Bruder hat mir den Weg hierher vor vielen Jahren geebnet. Ich besaß einen Brief von ihm, in dem genau stand, was ich tun müsste, wenn ich jemals in seine Fußstapfen treten wollte.«

Giovanni nickte. »Ja. Das wissen wir.« »Also sind wir uns hier nicht zufällig begegnet.«

Gaetano dachte einen Moment darüber nach und stellte dann fest: »Ich hätte Sie dennoch töten kön-nen.«

»Vielleicht«, räumte Giovanni ein und lächelte dann boshaft. »Aber Ihre Knochen hätten diesen Ort niemals wieder verlassen.«

»Dann ist es gut, dass wir Freunde geworden sind.«

Giovanni hob einen Vorsicht gebietenden Zeige-finger. »Verbündete, mein Sohn. Die Freundschaft, wenn sie denn entsteht, braucht Zeit.«

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Marion Windsor – Vatikanstadt 29. Oktober 2000

ie Tage bis zur päpstlichen Hochzeit waren ihr von den grausamen Händen der Zeit ent-

rissen worden. Jede Minute der Vorbereitung, des Medienrummels und des Drucks waren eine Qual gewesen. Seitdem Peter die Ankündigung gemacht hatte, belagerten Nachrichtenagenturen aus der ganzen Welt den Vatikan.

Sie alle wollten über eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der westlichen Welt berichten. Es kam nur sehr selten vor, dass man sicher sein konnte, an einem Wendepunkt der Ge-schichte teilhaben zu können, und das wollte nie-mand verpassen.

Im Herzen noch immer eine Journalistin, stand Marion dem, was die einfallenden Medienheere zu tun versuchten, wohlwollend gegenüber. Aber das machte es ihr in keiner Weise leichter, mit den endlosen Telefonaten, unzähligen E-Mails, Termi-nen, Interviews, Videoaufnahmen und unaufhörli-chen Angriffen auf ihr Privatleben umzugehen.

Und in all diesen Tumult waren die üblichen Hochzeitsvorbereitungen eingebunden, wie das

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Auswählen eines passenden Kleides, das Aufstellen einer persönlichen Gästeliste, die Entscheidungen bezüglich des Personals, das Planen des Empfangs.

Sie hatte verhindern wollen, dass die Hochzeit zu protzig ausfiel. Die ganze Welt würde zusehen, und sie hielt es für das Beste, wenn alles so vor-nehm und geschmackvoll wie möglich abliefe, was das Ereignis für die Katholiken rund um den Glo-bus vielleicht akzeptabler machen würde.

Es war zu viel – besonders unter den Umstän-den, die alles so bittersüß machten. Das, was für eine Frau der wichtigste Augenblick ihres Lebens sein sollte, wurde zu einer Selbstparodie herabge-setzt. Jedes Mal, wenn Marion Aufregung verspürte, rief sie sich zur Vernunft, weil sie erkannte, dass die bevorstehende Zeremonie eher eine Schau als ein substanzielles oder bedeutungsvolles Ereignis war.

Peter hatte die Aufmerksamkeit der Medien wei-ter angefacht und ihre endlosen Einsätze unter-stützt, und sein Mitarbeiterstab bemühte sich sehr, die Dinge im Fluss zu halten. Kaum eine Informa-tion wurde zurückgehalten, und keine Äußerung war zu gering oder zu unwichtig, als dass sie das Publikum nicht interessiert hätte. Gerüchte, An-deutungen, Anschuldigungen. Kein Angebot wurde abgelehnt. Ihr Bild erschien auf so unterschiedli-chen Titelseiten wie denen des New York Times Ma-gazine und der Weekly World News. Marion wurde als Frau, die nur hinter dem Geld her war, als Fe-

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ministin, als Schwindlerin, als Opfer, als Hure, als Heilige, als Sozialwissenschaftlerin, als Märtyrerin dargestellt.

Während dieser Zerreißprobe hatte sie nur we-nig Kontakt mit Peter. Er war weiterhin mit seiner Suche nach Hinweisen auf die geheimnisvolle Sie-ben und mit stundenlangen Konferenzen, Auftrit-ten, Reden und Konklaven mit den Kardinälen rund um die Uhr beschäftigt. Sie konnte nicht ver-stehen, warum er sie noch brauchte. Es gab zwi-schen ihnen kaum mehr als Ranküne. Dennoch schien gewiss, dass Peter für sie zukünftig andere Pläne hatte.

Und sie wusste, dass es nichts Gutes wäre.

Solcherart waren Marions Gedanken, als der letzte Tag vor der päpstlichen Hochzeit endete. Vom westlichen Ende ihrer Wohnung aus konnte sie den Hof vom Petersdom sehen, der in eine Frei-lichtbühne für fast eine Million Menschen verwan-delt worden war. Pater Cerami, der Pastor der Kir-che von Sant’ Anna, würde die Zeremonie vor-nehmen. Seine kleine Kirche war die offizielle, wenn auch wenig bekannte Gemeinde des Papstes.

Als das Telefon klingelte, war sie überrascht. Es war die private Leitung, deren Nummer nur weni-gen handverlesenen Personen bekannt war. Peter befand sich in den Archiven. Sie hoffte, dass nicht er es wäre.

»Hallo?«

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»Sie müssen sofort zum Konvent kommen«, sag-te Etienne. »Es ist ein Notfall.«

Marions Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie konnte die Anspannung in der Stimme der Nonne hören. »Sind Sie in Ordnung?«

»Mir geht es gut. Bitte kommen Sie. Es wird Ihnen alles erklärt werden.«

Bevor Marion antworten konnte, wurde die Ver-bindung unterbrochen.

Was ging hier vor? Sie musste so schnell wie möglich zum Konvent hinübergelangen.

Sie trug eines ihrer »Medien-Outfits« und fühlte sich in dem Designer-Kostüm plötzlich unwohl. Sie wechselte rasch in ein zweckmäßigeres Ensem-ble aus Stiefeln, Jeans und einer Strickjacke. Sie entfernte ihr dickes Kamera-Make-up und bürstete sich rasch die Haare, wobei sie erneut daran erin-nert wurde, wie Peter sie in eine neuzeitliche Kon-kubine verwandelt hatte. Das Make-up und die kunstvoll gestaltete Frisur waren von einer Horde Fernseh-Professioneller erschaffen worden, die ein-seitig entschieden hatten, wie sie der Welt gegen-übertreten sollte.

Vor der Wohnung traf sie auf ein Mitglied der Schweizergarde in Zivil und bat ihn, die Fahrt zum Konvent der Poor Clares zu arrangieren.

»Es wurde bereits ein Wagen geschickt, Mada-me«, sagte der große, dünne Mann. Er sprach sanft, mit großer Achtung in der Stimme.

Ihre Beziehung zur Schweizergarde war auf-

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grund Kardinal Lareggias enger Verbindung mit deren Hauptmann, Egon Leutmann, ausgezeichnet. Der Kardinal hatte ihr versichert, dass Leutmanns Treue dem galt, was viele Gläubige immer häufiger als die »wahre Kirche« bezeichneten – die Kirche vor der Zeit, in der Peter die Säulen ihrer Traditio-nen so sehr ins Wanken brachte. Marion hatte wi-derwillig begonnen, der Schweizergarde zu ver-trauen, obwohl sie letztendlich wusste, dass sie sich auf niemanden verlassen konnte.

Während sie die unterirdische Garage betrat, lä-chelte sie über die Ironie des Ganzen. Mit jedem vergehenden Tag geriet sie tiefer in den politischen Untergrund und intrigierte gegen ihren Herrscher. Ein schwarzer Mercedes erwartete sie nahe der Ein-fahrt. Als der Fahrer die hintere rechte Tür öffnete, überraschte es sie nicht, die massige Gestalt des Kardinals zu sehen, der fast die Hälfte der großzü-gigen Rückbank einnahm.

Sie glitt neben ihn und nickte stumm. »Guten Abend, meine liebe Marion.« »Euer Eminenz. Wie geht es Ihnen?« »Recht gut.« »Etienne hat Sie auch gerufen?« »Das hat sie in der Tat.« »Wissen Sie, worum es geht?« »Ich habe meine Vermutungen«, sagte er seuf-

zend. »Marion, es ist nur eine kurze Fahrt bis zum Konvent. Wir werden bald alles erfahren, was sie uns wissen lassen möchte.«

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»Geht es Etienne gut?« Er nickte. »Soweit ich weiß, ja. Sie sagte mir, sie

wolle uns etwas sehr Wichtiges mitteilen.« Marion nickte. Etienne hatte sie kürzlich dar-

über informiert, dass sie den Kardinal mit in den Kreis der Vertrauten gezogen hatte. »Was glauben Sie, was ihre Visionen bedeuten?«

Lareggia atmete tief ein und wieder aus. »Offen-sichtlich steht Etienne in engem Kontakt zu Gott, seitdem wir dieses schreckliche Netz der Täuschung begannen.« Der Kardinal verdrehte die Augen, wahrscheinlich um die Dramatik zu unterstrei-chen. Leider war die Wirkung eher komisch. »Es ist bedauerlich, dass wir darauf nicht weitaus früher geachtet haben. Ich erkenne jetzt, dass Gott uns seine Botschaft durch sie offenbart hat, und wir haben aus sündigem Stolz nicht zugehört.«

Marion sah ihn ausdruckslos an. »Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu wehklagen. Ich denke, wir haben alle unsere Fehler begangen. Ich möchte wissen, was Gott von uns erwartet.«

»Wir müssen uns an das halten, was Etienne uns sagt. Ich glaube, das ist unsere letzte Chance, Got-tes Warnungen zu beachten.«

»Dem stimme ich zu«, sagte sie und lehnte sich gegen die Tür, als die Limousine scharf abbog. Als sie hinausblickte, erhaschte sie einen Blick auf den be-leuchteten Säulengang des Konvents der Poor Clares.

»Da sind wir«, sagte Lareggia und wuchtete sich aus dem Wagen.

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Als der Fahrer die Tür auf Marions Seite öffnete, wurde die würdevolle Gegenwart Äbtissin Victori-annas offenbar.

»Sie erwartet Sie beide«, sagte die ältliche Non-ne. »Folgen Sie mir.«

Marion ließ den Kardinal vorausgehen, als sie das Foyer des düsteren gotischen Gebäudes betra-ten. Anders als die starrste religiöse Ikone strahlte das Innere des Konvents eine ebenso raue und un-versöhnliche Stimmung aus wie ein Verlies. Trotz der erfreulichen Temperaturen draußen herrschte hier eine feuchte Kälte und eine vorahnungsvolle Atmosphäre. Wie konnte sich jemand wohl fühlen, der sein ganzes Leben an einem solchen Ort ver-brachte?

Die Äbtissin führte sie an Räumen vorbei, in denen gemeinsam gegessen, gebetet oder gelernt wurde. Am rückwärtigen Ende des Ganges stiegen sie eine Wendeltreppe hinauf, und Kardinal Lareg-gia begann sofort zu keuchen. Während er sich aufwärtszwang, wütete sein massiger Körper gegen die Schwerkraft an, sein Gesicht wies karmesinrote Flecken auf, und er rang zunehmend nach Atem. Marion erwartete fast, dass er jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden würde.

Im Gegensatz dazu schien Victorianna die steile, gewundene Treppe trotz ihres Alters mühelos hin-aufzuschweben.

Als sie das dritte Stockwerk erreichten, führte die Nonne sie zu einem kleinen Raum, der während der

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kanonischen und Brevierstunden normalerweise dem stillem Gebet vorbehalten war. Von einer Rei-he Votivkerzen beleuchtet, bildete der Raum einen angenehmen Kontrast zum übrigen Konvent. Von diesem einnehmenden Licht leicht umrahmt, saß Etienne am einzigen Fenster des Raumes. Sie bedeu-tete ihnen, sich auf eine Bank zu setzen, die neben einem Kniepolster vor dem Kerzenleuchter stand.

Etienne lächelte zur Begrüßung, und Marion stellte unwillkürlich fest, wie wunderschön sie war.

»Guten Abend, Etienne«, sagte Marion. »Sie wir-ken so strahlend, so wunderbar!«

»Oh, Marion, bitte! Sie bringen mich in Verle-genheit! Das kommt nur, weil ich den Frieden des Herrn im Herzen trage.«

»Wir sind so bald wie möglich gekommen«, keuchte Paolo Kardinal Lareggia.

»Vielen Dank«, sagte Etienne. »Dies ist sehr wichtig. Sie werden mir zuhören und mir dann raten müssen.«

»Was auch immer es ist«, antwortete Lareggia unter Anstrengung, »wir sind für Sie da, mein Kind.« Sein Atem ging erschreckend mühsam, das Gesicht war von einer glänzenden Schweißschicht bedeckt.

Etienne schien entspannter denn je. In ihren Mundwinkeln lag ein kleines Lächeln. »Gott hat wieder zu mir gesprochen! Er hat mir offenbart, was ich als Nächstes tun muss. In meinem Traum stand ich auf einer kahlen Ebene unter einem

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schwarzen Himmel. Ich sah einen einzelnen Baum am Horizont, dessen Zweige sich wanden und in alle Richtungen deuteten, und Gottes Stimme durchdrang mich wie ein warmer Wind.«

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«, fragte der Kardi-nal, dessen Atmung sich allmählich beruhigte.

Marion konnte eine Spur Ungeduld in seiner Stimme entdecken und hoffte, dass Etienne es nicht merkte.

Die Nonne schaute ins Leere, als durchlebe sie das Ereignis beim Erzählen noch einmal. »Der Baum wird Yggdrasil genannt, oder der ›Baum, wo die Menschheit geboren wurde‹. Er ist ein Baum des Lebens, von Gestalt und Substanz. Wenn ich in seinem Mondschatten stehe, werde ich den Stand-ort der Sieben Kirchen erkennen. An jenen Orten liegen die Sieben Siegel. Erst dann werde ich in der Lage sein, die Sieben Schlüssel herbeizurufen.«

»Die sieben Gerechten«, sagte Marion. »Ja«, sagte Etienne. »Sie werden die Siegel lösen,

und jedes Siegel wird eine Plage für die Menschen der Welt verhindern.«

»Was dann?«, fragte Lareggia, dessen Tonfall ei-ne Mischung aus Angst und Verblüffung war. »Und was hat das mit uns zu tun? Mit Peter?«

Etienne sah den großen Mann an und lächelte rätselhaft. »Einfach alles.«

»Wo befindet sich der Baum?« Marion sprach sanft, als wollte sie Lareggia auf das in dieser Situa-tion angemessene Verhalten hinweisen.

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»In Ostafrika. Kenia.« »Afrika!«, rief der Kardinal. »Beim Schutz der

Heiligen! Sie wollen nach Kenia gehen!« »Euer Eminenz, bitte verzeihen Sie mir«, erwi-

derte Etienne. »Aber wir sprechen nicht davon, was ich tun will. Dies wurde mir zu tun befohlen – von Gott persönlich.«

Lareggia nahm ein Taschentuch aus seiner Ta-sche und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Ja, Sie haben natürlich recht. O Gott, was sollen wir tun?«

»Wann müssen Sie die Reise antreten?«, fragte Marion.

Lareggia stopfte sein Taschentuch in die schar-lachrote Soutane zurück und rang die Hände. »Ich wünschte, Giovanni Francesco wäre noch hier – er würde wissen, was zu tun wäre und wie man es tun müsste.«

»Heute Nacht«, sagte Etienne. »Mein Kardinal, Sie müssen die Vorkehrungen für uns treffen.«

»Uns?«, fragten Marion und Lareggia gleichzei-tig. Dann beugte sich Lareggia auf der Bank vor. »Schwester Etienne, Sie müssen einsehen, dass Rei-sen für mich sehr schwierig ist. Wegen meines … meines Umfangs.«

Weil du ein fettes Schwein bist, dachte Marion. Das Verhalten des Kardinals während dieses Tref-fens brachte sie in Verlegenheit. Er bestätigte alles, was sie bezüglich seiner Schwäche des Geistes be-fürchtet hatte. Aber sie dachte auch an ihre eigene

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Situation. Würde sie Rom mit ihrem der Welt nun so bekannten Gesicht sicher verlassen können? Die ganze Publicity vor der Hochzeit hatte dafür ge-sorgt, dass ihr Konterfei jede regelmäßig erschei-nende Zeitschrift zierte und von jedem Fernsehka-nal auf der ganzen Welt immer wieder ausgestrahlt wurde. Und was war mit der Hochzeit selbst? Wenn man schon von Sand im Getriebe spricht … Marion durfte eine Chance, Peters Pläne zu durch-kreuzen, nicht ungenutzt lassen, gleichgültig, wel-ches Risiko sie dabei einging.

Etienne sah Lareggia an wie eine Mutter, die ihr Kind schelten will. »Verzeihen Sie, Kardinal, aber Sie müssen an die Macht Gottes glauben. Sie wis-sen, dass im Namen des Herrn alles möglich ist, und Sie müssen glauben, dass er für Ihre Sicherheit sorgen wird, während Sie diese bedeutende Reise mit uns unternehmen.«

Lareggia hörte auf, die Hände zu ringen, und griff erneut nach seinem Taschentuch. Seine Bewe-gungen waren unbeholfen und fahrig. »Sie haben recht, Schwester, ich muss meinen Glauben an die Inbrunst meiner Überzeugungen wiederbeleben«, sagte er, während er sich die Stirn abwischte. »Ein Mann darf keine Ausreden ersinnen, wenn Gott ihn ruft.«

»Oder sie«, sagte Marion. »Ich werde gerne mit Ihnen gehen, Etienne.«

»Ich komme auch mit«, sagte Lareggia. Etienne lächelte und sah den Kardinal an. »Sie

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können das bewerkstelligen? Noch bevor Peter ei-ne Chance hat, es herauszufinden?«

Lareggia straffte das Rückgrat und nickte heftig. »Ja«, sagte er, als wolle er sich selbst überzeugen. »Natürlich kann ich das. Ich werde mit Haupt-mann Leutmann sprechen, sobald wir zurückkeh-ren.«

Marion wandte sich an Etienne. »Ich werde eine Verkleidung brauchen. Die Menschen könnten mich erkennen. Meinen Sie, der Orden würde ein zeitweiliges Mitglied dulden?«

Etienne lächelte erneut. »Ich denke, unsere Äb-tissin wäre geehrt. Sie werden alles bekommen, was Sie brauchen.«

»Wissen Sie«, sagte Marion, »ich glaube, es wäre unklug, wenn ich in den Vatikan zurückkehrte. Dort ist nichts, was ich nicht entbehren könnte.«

»Sie haben recht«, meinte Lareggia. »Jeder Schritt fort vom Vatikan ist ein Schritt in Richtung Rettung.«

»Können Sie sich den Ausdruck auf Peters Ge-sicht vorstellen, wenn ich ihn am Altar versetze?«

»O Marion«, sagte Etienne. »Ich denke, er wird Ihre Absichten schon lange vor der Hochzeit er-kennen.«

»Das stimmt«, bestätigte Marion. »Wenn ich heute Nacht nicht zurückkehre, wird Peter das ita-lienische Heer ausschicken, um mich aufzuspü-ren.«

»Und dies ist der erste Ort, an dem sie nach Ihnen suchen werden«, sagte Lareggia.

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Die Worte des Kardinals trafen Marion wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wurde augenblicklich von Angst ergriffen. Plötzlich befürchtete sie, dass sich Peters Streitkräfte jeden Moment auf sie stürzen würden. Sie erhob sich, ohne zu wissen, was sie als Nächstes tun sollte.

»Was werden wir tun?« Marion bemerkte, dass sie hilflos und verloren klang. Und so fühlte sie sich auch.

Etienne erhob sich ebenfalls und nahm ihre Hand. »Marion, kommen Sie mit mir. Wir müssen die Äbtissin aufsuchen. Victorianna wird uns hel-fen zusammenzutragen, was wir für die Reise brau-chen.«

Lareggia wuchtete sich hoch, bemüht, die An-strengung zu verbergen, die das Aufstehen ihm bereitete. »Ich werde Hauptmann Leutmann aufsu-chen«, sagte er.

Keine neunzig Minuten später war sogar Marion von dem beeindruckt, was sie hatten vollbringen können.

Hauptmann Leutmann hatte reichlich Reise-kleidung und Ausrüstung in den Konvent schicken lassen sowie eine aus zwei treuen Gardisten beste-hende Eskorte, die sie persönlich nach Ciampino bringen würde, einem Flughafen, der militärischen sowie Charter- und Frachtflügen vorbehalten war. Der Geheimdienst des Vatikans, der offiziell unter der Schutzherrschaft des Papstes stand, war in

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Wahrheit ein eher unabhängiges Organ. Es gab in seinen Rängen viele »schurkische« Agenten, die bereit waren, alles Nötige zu tun, um die traditio-nelle Kirche zu bewahren. Leutmann hatte mehrere dieser SSV-Agenten herangezogen, die sie am Flug-platz treffen und nach Nairobi fliegen sollten. Von dort aus würden sie von einem in Kenia stationier-ten Agenten zu ihrem letztendlichen Ziel gebracht, ungeachtet dessen, wo das sein mochte.

»Alles wurde arrangiert«, sagte Lareggia, der un-gezwungen und mit Zuversicht sprach, als wäre er der Planer und nicht lediglich der Ausführende. »Kein öffentliches Auftreten, keine Pässe, keine Aufzeichnungen über Ihre Reise.«

Marion sah ihn aus den Kapuzenfalten ihrer Nonnentracht an, die den größten Teil ihres Ge-sichts verbargen. »Das bedeutet auch, dass uns niemand aufspüren oder herausfinden kann, was mit uns geschehen ist, wenn etwas schiefgeht.«

Lareggia zuckte die Achseln. »Willkommen im Untergrund«, sagte er.

Etienne nickte, sah aber schweigend aus dem Fenster, während der Mercedes durch die Dunkel-heit jenseits der Hügel von Rom fuhr. Die zwan-zigminütige Fahrt zum Flugplatz führte durch klei-ne, gewundene Dörfer und an abgelegenen Bahn-höfen vorbei. Als sie den Grande Raccordo Anulare hinter sich gelassen hatten, herrschte nur noch we-nig Verkehr und noch weniger Interesse an ihrer Fahrt die Küste entlang.

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Marion verbrachte die Zeit damit, sich an ihre neue Kleidung und Erscheinung zu gewöhnen. Sie wusste, dass sie auch auf ihr Verhalten würde ach-ten müssen. Wäre sie keine überzeugende Nonne, würde sie auf jedermann, der sie suchen mochte, wie eine rote Flagge wirken.

Der Wagen verließ die Hauptküstenstraße und fuhr eine sich durch die Klippen windende, schma-le Straße zu einem mit Wachleuten der italieni-schen Luftwaffe bemannten Sicherheitstor hinauf. Das SSV-Fahrzeug wurde ohne Zwischenfall durch-gewinkt. Als sich ihre Limousine mehreren Reihen von mit Hilfslichtern beleuchteten Hangars näher-te, konnte Marion auf den Rümpfen der Flugzeuge die Logos von Federal Express, United Parcel, Air-borne Express und anderen internationalen Paket-diensten erkennen.

Sie war überrascht, welche Betriebsamkeit hier herrschte – Hunderte von Menschen fuhren Fracht-fahrzeuge zu den Flugzeugen und zurück. Förder-bänder, LKWs, Hubfahrzeuge und Personal beweg-ten in ungeprobter Choreografie Kisten und Kar-tons. Plötzlich hielt der Wagen an, und einer ihrer Begleiter sprang heraus, um die hintere Tür zu öff-nen. Er drängte sie schweigend zum nächststehen-den Flugzeug, weiß und grün, mit dem Logo der International SkyFreight, das sich entlang des Rumpfes und des Heckteils abhob.

Während Marion die Stufen der Gangway hin-aufstieg, schaute sie über das asphaltierte Rollfeld

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zurück, wo die an eine Ameisenkolonie erinnern-den Aktivitäten unvermindert weitergingen. Nie-mand schien auch nur im Geringsten auf sie zu achten. Sie folgte Etienne durch die Kabinentür in das Innere der Maschine und wartete dann, wäh-rend sich Lareggia die Stufen hinaufmühte.

Als sie alle drei eingestiegen waren, brachte ihr Begleiter sie zum SSV-Piloten und seinem Zweiten Offizier, die sie wiederum durch ein Türschott zu einem Passagierraum führten.

»Dies ist nicht Ihr übliches Frachtflugzeug«, sag-te ihre Begleitung mit ironischem Lächeln. »Bitte schnallen Sie sich an und versuchen Sie, es sich bequem zu machen. Wir werden sehr bald abhe-ben.«

Marion wählte einen Platz neben einem kleinen Beistelltisch mit Zeitschriften und Zeitungen aus verschiedenen Hauptstädten der Welt. Etienne setz-te sich ihr gegenüber, und der Kardinal sank in einen breiten Sessel, der auch in ein Bett verwan-delt werden konnte.

Er lächelte, während er sich anschnallte. »Jetzt verstehe ich, warum Pater Francesco seine Verbin-dungen zur internationalen Gemeinschaft genoss. Wirklich sehr hübsch.«

»Haben Sie noch etwas von Francesco gehört?«, fragte Marion.

»Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Seit diesem ei-nen Warnanruf nichts mehr.«

»Wissen Sie, wohin er gegangen ist?«, fragte sie.

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Obwohl Marion Giovanni Francesco nie mochte, hatte sie doch gelernt, seinen Mut und seine Zä-higkeit zu respektieren. Und sie hatte vernünf-tigerweise akzeptiert, dass es gut war, einen Men-schen wie Francesco auf seiner Seite zu haben, wenn die Dinge kritisch wurden. »Haben Sie ir-gendeine Ahnung, was mit ihm geschehen ist?«

Bevor Lareggia antworten konnte, begann sich das Flugzeug zu bewegen, löste sich von seinen Bremskeilen und wurde dann in Position ge-schleppt, um anschließend zur Startbahn zu rollen.

»Nicht wirklich«, antwortete er, während er aus dem Fenster sah. »In der Garde und im Geheim-dienst kursieren Gerüchte darüber, dass er sich an verschiedenen romantischen Orten der ganzen Welt verkrochen hätte – Macao, Patagonien, Korsi-ka, Kaledonien, solche Orte.«

»Es ist unwichtig, wohin der Jesuit geht«, sagte Etienne, ihre Stimme sanft und sehr nüchtern. »Er wird niemals von meinem Sohn befreit sein. Kei-ner von uns wird das sein … bis wir ihn aufhal-ten.«

»Ich frage mich, ob wir ihn jemals wiedersehen werden«, sagte Marion, während das Flugzeug am Ende einer dunklen Startbahn beschleunigte.

»Francesco?«, fragte Lareggia. »Wie ich Giovanni kenne, und ich denke, ich kenne ihn gut genug, würde der Mann noch im Tode versuchen, Carenza zu erwischen. Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie ihn tatsächlich wiedersehen.«

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Marion lächelte boshaft. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal wünschen würde, dass das wahr ist! Aber Sie haben recht – wir brauchen ihn. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können.«

Niemand erwiderte etwas, während das Flug-zeug mit zunehmender Geschwindigkeit und lauter werdenden Motoren vorwärtsstrebte. Marion lehn-te sich in ihrem Sitz zurück, als das Flugzeug ab-hob, scharf nach links bog und über dem Mittel-meer aufwärtsschwebte.

Sie fühlte sich aus einem unbestimmten Grund leicht unbehaglich. Etwas hatte sich verändert. Zu-nächst konnte sie es nicht benennen, aber als das Flugzeug seine Reisehöhe erreichte und sich ein-pendelte, wusste sie, was es war. Das Gefühl drang aus ihrer tiefsten Seele herauf. Sie erkannte, dass sie plötzlich ungebunden war. Sie war frei.

Zumindest im Moment. Peter würde sie gewiss verfolgen, obwohl die

Wahrscheinlichkeit, dass er sie auf ihrer Reise über Ostafrika abfing, wirklich gering war. Marion schaute herüber zu Etienne, die noch immer aus dem Fenster neben ihrem Sitz sah. Die Hände der Nonne umklammerten trotz des ruhigen Fluges weiterhin krampfhaft die Armlehnen.

Marion lächelte, als ihr klar wurde, dass Etienne noch nie zuvor geflogen war. Sie hatte die tröstli-che Umarmung des Konvents fast zwei Generatio-nen lang nicht verlassen. Welch ein Wunder und ein Entsetzen der Start für sie gewesen sein musste.

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Marion betrachtete die einfache Nonne nun mit noch größerem Respekt als zuvor. Etienne besaß die innere Kraft, in eine Welt zu flüchten, über die sie wenig wusste, eine Welt, die darauf wartete, sie mit ihrer Leidenschaft und Torheit zu überwälti-gen, weil sie so wunderbar von Gott berührt wur-de. Sie stellte ihre Rolle in seinem Plan niemals infrage. Vielleicht war das der Grund, warum es ihr anscheinend so leichtfiel.

»Etienne«, sagte Kardinal Lareggia und unter-brach damit jäh das Schweigen.

»Ja?« Sie wandte sich vom Fenster ab und sah ihn an, während ihre Züge noch immer von Ehr-furcht durchdrungen waren.

»Wenn wir nach Nairobi kommen, werde ich mit unserem Agenten vor Ort den Transport arran-gieren müssen«, sagte Lareggia. »Können Sie uns jetzt verraten, wohin genau wir in Kenia gehen?«

Etienne sah ihn ruhig an. »Ja«, antwortete sie. »Es ist ein Ort namens Olduvai-Schlucht.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Marion. »Anth-ropologen nennen ihn wohl ›die Wiege der Menschheit‹. Ich kannte eine Fotografin, die für National Geographic arbeitete – sie war mehrmals dort.«

Lareggia beugte sich vor. »Es klingt abgelegen und unwirtlich«, sagte er. »Haben Sie eine Ahnung, wie weit es von Nairobi entfernt ist?«

»Nicht wirklich«, antwortete Marion. »Ich auch nicht«, sagte Etienne.

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In diesem Moment schwang das Türschott nach außen auf und der Zweite Offizier erschien, ein Mann mit rötlichem Gesicht, der Mitte vierzig sein mochte. Er lächelte, während er die Kabine betrat. »Wie geht es Ihnen hier hinten?«

»Sehr gut«, sagte Etienne. »Wunderbar. Wir haben gerade unseren Flug-

plan überprüft und werden in ungefähr sechs Stunden in Nairobi eintreffen.«

»Danke«, sagte Marion. »Verzeihung, Signore«, sagte der Kardinal. »Aber

wissen Sie zufällig, wie weit die Olduvai-Schlucht von Nairobi entfernt ist?«

Der Zweite Offizier neigte nachdenklich den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher … Ich war nie dort. Aber ich schätze, dass es rund hundertfünfzig Mei-len sind. Wollen Sie dorthin?«

»Ah, ja, in der Tat«, sagte Lareggia. »Ist das ein Problem?«

Der SSV-Offizier erlaubte sich ein kurzes süffi-santes Lächeln. »Nun, vielleicht. Ich denke, wir sollten die Einheiten vor Ort besser rechtzeitig in-formieren. Sie werden Ihnen einen Hubschrauber beschaffen müssen.«

»Tatsächlich?«, fragte Marion. »Ja, Madame. Sie sprechen von einem sehr rau-

en Terrain. Und einem gefährlichen.«

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Peter Carenza – Vatikanstadt 29. Oktober 2000

in Durchbruch! Nun, gewissermaßen …, sann Peter, während er die Wendeltreppe vom Turm

der Winde hinabstieg, die zu den Geheimarchiven führte.

Es war bereits sehr spät, aber einer der Semina-risten des Präfekts war über einen Hinweis auf ei-nen Text mit dem Titel Das geheime Buch der sieben Abbaye von Babylonien gestolpert. Dieses vom Glück begünstigte Ereignis hatte eine hektische Durchsu-chung von Sekundärtexten nach sich gezogen, die zwölf Stunden später bereits einige vielverspre-chende Ergebnisse erbracht hatte.

Wie es bei vielen der alten Kulturen des Mittle-ren Ostens der Fall war – von den Elamitern, Su-merern, Hethitern, Assyrern und Babyloniern bis zu den Ägyptern und Abessiniern –, gab es mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit der verschiede-nen Mythen. In der Tat war vieles aus dem Alten Testament sowohl in analogen alten Texten und mündlichen Überlieferungen des westlichen Asien und nördlichen Afrika als auch in den bekannten Kulturen des Mittleren Ostens zu finden. Mit Baby-

E

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lonien als Ausgangspunkt begannen das Personal der Archive und die Seminaristen die Schriftrollen und Handschriften konzentriert nach Querverwei-sen zu den sieben Abbaye zu durchsuchen.

Also hatten sie nach endlosen, nutzlosen Stun-den endlich etwas entdeckt.

Man glaubte, dass die sieben Abbaye die heiligs-ten Menschen des Königreichs waren – jene, die von den Göttern gesalbt waren und alles das reprä-sentierten, was in der Menschheit gerecht war. Die Babylonier glaubten, die Welt könne niemals en-den, solange es mindestens sieben heilige Men-schen gäbe.

Mehrere der Gelehrten, die in den Archiven ar-beiteten, waren der Meinung, dass keine große Chance bestünde, eine Entsprechung in der christ-lichen Theologie zu finden, wenn es sie denn gäbe. Peter wies alle an, ihre Bemühungen von jetzt an zu koordinieren. Er wollte nicht, dass irgendje-mand die Arbeit eines anderen wiederholte.

Als Peter den Belvedere-Hof schließlich verließ, stand der Mond hoch über dem Tiber und warf seinen sanften Schein auf die Kuppel der Basilika und lange Nachtschatten über die Rasenflächen zwischen den Gebäuden. Auf dem Weg zur päpstli-chen Suite empfand Peter die Luft als kühl, aber nicht unangenehm. Er fühlte sich, trotz der späten Stunde, sehr wach und energiegeladen – der kleine Erfolg seiner Forschungsinitiative freute und erreg-te ihn.

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Und das Beste sollte noch kommen – morgen würde der Papst heiraten!

Peter war so zufrieden mit sich, dass er die Ver-änderung in seinen Räumlichkeiten erst bemerkte, als ihm sein persönlicher Sekretär, Pater Stren-mann, entgegentrat.

»Heiligkeit!«, sagte der junge Priester, der nun stocksteif im Eingangsfoyer stand. »Wir haben auf Ihre Rückkehr gewartet!«

»Was ist los?«, fragte Peter. »Was geht hier vor?« »Wir wollten Sie nicht in den Archiven kontak-

tieren«, sagte der Sekretär eilig und mit besorgter Stimme. »Und wir hatten keine Ahnung, wann Sie zurückkehren würden. Wir hofften …«

»Sie hofften was?« »Nun, Signora Windsor ist nicht hier. Wir nah-

men an, sie sei bei Ihnen, aber jetzt, da Sie zurück-gekehrt sind und sie es nicht ist …«

»Marion ist nicht hier?« »Nein, aber sie war während der letzten Woche

sehr häufig aus«, sagte Strenmann. »Alle kamen und gingen. Sehr geschäftig wegen der … der Hochzeit.«

»Aber sie ist noch nie so spät ausgegangen.« »Ja, Heiligkeit, dessen sind wir uns bewusst.« »Also, wo zum Teufel ist sie? Weiß irgendje-

mand, wo sie heute hingehen wollte?« Strenmann sank unter Peters loderndem Zorn

sichtlich in sich zusammen. »Es tut mir leid, Euer Heiligkeit, ich weiß es nicht! Ich …«

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»Nun, sagen Sie mir, was Sie wissen, gottver-dammt!« Peter begann im Foyer auf und ab zu lau-fen wie ein gefangener Tiger und strömte wie über-große Hitze Zorneswogen aus.

Er konnte es nicht glauben! Wie konnte das geschehen? Er hätte niemals erwartet, dass Marion etwas so

Verrücktes tun würde. Er hoffte immer noch, dass ein Irrtum vorläge, ein Missverständnis.

Aber ein Teil von ihm wusste mit Sicherheit, dass sie geflohen war. Er verließ sich zunehmend auf seinen sechsten Sinn, auf seine intuitiven Fä-higkeiten, und dies war einer jener Momente, da er das Gefühl hatte, dass etwas grundlegend schiefge-gangen war.

Mittlerweile hatten sich mehrere Angehörige des Personals um ihn versammelt, und Peter wusste genau, dass sie nicht erpicht darauf waren, in der Nähe des zornigen Sturmzentrums zu sein, das er erschuf.

»Jemand soll mir etwas berichten! Wann ist sie gegangen?«

»Unmittelbar nach Sonnenuntergang«, sagte ei-ner der Küchenhelfer. »Ich kam gerade zum Dienst und sah sie die Behelfstreppe zur Garage hinunter-gehen.«

Peter schaute auf seine Uhr. Sie war seit fast neun Stunden fort. »Weiß irgendjemand noch etwas?«

»Ich weiß, dass sie einen Anruf bekam«, sagte Strenmann, »kurz bevor sie ging.«

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»Wissen Sie, wer sie angerufen hat?« »Nein, Vater.« »Rufen Sie die Telefonzentrale an!«, schrie er.

»Sagen Sie Bescheid, dass ich einen Nachweis über jeden eingehenden und ausgehenden Anruf von heute haben will. Holen Sie meine Wachleute und die Polizei … und jeden anderen, der Ihnen ein-fällt!«

Die Leute setzten sich in Bewegung. Peter hielt seinen Sekretär mit einer Hand am Ärmel zurück. »Übrigens, ich glaube, es wäre klug, wenn wir dies so geheim wie möglich hielten. Erledigen Sie alles diskret, Pater, noch keine Medien. Überhaupt kei-ne, haben Sie verstanden?«

»Ja, natürlich, Heiligkeit!« Der Mann entfernte sich rasch die Eingangshalle hinab und ließ Peter allein im Foyer zurück wie ein in Untiefen aufge-gebenes Schiff.

Peter stand einen Moment da, während ein An-sturm von Gefühlen ihn durchströmte. Entsetzen über ihren Mut. Zorn über ihre Macht, ihn zu ver-letzen, ihn vor aller Welt so zutiefst in Verlegenheit zu bringen. Angst davor, dass er sie nicht finden könnte. Und – vielleicht am seltsamsten von allem – eine Art Belustigung darüber, dass so etwas über-haupt geschehen konnte.

Schließlich ging er zögernd auf sein Arbeits-zimmer zu. Nach allem, was er durchgemacht hat-te, war er an den Gedanken gewöhnt, in gewisser Weise besonders zu sein, über die Bereiche norma-

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ler menschlicher Fertigkeiten erhoben zu sein. Auch wenn ihm seine wahre und vollständige Na-tur noch nicht in Gänze offenbart worden war, und obwohl er es sich gelegentlich erlaubte, über seine letztendliche Rolle und seinen eigentlichen Zweck nachzudenken, war Peter doch erstaunt darüber, dass ihm ein solcher Schlamassel immer noch widerfahren konnte.

Er hätte in der Lage sein sollen, diese Störung seiner Tagesordnung zu erwarten und zu verhin-dern, und genau und vollständig wissen müssen, was um ihn herum vorging.

Das ärgerte ihn wirklich. Aber er konnte die seiner misslichen Lage inne-

wohnende Ironie nicht leugnen. So mächtig, und doch von den Launen einer Frau zum Stolpern ge-bracht. Er wäre niemals so vermessen anzuneh-men, dass er den weiblichen Teil der Menschheit verstand. Zugegeben, er hatte sehr spät damit be-gonnen, das weibliche Mysterium auch nur annä-hernd zu enträtseln, aber er hatte das Gefühl, dass er ohne die dazwischenliegenden Jahre im Seminar ebenso verloren gewesen wäre.

Als er sein Arbeitszimmer betrat, war ihm klar, dass er seine Gedanken ordnen musste, um die Situation logisch angehen zu können. Wer konnte Marion angerufen haben? Nur sehr wenige Men-schen kannten die Nummer ihres Privatanschlus-ses, und selbst diese mussten von der Telefonzent-rale oder den Sekretären überprüft werden. Bald

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hätte er eine Liste aller Gespräche, aber er begann bereits, seine eigene Liste im Kopf zu überprüfen. Es gab tatsächlich nur eine Person, die Marion ei-nigermaßen regelmäßig gesehen hatte, und das war seine Mutter.

Marion war mit seiner Mutter geflüchtet? Peter grinste und schüttelte den Kopf. Der Ge-

danke schien absurd, und doch – er nahm den Hö-rer auf und wählte die Nummer des Konvents der Poor Clares.

»Hallo«, sagte eine ältliche weibliche Stimme. »Hier ist der Vatikan«, sagte er. »Äbtissin Victori-

anna, bitte.« »Oh! Ja, sofort!«, sagte die überraschte Frau.

»Bitte warten Sie einen Moment …« Peter hatte jetzt schon eine Weile nicht mehr

mit dieser Verschwörerin Francescos gesprochen. Es wäre interessant zu sehen, wie sie ihm begegnen würde.

»Hier ist die Äbtissin.« Ihre Stimme klang sehr beherrscht, voller Autorität und einer gewissen Anmaßung.

»Hallo, Victorianna. Hier ist Peter Carenza.« »Der Heilige Vater … ruft mich an?« Ihre Stim-

me vermittelte weder viel Respekt noch große Überraschung. »Sollte ich mich geehrt fühlen … oder mich fürchten?«

Peter lachte gerade laut genug in sich hinein, dass es zu hören war. »Das müssen Sie entschei-den. Wenn Sie keine Beichte bei mir ablegen wol-

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len, kann ich nicht wissen, was Sie in Ihrem Her-zen bewegt.«

Eine Pause, dann sagte sie: »Was kann ich für Sie tun, Peter?«

»Sie klingen, als hätten Sie meinen Anruf erwar-tet.«

»Vielleicht«, gab sie zu. »Ich würde gerne mit meiner Mutter sprechen.« Wieder eine Pause. »Nun, dies ist ein klösterli-

cher Konvent.« »Und ich bin der Papst. Ich denke, wir können

aufhören, Spielchen zu spielen, Victorianna.« »Also gut. Ihre Mutter ist nicht hier.« Peter war überhaupt nicht überrascht, das zu

hören. »Ich dachte, sie könnte das Kloster nicht ohne Sondererlaubnis verlassen«, sagte er sarkas-tisch.

»Sie hat die Erlaubnis bekommen.« »Wo ist sie jetzt, Victorianna?« »Das weiß ich nicht.« »Lügen Sie mich nicht an!« Eine weitere Pause, ausreichend lange, dass er

sich fragen konnte, ob sie mutig genug war, den Hörer aufzulegen. Dann: »Heiligkeit, ich würde Sie niemals anlügen!«

»Sie erwarten von mir zu glauben, dass Sie ihr die Erlaubnis erteilt haben, den Konvent zu verlas-sen, ohne Ihnen zu sagen, wohin sie gehen woll-te?«

»Ja.«

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»Warum?« »Nun, Vater, Sie haben uns allen in einer Ihrer

Reden erklärt, wir lebten in einer Zeit der Verwun-derung und Veränderung. Sie könnten sagen, ich hätte es im Geiste dieser Veränderung getan … o-der Sie könnten sagen, ich hätte es getan, weil ich nicht wissen wollte, wohin sie ging.«

»Sie wollten später deshalb nicht lügen müs-sen.« Peter sprach ruhig, wollte ihr nicht die Be-friedigung verschaffen zu erkennen, dass sie ihn zutiefst erzürnt hatte.

»Niemand von uns will jemals lügen, Vater.« »Haben Sie meine Frau gesehen …?« Peter brach

ab, aber das vorletzte Wort war seinen Lippen be-reits entwichen.

Er kam sich augenblicklich töricht vor. Die alte Freud’sche Fehlleistung? Oder griff er der Zeit ein-fach vor? Oder, noch schlimmer, war dies ein Hinweis darauf, wie sehr Marions Verschwinden ihn beunruhigt hatte?

Wie dumm er gewesen war, sich und seine ge-samte Tagesordnung von jemand anderem abhän-gig zu machen! Die Uhr tickte auf das größte Me-dienevent der gesamten Menschheitsgeschichte zu, und er hatte keine Frau, die er zu seiner Ehefrau machen konnte …

… es sei denn, er fand sie, und zwar schnell. Victorianna hatte ihr Lachen nicht unterdrücken

können. »Ihre was? Ich wusste nicht, dass Sie be-reits verheiratet sind.«

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»Sie wissen, was ich meine – haben Sie Marion gesehen?«

»Heute Abend?« »Spielen Sie nicht die Dumme, Schwester. Wenn

es sein muss, werde ich einige SSV-Leute hinüber-schicken, um mit Ihnen zu reden. Soweit ich ge-hört habe, stehen ihnen Möglichkeiten zur Verfü-gung, Antworten zu bekommen, die mir nie einfal-len würden.«

»Sie können schicken, wen immer Sie wollen, Peter. Androhung von Folter – oder Folter selbst – wird nichts ändern.« Victorianna sprach ruhig und mit einer Würde, die ihn in Rage versetzte. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß, und das ist im Wesentlichen Folgendes: Marion war hier, um Ihre Mutter zu besuchen. Sie haben den Konvent ge-meinsam verlassen. Ich weiß nicht, wohin sie ge-gangen sind.«

»Ich werde sie finden«, sagte er mit stählerner Stimme, ebenso zu sich selbst wie zu ihr.

»Vielleicht«, erwiderte sie. »Ihre Quellen sind recht beeindruckend.«

»Wissen Sie«, sagte er in spöttisch ernsthaftem Tonfall, »ich könnte Ihnen, obwohl ich Ihnen glaube, dennoch einige Agenten hinüberschicken, um Sie zu ›interviewen‹.«

»Peter«, sagte Victorianna, seinen Versuch igno-rierend, sie zu beunruhigen, »es tut mir wirklich leid.«

Ihre Bemerkung kam so unerwartet, dass er ge-

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zwungen war zu reagieren. »Was meinen Sie? Was tut Ihnen leid?«

Die Nonne atmete wie unter großer Mühe aus, und Peter entdeckte in diesem Laut eine überdrüs-sige Weisheit und das Eingeständnis einer Nieder-lage. »Es tut mir leid … ich teilte mit Lareggia und Francesco eine Vision. Indem wir, vor so vielen Jahren, Ihre Geburt vollzogen, glaubten wir wirk-lich, etwas Gutes, etwas Notwendiges zu tun.«

»Und was war das?« Peter spürte eine jähe Ver-letzlichkeit in ihr, als ergreife sie gerade eine Chan-ce, sich mit ihrem Schöpfer auszusöhnen, als wolle sie ihre Schuld sühnen, indem sie ihren Anteil an dem, was vor dreiunddreißig Jahren geschah, end-lich offenbarte.

»Damals gab es so viele Katastrophen auf der Welt …«, begann sie, und ihre Stimme wurde ver-sonnen und wehmütig. »So viel Aufruhr und Un-ruhe, so viel Ungerechtigkeit. Es war ein Übel in der Welt, Peter, und wir glaubten, die Dinge könn-ten womöglich nicht mehr schlimmer werden.

Aber wir waren zu jung, um zu begreifen, dass das ein Irrtum war. Weil, sehen Sie, die Dinge im-mer schlimmer werden können.«

»Hassen Sie mich, Victorianna?« Wieder eine Pause, dann räusperte sie sich und

antwortete ernst: »Nein, das glaube ich nicht. Se-hen Sie, Peter, ich weiß nicht wirklich, wer Sie sind. Man kann nichts hassen, was man nicht wirk-lich kennt. Ich habe nie verstanden, was wir letzt-

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endlich geschaffen haben, indem wir Sie auf die Welt brachten. Und – so schlimm das auch klingen mag – ich glaube nicht, dass Ihnen selbst voll-kommen bewusst ist, wer Sie sind.«

»Das ist sehr vermessen von Ihnen«, sagte er mit nicht zu überhörendem Sarkasmus.

»Nun, nur Sie können wissen, wie nahe ich der Wahrheit komme.« Victorianna atmete ein und stieß den Atem mit einem weiteren langen, müh-samen Seufzen wieder aus. »Aber zumindest mir erscheinen Sie wie eine begehrte Trophäe, das Ob-jekt der Begierde zweier Alphahunde. Und beide verfolgen Sie mit all ihrer Energie. Sie haben an Ihnen genagt und gezerrt, und Sie zeigen erste An-zeichen der Anspannung und des Verschleißes durch diesen Kampf.«

»Danke, Schwester. Tatsächlich habe ich mich noch nie als Knochen gesehen, nach dem jemand geifert.«

»Zweifellos ein erniedrigendes Bild, für die meisten von uns. Bei Ihnen bin ich mir da nicht so sicher.«

»Oh, ich würde mir über mich keine Gedanken machen«, sagte er. »Auf Wiedersehen, Victorianna. Ich werde anrufen, wenn ich etwas brauche.«

Er legte auf, bevor sie antworten konnte, und schrie nach seinem Sekretär, der so rasch erschien, dass er unmittelbar vor der Tür gewartet haben musste.

»Ja, Exzellenz?«

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»Haben Sie etwas für mich?« »Vertreter der Guardia, der Polizia Romana und

des Servizio Segreto warten auf ein Gespräch mit Ihnen.«

»Ich will keine Gespräche. Ich will Informatio-nen. Hat irgendjemand von ihnen Informationen?«

»Heiligkeit, ich bin mir nicht …« »In Ordnung, wo sind sie?« »Unten in der Empfangshalle.« »Gehen wir«, sagte Peter. Während er dem Pries-

ter folgte, erkannte Peter allmählich, dass er nicht zulassen durfte, dass sein Zorn über die Bloßstel-lung durch seine Mutter und Marion seine Ent-scheidungen beeinflusste. Wenn er nicht vernünf-tig bliebe, würde er Fehler begehen.

Nein. Das durfte nicht passieren. Ich bin zu klug dafür. Beherrsche dich, und die wesentlichen Fra-gen werden sich von selbst klären.

Was er brauchte, waren Informationen, und wenn er seine Netze intelligent und geduldig aus-warf, würde er alles bekommen, was er brauchte.

Diesen letzten, beruhigenden Gedanken im Hinterkopf, betrat er die Empfangshalle und näher-te sich drei streng dreinblickenden Männern, die ihn erwarteten. Er erkannte den kleinen, gedrun-genen Molinaro vom SSV, aber die beiden anderen waren ihm nicht bekannt.

»Euer Heiligkeit«, sagte Molinaro, »dies sind Oberinspektor Olivai von der Hauptpolizeiwache und Kommandant Dreml von der Garde.«

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»Wo ist Hauptmann Leutmann?«, fragte Peter. Dreml, ein großer, muskulöser Mann mit einem

gewaltigen kahlen Kopf und einem Schnauzbart, ging in Habachtstellung. »Wir konnten ihn nicht ausfindig machen, Heiligkeit.«

Peter brummte bestätigend und sagte dann: »Lassen wir die Formalitäten, meine Herren, Sie wurden vermutlich informiert …«

»Ausreichend, um die Ernsthaftigkeit der Lage zu begreifen. Wir können weder Kidnapping noch Terrorismus ausschließen«, sagte Dreml.

Peter grinste höhnisch. »Vielleicht ist es viel simpler. Ist irgendeine Ihrer Abteilungen auf etwas gestoßen?«

Molinaro schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Wir befragen alle, die etwas gesehen haben könn-ten.«

»Jemand muss etwas wissen«, sagte Peter. Er sprach sanft, wollte sie nicht erkennen lassen, wie alarmiert und besorgt er war.

Er wusste, dass es eine Gruppe innerhalb der Schweizergarde gab – allen voran Hauptmann Egon Leutmann –, die geneigt war, sich an die alte Art zu halten, an jene Kardinäle und Mitarbeiter, die entschlossen waren, sich Peter insgeheim zu widersetzen. Dem SSV konnte er also nicht allzu sehr vertrauen. Und doch gab es auch Schwache, die durch Peters Aura der Macht kontrolliert wer-den konnten, wenn auch subtil. Durch seinen ei-genen Willen.

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Wenn Marion die Hilfe heimlicher Reaktionäre innerhalb der Garde oder des SSV erlangt hatte, würden diese ihre Spuren gekonnt verwischen. War das geschehen, musste er darauf hoffen, dass je-mand einen Fehler beging.

Die Männer vor ihm umrissen ihre hastig er-sonnenen Pläne, Marion und Etienne ausfindig zu machen. Sie alle sprachen die Befürchtung aus, dass die Spur bereits kalt werden könnte, weil die Frauen schon mehrere Stunden Vorsprung hatten, und sie versuchten natürlich, ihre Ärsche in De-ckung zu bringen für den Fall, dass sie nichts zuta-ge förderten.

Peter hörte ihren Ausführungen nur mit halbem Ohr zu. Es war ihm egal, wie sie es machten, er wollte nur, dass es geschah. Er wollte sie gerade entlassen, als ein sehr aufgeregt wirkender Pater Strenmann den Raum mit einem Zettel in der Hand betrat.

»Heiligkeit! Wir haben etwas!« Peter spürte, wie sich in seiner Brust etwas an-

spannte. »Über Marion?« Die Schultern des Priesters sackten zusammen.

»Nein, aus den Archiven! Der Präfekt möchte Sie augenblicklich sprechen – er sagt, er hat es gefun-den.«

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Pater Giovanni Francesco – Scarpino, Korsika 29. Oktober 2000

ie Tage und Nächte in der Enklave ver-schmolzen miteinander, wenn man es zuließ,

dachte Giovanni. Es war immerhin nicht notwen-dig, die Grenzen der Untergrund-Anlage zu über-schreiten, falls man das nicht wollte.

Obwohl manche Leute ihn für eine Ratte oder irgendein anderes glitschiges, lichtscheues Tier hielten, genoss Giovanni die klaustrophobische Abwesenheit von Sonne und Himmel nicht be-sonders. Und daher entstieg er den Tunneln alle paar Tage über die Wartungsleiter eines Lüftungs-schachts, um seine psychischen Reserven wieder aufzuladen und sich zu versichern, dass seine geis-tige Gesundheit von dem Leben eines Maulwurfs nicht beeinträchtigt wurde.

Die Leiter endete an einer Luke, die den Zugang zur obersten Spitze des Vorgebirges darstellte. Um-geben von unbestimmbaren Felsen und Gestrüpp, war der Notausstieg perfekt getarnt und nahezu unsichtbar, selbst für jemanden, der nur wenige Fuß davon entfernt war.

Giovanni entstieg der Luke, spürte den warmen

D

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Kuss der Mittelmeersonne auf seiner Stirn und fühlte sich augenblicklich regeneriert. Er trat zum Rand der Klippe, betrachtete prüfend den Horizont und blickte dann auf den Hafen von Scorpino hin-ab, der sich an die glatte Felswand schmiegte. Es sah so aus, als hätte Gott ein großes Beil genom-men, das Ende der Insel abgeschlagen und dann am Fuß eine kleine Bucht ausgehöhlt.

Giovanni setzte sich auf einen Granitvorsprung und ließ den Seewind durch sein kurz geschnitte-nes Haar streichen. Hier oben war es so friedlich, dass man leicht vergessen konnte, dass unter Um-ständen nicht nur das Gleichgewicht der Welt ge-fährdet war, sondern ein alter, drahtiger Jesuit viel-leicht auch etwas zum letztendlichen Ausgang zu sagen hätte.

Giovanni lächelte vor sich hin. Er hatte zunehmend über seine Rolle in dem

ganzen Drama nachgedacht. Seit Jahren empfand er eine gewisse Schuld, weil sie Etienne benutzt hatten, die damals noch ein junges Mädchen war, das gerade erst die Gelübde abgelegt hatte. Den-noch fand er in der Überzeugung, dass er und seine Kollegen das Richtige unternommen hatten, eine Rechtfertigung für sein Tun. Und ihr Plan, die Wiederkunft Christi einzuleiten, war brillant gewe-sen. Selbst Rudolph Krieger, der Genetiker, der den Nobelpreis gewonnen hatte und den sie für diese Aufgabe ausgewählt hatten, war von ihrer Vision und Kühnheit beeindruckt gewesen.

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Was war also schiefgegangen? Niemand von ihnen hatte je auch nur im Traum

daran gedacht, dass Peter zu einem Werkzeug des Satans werden könnte. Tatsächlich war sich Giovan-ni auch nicht sicher, dass dies der Fall war – zumin-dest noch nicht. Peter schien ein im Werden begrif-fenes theologisches Werk zu sein. Früher oder später würde jedoch entweder das Gute oder das Böse end-gültig die Oberhand gewinnen, und Giovanni ver-mutete, dass es das Böse wäre, weil sich Peter bereits als unvollkommene Schöpfung erwiesen hatte.

Das war der tragische Makel an ihrem Plan ge-wesen: Die Menschheit war nicht imstande, Perfek-tion zu erschaffen.

Er erhob sich, trat erneut zum Rand des Felsens und blickte wieder auf den Hafen mit seinen wie Spielzeuge wirkenden Fischerbooten hinab. Es fühlte sich trotz allem gut an, am Leben zu sein. Plötzlich erinnerte er sich an einen amerikanischen Bluessong, in dem die Zeile vorkam: Jeder will in den Himmel … aber niemand will sterben. Wie zutiefst wahr. Aber Giovanni hatte gute Gründe dafür, noch nicht von der Bühne abtreten zu wol-len. Er hatte die Absicht, Peter Carenza aufzuhal-ten, und er wollte sicherstellen, dass er von Gott Vergebung für das erlangte, was er getan hatte.

Der Gedanke der Vergebung war für ihn vorran-gig, seit der ungenannte SSV-Agent ihm eine Gna-denfrist gewährt hatte.

Warum wären diese Dinge geschehen, wenn

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Gott nicht weitere Pläne für den alten Pater Francesco hätte?

Ein Geräusch durchschnitt seine Gedanken wie eine kalte Klinge. Die Stahlscharniere der Zugangs-luke quietschten laut hinter ihm. Giovanni blickte sich rasch um und sah Bruder Sforza aus der Fel-sentarnung auftauchen. Er trug eine klassische Flie-ger-Sonnenbrille und seine normale Mönchstracht. Die Kapuze seiner Robe war zurückgezogen, sodass sein vollkommen kahler Kopf freilag, der das helle Sonnenlicht wie eine glänzende Kuppel reflektier-te. Der kleine Mann mit der fassartigen Brust lä-chelte breit.

»Buon giorno, mein guter Pater!« Giovanni lächelte ebenfalls. »Das ist wahr-

scheinlich in allen Punkten falsch: Ich gehöre nicht dir, ich bin gewiss nicht gut, und ich habe über-haupt nicht viel von einem Pater.«

Bruder Sforza lachte herzlich. »Du wirst dich nie ändern, ’Vanni. Niemals.«

»Dafür ist es jetzt auch zu spät.« Giovanni be-trachtete Sforza ein wenig neidisch. Obwohl er über sechzig war, wirkte er kaum älter als vierzig. Sein lebenslanges Einhalten einer gesunden Diät und sein ungeheuer anstrengendes Training waren den Einsatz offensichtlich wert gewesen. Francesco kannte Bruder Sforza nun schon über dreißig Jahre und erinnerte sich an ihre erste Begegnung, als hät-te sie erst an diesem Morgen stattgefunden.

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Giovanni war sechsunddreißig Jahre alt, hatte an der Ignazio-Universität in Mailand kürzlich seinen Doktor in Biochemie gemacht und wollte an ei-nem Jesuiten-Gymnasium in Padua lehren. An dem Tag, an dem er das Studentenwohnheim ver-lassen und seine Reise nach Padua antreten sollte, traf er auf der Schwelle seines Quartiers mit einem kleinen muskulösen Mann zusammen.

Der Unbekannte trug Zivilkleidung, behauptete aber, ein Mitglied der Kirche zu sein. Er stellte sich als Bruder Sforza vor und informierte Giovanni darüber, dass er von Mitgliedern seines »Spezialor-dens« seit einiger Zeit genau beobachtet worden sei und dass Sforzas Vorgesetzte Pater Francesco als wertvollen Zuwachs für ihre Enklave ins Auge ge-fasst hätten. Sforza deutete an, dass Giovannis of-fensichtliche Intelligenz, seine skrupellosen Me-thoden, seine egomanische Persönlichkeit, sein einzigartiger Weitblick und seine kämpferische Haltung Züge seien, die bei einem Mitglied des Ordens als unerlässlich angesehen wurden.

Giovanni hatte über die Einladung gespottet, seine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft Jesu – der Jesuiten – angeführt und hochmütig Zweifel dar-über geäußert, dass es einen renommierteren und mächtigeren Orden im Dienste Gottes geben kön-ne. Er sagte seinem geheimnisvollen Besucher, er solle sich verziehen, damit er seine Reisevorberei-tungen für Padua beenden könne.

Sforza lachte leise und sagte: »Also wollen Sie

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lieber den Rest Ihres Lebens an einer unbedeuten-den höheren Schule in der tiefsten Provinz anstatt im Vatikan verbringen?«

Das hatte Giovannis Aufmerksamkeit erregt. Der Hinweis darauf, dass ihm möglicherweise

eine Karriere innerhalb der Mauern des heiligen Stadtstaates offenstand, hatte ihn überaus neugierig gemacht und seine Fantasie und seinen Ehrgeiz be-flügelt. Er trat den Malteserrittern unverzüglich bei, deren tiefe Wurzeln die mächtigsten Strukturen der Kirche durchdrangen. Und noch beeindruckender war, dass die Ritter Zugang zu den höchsten Vertre-tern der Regierungen überall auf der Welt hatten.

Wissen war Macht. Henry Kissinger hatte schon recht gehabt: Macht war wirklich das elementarste Aphrodisiakum.

Sforza schloss sich Giovanni auf dem Sims an. »Ich dachte mir schon, dass du hier wärst.«

»Ich bin kein Maulwurf. Ich brauche die Sonne, die Luft.«

»Das geht hier einigen von uns so. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

Giovanni nickte. »Wie macht sich Gaetano?« Sforza lachte leise. »Er ist wie ein wütender Lö-

we. Gleichgültig, was wir ihm in den Weg legen – er bewältigt es. Seine Ausbildung wird noch diese Woche beendet sein.«

»Beeindruckend.« Giovanni griff in seiner Jacke nach einer Zigarette, nahm sein altes Feuerzeug

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hervor und zündete sie an. »Was ist mit deinen anderen Nachforschungen über ihn? Ist er sauber?«

»Alles, was er uns erzählt hat, entspricht der Wahrheit. Er ist tatsächlich Targenos Bruder. Daher wusste er so viel über unsere Methoden und konn-te an uns herantreten, um sich bei uns zu bewer-ben. Er wusste, wen er ansprechen und was er sa-gen musste. Ein sehr intelligenter und scharfsinni-ger Bursche.«

»Können wir ihm vertrauen?« Sforza zuckte die Achseln. »Ebenso, wie man je-

dem anderen vertrauen kann, der so von einer Idee besessen ist.«

»Das ist wahr. Es ist eine Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt – bis auf eines«, sagte Giovan-ni, während er eine dichte Wolke ungefilterten Rauchs ausstieß. »Also werden wir ihn einsetzen?«

»O ja«, sagte Bruder Sforza. »Er ist für unsere Zwecke perfekt geeignet. Er ist der X-Faktor, das ungeplante Element. Er ist vollkommen unbekannt in der Welt der Spionage. Niemand hat Kontakt zu ihm – nicht einmal der SSV –, sodass wir ihn in Peters Nähe einsetzen können. Er ist der perfekte Attentäter.«

»Wie nahe können wir ihn tatsächlich an den Papst heranbringen?«

»Das hängt davon ab, welche Verbindungen ich herstellen kann, bis er bereit ist.«

»Das klingt logisch«, sagte Giovanni. Sforza hielt inne. »Weißt du, als du fragtest, ob

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wir ihm vertrauen können, wollte ich meine Ant-wort erst überdenken, aber wir kamen davon ab.«

»Fahr fort. Ich höre zu.« »Nun, wie du mir gewiss zustimmen wirst«, sag-

te Sforza, »besteht die ultimative Prüfung des Ver-trauens, das man in jemanden setzt, im Handeln desjenigen. Mit anderen Worten, wir können nur erkennen, ob Gaetano vertrauenswürdig ist, indem wir ihn einsetzen und sehen, wie er sich verhält. Und genau das haben wir vor.«

»Ist das nicht gefährlich? Hast du keine Angst, dass er uns verraten könnte?«

Sforza lächelte. »Erstens sind dies verzweifelte Zeiten, und wir müssen Risiken eingehen, die man vielleicht als gefährlich ansehen könnte. Zweitens wird er jederzeit beobachtet werden. Wenn es ir-gendwelche Anzeichen dafür gibt, egal zu welchem Zeitpunkt, dass er uns vielleicht gefährlich werden könnte, wird er eliminiert werden. Irren wir uns, so tun wir dies auf der richtigen Seite des Gesetzes.«

»Wir werden jemanden brauchen in Peters engs-ter Umgebung. Jemanden, der für sie unverdächtig ist. Vielleicht ist Getano nicht die beste Wahl.«

»Niemand ist zu diesem Zeitpunkt eine gute Wahl.«

»Da hast du vermutlich recht«, sagte Giovanni. Sforza lächelte und tätschelte sachte den Arm

seines Freundes. »O ja! Fast hätte ich es vergessen – wir konnten den Agenten aufspüren, der dir zur Flucht verholfen hat.«

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Giovanni schnippte seine aufgerauchte Zigarette in den Abgrund. »Ich verdanke diesem Mann mein Leben. Wie heißt er?«

»D’Agostino«, sagte Sforza. »Er wird von jeder-mann in der Organisation hoch geschätzt. Seine Akte ist beispiellos.«

»Können wir ihn Gaetano einschleusen lassen?« »Das ist der Plan, ja. Ich überprüfe gerade die

Details.« Sforza beugte sich vor und rieb mit den Handflächen über seine Knie. »Ich liebe dieses Ge-schäft! Immer eine Herausforderung.«

Giovanni betrachtete den Mann, der seit nun-mehr dreißig Jahren sein Freund und Kollege war und stets so vital, so glücklich schien. »Hegst du jemals irgendwelche Zweifel?«, fragte er, während er wieder aufs Meer hinausblickte. »Über die Ent-scheidungen, die du getroffen hast? Über unseren Platz in Gottes Plan?«

Sforza erhob sich und ging langsam auf und ab. »In jungen Jahren war ich voller Zweifel, ja, ich hatte viele Bedenken. Ich dachte damals, ich könn-te ein Ranghöherer beim Militär, ein großer Frau-enversteher, ein innovativer Industrieller oder so-gar ein weltberühmter Fußballspieler werden. Es ist ganz natürlich für einen jungen Mann, so zu den-ken. Aber ich kann dir sagen, ’Vanni, mit den Jah-ren wurde ich gleichzeitig weiser und fühlte mich mit den getroffenen Entscheidungen zunehmend wohler. Es gibt nichts Edleres, als im ältesten, reinsten Sinne ein Soldat Gottes zu sein. Hat der

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Apostel Petrus nicht ein ziemlich grausames Schwert geführt?«

»Ich kenne deine Antwort vermutlich schon.« »Die Worte eines Mannes, der eine Glaubenskri-

se hat. Willst du darüber reden?« Giovanni merkte, wie er sich wand. »Nun, tat-

sächlich ist es keine Glaubenskrise. Ich meine, nach all dem Entsetzen und den Wundern, die ich seit dem Aufstieg Peter Carenzas gesehen habe, zweifle ich nicht an Gott. Nichts dergleichen.«

Sforza lachte leise. »Also etwas Persönlicheres.« »Ich möchte mir des Schicksals meiner Seele si-

cherer sein.« Sforza legte eine fleischige Hand auf Giovannis

knochige Schulter. »Mein Freund, wir alle machen uns Sorgen darüber, weil wir alle es vermasselt ha-ben. Gott liebt die Sünder, erinnerst du dich?«

»Ja, aber ich wünschte, ich bekäme ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist, dass ich die Konten sozusagen ausgeglichen habe.«

»Ich habe erst kürzlich ein Zeichen gesehen«, sagte Sforza.

»Wirklich?« Der kahle Mann deutete auf die gelblich weiße

Sonne, die wie eine Hostie über ihnen hing. »Letz-te Woche war ich hier oben und sprach mit Gott, und plötzlich war da dieses kurze Leuchten um alles herum, als wäre die Sonne einen Moment heller geworden. Es war ein unglaubliches Gefühl. Ich wurde an die Fatima-Geschichten erinnert.«

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Giovanni nickte. »Komm schon, Bruder, du weißt, was du beschreibst, oder?«

»Die Protuberanzen, ja, natürlich weiß ich das. Sie sind nun schon über ein Jahr das Thema großer Diskussionen.«

»Ich sah mehrere Burschen auf SNN«, sagte Giovanni. »Wissenschaftler. Einige von ihnen glauben, die Sonne werde unstet. Andere halten das einfach für töricht.«

»Wenn es um einen Stern vom G-Typ geht, dann ist er in der Tat zu jung, um so unstet zu sein.«

Giovanni betrachtete seinen Freund mit einem Ausdruck von spöttischer Verwunderung. »Du kennst dich mit Astronomie aus?«

»Genug, um mir Sorgen zu machen.« Sforza lä-chelte.

Giovanni sagte bewusst sarkastisch: »Du glaubst also tatsächlich, Gott ließe unsere Sonne Milliarden Tonnen ihrer Koronosphäre nur zu unserem Nutzen und für unseren Seelenfrieden ausströmen – als Zeichen für dich, dass alles in Ordnung ist?«

Sforza nahm die freundliche Stichelei gelassen hin. »Nein, ich glaube, es war Zufall. Wofür hältst du mich – für einen mittelalterlichen Dumm-kopf?«

Beide Männer lachten. »Aber«, fügte Sforza hinzu, »ich glaube auch,

dass es Gott war, der uns wissen lässt, dass er noch immer aufpasst.«

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»Ich denke, es ist mehr als das«, sagte Giovanni und formulierte damit Gedanken, die auszuspre-chen er sich bisher gefürchtet hatte, als könnten sie dadurch Wirklichkeit werden. »Ich denke, es ist Gott, der uns wissen lässt, dass er, sollte uns dieser jüngste Schlamassel zu sehr aus dem Ruder laufen, hier einfach alles einpackt und zur nächsten Welt weiterzieht.«

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Marion Windsor – Nairobi 30. Oktober 2000

erzeihen Sie, Marion«, sagte eine Stimme, die aus großer Entfernung zu ihr drang und durch

ein Mittelfrequenz-Brummen gedämpft wurde, »aber Sie sollten jetzt lieber aufwachen.«

Marion blinzelte, um wach zu werden, und war einen Moment überrascht, sich in dieser winzigen Kabine wiederzufinden. Sie hatte so tief geschlafen, dass sie ihre Flucht, den Flug, alles vergessen hatte.

»Wo sind wir?«, fragte sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. »Ich fühle mich wie ein kleines Kind bei einer Autofahrt – sind wir schon da?«

»Ungefähr fünfzehn Minuten vom Jomo Kenyat-ta International entfernt«, sagte Kardinal Lareggia.

Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und der Zwei-te Offizier gesellte sich zu ihnen. Er setzte ein leich-tes respektvolles Lächeln auf und sah sie nachei-nander an, während er sprach. »Okay, wir haben unter unserem SkyFreight-Deckmantel Landeer-laubnis erhalten, und es sind einige sehr wichtige Dinge zu berücksichtigen. Erstens: Die Behörden hier in Kenia und Tansania sind dafür berüchtigt,

V

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das Gesetz zu ihrem eigenen Vorteil auszulegen. Wenn man die gegenwärtigen politischen Unruhen bedenkt, ist es eine heikle Situation. Ich spreche über die Polizei vor Ort, das Militär, sogar Regie-rungsangestellte. Unterhalten Sie so wenig Kontakt mit ihnen wie möglich, okay? Gut.

Nun zum zweiten Punkt: Jeder, der nach Kenia kommt, muss einen Pass oder ein Arbeitsvisum vorweisen, und Sie haben keines von beidem. Sie sind illegal hier. Der Servizio Segreto Vaticano wird Sie schützen und alles in seiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Sie nicht entdeckt werden, aber sollten Sie festgenommen werden, können wir Ihnen nur noch sehr eingeschränkt helfen, haben Sie verstanden?«

»Ja«, sagte Marion. »Aber wir haben jederzeit SSV-Mitarbeiter bei uns, oder?«

Der Mann nickte. »Wir beabsichtigen, jemanden bei Ihnen zu lassen, ja. Dazu komme ich gleich. Drittens: Die Anopheles-Mücke, die Malaria über-trägt, ist hier immer noch weit verbreitet, was be-deutet, dass wir Sie alle impfen müssen. Unser Feldarzt wartet im Hangar von SkyFreight auf Sie.

Außerdem haben wir für Sie alle Kleidung zum Wechseln. Einfache SkyFreight-Uniformen. Sie müssen sich umziehen, bevor Sie das Flugzeug ver-lassen. So wird niemandem Ihre Anwesenheit auf dem Flughafengelände auffallen. Alles, was Sie brauchen, finden Sie im Laderaum, und ich schlage vor, dass Sie jetzt anfangen.«

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»Danke«, sagte Marion. »Danke für alles.« »Wie kommen wir zur Olduvai?«, fragte Lareggia. »SkyFreight hat in Kenia mehrere Helikopter sta-

tioniert, und wir beschaffen gerade einen Piloten, während wir uns hier unterhalten.« Er wandte sich wieder dem Cockpit zu. »Sie werden mich ent-schuldigen – ich muss mich um die Landung kümmern.«

Marion hörte kurz darauf, wie sich das Maschi-nengeräusch veränderte, und bemerkte, dass sich das Flugzeug leicht nach links neigte, während es an Höhe verlor. Sie schaute zur Tür des rückwärti-gen Abteils und zuckte die Achseln. »Okay, ich ge-he zuerst.«

Lareggia quetschte sich als Letzter in einen SkyFrei-ght-Overall. Marion war ein wenig verblüfft, als der Kardinal aus dem Laderaum kam und zu seinem Platz zurückwatschelte. Er sah aus, als wäre seine Kleidung mit Druckluft aufgeblasen worden. Der Overall umschloss zwar die unglaubliche Körper-fülle des Kardinals, betonte jedoch sein Überge-wicht auf das Unvorteilhafteste.

Etienne andererseits wirkte in ihrer Uniform zierlich und zart. Sie steckte ihr kurzes Haar unter eine weiße Baseballkappe mit dem grünen SkyFrei-ght-Logo und schien plötzlich fünfzehn Jahre jün-ger zu sein.

»Bereitmachen zur Landung«, schallte es aus dem Lautsprecher. »Bitte anschnallen.«

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Als Marion aus dem Kabinenfenster schaute, konnte sie die Landebahn bereits ausmachen. Jen-seits davon sah sie die Innenstadt Nairobis, von hoch aufragenden Büro- und Wohnhäusern ge-prägt. Die Sonne war vor kaum einer Stunde auf-gegangen, und die Stadt flirrte bereits vor warmem, tanzendem Licht.

Etienne schien von dem gesamten Landevor-gang fasziniert, den sie durch ihr Fenster regungs-los und schweigend beobachtete, bis das Flugzeug im Schutz des SkyFreight-Hangars zum Stehen kam.

Dann geschah alles sehr rasch. Bodenpersonal schwärmte um das Flugzeug

herum, und während sich fast das gesamte Hangar-Personal um die Maschine kümmerte, begleiteten Marion und die Übrigen die Besatzung zu einem zweiten Hangar, wo ein kleiner Bell Jet Ranger-Helikopter bereitstand. Ein Mann mit einer dichten silberweißen Mähne in einem gelbbraunen Pilo-tenanzug sah ihnen entgegen.

»Buon giorno«, sagte er lächelnd. Sein gebräuntes, zerfurchtes Gesicht strahlte Zuversicht aus. Marion erkannte sofort, dass er jemand war, dem sie ver-trauen konnte. »Ich bin Fabrizzi«, stellte er sich vor. »Man sagte mir, Sie wollten die Olduvai-Schlucht aufsuchen.«

»Ja«, sagte Etienne. »Das ist ein ziemlich großer Bereich, Madame«,

sagte er. »Haben Sie eine bestimmte Stelle im Sinn?«

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»Ich bin mir nicht sicher. Ich werde ihn erken-nen, wenn ich ihn sehe.«

»Wenn Sie was sehen?« »Einen Baum«, sagte Marion. »Er wird der

›Baum, wo die Menschheit geboren wurde‹ ge-nannt.«

Fabrizzi nickte. »Ich habe davon gehört. Die Massai haben ihren eigenen Namen dafür, obwohl ich mich aus dem Stegreif nicht erinnere …«

»Können Sie ihn finden?«, fragte Lareggia. »Das werden wir«, antwortete der Pilot. »Kom-

men Sie. Erledigen wir die Impfungen und gehen dann an Bord, bevor einer der hiesigen jungen Soldaten zu neugierig wird.«

Zehn Minuten später stiegen sie in den Himmel südlich von Nairobi auf und hielten auf die Grenze Tansanias zu. Sogar in der offenen Kabine des He-likopters hatten Marion und ihre Gefährten das Gefühl, die warme, schwere Luft kaum einatmen zu können. Der kleine Bell-Chopper flog so niedrig wie möglich über das Gelände, und sogar Marion klammerte sich an die Seiten ihres Notsitzes.

Die Sicht war sensationell. »Die Serengeti-Ebene!«, rief Fabrizzi, während

sie über die scheinbar unendliche Savanne hin-wegglitten, auf der Erosionsrinnen, glitzernde Was-serbänder und vereinzelte Wasserlöcher auszu-machen waren. Gigantische Tierherden wogten in amorpher, sich ständig verändernder Anordnung

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über die Landschaft. Im Osten konnte Marion den Gipfel des Kilimandscharo wie ein Stück Kristall in der Sonne schimmern sehen. »Ein Nationalpark und Wildreservat. Und das ist der Manyara-See, der eine seiner Grenzen bildet.«

»Es ist so wunderschön«, sagte Etienne voller Ehrfurcht und Respekt. »Und riesig. Ich habe mir die Welt nie so groß vorgestellt.«

Marion lächelte, streckte die Hand aus und drückte die der Nonne. So rein. So unschuldig. Was für ein einzigartiger Mensch sie war.

»Sehen Sie diese große, kreisförmige Formation da vorne?«, fragte Fabrizzi über das rhythmische Dröhnen der Rotoren hinweg. »Das ist der Ngorongoro-Krater. Ein uralter Vulkan! Jetzt leben dort wilde Tiere.«

»Ist dies das Gebiet, in dem Stanley und Livings-ton ihre Forschungen betrieben haben?«, fragte Lareggia.

»Genau«, sagte der Pilot. »Hier ganz in der Nähe. Vor mehr als einhundert Jahren! Es muss die Hölle gewesen sein, zu Fuß hier durchzugehen, oder?«

»Absolut«, sagte Marion. »Wie weit noch?«, fragte Lareggia, der sich die

ganze Zeit an das Unterteil seines Sitzes klammer-te, als böte es mehr Halt als die Sicherheitsgurte.

»Wir sind fast da! Das Great Rift Valley begrenzt dieses Gebiet bis nach Tansania hinein!«, rief Fabrizzi. »Dort sind wir jetzt ungefähr, und unmit-telbar zu Ihrer Linken liegt die Olduvai … da!«

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Seinem ausgestreckten Arm folgend, sah Marion die Schlucht, eine klaffende Wunde in der Erdkrus-te. Verglichen mit der fast trägen Schönheit der Serengeti, erschien die Schlucht rau und wild. Ma-rion erinnerte sich ihrer Grundlagenlektüre im Anthropologiekurs und der klassischen Zitate von Louis Leakey und seinen Australopithecines und lächelte. Sie hätte nie gedacht, diesen Ort tatsäch-lich einmal zu sehen. Als sie Etienne gerade auf eine faszinierende Felsformation aufmerksam ma-chen wollte, geriet die Bell in ein Luftloch und sank jäh um gut zwanzig Fuß ab.

Alle schrien gleichzeitig auf, und Fabrizzi lachte leise. Er richtete den Steuerknüppel aus, und der Flug des Choppers wurde wieder ruhiger. »Wir können dieses Ding runterbringen, wo immer Sie wollen, Madame«, sagte er zu Etienne.

»Ich suche den Baum noch. Es tut mir leid, aber ich sehe ihn noch nicht.«

»Wir haben reichlich Treibstoff!«, sagte der Pilot. »Ich kann etwas tiefer und langsamer fliegen …«

»Ja«, sagte Etienne, »das wäre gut.« Fabrizzi hantierte mit dem Steuerknüppel und

zog die Bell in eine enge, leicht abfallende Kurve, wodurch der Hubschrauber um weitere fünfzig Fuß sank, sodass sie nun sehr dicht über das zerklüftete Terrain der Olduvai flogen. Marion glaubte nicht, dass es allzu schwierig sein würde, einen bestimm-ten Baum zu finden – es gab in der rauen Umge-bung der Schlucht augenscheinlich nur sehr weni-

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ge. Sie erblickte verschiedene abgesperrte Bereiche, eine Zufahrtsstraße und sogar mehrere Parkplätze. Darauf deutend fragte sie den Piloten, was für eine Einrichtung das sei.

Fabrizzi lächelte. »Das ist eine Touristenattrakti-on. Louis Leakeys Original-Ausgrabungsstätten. Die Menschen können hierherkommen und nach Fossilien suchen.«

»Besteht die Möglichkeit, dass uns jemand sieht?«, fragte Lareggia.

»Das kommt darauf an, Kardinal«, antwortete Fabrizzi, »wo wir diesen Vogel runterbringen.«

Der Helikopter tauchte in die Schlucht ein, und alle hielten bei dem plötzlichen Anblick der durch die verschiedenen Gesteinsschichten ge-streiften Felswände unwillkürlich den Atem an. Marion schloss die Augen und lehnte sich an die Außenwand des Hubschraubers. Sie war in vielen Helikoptern geflogen, als sie die für Manhattan und den Stadtbezirk New Yorks zuständige Re-porterin gewesen war, aber keiner ihrer Piloten hatte Fabrizzis Können – oder seinen Mut – be-sessen.

Ein Blick auf Lareggia sagte ihr, dass er kurz da-vor stand, sein Mittagessen von sich zu geben. Er war blass, mit einer leicht gelblich grünen Färbung.

Plötzlich schlingerte der Chopper nach rechts und fiel ungefähr um zwanzig Fuß ab. Erneut schrien alle auf. Dieses Mal lachte Fabrizzi nicht. »Thermischer Aufwind! Kein Grund zur Sorge. Es

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ist normal, besonders, wenn wir den Wänden so nahe sind!«

Plötzlich rief Etienne: »Da! Sehen Sie?« Als sie ihren Zeigefinger an das Plexiglas drück-

te, erinnerte sie Marion erneut an ein aufgeregtes Kind, das zum ersten Mal Disney World sieht.

Marions Blick folgte der angezeigten Richtung, und sie sah einen Felsvorsprung, nicht weit vom Rand der Schlucht entfernt. Sie konnte sich, trotz der tänzelnden Bewegungen des Helikopters, auf ein einzelnes Objekt am Rande der Schlucht kon-zentrieren – ein großer Baum mit wild wuchern-den Zweigen und büscheligem Bewuchs, der wie grüne Flammenzungen wirkte. Fabrizzi musste ihn auch gesehen haben, denn die Bell hielt darauf zu.

»O mein Gott«, sagte Marion unbewusst, wäh-rend sie sich dem Baum näherten. »Er ist so wun-derschön …«

»Fieberbaum!«, rief der Pilot. »So nennen die Massai ihn. Romantisch, oder?«

Marion hatte so etwas noch nie gesehen, aber der Name für den Baum schien absolut zu passen. Er sah wie ein umgekehrter Bonsai aus. Statt einer organischen Skulptur im Kleinen war der Fieber-baum herrlich groß und starr und dennoch erha-ben.

»Können Sie uns in der Nähe absetzen?«, fragte Lareggia.

»Nahe genug!«, rief Fabrizzi über das Motoren-geräusch hinweg. »Wir müssen nur auf die Thermik

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dort achten!« Dann lächelte er und bewegte den Steuerknüppel, lenkte den Helikopter wie ein un-gebärdiges Fohlen.

Fabrizzi brachte den Chopper dreißig Meter vom gähnenden Abgrund der Schlucht und der verschlungenen Erhabenheit des gewaltigen Fie-berbaumes herunter. Das Licht der glühenden Sonne verlieh jedem seiner Äste einen glänzenden Heiligenschein. Der dicke, wie aus einem Stein gehauene Stamm des Yggdrasil schien vor Leben zu pulsieren. Als der Hubschraubermotor erstarb und der Rumpf aufhörte zu vibrieren, blieben alle stumm, die Blicke ehrfurchtsvoll auf den Baum gerichtet.

Schließlich regte sich Etienne und stieg vorsich-tig aus dem Helikopter aus. Während sie langsam über den staubigen Boden auf den Baum zuging, fragte Lareggia leise: »Sollten wir nicht mit ihr ge-hen?«

»Ich denke, wir werden erkennen, was wir tun müssen, wenn es soweit ist.«

»Wissen Sie«, sagte Fabrizzi ebenfalls leise, »ich bin schon hundertmal durch diese Schlucht geflo-gen, aber ich erinnere mich nicht, den Baum je-mals gesehen zu haben.«

»Er ist so groß …«, sagte Marion, während sie den mythischen Baum, den Baum des Lebens, den Baum, der Yggdrasil genannt wurde, betrachtete. Sie konnte Etienne sehen, fast unmittelbar vor dem dicken Stamm des Baumes. Die Zweige des Yggdra-

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sil, die sich in einer bezaubernd schönen Asym-metrie in alle Richtungen ausbreiteten, begannen sich zu bewegen. Zuerst dachte Marion, die Ursa-che dafür wäre ein starker Wind, aber die Luft in der Olduvai war so heiß und schwer und still, als wäre sie ein fester Gegenstand.

Nein. Es wehte kein Wind. Aber die vielen Zweige des

Baumes bewegten sich definitiv. Ein Schaudern durchlief Marion, als hätte jemand mit einer kalten Feder ihr Rückgrat entlanggestrichen. Es war ein Gefühl, das sie sehr lange nicht mehr empfunden hatte, nicht seit jener Nacht, in der Peter in einem Moment unkontrollierten Zorns Daniel Ellington getötet hatte, seinen besten Freund. Jedermann dachte, Ellington wäre an einem Herzanfall gestor-ben. Aber Marion hatte immer gewusst, was wirk-lich geschehen war.

Der große Fieberbaum wogte, seine flammen-ähnlichen Blätter zitterten leicht, als bewegten sie sich nach einem unterirdischen Rhythmus, einer spirituellen Musik, die außerhalb des Bereichs menschlicher Erfahrung lag.

Marion beobachtete, wie Etienne auf die Knie sank und die Arme ausstreckte, als wollte sie den Baum umarmen.

Das Sonnenlicht, das an allen Zweigen gehaftet hatte, schien nun wie etwas Lebendiges zu fließen, als wäre der Baum plötzlich in Flammen aufgegan-gen.

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»Oh, mein Gott! Sehen Sie nur!«, rief Marion, während sie durch die offene Kabinentür in den Staub sprang.

»Warten Sie«, rief Lareggia, der mit seinem Si-cherheitsgurt kämpfte.

Marion schaute kurz zurück, lief aber weiter, während der riesige Baum in Flammen stand. Sie befürchtete, dass Etienne zu nahe war und von dem Feuerstoß erfasst würde. Die Luft war explo-diert, während aller verfügbare Sauerstoff aus dem Raum gesogen wurde, und Etienne, die vor dem Baum gekniet hatte, war vornüber aufs Gesicht ge-stürzt. Marion schrie den Namen der Nonne, wäh-rend sie vorwärts eilte.

Bevor sie sie erreichte, hatte sich Etienne wieder auf die Knie aufgerichtet, ihre ganze Aufmerksam-keit noch immer auf den brennenden Baum ge-richtet.

Als Marion bei der älteren Frau anlangte, wurde ihr klar, dass der Baum nicht wirklich brannte. Weder strahlte er Hitze aus noch wurde er von dem Inferno verschlungen, das wie wahnsinnig durch seine gewundenen Zweige tobte. Furcht und Angst wichen aus ihrem Geist, und sie wurde von einem Gefühl äußerster Gelassenheit und höchsten Wohlbefindens erfüllt. Marion erkannte, dass sie sich in der Gegenwart Gottes befand. Bilder von Moses im Alten Testament hielten sie gefangen und beseelten sie mit einer Inbrunst, die sie nie zuvor erlebt hatte.

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Etienne sah sie einen Moment an und lächelte. »Darum bin ich gekommen. Genau wie in meinem Traum.«

»Ich weiß«, sagte Marion. Der Kardinal kam taumelnd zu ihnen heran,

warf sich auf die staubige Erde und rezitierte latei-nische Gebete.

Dann brach seine Litanei jäh ab. Der große Fieberbaum wand sich in gespensti-

scher Glut, und ein Klang, der kein Klang war, er-füllte sie. Er war nicht nur in ihren Ohren oder in ihrem Geist. Es war eine elementare Bewusstheit, die ihr kollektives Bewusstsein durchdrang. Sie alle hörten die Stimme Gottes nicht als einzelne Worte, sondern als weitaus umfassendere Verständigung, die auch Gedanken und Bilder beinhaltete. Marion sammelte die Informationen auf mühelose, gera-dezu vergnügliche Art, als wäre sie ein großer Schwamm, der sie einfach aufsaugte.

Die sieben Gerechten – die Schlüssel zu den Kir-chen der Offenbarung – waren von Etienne kon-taktiert worden und warteten jetzt nur noch auf die Standorte jeder ihrer Kirchen. Diese Bestimmung-sorte wurden, einer nach dem anderen, in grafisch üppigen Bildern und sinnbeladenen Strukturen enthüllt, rund um den Globus mit seinen sieben Meeren verteilt. Sogar die Namen selbst besaßen Macht: Lhasa, Jerusalem, Stonehenge, Delphi, Mekka, Glastonbury, Tiahuanaco. Ein Schlüssel für jeden Ort, wo sie die Siegel an den Kirchen erbre-

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chen und sich dann an dem uralten Mittelpunkt versammeln mussten.

Die Zeit hatte sich wie Gummi gedehnt, träge und nutzlos. Während Marion in das ungestalte Herz der Flammen blickte, sah sie die spaltbaren Gedanken von Gott persönlich, die originalen, er-habenen Entwürfe, im Brennofen der Schöpfung geschmiedet.

Unglaublich. Gottes Plan. Sie hatte an der kosmischen Wasserkühlung

herumgelungert und alles belauscht. Diese sardonische und respektlose Vorstellung

war jäh in ihren Gedanken aufgetaucht. Sie erkann-te plötzlich, dass Peter das gesagt haben könnte.

Hatte sie zu lange unter seinem Einfluss gestan-den, oder war der Gedanke unheilvoller? Hatte Pe-ter sie irgendwie entdeckt und sich in ihre göttliche Verbindung eingeklinkt? Wusste er? Wusste er alles?

Unmöglich. Nicht hier. Wenn es so etwas wie Gottes Land

gab, dann war es gewiss die Olduvai-Schlucht – eine einsame Festung gegen die Winde der Zeit, eine monumentale Erinnerung an die Vergänglich-keit der Werke des Menschen und seines Ego.

Marion wiegte sich im Rhythmus der hypnoti-schen, wogenden Bewegungen der Flammen und spürte, dass sich diese Erfahrung ihrem Ende nä-herte. Sie konnte fühlen, dass sich die göttliche Gegenwart zurückzog, wie ein Sturm, der seine

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unsichtbare Energie verliert. Der Fieberbaum be-gann sich zu verändern, seine magische Feuers-brunst ergab sich gewundener Baumschönheit.

Und dann … das Feuer war einfach fort und ließ die drei in der veränderten Atmosphäre des Pla-teaus allein. Lareggia lag noch immer ausgestreckt auf der Erde, Etienne kniete, und Marion stand neben ihr. Nach einer scheinbar endlosen Minute räusperte Marion sich.

»Was tun wir jetzt?« »Gottes Willen«, sagte Etienne. »Haben Sie die

Sonne gesehen, Marion? Die schwarze Sonne! Ge-nau wie in meinem Traum …«

Lareggia mühte sich auf alle viere und balancierte sich dann sorgfältig in hockender Stellung aus, be-vor er langsam aufstand. »Und die Engel! Haben Sie die Engel gesehen? Die himmlischen Heerscharen?«

»Ja«, sagte Marion leise. Anscheinend hatten sie alle unterschiedliche Dinge gesehen, ihre eigenen Versionen dessen, was das Göttliche sein sollte oder musste. Sie durfte die streng dogmatische Form der Vision Lareggias oder die stark persönliche Art der Vision Etiennes nicht infrage stellen oder bestreiten.

Alle waren gültig. Alle waren real. »Es war so wunderschön«, sagte Marion. »Und

so etwas haben Sie schon früher erlebt?« »Niemals so«, sagte Etienne. »Vielleicht haben die Massai recht«, sagte Lareg-

gia. »Vielleicht hat Er uns hier erschaffen.«

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»Was erklärt, warum ich hierherkommen sollte – Gott verlangte eine Wallfahrt«, sagte Etienne. Sie streckte die Hand nach Marion aus, die sie ergriff und ihr hochhalf.

»Ich weiß immer noch nicht, was als Nächstes kommt«, sagte Marion.

»Die Sieben haben auf diesen Tag gewartet. Ich muss es ihnen allen mitteilen.« Etienne trat zu dem dicken, starken Stamm des Baumes, streckte eine Hand aus und berührte seine Rinde.

»Wir können nicht zurückkehren«, sagte Lareg-gia, der zu einem fernen, verschwommenen Hori-zont blickte. »Ist Ihnen das klar?«

»Ich habe dasselbe gedacht«, sagte Marion. »Pe-ter würde vor nichts Halt machen, um zu erfahren, was wir jetzt wissen.«

Lareggia lachte leise. »Und darin liegt die Ironie! Was weiß ich schon? Was könnte man durch Folter von mir erfahren? Ich habe keine Ahnung …«

Etienne wandte sich von dem Baum ab, trat zum Kardinal und berührte seinen Unterarm. »Der Apostel Johannes belehrte uns, dass wir den Jüngs-ten Tag sowohl mit Freude als auch mit Furcht er-warten sollten.«

»Erzählen Sie mir mehr«, sagte Lareggia, »damit ich an meiner Freude arbeiten kann.«

»Wir versammeln die Besten von uns, Euer Emi-nenz.«

»Ich weiß«, sagte er. »Es sind die Schlechtesten von uns, die mir Sorgen machen.«

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Gaetano – Rom 30. Oktober 2000

r kam unter einem Kai an den Civitavecchia-Docks an die Oberfläche. Die Küstenstadt lag

120 Meilen östlich von Korsika. Von einem Trag-flügelboot heimlich dorthin gebracht, war Gaetano eine halbe Meile vom Ufer entfernt in einem Kälte-schutzanzug in das ölige Wasser des Tyrrhenischen Meeres gestiegen. Seine Ausrüstung steckte in ei-nem unsinkbaren Waller-Sack. Das Mondlicht und sein Transponder am Handgelenk führten ihn zum Ziel. Das leichte Schwappen des Niedrigwassers gegen den Hafendamm klang wie die rhythmische Bewegung zweier Körper in träger Vereinigung.

Er lächelte über diese Metapher. Es war eine ganze Weile her, dass er mit einer Frau zusammen war – lange vor den sechs Wochen in einer Höhle voller militaristischer Mönche! Aber er hatte kein Recht, sie zu verunglimpfen. Sie hatten ihren Job auf spektakuläre Weise erledigt und ihn gut ausge-bildet. Er war zu einer Überlebensmaschine, einer Tötungsmaschine geworden.

Gaetano war einer der wenigen Männer auf der Welt, die Folgendes beherrschten: eine Meile unter

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vier Minuten laufen, 350 Pfund stemmen, über fünf Minuten unter Wasser bleiben, vierundvierzig verschiedene Waffensysteme auseinandernehmen, wieder zusammenbauen und handhaben sowie einen Menschen auf über 130 verschiedene, höchst wirkungsvolle Arten töten.

Die Ritter hatten ihm das angetan. Er hatte gewollt, dass sie es taten, und nun hatte

sich sein Leben unwiderruflich verändert. Während seiner Ausbildung, als er mit den Rittern allein war, war es ihm kurz in den Sinn gekommen, dass er niemals in sein Maklerbüro zurückkehren könnte. Diesen Gedanken hatte er jedoch stets als romanti-schen Unsinn abgetan und sich daran festgehalten, dass er in die irdische Welt zurückschlüpfen würde, sobald er den Mord an seinem Bruder gerächt hatte.

Er hatte den Kopf voller Flausen gehabt. Während sich Gaetano mit den Gezeiten unter

die rauen Docks treiben ließ, warf er einen prüfen-den Blick auf seinen Chronometer. Er kam drei Minuten zu früh zu dem Treffen.

Es gab kein Zurück, und er wusste das. Nicht nur, dass ihm sein neues Leben gefiel, er

war sich auch im Klaren darüber, dass man ihm niemals erlauben würde, zurückzukehren. Er war einer der Männer geworden, die zu viel wussten. Gaetano fühlte sich, als sei ihm ein Schleier von den Augen gezogen worden, als wäre er sein ganzes Leben lang umhergestolpert, ohne jemals wirklich zu sehen, was direkt vor seiner Nase geschah.

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Die verschwörerischen Spinner kamen der Wahrheit so nahe. Praktisch nichts war so, wie es schien. Und diese Offenbarung war an sich schon Grund genug, nie zu dem zurückkehren zu wollen, was boshafterweise als die »wahre Welt« bezeichnet wurde.

Das Instrument an seinem Handgelenk piepte einmal, gerade noch in seinem oberen Hörbereich. Zeit zu gehen. Er verließ die Deckung des Pfahl-werks und der Docksplanken und kletterte auf eine Landungsbrücke, die zu einer Ansammlung von Lagerhäusern führte, die aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten und von denen die meisten trotz ihrer Baufälligkeit noch immer in Betrieb waren.

Das zweite Gebäude zu betreten war eine Übung in absoluter Lautlosigkeit, und er genoss die Gele-genheit, seine neu erworbenen Fähigkeiten einzu-setzen. Wie ein Geist glitt er in die Halle. Die Luft war dick und schwarz wie heißer Teer. Von seinem Erfolg belebt, bewegte er sich auf …

»Bleiben Sie genau da stehen«, sagte eine flüs-ternde Stimme. Die Worte waren unglaublich leise, trafen aber auf seine Ohren wie ein Schlag ins Ge-sicht. Gaetano atmete langsam aus, ohne Angst oder Besorgnis zu verspüren. Dies war genau das, womit zu rechnen man ihm geraten hatte.

Ein orange-magentafarbenes Licht stach einen Moment in sein linkes Auge und verschwand dann.

»In Ordnung. Treten Sie einen Schritt vor.«

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Er tat es. Plötzlich nahm er einen anderen Mann in der

Dunkelheit wahr, so nahe an Gaetano, dass er ei-nen Moment erschrak. Einem anderen Menschen so nahe zu sein und sich nicht zu verraten … der Agent war wirklich sehr gut.

Der Fremde bemerkte die Abwehrreaktion und lachte leise. »Entspannen Sie sich. Die Überprü-fung Ihrer Retina war in Ordnung – sonst wären Sie bereits tot, mein Freund.«

»Das weiß ich«, sagte Gaetano, der allmählich ein klareres Bild des anderen Mannes bekam. Ein wenig größer als er selbst, breitschultrig und mit klassischen mediterranen Zügen, trug der Mann vollkommen schwarze Kleidung und eine schwarze Pudelmütze – das klassische Kommando-Ensemble.

»Ich bin D’Agostino.« »Auch das weiß ich.« Der Agent lächelte und schaltete eine kleine

Stablampe ein. »Kommen Sie.« Gaetano folgte ihm durch das Lagerhaus voller

Transportkisten und LKW-Container. Sie gelangten auf eine verlassene Gasse und stiegen in einen Jeep mit Allradantrieb, der ebenfalls schwarz war.

Nachdem sie die engen Straßen der Altstadt durchfahren und die Küstenstraße südwärts in Richtung Rom hinter sich gelassen hatten, brach D’Agostino das Schweigen. »Noch ungefähr vierzig Meilen bis zur Heiligen Stadt«, sagte er. »Aber die

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Straße ist nicht immer die beste. Es könnte mehr als neunzig Minuten dauern.«

»Dann habe ich viel Zeit, dieses nasse Zeug los-zuwerden und zu trocknen.« Gaetano kletterte auf den Rücksitz und nahm einige typische Kommando-Kleidungsstücke aus seinem wasserdichten Waller. Er schlüpfte aus dem dünnen, ausgezeichnet isolier-ten Tauchanzug und breitete ihn zum Trocknen aus.

Während er sich in eine trockene Hose mühte, merkte er, dass der Fahrer ihn im Rückspiegel beo-bachtete. »Francesco erzählte mir, dass Sie für ihn einen Schuss auf sich genommen haben.«

»Der alte Mann ist ein zäher Bastard. Ja, das ha-be ich. Es war die einzige Möglichkeit, ihn nicht töten zu müssen.«

»Ihre Idee?« »Ja. Ich fürchtete nur, dass mir niemand glauben

würde, ich hätte es nicht geschafft, einen Mann in den Siebzigern zu eliminieren.«

»Und …?« Der Agent lachte. »Niemand hat ein Wort ge-

sagt! Wie ich bereits erwähnte, trägt dieser Priester viel Gepäck mit sich herum – voller schmutziger Wäsche. Meine Vorgesetzten waren überhaupt nicht überrascht, dass er den Anschlag überlebt hat. Es hat sie eher überrascht, dass es ihm nicht gelungen war, mich sauber zu töten!«

»Der Priester sagte, Sie hätten ihm das Leben ge-rettet, weil er mit meinem Bruder zusammengear-beitet hat.«

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Der Fahrer nickte. »Das stimmt im Wesentli-chen, ja. Ich wusste, dass er Targenos Vorgesetzter war. Und sie haben einander immer respektiert. Und ich wusste, dass ich nicht für Carenza arbeiten konnte. Wenn der neue Papst Francesco tot sehen wollte, dann musste er eine Bedrohung für ihn darstellen und für mich ein möglicher Verbündeter sein.«

»Mein Bruder meinte immer, dass es Zeiten gä-be, in denen man an sich selbst denken müsste.«

»Ich weiß«, sagte der Fahrer. »Er war vor vielen Jahren mein Mentor. Sie sehen ihm sehr ähnlich.«

»Das hat man mir schon häufiger gesagt«, erwi-derte Gaetano, während er wieder auf den Beifah-rersitz kletterte.

»Ihr Bruder war im Geheimdienst eine Art Le-gende.«

»Das habe ich auch entdeckt. Er hat mir erst er-zählt, womit er seinen Lebensunterhalt verdient, als ich die Universität beendet hatte.«

»Waren Sie überrascht?« Gaetano grinste. »Ich dachte, er verkauft Bade-

zimmerarmaturen – was glauben Sie!« »Er war der Beste. Wenn Sie sich als nur halb so

fähig erweisen, werden Sie für uns schon ein Ge-winn sein.«

»Danke. Ich werde Sie nicht enttäuschen.« Während sie eine oder zwei Minuten lang

schweigend weiterfuhren, näherten sie sich einem klapprigen Traktor, der die einspurige Küstenstraße

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entlangkroch, als treibe sein Fahrer ihn mit Pedal-kraft einen Berg hinauf. Sein Anhänger war hoch mit landwirtschaftlichen Produkten beladen. So-bald sie einen geraden Abschnitt der Straße erreich-ten, beschleunigte der Agent und zog an dem Ge-spann vorbei, kurz darauf gelangten sie auf die un-geheuer engen und gewundenen Straßen eines kleinen Fischerdorfes. Während der Cherokee die Hauptdurchgangsstraße entlangrollte, staunte Gaetano darüber, wie nahe seine Kotflügel an Wei-dezäune, Tore und sogar die Haustürklinken von Gebäuden herankamen.

Als sie auf einen weiteren geraden Straßenab-schnitt gelangten, sagte D’Agostino: »Vielleicht wis-sen Sie, dass mittlerweile weite Teile der kirchli-chen Organisationen und Regierungsstellen dem Vatikan die Gefolgschaft versagen, aber es ist mehr als das. Niemand ist sich vollkommen sicher, was er von diesem neuen Papst halten soll. Es gibt Ar-gumente für und gegen ihn.«

Gaetano gab einen halbwegs belustigten, schnaubenden Laut von sich. »Ich weiß schon, auf welcher Seite ich stehe!«

»Bitte, Signore, ich bitte Sie nicht, eine Wahl zu treffen. Ich möchte nur, dass Sie die Ernsthaftigkeit der Lage erkennen. Einige Angehörige des Vatikans argumentieren, dass Gott Peter Carenza, angesichts der Unfehlbarkeit des Papstes, einfach nicht hätte Papst werden lassen, wenn er nicht tatsächlich auf diesem Posten sein sollte.«

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»Sie meinen«, sagte Gaetano, »dass alle Verände-rungen, zu denen Peter II. aufruft – dass sie das sind, was Gott für seine Kirche will?«

D’Agostino nickte. »Wenn man dieser Argumen-tation folgt, ja. Und vergessen Sie nicht: Wenn Sie ein strenger Dogmatiker sind, dann ist die Logik sehr mächtig. Niemand wird Papst, wenn Gott es nicht will – ist das nicht die ultimative Wahrheit?«

»Einige würden das bejahen.« »Und«, sagte der ältere Agent, »wenn das so ist,

dann sollten wir alle dem Wort des neuen Papstes folgen, ohne an Widerstand oder Ungehorsam zu denken.«

»Okay, ich verstehe.« »Andere sind der Ansicht, Peter II. sei ein fal-

scher Prophet, wie die Heilige Schrift es voraussagt, und seine Anwesenheit im Vatikan ein Gräuel. Eine Möglichkeit für Gott, die Gläubigen zu prüfen und jene zu versuchen, die sich vielleicht als nicht rechtschaffen erweisen.«

»Das scheint mir vernünftiger«, sagte Gaetano. »Und Ihnen ebenso.«

D’Agostino hob einen Zeigefinger. »Ja! Aber die wichtigere Frage ist: Was macht man daraus? Wenn Sie sich entschließen, sich gegen Ihren eingeschwo-renen Führer zu stellen – wie tun Sie das dann?«

»Vorsichtig.« »Die Parole, Anfänger!«, sagte der Fahrer. »Es

sind Zeiten wie diese, in denen man anscheinend nie weiß, wem man trauen kann.«

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Gaetano hatte über dieses Problem bereits nachgedacht, aber er wusste keine Antwort. »Wie lautet die Lösung?«, fragte er nach einer Pause.

Sie fuhren in ein weiteres Dorf hinein, nicht so klein und eng wie das erste, und D’Agostino steuer-te den Wagen gekonnt durch die Kurven, während er sprach. »Jedermann wie einen Feind zu behan-deln«, sagte er. »Vertrauen Sie niemandem. Schie-ßen Sie jeden über den Haufen, der Sie aufzuhal-ten versucht.«

»Dazu könnte es kommen.« »Ich weiß, aber inzwischen werden wir weitere

Schutzmaßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel Codewörter. Jegliche Mitteilung von einem unserer Leute wird hiermit weitergegeben …« Der Agent griff in seine Tasche und nahm eine Karteikarte hervor, auf die ein einziges Wort gekritzelt war: PESCO.

Er hatte das Wort für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihre Unterhaltung abgehört wurde, nicht ausgesprochen.

»Sehen Sie es?« »Ja, natürlich.« Der Fahrer nickte, faltete die Karte einmal und

schabte mit ihrem gefalteten Rand über die struk-turierte Oberfläche des Armaturenbretts. Die Rei-bung genügte, um das Papier kurzzeitig zu einer Kugel blauweißen Lichts aufflammen zu lassen, und dann war es fort. Weniger als Asche.

»Sie werden das Wort für Ihre verschlüsselten E-

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Mails benutzen, Ihren Telefon-Scrambler und auch für jede dringliche Nachricht, die Sie vielleicht no-tieren müssen. Sie werden es in jede Sprache über-setzen, die Sie benutzen. Wenn jemand Sie kontak-tiert oder Ihnen etwas erzählt, ohne dieses Wort in irgendeiner Form zu benutzen, müssen Sie ihn tö-ten. Wenn Sie es nicht tun, wird er höchstwahr-scheinlich Sie töten.«

Gaetano nickte. »Ich verstehe.« »Sie sehen, es reduziert sich auf das, was mit un-

seren unsterblichen Seelen geschehen wird. Jeder-mann hat die eine oder andere Seite gewählt, und sie verwetten, offen gesagt, ihr unabänderliches Schicksal auf diese Wahl.«

Gaetano lachte leise. »Für mich ist die Wahl kei-ne Wahl.«

»Für mich auch nicht«, sagte der Fahrer. »Aber viele Menschen sind schwach. Sie ziehen es vor, andere für sie wählen zu lassen. Sie möchten im Status quo verharren. Statt der warnenden Stimme ihres Gewissens zu folgen, fürchten sie sich davor, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu über-nehmen.«

»Die Geschichte der Zivilisation«, sagte Gaetano. »Die Macher und die Verweigerer. Tu es, oder man tut es dir an.«

»Das gefällt mir.« D’Agostino lachte leise. Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Nun, jetzt bekommen Sie Ihre Chance, etwas sehr Bedeuten-des zu tun.«

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Peter Carenza – Vatikanstadt 29. Oktober 2000

s sollte besser etwas Gutes sein«, sagte Peter, während er das Büro des Präfekten betrat.

»Mein Sekretär sagte mir, Sie hätten ›es‹ gefunden. Was könnte ›es‹ wohl sein?«

Pater Erasmus hatte an seinem Schreibtisch ge-sessen und im Licht einer einzelnen Lampe einige Notizen durchgesehen. Er war dünn, mit dünnen Fingern, dünnem Haar und einer dünnen Stimme. Sein Teint war blass und fleckig, und er sah norma-lerweise so aus, als fühle er sich unwohl. Heute Abend war er besonders bleich.

»Heiligkeit, bitte setzen Sie sich«, sagte er und schob den Papierstapel über den Schreibtisch. »Se-hen Sie sich das an.«

Peters Herz begann heftig zu pochen. Könnte es das sein? War es Aufregung, die ihn aufwühlte, o-der Angst? Langsam, sorgfältig las er die Notizen des Präfekten …

Und das Mysterium enthüllte sich. Sieben heilige Menschen, die auf der Welt leb-

ten – lebende Heilige? Sieben Schlüssel.

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Sieben Kirchen. Welche die Sieben Siegel enthielten. Dies war in der Tat die Zeit des Jüngsten Tages.

Eine Zeit, in der die Menschheit Gott sagen würde, ob die Welt noch weitere tausend Jahre Bestand haben oder in den ewigen Abgrund stürzen sollte. Würden die Sieben die Siegel öffnen, würde die Gnade und Macht Gottes in die Welt strömen. Würden die Siegel von Agenten der Dunkelheit geöffnet, war es eine verlorene Welt.

Agenten der Dunkelheit. Eine verlorene Welt. Diese Sätze setzten sich in seinen Gedanken fest,

und das hätte ihn beunruhigen sollen. Aber das tat es nicht.

Peter hatte interessanterweise aufgehört, sich zu fragen, welche Seite er bei der bevorstehenden Konfrontation repräsentierte. Was mit ihm ge-schah, hatte das übel riechende Gepräge der Un-ausweichlichkeit. Er empfand ein Gefühl der Re-signation, so wie als Kind, wenn er von dem offen-sichtlichen Verliererteam ausgewählt worden war.

Selbst wenn er der für ihn angelegten Gussform entkommen wollte – er wusste, dass er es nicht konnte. Etwas hatte ihn verlassen, etwas Elementa-res.

Peter hatte seinen kosmischen Sinn für Gott ver-loren.

Er hatte seine Fähigkeit zu beten verloren. Was hatte das alles zu bedeuten? Wo führte es

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ihn hin, und was würde letztendlich mit ihm ge-schehen?

Es war eine Frage ohne Antwort. Ein Geheimnis des Antiglaubens, um ein Schlagwort zu prägen. Während er die Notizen weiter durchsah und er-neut las, für den Fall, dass er etwas übersehen hat-te, verspürte er im Zentrum seiner Gedanken eine schreckliche Spannung – ein allgemeines Gefühl der Melancholie, das gegen ein dumpfes Gefühl der Dringlichkeit mahlte.

Voran. Mach weiter. Du kannst keine andere Richtung einschlagen. Nichts sonst ist zu tun.

Peter schaute zu dem Präfekten hoch, dessen Gesicht den Ausdruck völligen Begreifens ange-nommen hatte, das an Entsetzen grenzte, und sag-te: »Was sind diese Kirchen, und wo befinden sie sich?«

Erasmus bemühte sich zu lächeln, was aber misslang. »Wie bei vielem im letzten Buch des hei-ligen Johannes ist manches metaphorisch. Man kam allgemein überein, dass die Kirchen Orte sind, eher Plätze als Gebäude.«

»Ja, davon habe ich gehört.« Erasmus bot die sorgfältige Andeutung eines Lä-

chelns dar, eine leichte Wölbung seiner Mundwin-kel. Er reichte Peter ein weiteres Blatt Papier.

Stonehenge Lhasa Jerusalem Delphi

Tiahuanaco Glastonbury Mekka

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Die Namen hallten in ihm wider, als sei in einer anderen Dimension eine Stimmgabel angeschlagen worden. Uralte Orte mit mystischer Bedeutung und anscheinend auch einiger Macht. Er schaute zu Pa-ter Erasmus zurück, der bereit schien, im Hand-umdrehen einen zufriedenen Ausdruck von seinem Gesicht zu wischen.

»Das ist ein guter Anfang, aber wir werden noch viel mehr brauchen«, sagte Peter.

»Natürlich, Pontifex!«, sagte Erasmus, ein wenig zu rasch. »Sagen Sie mir nur, was Sie wünschen.«

Peter beugte sich vor und deutete auf die Liste der Namen. »Kommen Sie schon, Pater, benutzen Sie Ihren Kopf. Diese Orte – die meisten davon sind große Orte voller Stellen, an denen sich die Sieben Siegel befinden könnten.«

»Das stimmt.« »Was kommt also als Nächstes? Wie schränken

wir unsere Suche ein?« Erasmus machte sich rasch Notizen. »Ich werde

unsere Leute so bald wie möglich darauf ansetzen! Die Antworten liegen hier, dessen bin ich mir si-cher.«

»Und noch etwas kommt mir in den Sinn«, sag-te Peter, der seine Stimme ebenso für sich wie für den Präfekten erhob. »Wie viel Zeit haben wir? Ge-gen welche Art Frist treten wir an? Haben Sie eine Ahnung?«

»Nun, im Moment nicht, aber …« »Schlechte Antwort«, sagte Peter. »Sie haben ge-

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rade mal an der Oberfläche gekratzt. Noch viel mehr hängt damit zusammen, und ich werde alles wissen müssen.«

»Natürlich«, sagte Erasmus, dessen Stimme so leise klang, dass sie kaum hörbar war.

»Haben Sie noch etwas?« Über das Gesicht des Präfekten zuckte einen

winzig kleinen Augenblick ein Hast-du-nicht-genug-gesehen?-Ausdruck, bevor es leer und müde wurde. »Nun, nein, im Moment nicht, aber ich werde meine Leute rund um die Uhr daran arbeiten las-sen.«

»Können Sie noch mehr Leute darauf ansetzen? Irgendjemanden im Seminar, der gerade nichts zu tun hat?«

»Ich kann mich umhören. Gewiss können wir zusätzliche Leute finden.«

»Gut«, sagte Peter, während er sich erhob und zur Tür des kleinen Büros ging. »Tun Sie es, und rufen Sie mich an, sobald Sie mehr haben.«

Mehrere Stunden später wurde er von einem leisen Klopfen an seiner Schlafzimmertür geweckt. Sein Kopf pochte, sein Mund war trocken. Jeder Muskel in seinem Körper schrie lautlos nach mehr Schlaf.

Wie spät war es? Und wer zum Teufel klopfte an die Tür? Er hatte

gestern Abend, als er aus den Archiven zurückkam, alle fortgeschickt.

Als sich seine Augen an das schwache Dämmer-

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licht gewöhnt hatten, das durch die Fensterläden drang, konnte er erkennen, dass das Zifferblatt sei-ner Rolex seiner spottete. Nicht genug Schlaf. Nicht einmal annähernd.

Klopf-klopf … »Ja!«, rief er, ausreichend scharf, dass derjenige,

wer auch immer es war, wusste, dass Peter nicht erfreut war. »Wer ist da? Was wollen Sie?«

»Exzellenz«, erklang eine gedämpfte Stimme. Vertraut. Ehrerbietig. Pater Strenmann. Peter mochte ihn absolut nicht. Der Mann war eine kleine Ratte von Priester aus Zürich, der die päpst-liche Anstellung nur bekommen hatte, weil sein Bruder in der Schweizergarde Dienst tat. Er war ein solch widerwärtiger Speichellecker, dass es schwer war, seine Gegenwart zu ertragen. Peter war jedoch zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt, um ihn zu entlassen und über einen Ersatz nachzu-denken.

»Ja, Pater, kommen Sie rein.« Die Tür öffnete sich, und der kleine Mann trat

mit einigen Papieren ein. »Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe, aber dies könnte wichtig sein.«

»Was ist es?« »Es ist von Erasmus.« Peters Aufmerksamkeit

nahm schlagartig zu. Strenmann reichte ihm ein Bündel ausgedruckter Webseiten, Kopien von Zei-tungsseiten und -ausschnitten. Als Peter zu lesen begann, bemerkte er, dass Pater Strenmann noch immer dastand. »Gibt es noch etwas?«

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»Vielleicht. Der Präfekt hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass zwei Mitarbeiter diesen Ge-schichten nachgehen.«

»Okay, großartig. Warum lassen Sie mich dieses Zeug nicht lesen, während Sie in die Archive zu-rückgehen und warten.«

»Warten?« »Ja. Dort warten, bis Sie mir mehr zu zeigen ha-

ben.« Pater Strenmann schien überrascht, fortgeschickt

zu werden, aber er schwieg, während er sich um-wandte und den Raum verließ.

Als Peter wieder allein war, sprang er vom Bett, trat zu seinem flugzeugträgergroßen Schreibtisch und schaltete eine Bankerlampe ein. Die erste Nachricht war fesselnd. Es war der Bericht über eine erstaunliche Rettung bei einer neuen Brücke über den Río de la Plata. Im Verlauf eines seltsa-men Unfalls war ein Auto von der Brücke in das eiskalte Wasser gestürzt, aber ein Ingenieur namens Carlos Accardi, einer der Erbauer der Brücke, war in die Tiefe gesprungen und hatte die Insassen aus dem sinkenden Wagen gerettet.

Peter beendete die Lektüre des übersetzten Arti-kels aus der argentinischen Zeitung El Clarín. Was konnte das mit dem zu tun haben, was er wissen musste?

Er war müde und verärgert, aber er las weiter, trotz des blumigen Stils des Artikels:

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Carlos Accardi gab, nachdem er im Hospital Pi-rovano untersucht und wieder entlassen worden war, eine Pressekonferenz, auf der er die ganze Geschichte hinter seiner gewagten Rettung ent-hüllte.

»Ich hatte eine Vision«, sagte der kühne junge Ingenieur. »Während ich beobachtete, wie der kleine weiße Wagen platschend ins Wasser ein-tauchte, erschien mir eine Frau!«

Kollegen, die mit Accardi auf der Brücke ar-beiteten, bestätigten, dass er erschüttert schien und sich »anders verhielt als sonst«, sagte Span-nungstechniker Omar Duarte, der bei Accardi war, als sich das Geschehen ereignete.

»Sie trug lange, fließende Gewänder«, fuhr Accardi fort, »und ich dachte zuerst, es wäre die Jungfrau Maria. Sie sah auf den ersten Blick aus wie die Bilder von Leuten in der Bibel.«

Als er gebeten wurde, deutlicher zu erklären, was er gesehen hatte, erklärte Señor Accardi: »Sie sprach in meinen Gedanken zu mir. Sie kannte meinen Namen. Sie trug braune und loh-farbene Kleidung. Je länger ich sie ansah, desto deutlicher erkannte ich, dass sie wie … wie eine Schwester in den Schulen gekleidet war – wie ei-ne Nonne.«

Als man ihn fragte, warum ihm eine Nonne erscheinen sollte, behauptete Señor Accardi, er habe keine Ahnung.

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Peter legte den Ausdruck hin und massierte seine Schläfen. Er wusste nicht, wie die Seminaristen oder die Archivare diesen Artikel gefunden hatten, aber er erschütterte ihn noch grundlegender als das ganze Durcheinander mit Marion und der Hoch-zeit.

Die Anspannung in seinem Magen sagte ihm, dass dieser Ingenieur seine Mutter, Etienne, gese-hen hatte.

Welchen Mächten stand er gegenüber? Das Gefühl der Unausweichlichkeit und der feh-

lenden Wahlmöglichkeiten durchströmte ihn wie-der wie ein frostiger Bote bevorstehenden Todes, und er tat erneut sein Bestes, es zu ignorieren. Was konnte er sonst tun?

Mit nun weitaus größerem Interesse las er einige der anderen Zeitungsartikel.

Da waren mehrere Fortsetzungsartikel, von de-nen einige Einzelheiten aus dem Leben der Men-schen beleuchteten, die der Ingenieur gerettet hat-te, einschließlich kurzer, zusätzlicher Kommentare von Carlos Accardi. Der neueste, mit dem Datum von gestern, trug die Überschrift »Held des Brü-ckenunfalls auf göttlicher Mission«:

Buenos Aires (Knight-Ridder) Die seltsame und heroische Geschichte von Carlos Accardi, dem In-genieur, der von der Brücke sprang, um drei Menschen zu retten, wurde heute fortgeführt, als bekannt wurde, dass Accardi um Urlaub von sei-

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nem renommierten Posten bei Omar-Chela Steel and Construction gebeten hatte. Auf diese Bitte angesprochen, verkündete Señor Accardi mit of-fensichtlich religiöser Inbrunst, er sei von Gott auserwählt worden, sich auf eine besondere Reise zu den Ruinen der uralten Stadt Tiahuanaco zu begeben.

Diese archäologische Stätte liegt in den Dschungeln Boliviens, und man glaubt, es sei die heilige Stadt einer untergegangenen Kultur gewe-sen, die später die Inkas hervorgebracht hat.

»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen«, sagte Señor Accardi, der in seinem Land den Status ei-nes großen Helden erreicht hat, »hatte ich eine weitere Vision von der Nonne, die ich die ›Traumlady‹ nenne, denn wenn sie mir erscheint, habe ich das Gefühl zu träumen – obwohl ich weiß, dass ich wach bin.«

Accardi behauptete, letzte Nacht eine Bot-schaft von der mysteriösen Nonne empfangen und erkannt zu haben, dass er aufgrund ihrer Worte sofort handeln müsse.

Der Artikel fuhr damit fort, Accardis Charakter und Ruf als rechtschaffener, angesehener und sogar, laut den Berichten einiger Freunde, frommer Mann zu untermauern.

Letzteres Adjektiv stimmte eine klingende Saite in Peter an, und er erkannte, dass ihm einer der Teilnehmer des Finales in diesem sich verdreht

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entwickelnden apokalyptischen Drama zugespielt worden war.

Die Sieben. Dieser Mann war eindeutig einer davon. Und

noch eindeutiger müsste er aufgehalten werden. Der größere Zusammenhang machte es erforder-

lich, dass sie alle aufgehalten wurden, und das so bald wie möglich. Peter würde sich mit Molinaro vom SSV beraten, der ihm entweder loyal ergeben oder zu verängstigt war, um gegen Peters Willen zu handeln. Sie würden irgendwie jeden überprüfen müssen, der zu irgendeiner der sieben »Kirchen« gelangte. Einige Standorte wären weitaus leichter unter Kontrolle zu bringen als andere, aber das war Molinaros Problem.

Und Marion musste gefunden werden. Sie hatte eine Verabredung am Altar, und sie würde sie ein-halten, selbst wenn sie zu spät käme. Jedes Mal, wenn er über die Verwirrung und Unterbrechung seiner Pläne nachdachte, die ihre Flucht verursacht hatte, spürte Peter, dass er die Kontrolle verlor. Und das durfte nicht geschehen – er brauchte die vollständige Kontrolle über alles. Angefangen bei den Medien und den Politikern des Heiligen Stuhls. Er würde ihnen sagen, dass die Hochzeit verschoben würde, weil … Marion Windsor gekid-nappt worden sei. Er musste nur einige vage De-tails einstreuen, und die Presse würde den Rest er-ledigen.

Peter machte sich auf einem Block einige rasche

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Notizen, und ihm wurde klar, dass er Pater Stren-mann kurz über alles informieren musste.

Zu schade, dass niemand da war, der ihm helfen konnte, dachte er. Jemand, der immer da wäre, an seiner Seite, und darauf wartete, einen Befehl aus-zuführen, allen Problemen zuzuhören, Trost zu bieten oder Rat.

Eine Zeit lang hatte er Daniel Ellington gehabt, aber etwas war ihm widerfahren. Ja. Peter war ihm widerfahren.

Und dann hatte Marion diese Rolle recht gut ausgefüllt, aber auch dieser Beziehung war etwas widerfahren.

Peter lehnte sich in seinem Sessel zurück, wäh-rend er erkannte, dass er immer tiefer in den Bereich weinerlicher Gefühlsduselei versank. Es beunruhigte ihn, dass sein Geist so schwach war – ein menschli-cher Zug, auf den er gut verzichten konnte.

Vergiss es. Mach dich wieder an die Arbeit. Der zweite Stapel Ausdrucke erzählte eine der

ersten ähnliche Geschichte – ein weiterer anschei-nend unauffälliger Mensch, der in ein außerge-wöhnliches Ereignis verwickelt war. Peter las rasch die Meldungen über Charlie Green, einen pensio-nierten Long-Island-Cop und Teilzeit-Federal-Express-Kurier, der das Leben eines in einen verlas-senen Brunnen gestürzten Ranchers in Arizona ge-rettet hatte. Mr Green war anscheinend telepathisch mit dem Mann verbunden gewesen und hatte auf diese Weise Botschaften von ihm empfangen.

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Es war erneut eine Fortsetzungsgeschichte, die Peter zutiefst faszinierte.

Lebanon, N. H. (aus der Valley News) Lokalbe-rühmtheit und »übersinnlicher Held« Charles Green aus Canaan, New Hampshire, hat die Quelle seiner kürzlichen sensationellen Erfahrung einem Boten Gottes zugeschrieben – einer Frau, die ihm in der Tracht einer Klosternonne in sei-nen Träumen erschien. In der Nacht, nachdem er das Leben des Ranchers Scott Raney aus Arizona rettete, indem er telepathische Botschaften von Mr Raney empfing, während dieser verletzt am Grunde eines Brunnens lag, berichtete Mr Green seiner Familie und seinen Freunden, er sähe eine »Lady im Licht, die vor mir schwebt und mir sagt, Gott habe mich geprüft und nun eine noch wichtigere Aufgabe für mich«.

Mr Green, Mitglied der Mormonenkirche, ist mit solcherlei Dingen vertraut. »Jedermann in unserer Kirche muss sich auf eine Mission bege-ben, sodass dies nicht neu für mich sein wird«, sagte der Lokalheld.

Obwohl Mr Green keine Einzelheiten seiner spirituellen Begegnung preisgab, erfuhr man von dritter Seite, dass er bei seinen Arbeitgebern um Urlaub gebeten hat. Andere Quellen deuten an, er würde vielleicht nach Glastonbury, England, reisen.

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Warum Glastonbury?, fragte Peter sich. Warum liegt eine der Sieben Kirchen des heiligen Johannes an einem solch entlegenen Ort?

Er dachte über das Zitat aus dem Artikel über Charles Green nach, dass Gott den Mann einer Prüfung unterzogen habe.

Etwas am Gott des Alten Testaments hatte Peter schon immer beunruhigt – während seiner An-fangszeit in der Konfessionsschule, während des Seminars und darüber hinaus – und zwar diese Neigung Jehovas, Spielchen mit Menschen zu spie-len. Hiob, ich werde dich zum elendsten Hurensohn der Welt machen. Ich werde dir alles nehmen, was dir jemals etwas bedeutet hat, und ich werde dir einen Wutanfall von Weltklasse verschaffen. Ich tue das nicht, weil du ein Bastard bist, sondern weil du tatsäch-lich einer der Guten bist und ich einfach Lust hatte, dich auszuwählen, um zu sehen, wie viel Mist du er-trägst, bevor du mich denunzierst. Also, was hältst du davon? Oder wie wäre es mit Abraham? Hör zu, Abe, ich habe eine kleine Aufgabe für dich, also leg dieses Lamm ab, das du gerade auf den Hügel bringen und für mich enthaupten und verbrennen wolltest. Ich will, dass du stattdessen deinen Sohn Isaak dort hin-aufbringst und ein großes Messer in sein Herz rammst. Richtig, ich will, dass du deinen Sohn tötest, für mich, okay? Oh, du wirst es tun!? Gut, halt ein! Nein, tu es nicht. Es war nur Spaß! Und dann sind da Lot und seine Frau … Die Liste schien recht lang zu sein. Menschen, normalerweise gute und nützliche Leu-

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te, die von einem Gott hereingelegt und herumge-schubst wurden, der entweder sehr gelangweilt o-der sehr boshaft oder mehr als nur ein wenig unsi-cher zu sein schien.

Sehr ulkige Angelegenheit, das Alte Testament. Peter lächelte, während er die Artikel auf seinem

Schreibtisch ablegte. Er musste heute eine Menge Aufgaben koordinieren, und es wäre hilfreich, wenn er früh damit anfinge. Als er nach dem Tele-fon griff, erkannte er etwas, was ›Die Spiele, die Jehova spielte‹ vielleicht erklären könnte – dieses Gottesgeschäft ist ein einsames.

Und niemand muss dich mögen.

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TEIL VIER

… Staunen werden die Bewohner der Erde, deren Na-men seit der Erschaffung der Welt nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind. Sie werden bei dem Anblick des Tieres staunen; denn es war einmal und ist jetzt nicht, wird aber wieder da sein.

Offenbarung des Johannes, Kapitel 17, Vers 8

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Marion Windsor – Nairobi 30. Oktober 2000

ohin also jetzt?«, fragte Kardinal Lareggia, der schwerfällig hinter den beiden Frauen

herstapfte. Sie gingen langsam zum Helikopter zu-rück, benommen von dem, was sie erlebt hatten.

Marion hatte die Frage des Kardinals gehört, aber sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, und war auch zu erschöpft, um überhaupt zu versuchen, eine Antwort zu formulieren. Sie fühlte sich geistig ausgelaugt, so voller Ehrfurcht war sie vor dem, was sie gesehen und empfun-den hatte. Zu denken erschien ihr wie ein Af-front gegenüber der Macht und dem Ruhm der Gegenwart Gottes, und sie verstand, wie Men-schen für immer durch das verändert wurden, was der Philosoph und Psychologe William Ja-mes die »Tiefgründigkeit religiöser Erfahrung« genannt hatte.

Als sie den Helikopter erreichten, half Fabrizzi ihnen schweigend, wieder einzusteigen, so als dränge er sie in einen Kirchensitz. Sogar der unbe-kümmerte Pilot war von dem ergriffen, was er ge-sehen hatte. Obwohl nicht direkt in das Ereignis

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involviert, erkannte er, dass er Zeuge von etwas Außergewöhnlichem geworden war.

Als Lareggia eingestiegen war, sagte Fabrizzi zö-gernd: »Verzeihen Sie, aber wir können nicht ewig hierbleiben …«

»Das wissen wir.« Marion wandte sich zu Eti-enne um, die sich auf ihrem Sitz zurückgelehnt hatte und sehr nachdenklich wirkte, und sagte: »Wir müssen diesen Ort verlassen, Etienne. Wohin gehen wir?«

Die Frage schien die kleine Nonne zu überra-schen. Sie antwortete in einem Tonfall, der deut-lich machte, dass die Antwort äußerst offensicht-lich sei. »Wir müssen jetzt auf sie warten«, sagte sie.

»Wo werden wir warten?«, fragte Lareggia. »In Gizeh.« »Gizeh?«, fragte Marion. »In Ägypten?« »Ja«, sagte Etienne, schloss die Augen und

sprach langsam, als rezitiere sie einen wohlbekann-ten Satz: »Sie werden sich bei der Cheops-Pyramide versammeln, beim Licht des Vollmonds.«

Einen Moment sagte niemand etwas, dann grinste Fabrizzi. »In Ordnung, meine Freunde, zu-mindest liegt das auf meinem Heimweg. Machen wir es uns doch alle bequem, während ich uns in die Luft bringe und in einen Flugplan einzuloggen versuche.«

Der Pilot wandte sich um, überprüfte die In-strumente und startete den Motor. Marion schnall-te sich an, und die anderen taten es ihr gleich. Der

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Hubschrauber stieg fast augenblicklich in einem seltsamen Winkel auf und nahm Kurs nach Nor-den.

Niemand sagte etwas. Marion dachte über das nach, was während der letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war und wie es ihr Leben er-neut verändert hatte. Sie schloss die Augen und ließ sich von der schaukelnden Vibration des Luft-fahrzeugs in einen halluzinatorischen Schlaf wie-gen und schwebte zu der Zeit zurück, als sie ihr Zuhause verlassen hatte. Oft hatte sie sich gefragt, was ihr Vater wohl gedacht haben mochte, wenn er sie in den lokalen Abendnachrichten und den lan-desweit ausgestrahlten Satelliten-Programmen sah. Wie hätte er diese letzte, voreilige Berichterstattung aufgenommen, bei der sie als alles Mögliche darge-stellt wurde, von der nächsten Heiligen bis zur Hu-re von Babel?

Sie hatte Situationen stets gut einschätzen und rasch danach handeln können. Darum war sie die erste Reporterin gewesen, die gespürt hatte, dass die Geschichte von Peter Carenza etwas ganz Be-sonderes, ein Karrieresprungbrett sein könnte.

Der Gedanke durchzuckte ihr Herz wie ein scharfer Schmerz. Oh, wie sie ihn geliebt hatte …

Und seine Gefühle für sie waren gleichermaßen aufrichtig gewesen. Aber seit jener unschuldigen Zeit waren so viele Dinge geschehen.

Nun wurde sie aus verschiedenen Gründen von mehreren Geheimdiensten gejagt – Peters Streit-

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kräfte aus dem Vatikan waren zweifellos auf der Suche nach ihr, und sie war sich sicher, dass dem Rest der Welt erzählt worden war, sie sei gekid-nappt worden. Zumindest stellte sie sich vor, dass Peter so verfahren würde.

Ihre Fantasie eilte dem Helikopter weit voraus und versuchte sich vorzustellen, was sie erwartete. Wenn Peter nicht aus blindem Zorn ihre Exekution befohlen hatte, war sie wahrscheinlich relativ si-cher. Nicht dass ihr eigenes Schicksal sie noch kümmerte. Sie wusste jetzt, dass sie aus einem un-erfindlichen Grund von Gott auserwählt worden war, Teil dieses großen Planes zu sein, und dass sie, wie auch die anderen, geprüft wurde. Sie fürchtete diese Prüfung nicht, weil sie glaubte, dass ihre Mo-tive rein waren.

Wegen der anderen hatte sie nicht die geringsten Zweifel. Aber sie fragte sich, was Peter tun würde, wenn er erfuhr, dass seine eigene Mutter an seinem Niedergang arbeitete. Welch eine verdrehte Situati-on.

Schließlich ließ sie die Frage in ihrem Unterbe-wusstsein Form annehmen. Warum Gizeh? Und was würde sie dort erwarten?

Und noch wichtiger: Wann war Vollmond?

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Peter Carenza – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

etzen Sie noch mehr Leute ein«, sagte er ruhig ins Telefon. »Es kümmert mich nicht, woher Sie

sie nehmen – das sagte ich Ihnen bereits. Besorgen Sie sie einfach. Ich brauche Antworten.«

Peter legte den Hörer auf und rieb sich die Au-gen. Er brauchte mehr Schlaf, aber er würde ihn nicht bekommen, da er nicht schlafen konnte, so einfach war das. Noch immer kein Wort über Ma-rions Aufenthaltsort oder den seiner Mutter – das beunruhigte ihn. Der SSV war einer der besten Ge-heimdienste der Welt – hauptsächlich weil er über mehrere Doppelagenten verfügte, die auch bei den Geheimdiensten anderer Staaten arbeiteten. Die Geheimagenten des Vatikans waren besser als gut, und doch war Molinaro nicht in der Lage gewesen, auch nur mit der kleinsten Information aufzuwar-ten. Kein einziger Hinweis.

Peter kaufte ihm das nicht ab. Er vermutete schon lange, dass sich die ent-

scheidenden Teile des SSV und die Schweizergarde gegen ihn verschworen hatten. Tatsächlich hatte er es erwartet. Loyale Anhänger und Reaktionäre wa-

S

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ren nichts Ungewöhnliches. Peter würde seine Zeit nicht mit dem Versuch verschwenden, jegliche Re-bellion zu unterbinden. Nein, sein größeres Prob-lem war die Schaffung eines ausreichend starken Netzwerks aus Gegenintrigen, das den inneren Kreis der Verschwörer durchdringen konnte. Eine Organisation auf die Beine zu stellen, die vertrau-enswürdig und angemessen ausgestattet war, brauchte mehr Zeit, als Peter zur Verfügung hatte. Das Projekt war kaum mehr als eine geistige Notiz gewesen – und doch eine Aufgabe mehr für ihn. An diesem Punkt hatte er kaum eine andere Wahl, als sich auf seine manchmal unzuverlässige Fähig-keit zu verlassen, schwächere Geister zu beeinflus-sen.

In diesem Moment wurde offensichtlich, dass Peter vielleicht nicht imstande wäre, alles allein zu bewältigen. Was bedeutet das?, fragte er sich. Was sagte er hier wirklich? Welche Art Hilfe meinte er?

Und von wem? Peter stieß sich vom Schreibtisch ab und stand

auf. Dieser letzte Gedanke hatte den Panzer seiner Zuversicht durchdrungen, und ihm war plötzlich schwindelig.

Er trat zum Fenster und schaute über die Stadt Rom jenseits des Flusses hinweg. Inzwischen waren die wegen der Verschiebung der päpstlichen Hoch-zeit ergangenen Presseverlautbarungen bis zu den Massen und den Händlern durchgedrungen, die ihren ganz persönlichen Vorteil aus den gewaltigen

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Menschenmengen und den großen Versammlun-gen der Medien, Skeptiker und Eiferer ziehen woll-ten. Die Nachricht, dass Marion als auf mysteriöse Weise »vermisst« galt, würde im Moment für sie alle genügen müssen. Peter hatte verkündet, dass es bis auf Weiteres, oder bis Marions Aufenthaltsort bekannt würde, keine päpstlichen Interviews oder Audienzen mehr gäbe.

Was die Boulevardpresse natürlich nicht davon abhielt, in hektische Betriebsamkeit zu verfallen: Marions Verschwinden war bereits einer Entfüh-rung durch Außerirdische oder durch Racheengel zugeschrieben worden, sie sollte vom Erdboden verschluckt, in den Himmel aufgestiegen oder von Kidnappern weggeschafft worden sein oder hatte sogar Selbstmord begangen. Die konventionellen Medien hatten die Angelegenheit kaum anständi-ger behandelt. Ihr »Trick« bestand üblicherweise darin, einen »Experten« einzuschalten, der Spekula-tionen über den Grund für Marions Verschwinden anstellte. Die ernsteren Vermutungen konzentrier-ten sich auf ihr Unbehagen darüber, tatsächlich die Frau des Papstes zu werden, und darauf, dass sie das Gewicht der auf sie gerichteten Aufmerksam-keit der Welt nicht ertragen zu können beschloss.

Während Peter sich auf Marions Schicksal kon-zentrierte, verging sein Schwindelgefühl, aber er wusste, was es verursacht hatte. Allein der Gedan-ke, Hilfe zu erbitten von …

Nein. Er mochte nicht einmal daran denken.

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Weil er schon einmal zuvor an einem solch ge-wichtigen Treffen teilgenommen hatte – passen-derweise in der Wüste. In Arizona. In der Nacht, in der Daniel Ellington gestorben war.

Ein Donnergrollen zog über die Stadt hinweg, und das Gebäude vibrierte leicht. Das Sonnenlicht, das die unzähligen Terrakottadächer rötlich leuch-ten ließ, wurde kurzzeitig gedämpft, als sei eine große, bedrohliche Wolke über den Himmel gezo-gen.

Aber es war keine Wolke am Himmel. Der Halb-schatten musste in seinem Herzen gewesen sein.

Oder schlimmer noch … in seiner Seele.

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Gaetano – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

r schaute zu dem imposanten Bauwerk empor und nickte. Das Seminar der Gesellschaft Jesu

des heiligen Ignatius war eine großartige Ansamm-lung von Gebäuden, in denen sich die Besten und Klügsten vor der Welt verschanzt hatten. Und ge-mäß den Wünschen ihres Begründers, Ignatius von Loyola, bestand ihre Bewaffnung aus einem fein geschliffenen Intellekt. Jeder innerhalb dieser Mau-ern ordinierte Priester kam mit einem Doktortitel und auch einem Priesterkragen wieder heraus. Die Studienfächer reichten von Theologie und verglei-chenden Religionswissenschaften bis zu Teilchen-physik, Anthropologie, Biologie und Gentechnik, Mathematiktheorie, Geschichte etc. Gaetano emp-fand großen Respekt vor den Jesuiten und fühlte sich geehrt, dass sie ihn für klug genug erachteten, einer der ihren zu werden.

»Willkommen in Ihrem neuen Zuhause«, sagte D’Agostino neben ihm, während sie vor einer bronzeverzierten Doppeltür standen. Er fügte leise lachend hinzu: »Zumindest während der nächsten wenigen Stunden.«

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Gaetano schwieg, als die Türen langsam nach innen schwangen, sich immer weiter öffneten, bis er einen jungen Mann in einer schwarzen Soutane sah. »Guten Morgen, meine Brüder in Christus!«, sagte der Seminarist strahlend. »Kann ich Ihnen helfen?«

Er erkannte sie offensichtlich beide nicht und hatte keine Ahnung, warum sie hier vor dem Tor standen.

»Wir sind gekommen, um Pater Grizaffi zu spre-chen«, sagte D’Agostino.

»Tatsächlich?«, fragte der Pförtner, überrascht, dass zwei wie Wildhüter gekleidete Männer mög-licherweise eine Verabredung mit dem Rektor ha-ben könnten.

D’Agostino nickte, schwieg aber und trat in die Eingangshalle. Gaetano folgte ihm mit der großen Sporttasche, in der er die Ausrüstung untergebracht hatte, die er zum Überleben oder Töten benötigen würde. Außerdem hatte er einen Rucksack mit einem Minimum an Toilettenartikeln und Kleidung bei sich.

»Bitte warten Sie hier«, sagte der Priester. »Ich werde so bald wie möglich wieder bei Ihnen sein.«

Gaetano schaute dem Mann nach, als er durch eine zweite Doppeltür ging, die schlichter war als die erste, und sah dann D’Agostino an. »Sind Sie sicher, dass es keine Schwierigkeiten gibt?«

»Vertrauen Sie mir«, sagte sein Vorgesetzter. »Das ist mein Problem«, erwiderte Gaetano. »Ich

habe keine Wahl. Ich muss Ihnen vertrauen.«

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Sie standen keine sechzig Sekunden schweigend in der Eingangshalle, als der Priester zurückkehrte. Seine Miene war unergründlich, aber seine Körper-sprache – etwas, worin Gaetano kürzlich geschult worden war – offenbarte eine Ehrerbietung und einen Respekt, die er zuvor nicht an den Tag gelegt hatte. »Der Rektor möchte Sie sofort sehen«, sagte er. »Hier entlang …«

Gaetano nahm seine Tasche auf und folgte sei-nem Vorgesetzten und dem Priester durch eine ge-täfelte Eingangshalle, die an einer breiten, glän-zend grünen Marmortreppe endete. Es roch nach geöltem und poliertem Hartholz, nach Weihrauch und brennenden Kerzen. Trotz der Höhlenhaf-tigkeit der Räume mit ihren hohen Decken wirkte das Seminar warm und einladend. Mehrere Ver-bindungsgänge im zweiten Stock führten sie schließlich zu einem Vorraum, in dem ein älterer Priester mit einer von grauen Haaren umkränzten Tonsur die Besucher des Rektorats in Empfang nahm. Er sah sie kaum an, als Gaetano und die anderen eintraten, sondern sprang nur flink auf und eilte zur Tür eines Büros. Er öffnete sie, trat ein, kündigte den Besuch an und drängte sie dann in den großen Raum, der von Bücherregalen und einem Einbauschrank gesäumt war.

Als Gaetano das Büro betrat, spürte er, wie seine Schuhe in einen dicken Orientteppich einsanken. Sonnenlicht strömte wie Strahlen von Gottes Gna-de durch die Bleiglasfenster hinter dem großen

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hölzernen Schreibtisch, an dem ein Mann saß, der vor den gleißend hellen Fenstern kaum zu sehen war. Seine Stimme, sanft, aber von einer Festigkeit geprägt, die von der jahrelangen Annehmlichkeit herrührt, Befehle zu erteilen, erfüllte den Raum. »Kommen Sie herein, meine Herren. Ich habe Sie erwartet.«

Gaetano folgte D’Agostino zum Rand des Schreibtischs, während der Priester vom Empfang den Raum wieder verließ und die Tür hinter sich schloss. Der Rektor erhob sich, und schließlich konnte Gaetano ihn deutlicher sehen: ein kleiner gedrungener Mann mit tief gefurchtem Gesicht und lockigem Haar, das nicht grau werden woll-te. Er hatte große Zähne, die beim Lächeln auffie-len, und eine Hornbrille mit dicken Gläsern, die das lebendige Funkeln seiner Augen nicht bre-chen konnten. Obwohl wahrscheinlich bereits Ende sechzig, schien er sehr muskulös zu sein und ähnelte eher einem knallharten Basketball-Coach als dem Rektor eines vatikanischen Semi-nars.

»Hallo, Pater Grizaffi, ich bin D’Agostino von den Malteserrittern.« Die Männer schüttelten sich die Hände. »Und dies ist unser neuester Seminarist, Gaetano.«

Der Rektor lachte leise. »Bitte, setzen Sie sich, Sie beide! Es ist gut, Sie zu sehen. Ausgezeichnet.«

Gaetano ließ sich auf einem Stuhl nieder, den er nahe an den Schreibtisch zog.

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»Sie wurden von Sforza instruiert«, stellte D’Agostino fest.

Pater Grizaffi nickte. »Sie haben keine Ahnung, wie froh ich war, von meinem alten Freund zu hö-ren. Soweit ich weiß, ist Giovanni wieder aufge-taucht, und es geht ihm gut.«

D’Agostino lächelte. »Er wird uns alle überle-ben.«

Grizaffi wandte sich an Gaetano. »Nun, junger Mann, Sie scheinen genau das zu sein, was wir hier brauchen. Wie alt sind Sie?«

»Sechsunddreißig.« »Das beste Alter der Welt!«, sagte der Rektor mit

gewinnendem Lächeln. »Nun, Ihre wichtigste Auf-gabe wird es sein, dafür zu sorgen, dass Sie sie-benunddreißig werden. Ich nehme an, Sie wissen, was Ihre zweitwichtigste Aufgabe ist.«

»Ja, Pater. Aber ich muss nahe genug an ihn her-ankommen.«

Grizaffi hob die Hände wie ein Verkehrspolizist. »Und das werden Sie. Aber haben Sie etwas Geduld mit einem alten Bastard wie mir. Ich will ihn eben-so sehr tot sehen wie Sie, glauben Sie mir.«

Gaetano lächelte. Er mochte den Rektor auf An-hieb. »Sehr gut, Pater. Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.«

Grizaffi seufzte und schlug leicht die Hände zu-sammen. »Sie wissen es vielleicht nicht, aber der ›Papst‹ ist derzeit mit irgendeiner hektischen Nach-forschung in den Geheimarchiven beschäftigt.«

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»Welche Art Nachforschung?«, fragte Gaetano. »Ich habe die Einzelheiten gleich hier«, antwor-

tete der Rektor und deutete auf eine Akte auf sei-nem Schreibtisch. »Sie können sie später lesen. Wichtiger ist, dass er ein Heer von Helfern heran-gezogen hat, um zu finden, wonach er sucht. Er hat alle Seminare in Rom geplündert.«

»Und er braucht noch weitere Helfer?« »Er braucht sie, ja.« Grizaffi lächelte. »Sie wer-

den sich heute Nachmittag beim Präfekten der Ar-chive, Pater Erasmus, melden.«

»Weiß er, wer ich bin?« Der Rektor winkte ab. »Gaetano, bitte, nie-

mand weiß etwas! Niemand außerhalb dieses Raumes.«

»Wie nahe werde ich an ihn herankommen?« D’Agostino berührte ihn an der Schulter. »Da

kommt Ihre Ausbildung zum Zuge. Sie werden die Situation abschätzen und entsprechend han-deln.«

»Ja, natürlich. Das weiß ich«, sagte Gaetano. »Tut mir leid, wenn ich ungeduldig klinge, aber dieser Moment ist für mich der Höhepunkt einer langen Reise.«

Grizaffi nickte. »Verstehe. Aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, impulsiv oder ungeduldig zu sein. Vertrauen Sie niemandem.«

»Ich verstehe«, sagte Gaetano. Der Rektor erhob sich, ebenso wie die beiden

Ritter. »Ihnen wird jetzt ein Zimmer zugewiesen.

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Viel Glück, junger Mann. Und bitte, mögen Sie diesen Skorpion, mit Gottes Hand auf Ihrer Schul-ter, zerquetschen!«

Gaetano lächelte. »Das werde ich.«

Zwei Stunden später, nach einer kurzen einsamen Innenschau, bereitete sich Gaetano auf die Abfahrt zum Vatikan vor. D’Agostino hatte ihn zu dem kleinen Schlafzimmer begleitet, ihm einen aller-letzten Rat erteilt und versichert, dass er niemals vollkommen allein wäre. Vergessen Sie nie, hatte er vor seinem Weggang gesagt, dass die Ritter ihre Augen und Ohren überall haben. Gaetano hatte seine Karten, Pläne und anderen Dokumente stu-diert und sich mit jedem Detail seiner Umgebung vertraut gemacht. Jeder Zug, den er machte, würde möglichst viele Informationen ergeben. Je mehr er über seine Umgebung wusste, desto größer waren seine Erfolgsaussichten.

Als es an der Zeit war zu gehen, wurde er, als Teil einer Gruppe junger Männer mit frischen Ge-sichtern, durch eine Reihe von Gängen und über abwärtsführende Treppen in einen Hof an der Rückseite des Gebäudekomplexes gebracht. Die vierzehn Männer schwiegen, bis sie in einen klei-nen, wartenden Omnibus gedrängt wurden.

Gaetano stieß den vielleicht dreiundzwanzig Jahre alten Jungen mit sandfarbenem Haar, der neben ihm saß, mit dem Ellenbogen an. »Wissen Sie, worum es bei alledem hier geht?«

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Der Junge zuckte die Achseln. »Wir fahren zu den Archiven. Hat man Ihnen das nicht gesagt?«

»Doch, aber nicht viel mehr als das.« Der Junge wandte sich um und sah Gaetano an,

während kurzzeitig ein Schatten des Misstrauens wie eine Sturmwolke über seine verkniffenen, tei-gigen Züge fegte. »Sind Sie neu hier?«

Gaetano lächelte. »Sie haben mich noch nie vorher gesehen, richtig?«

»Nein.« »Dann wissen Sie, dass ich sehr neu bin.«

Gaetano lächelte noch immer. »Woher kommen Sie?« Der Bus schoss vorwärts, als der Fahrer die

Kupplung kommen ließ. Umständlich wendete er das Fahrzeug und fuhr dann durch eine schmale Passage und einen Torbogen auf die Straßen Roms. Verkehr wogte um sie herum, Hupen plärr-ten.

»Ich bin Pater Gaetano. Aus unserem Seminar in Arezzo. Ich bin hier, um mein Doktorat zu Ende zu führen.«

Das schien den jungen Mann zufriedenzustel-len, der nickte, als wäre er beeindruckt. »Ich bin so müde«, sagte der blassgesichtige Junge. »Wir stu-dieren unentwegt, und jetzt müssen wir es auch noch für jemand anderen tun.«

»Ah«, sagte Gaetano. »Aber es ist für den Heili-gen Vater …«

Der Junge verzog angewidert das Gesicht. »So

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nennen Sie ihn? Ich versuche, nicht darüber nach-zudenken, was mit der Kirche geschieht.«

»Warum sind Sie dann hier?«, fragte Gaetano. »Warum trotzen Sie demjenigen nicht, der es wagt, sich Peter II. zu nennen?«

»Mögen Sie diesen Papst? Und das, was er plant?«

»Habe ich das gesagt?« »Nein, aber …« »Mein Freund«, sagte Gaetano, während er brü-

derlich den Arm des Jungen tätschelte, »ich versu-che nur zu erkennen, wie wir es zulassen konnten, dass die Dinge so sehr durcheinandergeraten.«

»Weil wir Angst haben – Angst davor, was er uns antun könnte, wenn wir ihm den Gehorsam ver-weigern.«

»Nein«, sagte Gaetano mit leiser, wegen des rat-ternden Motors nahezu unhörbarer Stimme. »Ich fürchte, es ist schlimmer als das. Ich denke, wir haben Angst, ja, aber davor, was in unseren eige-nen Herzen ist!«

Der junge Mann schwieg einen Moment, schau-te aus dem Fenster, als der Bus gerade die Ponte Vittorio Emanuele II. überquerte, und nickte dann. »Wenn Sie recht haben, Pater, was wird dann mit uns geschehen?«

Gaetano lächelte. »Entweder müssen wir unse-rem Gott vertrauen … oder uns selbst.«

Die Wahrheit dieser Worte durchdrang die äu-ßere Schale seines Glaubens und sank langsam

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mitten in die Seele des Seminaristen ein. Er schwieg, nickte aber rasch, als sei das, was Gaetano gesagt hatte, eine Wahrheit, die nicht ausgespro-chen werden müsste.

Als Gaetano in seine trägen, braunen Augen blickte, konnte er die Unsicherheit, den Mangel an Überzeugung und vor allem die Angst erken-nen.

Der Bus kam ruckartig zum Stehen. Gaetano sah, dass sie an einem Tor angehalten worden wa-ren, wo ein Mitglied der Schweizergarde den Aus-weis des Fahrers überprüfte und sie dann durch-winkte. Langsam fuhr der Bus weiter und be-schleunigte dann wieder. Das üppige Grün der va-tikanischen Gärten umschloss sie, als das Fahrzeug in eine von gepflegten Hecken gesäumte Straße einbog. Sie fuhren an einer Reihe hoher, gewaltiger Gebäude entlang, die das Gouvernorat, verschie-dene Akademiegebäude und den Belvedere-Hof umgaben.

Als der Bus auf einen reservierten Parkplatz vor dem Dienstboteneingang des Gebäudes rollte, das die Geheimarchive beherbergte, fragte sich Gaeta-no, warum sie geheim genannt wurden, obwohl sie es eindeutig nicht waren.

»Zeit, in die Salzminen einzufahren«, sagte sein Sitznachbar.

Gaetano stand auf und nahm seine Sporttasche hervor, die unter seinem Sitz verstaut gewesen war.

»Was ist das?«, fragte sein Begleiter.

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»Oh, nur einige Spezialwerkzeuge, von denen ich dachte, dass ich sie vielleicht gebrauchen könn-te.«

Der junge Mann schnaubte belustigt. »Die einzi-gen Werkzeuge, die Sie hier drinnen brauchen werden, sind Papier und ein Stift.«

Gaetano lächelte. »Darauf würde ich nicht wet-ten.«

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Peter Carenza – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

ie Morgenstunden waren an ihm vorüberge-flossen wie verschüttete Tinte auf einem Blatt

Papier, und er hatte das unklar drängende Gefühl, dass etwas Notwendiges übersehen wurde. Diese Vermutung nagte an ihm, während er den nicht enden wollenden quälenden Pflichten dieses Mor-gens nachkam. Die Zusammenarbeit mit den Me-dien hatte sich, wie erwartet, als schwierig erwie-sen. Seine Mitarbeiter schienen von der falschen »Entführung durch Terroristen« insgeheim erschüt-tert, und viele von ihnen waren offensichtlich nicht in der Lage, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu er-füllen. Peter hatte das Gefühl, als würde nichts fer-tiggestellt, wenn er nicht jede Anweisung persön-lich ausführte.

Gottverdammte Marion! Sie hatte wirklich alles vermasselt.

Und die Zeit lief ihm davon. Die Zeit, um das große Rad aufzuhalten, das seine Mutter in Gang gesetzt hatte. Das war das Frustrierendste an all diesen Machenschaften, die rund um ihn herum ihre Wirkung entfalteten – Zeit war eindeutig das,

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was er am dringendsten brauchte. Wie viel Zeit war nötig, um mit den Sieben in Kontakt zu treten? Und wie viel Zeit hatten sie, um die ihnen zuge-wiesenen Orte zu erreichen? Bisher hatte er erst zwei von ihnen identifizieren können, und nichts war bisher unternommen worden, um sie aufzu-halten.

Sie könnten ihre Kirchen bereits erreicht haben. Und die Übrigen lagen vielleicht nicht weit zurück. Peter brauchte mehr Hilfe. Er musste einen Plan entwerfen, und er benötigte loyale Kräfte, die die-sen Plan ausführten.

Aber zuerst musste er ein Zeichen setzen, eine Demonstration seiner Autorität geben – etwas, das alle zur Ordnung rufen würde, damit sie in dicht geschlossenen Reihen ins Armageddon marschierten.

Peter hielt inne, überdachte diesen letzten Satz. In dicht geschlossenen Reihen marschieren … Ja, darum ging es in Wahrheit, nicht wahr? All

diese Dringlichkeit und der Aufruhr, all dieses ge-dämpfte Entsetzen – es hatte einen Zweck, eine Richtung und eine Bestimmung. An all diesen al-ten Mythologien war etwas Wahres. Irgendwie wussten alle in der endlosen Abfolge von Kulturen, Religionen und Zivilisationen, was vor sich ging.

Früher oder später würde es zu einer Konfronta-tion kommen. Der ewige Konflikt würde gelöst, zumindest für eine Weile. Für eine Weile, weil Pe-ter vermutete, dass die Kosmologie zyklischer Na-tur war.

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Er verließ die päpstliche Wohnung und spazierte durch die Gärten zum Belvedere-Hof. Im Turm der Winde wartete Pater Erasmus oben an der Wen-deltreppe auf ihn.

»Gute Neuigkeiten, Exzellenz. Heute Nachmit-tag werden vierzehn neue Forscher ihre Arbeit auf-nehmen. Sie sollen jeden Moment eintreffen, und ich werde sie, nach einer kurzen Einweisung, sofort an die Arbeit schicken.«

»Tun Sie das«, sagte Peter. »Was ist mit meinem Privatbüro in den Archiven?«

»Alles wurde ausgeführt«, sagte der Präfekt. »Sehr gut. Ich werde jetzt dorthin gehen. Stören

Sie mich nicht, es sei denn, Sie haben besondere Informationen, die sofort verwertbar sind. Der ein-zige Mensch, den ich sehen möchte, ist Molinaro vom SSV. Rufen Sie ihn an, sagen Sie ihm, dass ich hier bin und dass auch er hierherkommen soll. Jetzt gleich.«

»Sofort«, sagte Pater Erasmus. Peter nickte mit einem angedeuteten Lächeln.

»Wie ich bereits sagte – jeder andere sollte besser einen guten Grund haben, wenn er mich sprechen will.«

»Ich verstehe, Heiligkeit.« Pater Erasmus zog sich mit gesenktem Blick zurück.

Peter wandte sich dem Gang mit der anmutig gewölbten Decke zu und ging raschen Schrittes zu dem Leseraum, der zu seiner persönlichen Ver-wendung ausgestattet worden war. Er war zwanglos

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gekleidet, in Jeans und Sweatshirt, und die Men-schen, denen er auf seinem Weg begegnete, wur-den sich der Anwesenheit des irdischen Repräsen-tanten Gottes erst verspätet bewusst. Er lächelte stets, wenn das geschah. Keiner dieser Vatikanvete-ranen würde sich jemals daran gewöhnen, dass er bewusst viele der albernen Bräuche vermied, an denen das Papsttum seit Hunderten von Jahren festgehalten hatte.

Als Peter sein Privatbüro erreichte, war die schwere Holztür geschlossen, aber nicht verriegelt. Der Raum, obwohl groß und mit hoher Decke, war vollgestopft mit einem Tisch und Lampen, Bücher-regalen, Aktenschränken, einem Faxgerät, einem Scanner, einem Fotokopierer, einem großen Com-puter auf einem enormen Schreibtisch, einem Tele-fon und dem Rest der üblichen Büroausstattung. Es existierte noch eine zweite Ebene, über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe erreichbar, die kaum mehr als ein schmaler Laufgang mit den Raum umgebenden Bücherregalen war. Türen an jeder Ecke verbanden die Bibliotheksebene mit identischen Bereichen in den angrenzenden Räu-men. Das Gebäude quoll vor Büchern und Doku-menten über – kein Platz war verschwendet wor-den. Schön. Das würde genügen.

Er trat zu dem gepolsterten Ledersessel am Schreibtisch, setzte sich hin und überprüfte, ob die Stimmaktivierung des Computers erfolgreich mit dem System in seiner Wohnung verbunden wor-

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den war. Er hatte erhebliche Zeit damit verbracht, den PC in seiner Wohnung zu installieren, sodass er jetzt mühelos damit kommunizieren konnte, und dasselbe erwartete er von diesem Gerät.

Nachdem Peter seine Dateien und Kopien aller Berichte der Nachrichtenagenturen über das, was etwas mit den sieben Zielorten zu tun hatte, aufge-rufen hatte, stellte er zufrieden fest, dass das Netz-werk einwandfrei funktionierte. Er verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, Hunderte von Be-richten nach möglichen Bezügen zu irgendjeman-dem zu sichten, der einer der Sieben sein könnte.

Er tat dies, bis er von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Molinaro.

Peter rief ihn herein und beobachtete, wie der mit einem dunklen Anzug bekleidete Mann sehr ehrerbietig eintrat. Er vermittelte den Eindruck, als sei er in seiner Blütezeit, die ungefähr fünfzehn Jahre zurückliegen musste, ein recht kräftiger Rauf-bold gewesen. Sein noch immer dunkles Haar war streng nach hinten gekämmt, ohne angeklatscht zu wirken, und nicht gegelt. Das Gesicht hatte weiche-re Züge, als bei mediterranen Menschen sonst üb-lich, aber das mochte an dem leichten Übergewicht liegen, das er mit sich herumtrug.

»Ich bin so schnell wie möglich gekommen, Eu-er Heiligkeit.«

»Schön, Sie noch bei der Arbeit zu sehen, Alfre-do«, sagte Peter.

»Warum sollte ich nicht?«

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Peter runzelte die Stirn. »Stellen Sie sich mir ge-genüber nicht dumm! Wir wissen beide, was in Ihrer Organisation vor sich geht – wir sind schließ-lich nicht blöd.« Peter sprach mit fester Stimme. Er musste herausfinden, wie viel Mist dieser Kerl von ihm akzeptieren würde, und ob er hier einen wahr-haft loyalen Mitarbeiter vor sich hatte oder einen, der mehr Aufmerksamkeit benötigte. Peter hatte sich allmählich an seine Fähigkeit gewöhnt, bestimmte Handlungsweisen Einzelner zu beeinflussen, tat-sächlich eine Art Kontrolle über sie auszuüben. »Es ist offensichtlich, dass es Abtrünnige gibt, Reaktio-näre, oder wie immer Sie sie nennen wollen.«

Molinaro konnte Peter kaum in die Augen se-hen. »Es ist klug, überall nach Verrätern Ausschau zu halten, darin stimme ich Ihnen zu. Aber Sie sollten wissen, dass sie schwer zu erwischen sind. Meine Agenten machen nicht sehr häufig Fehler.«

Peter lachte leise und spöttisch. »Haben Sie schon irgendjemanden erwischt?«

»Nun, nein, aber wir haben einige Leute im Vi-sier.«

Peter nickte abwesend. »Bestimmt. Nun, zum Geschäft – Sie haben mein Memo studiert?«

Molinaro nickte. »Das habe ich. Einige der Orte werden leichter zu überwachen sein als andere – Stonehenge, Glastonbury, sogar Lhasa und Tia-huanaco sind leicht zu kontrollieren. Tatsächlich habe ich an diesen Orten bereits Leute. Es ist an-zunehmen, dass die Zielpersonen nicht wie typi-

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sche Touristen aussehen werden, sodass wir sie finden werden.«

Peter nickte. »Verstehen Sie: Ich will nicht nur, dass sie gefunden werden, sondern ich will auch, dass ihr Leben beendet wird.«

Molinaro schluckte schwer. »Ja, Exzellenz, das habe ich sehr genau verstanden.«

Peter betrachtete seinen Gesetzeshüter. Molina-ro zögerte nicht und schrak auch nicht zurück – und anscheinend kümmerte es ihn auch nicht, wa-rum Peter beschlossen hatte, dass die Sieben ver-nichtet werden mussten. Die Todesbefehle beun-ruhigten ihn keineswegs. »Nun, was können Sie mir über die übrigen Orte sagen?«

Molinaro atmete ein, stieß den Atem langsam wieder aus und zog dann einen kleinen Notizblock zu Rate, den er aus seiner Brusttasche genommen hatte. »Jerusalem, Delphi, Mekka. Alle drei größere Orte mit mehr möglichen Zielen. Ich habe dort so viele Agenten wie möglich hingeschickt. Sie wer-den die Örtlichkeiten erkunden und über die wahrscheinlichsten Bestimmungsorte für die Ziel-personen berichten.«

»Können Sie sie alle sichern?« »Wir können unser Bestes tun.« Peter grinste und schüttelte den Kopf. »Falsche

Antwort. Wollen Sie es noch mal versuchen?« Molinaro hielt wie verwirrt inne und begriff

dann anscheinend. »Ja, Pontifex, wir werden sie definitiv alle sichern.«

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»Das sollten Sie besser. Ich will, dass sie ge-schnappt werden.«

Molinaro fuhr mit einem Finger nervös den Rand des Notizblocks entlang. »Ich … ich, eh … sollte Sie daran erinnern, Heiligkeit, dass wir die Identität von fünf Personen noch nicht kennen, auf die Sie uns angesetzt haben. Es wird sehr schwierig sein, eine Person ausfindig zu machen, die keinen Namen und kein Gesicht hat.«

»Auch daran sollten Sie arbeiten«, sagte Peter. »Nun.« Molinaro zögerte und führ sich nun mit

den Fingern durchs Haar. »Ich denke, wir sollten alle an diesem Problem arbeiten. Meine Männer gehören zur Garde und zum Präfekten. Wir über-prüfen jeden Hinweis, jede mögliche Richtung mehrfach, sichten jede kleinste Information, die von den Zielstädten kommt. Alle Hinweise werden verfolgt. Sie sollen Kopien von allem bekommen …«

»Stimmt«, sagte Peter. Molinaro nickte. »Dann können Sie erkennen,

was wir zu bewältigen haben.« Peter lächelte. »Das Einzige, was ich erkennen

kann, ist, dass ein kleiner Mann versucht, sich aus seinen Fehlern herauszuwinden.«

»Heiliger Vater«, sagte Molinaro, »ich will nicht respektlos sein. Meiner Verantwortung habe ich mich immer gestellt. Ich versuche nur, Ihnen zu zeigen …«

»Nein!«, schrie Peter und schlug mit der Faust

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auf den Tisch. »Ich will Ergebnisse, haben Sie ver-standen?«

Molinaro wich einen Schritt zurück und schaute zur Tür. »Ja, ich habe verstanden. Vergebung, Euer Heiligkeit.«

Peter sah ihn einen langen Moment an. »Das wird nichts werden.«

Molinaro wirkte verwirrt. Peter lachte leise. »Sie begreifen nicht, oder? Wir

haben die Vergebung alle schon längst verwirkt.« »Was meinen Sie?«, fragte der SSV-Mann. »Ich denke, es gibt niemanden, kein Wesen,

wenn Sie noch immer glauben wollen, ich wäre Gottes Repräsentant auf Erden, der oder das uns den eingeschlagenen Weg vergeben kann.« Peter sah ihn finster an. »Kann ich es noch deutlicher ausdrücken, ’Fredo?«

Der Gedanke schien Molinaro wie ein Schlag mit der offenen Hand zu treffen, und er trat einen weiteren Schritt zurück, wollte offensichtlich ent-fliehen. »Ich … eh, ich verstehe. Danke, Heilig-keit.«

»Gehen Sie«, sagte Peter, »bevor Sie am Boden kriechen. Ich hasse das. Und kommen Sie erst zu-rück, wenn Sie mit etwas Gutem aufzuwarten ha-ben. Etwas sehr Gutem.«

Molinaro nickte kurz ohne ein weiteres Wort, zog sich aus dem Raum zurück und schloss die Tür hinter sich.

Peter wandte sich wieder seinen Ausdrucken zu

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und überlegte, was gerade geschehen war. Er hatte Molinaro hart angegangen, weil er sichergehen musste, dass der Mann zu viel Angst hatte, um aus seiner Ecke herauszukommen.

Darauf lief es hinaus, nicht wahr? Jeder, der mit ihm und seiner »neuen« Kirche verstrickt war – das waren die wahren Hasenfüße, oder? Zu ängstlich, um sich gegen was auch immer aufzulehnen oder auch nur zu zweifeln, gleichgültig, was ihnen be-gegnete.

Was einen interessanten Kontrast zum Mut der Überzeugungen eines Menschen darstellte. Natür-lich war es schon seit vielen Jahrhunderten so, sann er. Das hat die Führer immer von der Herde getrennt.

Und jetzt hatte Peter sich für seine Bemühungen unbeabsichtigt nur mit Herdentypen umgeben.

Ein lautes Klick überraschte ihn. Es war die Klin-ke der sich öffnenden Bürotür.

Als er aufschaute, sah er einen großen Mann in der einfachen schwarzen Soutane eines Seminaris-ten den Raum betreten.

Unbekannt. Uneingeladen.

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Marion Windsor – Kairo, Ägypten 30. Oktober 2000

arion döste ein, trotz der Anspannung, die sie innerlich wie Stacheldraht umschlang.

Das dröhnende Schlaflied der Motoren des SkyFreight-Jets übte eine seltsam beruhigende Wir-kung auf sie aus. Als ihre Augenlider flatterten, er-kannte sie, dass sie geträumt hatte und dass ihr Traum eine surreale Fortführung dessen gewesen war, was vor sich ging, als sie einschlief. Kardinal Lareggia war irgendwie groß und dünn geworden, Etienne schien nicht älter als fünfundzwanzig zu sein, und sie waren mit ihrem Flugzeug gerade an einem Fluss gegenüber den Pyramiden in der Wüs-te gelandet, Nach den riesigen Rampen und den vielen Sklaven, die Steinblöcke umherzogen, zu urteilen, waren die Pyramiden noch immer im Bau befindlich. Noch im Traum erlebte Marion diesen Blick über die Schulter, der ihr sagte, dass nichts von alledem real war.

Über das Dröhnen der Flugzeugmotoren hinweg hörte sie die scharfe und durchdringende Stimme eines Mannes. »… bestätige, Kairo. ETA achtzehn Minuten. Zehn-vier.«

M

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»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie träge, während sie sich dazu zwang, munter zu werden.

Lareggia nickte, schwieg aber, als er durchs Fens-ter etwas Interessantes erblickte.

Etienne sah sie mit einem mütterlichen Lächeln an. Marion fühlte sich inzwischen sehr wohl in Gegenwart der Nonne – die Frau war für sie zu mehr als einer Freundin geworden, eher eine Ver-wandte, jemand, dem man sich immer anvertrauen und auf den man sich unbedingt verlassen konnte. »Sie sahen so müde aus. Wir wollten Sie nicht we-cken.«

»Ich muss erledigt gewesen sein«, sagte Marion. »Hat Fabrizzi gerade gesagt, dass wir in der Nähe von Kairo sind?«

»Ja«, bestätigte der Pilot, der zurückschaute und ihr ein Lächeln zuwarf, das ihm wahrscheinlich viele Dates einbrachte. Fabrizzi fügte hinzu: »Wir werden bald landen, aber wir werden sehr vorsich-tig sein müssen.«

»Was meinen Sie?« »Ich hatte über einen sicheren Kanal Kontakt

mit unserem Geheimdienstbüro in Alexandria, und es sieht so aus, als hätten Sie einen ziemlichen Tumult bewirkt.«

»Sind wir in Gefahr?«, fragte der Kardinal. »Wir müssen zumindest wachsam sein.« Marion setzte sich in ihrem Sitz auf und kreuzte

die Arme. Eine plötzliche Kälte hatte sie über-kommen. Sie trugen noch immer die SkyFreight-

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Overalls. Sowohl Lareggia als auch Etienne sahen absurd aus und machten keinen sehr glaubwürdi-gen Eindruck – der Kardinal wegen seines gewalti-gen Körperumfangs und Etienne wegen ihrer man-gelnden Größe. Marion fragte sich, ob sie in ihrem Overall gleichermaßen fehl am Platz wirkte, und entschied dann, dass ihre schmale, noch immer sportliche Gestalt für gewöhnlich in allem passend aussah, was auch immer sie trug.

»›Offiziell‹ heißt es, Sie wären möglicherweise gekidnappt worden oder es sei ein terroristischer Akt gewesen«, sagte Fabrizzi. »So erklärt unser Hei-liger Vater Ihr Verschwinden. Die Hochzeit wird heute nicht stattfinden.«

Marion merkte, wie ihr ein Kloß in die Kehle stieg und ihre Atmung erschwerte. Mein Gott, er hat recht! Sie schaute auf ihre Uhr. Wäre nicht diese tat-kräftige, kleine Frau dort drüben gewesen, wäre ich inzwischen verheiratet!

Fabrizzi fuhr fort: »Sie suchen Sie überall. Offi-zielle Berichte erwähnen auch Schwester Etienne als mögliches Opfer des ›Komplotts‹.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Lareggia wie ein kleiner Schuljunge, der darauf wartet, für ein Team ausgewählt zu werden. »Was sagen sie über mich?«

»Eh … eigentlich nichts.« Der Kardinal schien so überrascht, dass er nichts

erwidern konnte. Marion unterdrückte ein Grinsen und schaute einen Moment fort. Es gab Zeiten, in denen sie Lareggia absolut nicht mochte – aus

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Gründen, die von seiner offensichtlichen Gefräßig-keit bis zu seiner elitären, gönnerhaften Haltung und seiner Ignoranz gegenüber so vielen Dingen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Vatikans reichten –, aber es gab auch andere Zeiten, in de-nen ihr dieser Mann ehrlich leidtat. Er war wahr-haft jämmerlich.

»Was haben Sie noch erfahren?«, fragte Marion. »Weiß Peter, wo wir sind?«

»Nein«, antwortete Fabrizzi. »Niemand hat eine Ahnung, obwohl die starke Vermutung besteht, dass es eine abgekartete Sache zwischen denjenigen sei, die sie als ›abtrünnige Elemente‹ des SSV be-zeichnen.«

»Nun«, sagte Marion, »sie haben recht.« »Wer genau sind ›sie‹?«, fragte Etienne. Fabrizzi zuckte die Achseln, die Hände noch am

Steuerknüppel. »Tatsächlich gibt es verschiedene ›sie‹: die offizielle Seite des Geheimdiensts des Va-tikans unter dem Befehl seines Leiters Molinaro, der beschlossen hat, mit dem Papst verbündet zu bleiben, das Kardinalskolleg und die Bürokratie des Vatikans, die mit der Welt im Großen vernetzt ist.«

»Warum stehen sie so sehr auf Peters Seite?«, fragte Marion.

Lareggia beugte sich vor. »Ich glaube, das kann ich beantworten. Die meisten sind alt und fürchten sich vor der Politik dieser Welt und möglicherweise der nächsten. Es sind Männer, die ihr ganzes Leben

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mit Machtspielen verbracht haben. Ihre natürli-chen Instinkte müssen der Richtung der Macht zu-geneigt sein. Sie gehen auf Nummer sicher, das stimmt, und das Gesicht, das sie der Welt zeigen, spiegelt die vollkommene Unterstützung des Paps-tes wider.«

»Das hat auf verdrehte Weise Sinn«, sagte Mari-on.

Lareggia hob die Hände. »Sie halten es für die einzige Möglichkeit zu überleben.«

Marion richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Fabrizzi. »Was bedeutet das alles? Wie sicher sind wir? Wie leicht ist es für eine der … gegnerischen Parteien, uns zu finden?«

»Gute Frage«, sagte der Pilot. »An diesem Punkt agieren wir in einem Netzwerk, das auf kaum mehr als Vertrauen basiert. Wir wissen, wer wir sind, und in diesem begrenzten Wissen handeln wir.«

»Warum haben Sie sich so festgelegt?«, fragte der Kardinal.

Fabrizzi dachte einen Moment über diese Frage nach, während er sich mit einer Hand durch sein dichtes Haar fuhr. »Wir, die wir uns geweigert ha-ben, den Worten dieses Papstes zu folgen, glauben, dass wir keine andere Wahl haben. Wir können keinen Weg einschlagen, der eindeutig der Ver-dammnis geweiht ist.«

Marion lächelte. »Gut gesagt.« »Außerdem«, fuhr Fabrizzi fort, »könnten wir

Ihnen dieselbe Frage stellen – warum wenden Sie

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sich gegen diesen Mann? Ein Mann, der Ihnen so nahestand.«

Etienne sah ihn mit erschreckender Gelassenheit an. »Gerade weil wir ihm so nahestanden.«

Das Funkgerät knisterte, und Fabrizzi kümmerte sich darum und überprüfte rasch die Autopilot-Systeme. Währenddessen fragte sich Marion, was sie wohl in Kairo erwartete. Am interessantesten fand sie das Fehlen jeglicher Angst. Der Tod bedeu-tete für sie keine Bedrohung mehr – sie war bereits einmal gestorben. Verlegenheit, Demütigung – auch das war unwichtig. Sie glaubte an Etienne und an das, was Gott ihr, wie sie sagte, offenbart hatte.

Was auch immer vor ihnen lag – Marion würde es mit der Gelassenheit annehmen, die sie von Eti-enne gelernt hatte.

»Okay«, sagte Fabrizzi über die Schulter zu ihnen, während er mehrere Kontrollanzeigen ab-stimmte und den Steuerknüppel dann in beide Hände nahm. »Wenn Sie links aus dem Fenster schauen, werden Sie recht bald die Pyramiden se-hen. Wir haben Landeerlaubnis für Kairo.«

Die Motoren des Flugzeugs liefen nun leiser, und der große Jetliner begann zu sinken. Marion drehte sich auf ihrem Sitz leicht zur Seite, schaute aus dem Fenster und sah die unendliche Sahara sich ihnen entgegenrecken. Während das Flugzeug weiter abwärts sank, erhaschte sie einen kurzen Blick auf Bereiche im Süden, jenseits des Nils, wo

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die monumentalen Grabstätten der Pharaonen auf die Sterne deuteten wie eine Kette himmlischer Wegweiser. Dann erblickte sie die Dächer der sich in dunstiger Ferne ausbreitenden Stadt, die sich bis zum Horizont und den windgepeitschten Lande-bahnen des Flughafens erstreckte. Aus ihrer gegen-wärtigen Höhe wirkte alles vollkommen sauber und geordnet, wie ein gigantisches Spielbrett, auf dem die Titanen ihr Spiel noch nicht begonnen hatten.

»Wenn wir landen«, sagte Marion, »haben Sie dann einen Plan?«

Fabrizzi lachte leise. »Ich? Nein, ich habe keinen Plan. Ich bin Pilot – ich kann alles fliegen, aber ich plane praktisch nichts. Aber tatsächlich wartet am Hangar von SkyFreight jemand auf Sie, jemand, wie man mir sagte, der tatsächlich einen Plan hat.«

»Wer?«, fragte Marion. »Ich weiß es nicht«, antwortete Fabrizzi. »Wir

sind bemüht, den Funkkontakt auf ein Minimum zu beschränken – aus verständlichen Gründen.«

Marion nickte. »Natürlich.« Sobald das Flugzeug in dem großen Hangar

zum Stehen kam, umgab ein Schwarm Bodenper-sonal in vertrauten Overalls es wie hungrige Insek-ten.

Nachdem die Gangway zur Tür herangerollt worden war, verließen alle das Flugzeug. Eine schreckliche Hitze herrschte in der Halle und ein durchdringender Lärm, eine Kombination aus Mo-

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torengeräuschen und den gelegentlichen Rufen der Arbeiter. Am Fuß der Gangway angekommen, be-trachtete Marion den Hangar und die bienenstock-artige Geschäftigkeit der hier arbeitenden Men-schen.

In der Ferne sah sie zwei Gestalten – eine groß und dünn, die andere kleiner und muskulös. Beide trugen die typische Kleidung der Beduinen.

Sie schritten resolut aus, mieden das Gewimmel der Arbeiter und hielten direkt auf Marion und die Übrigen zu. »Sehen Sie«, sagte sie mit einer leich-ten Kopfbewegung in Richtung der Männer zu Eti-enne und dem Kardinal. »Ich glaube, sie suchen uns.«

Marion schaute nach Fabrizzi, aber er war fort. »Ich denke, wir sollten gehen«, sagte Etienne. Als Marion wieder zu den beiden Männern

blickte, sah sie, wie der kleinere in seine Brustta-sche griff.

Der Kardinal packte sie am Arm und schrie: »Nein!«

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Peter Carenza – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

eter sah ihn verärgert an. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Der Mann in der Türöffnung antwortete nicht. Er sah Peter direkt in die Augen, während er hinter sich griff und ohne hinzusehen die Tür schloss.

Sie schnappte ein. »Wie sind Sie hier hereingekommen?« »Oh, ich war schon immer hier drinnen«, sagte

der Mann und lachte so leise, dass es fast schon ein Flüstern war. Er war nicht übermäßig groß, aber dünn, und hatte schmale Schultern. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten, aber so dicht, dass es die dunkelrote Farbe bewahrt hatte, die der seiner Augenbrauen entsprach. Er sah Peter mit schiefem Grinsen und Augen an, die so dunkelgrün waren, dass sie tief und grundlos schienen.

Der unbekannte Seminarist strahlte eine Arroganz und einen Mangel an Respekt aus, die Peter das Ge-fühl gaben, nackt und verletzlich zu sein. Eine sol-che Empfindung hatte er noch nie gehabt, aber die-ser ziemlich junge, leicht böswillig wirkende Bursche vermittelte irgendwie eine Aura solcher …

P

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Bedrohung. Gefahr. Feindseligkeit. Er stand da, in einen Schleier des Schweigens

gehüllt, der Peter in den Ohren dröhnte. Schwarze Flecke begannen sich um Peters Kopf zu drehen, mit Umlaufbahnen von erschreckend hoher Ge-schwindigkeit auf Augenhöhe. Er taumelte desori-entiert rückwärts, während er sich an das letzte Mal erinnerte, als er sich so gefühlt hatte – als er die langsam umherwirbelnde schwarze Rose aus dem Sonnenuntergang hatte hervorwachsen sehen, als er vom Zeitenwind bestürmt worden war, der über ihn hinwegfegte wie der heiße, stinkende Atem eines räuberischen Wesens.

Nein. Es war unmöglich. Nicht hier. Nicht jetzt. Das sagte sein bewusster Verstand, während er

darum rang zu akzeptieren, was in diesem Büro vor sich ging. Aber es gab auch einen Ort, im Kern von Peters Sein, der sich mit der Situation sehr wohl fühlte. Weit unten an diesem Ort, den die Neuro-logen R-Komplex nannten und der, malerischer ausgedrückt, als das »Reptiliengehirn« bekannt war. Dort wäre diese großartige Schattenpräsenz stets willkommen, eingeladen, würde sogar ge-braucht.

Dieser Teil von Peter verstand den Widerwillen, die Angst, die Verweigerung nicht, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren. Er begriff die Regeln

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des Spiels, die Notwendigkeit seiner unheiligen Allianz und seine ultimative Bestimmung.

Er sah die Dinge sehr klar. Seit jenem Abend in der Wüste hatte sich Peter

wie jemand gefühlt, der ein Stück radioaktives Ma-terial aufgehoben und sich dann geweigert hatte, den scheußlichen leuchtenden Klumpen anzuse-hen, der Krankheit und einen schrecklichen Tod zwischen seinen Fingern hindurchsickern ließ.

»Hallo, Peter«, sagte der Mann. »Lange nicht ge-sehen.«

Peter merkte, dass er unwillkürlich zurückgewi-chen war, auf die Ecke des Raumes zu, wo sich die Doppelhelix der Metalltreppe aufwärtswand. »Ich verstehe nicht«, sagte er.

»Was verstehst du nicht?« Die Stimme des Man-nes klang so sanft, so kontrolliert. Es war, als wür-de er kaum flüstern, und doch konnte Peter ihn deutlich hören.

Peter deutete mit einer Handbewegung von den Füßen des Mannes bis zu seinem Kopf. »Dieses Aussehen, diese Gestalt …«

Der Fremde mit dem dunkelroten bürstenkur-zen Haar zuckte die Achseln. »Oh, es war das Nächstliegende. Ich borge sie mir nur. Pater Grego-rio, nun, er wird niemals erfahren, was geschah.«

»Ist er tot?« »Nein, er wird aufwachen und denken, er habe

sich den Kopf gestoßen.« Peter konnte das Rasen seines Pulses in seinen

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Ohren hören, und seine Hände begannen zu zit-tern. Ein seltsam metallischer Geschmack war in seiner Kehle. Er wollte ihn nicht hier. Nicht jetzt. Niemals.

Eine Zeit lang sprachen sie beide nicht. Sie stan-den nur da und sahen einander an. Schließlich räusperte sich Peter.

»In Ordnung, was willst du?« Sein Gast lachte leise. »Du hast mich gerufen.« »Habe ich nicht.« Peter war überrascht. »Du hast dich in letzter Zeit ziemlich einsam ge-

fühlt. Du brauchst Hilfe. Du brauchst mich.« »Weißt du, ich habe versucht, nicht über dich

nachzudenken.« Der Mann nickte sehr ernst. »Du hast versucht,

unsere letzte Unterhaltung zu vergessen?« »Ja, das habe ich vermutlich.« Peter legte eine

Hand auf die Rückenlehne seines Chefsessels. Er stellte sich dahinter, als sei er ein Schild.

Der Besucher lächelte. »Aber du kannst es nicht, oder?«

Peter antwortete nicht. Er spürte, wie sich jäh Entsetzen in ihm ausbreitete, aber er wusste wirk-lich nicht, was ihn mehr erschreckte – das Wesen auf der anderen Seite des Raumes oder er selbst.

»In jener Nacht hast du Daniel getötet«, sagte sein Besucher mit diesem aufreizenden, ungleich-mäßigen Lächeln. »Ich erinnere mich immer noch mit solchem Stolz daran. Wirklich einer jener krö-nenden Momente.«

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»Für dich, meinst du«, sagte Peter. »Du warst es in jener Nacht …«

Der Besucher lachte erneut leise. »Ja, das klingt annähernd richtig – für dich … und für dieses Jahrhundert im Allgemeinen.«

»Was meinst du damit?« »Ah, Peter, bitte enttäusche mich nicht. Zeige

mir, dass du nicht wie alle anderen bist.« »Hm?«, machte Peter und erkannte sehr wohl,

dass er matt klang, aber doch verdammt nichts da-gegen tun konnte.

»Nun, sieh dich um – Opfer, alle! Niemand ist noch für irgendetwas verantwortlich.«

Die Gestalt trat einen Schritt näher zu ihm, und der Raum schien dadurch kleiner. Peter wollte zu-rückweichen, aber er konnte nirgendwohin. Er war buchstäblich in die Ecke gedrängt.

»Daniel war mein bester Freund. Ich hätte ihn niemals getötet, wenn … wenn du nicht …« Peter hörte seine Stimme verklingen, Kraft verlieren wie ein durchlöcherter Dampfkessel. Er klang unglaub-lich jämmerlich.

»Wir wissen beide, wie es funktioniert, Peter. Du bekommst von mir Macht, Macht, die du sonst vielleicht nicht hättest, die du nicht so benutzen könntest, wie du es getan hast.«

»Hast du nicht zugehört? Diese Macht, von der du sprichst, – ich habe sie nicht benutzt.«

»Dann bist du ein Idiot. Stolperst in dieser tro-ckenen, staubigen Höhle herum und suchst nach

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kleinen Hinweisen in der Presse. Womit befasst du dich, Peter, mit einer Seminararbeit?« Sanftes La-chen verspottete ihn.

»Was willst du? Warum bist du hier?« »Ich sagte es dir – du brauchst Hilfe. Du

brauchst Antworten. Ich habe beides.« Peter wusste, dass er recht hatte, und er wusste,

dass er sich nirgendwo sonst hinwenden konnte. Er atmete zögernd, resigniert aus.

Das ist gut, Peter. Wie Therapeuten gerne sagen: Überlasse dich deinem inneren Kind, den Gefüh-len, die am tiefsten in dir verborgen sind.«

Peter erkannte, dass es kein Leugnen gab. »In Ordnung! Was kannst du mir sagen?«, fragte

er. »Nun, zunächst würde ich mir keine Sorgen

darüber machen, die restlichen Namen der Sieben zu erfahren. Ich kann einige meiner, eh, Kollegen losschicken, um sie abzufangen.«

»Du kannst sie aufhalten?« Peter konnte seine Überraschung nicht verbergen.

Der Besucher erhob einen Zeigefinger. »Nun, nun, du kennst die Regeln – sie müssen sich selbst aufhal-ten, aber meine Leute können sie vielleicht in die, eh, richtige Richtung drängen oder etwas unternehmen, um sie zu ängstigen oder zu überlisten. Du weißt schon, sie zu ihrem tödlichen Fehler verleiten.«

»Das würdest du für mich tun?« Der Besucher neigte in spöttischer Demut den

Kopf und streckte wie ein Bühnenmagier, der sei-

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nen Applaus entgegennimmt, die Hände aus. »Nun, sagen wir, für uns, in Ordnung?«

»Was bedeutet das?« »Weißt du es nicht inzwischen – oder leugnest

du es noch immer?« Peter runzelte die Stirn, unsicher, was er antwor-

ten sollte. Der Mann hob erneut einen Zeigefinger und

deutete vage aufwärts. »Du hast von dieser Ge-schichte mit der Sonne gehört?«

»Die Protuberanzen? Ja, ich habe einige der Be-richte gesehen. Bist du das auch?«

»Nicht ganz. Aber die Wissenschaftler werden recht raffiniert. Viel raffinierter, als sie es noch vor tausend Jahren waren.«

»Es ist alles Teil eines Kreislaufs, oder?« Peter biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, warum er dieses Mal im Mittelpunkt stand.

»Du hattest recht, als du dachtest, dass unser Gegenspieler Prüfungen mag. Vermutlich ist es ei-ne Art ewige Lust am Spiel.«

»Also willst du mir sagen«, vermutete Peter, »dass die Sonne eine jener großen Supereruptionen aussenden wird und …?«

»Nun, Noah zufolge war es versprochen. Er würde nicht wieder Wasser benutzen.« Der Besu-cher grinste und zuckte die Achseln. »Also ja, das ist unsere Trumpfkarte, wenn alles gut geht, wenn die Welt plötzlich ihrer aufrechtesten Seelen be-raubt wird.«

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»Die Sieben.« »Ah, gut … du hast aufgepasst.« »Okay, was noch?« Peter trat aus der Ecke her-

aus, wobei er die kurze Bewegung mit großer Ent-schlossenheit ausführte.

»Du musst zum großen Showdown vor Ort sein, Peter. Für das große Duell im O. K. Corral, so wie es aussieht.«

»Und wo ist das?« Peter blickte ihn an und sah, wie sich hinter

den dunkelgrünen Augen des besessenen Semi-naristen etwas hob und senkte. Es ließ ihn bis ins Mark erstarren. Er wusste vielleicht, auf wel-cher Seite er stand, aber die Bedeutung dieser Wahl …

»Nun, wollen wir mal sehen«, sagte der Besu-cher. »Mit etwas Glück und vielleicht weiteren hundert Lakaien, die diese Grotten durchkämmen, könntest du in einer weiteren Woche die Antwort finden, oder in wenigen Minuten, oder vielleicht in fünfzig Jahren.«

»Bist du immer so reizend?« »Nun, ja, danke. Gizeh.« »Was bedeutet das?« »Spiel, Satz und Sieg, ›Euer Heiligkeit‹. Darauf

läuft alles hinaus.« Der grünäugige Mann lächelte mit einer Selbstgefälligkeit, die in Peter den Wunsch erweckte, ihm diesen Ausdruck aus dem Gesicht zu schlagen. »Die Große Pyramide. Mitter-nacht. In sieben Tagen.«

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»Warum sagst du mir das?« Der Seminarist zuckte die Achseln. »Weil ich es

kann …« »Aber ich muss es sein«, sagte Peter. »Ich muss

derjenige in Gizeh sein.« Der Besucher nickte. »Du kennst die Regeln

wirklich. Das ist sehr schön. Du begreifst, was letzt-endlich stattfinden muss, ungeachtet deiner subti-leren Angriffe. Du hattest gute Ideen, die Dinge in der Kirche von innen heraus zu verändern. Eine gute Art, die Menschen zu zerrütten – der Beweg-grund des Herzens dieses großen, mechanisierten Molochs des Glaubens.«

»Das habe ich vermutlich unterbewusst heraus-gefunden«, sagte Peter.

»Zweifellos, aber das ist die Strategie einer Lang-zeitinvestition, und wir haben wenig Zeit.«

»Also muss ich den direkten Vorstoß wählen«, sagte Peter, der sich in Gegenwart seines Besu-chers inzwischen nicht mehr so unwohl fühlte. Tatsächlich ging es ihm plötzlich insgesamt bes-ser. Er dachte nicht darüber nach, warum. Ver-mutlich war das die vorrangige Quelle seiner kürzlichen Probleme – er hatte eindeutig viel zu viel nachgedacht.

»Ja«, sagte sein Besucher. »Aber bevor du an-fängst, für Ägypten zu packen, gibt es noch ein drängenderes Problem, um das du dich recht bald kümmern musst – sozusagen sofort.«

»Wirklich?«, fragte Peter. »Was ist es?«

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Der Mann deutete über Peters Schulter, an der Wendeltreppe vorbei zum Laufsteg oben auf der Bibliotheksebene. »Nun, in dem Gang dort oben befindet sich ein Mann, der sich gerade bereit macht, dich zu töten.«

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Gaetano – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

ls er hörte, wie der Typ mit der sirupweichen Stimme ihn wie beiläufig verriet, war Gaetano

einen Moment benommen. Seine ganze Ausbildung, all sein kontrollierter

Zorn, all seine Planung. In diesem Moment, in ei-nem Augenblick verdampft. Fort. Und er hatte kei-ne Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

Nachdem sie vom Bus in das Gebäude gedrängt worden waren, in dem sich die Geheimarchive be-fanden, hatten er und die anderen Seminaristen Pater Erasmus kennengelernt, der ihnen eine kurze Einführung in das gegeben hatte, was der Papst von ihnen erwartete. Es klang wie eine gute Mischung aus Fleißarbeit und guter, alter Plackerei, und er war froh, dass er nicht viel damit zu tun hatte.

Dann waren an der Tür zu dem vollgestopften Raum mehrere Archivare erschienen und hatten alle aufgefordert, ihnen in das Labyrinth von Bü-cherstapeln, Regalen, Alkoven und Magazinen zu folgen. Gaetano war, trotz seiner zielstrebigen Eile, unwillkürlich beeindruckt von der reinen Größe

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der Archive. Endlose Räume voller Regale wanden sich in alle Richtungen. Man könnte Hunderte von Jahren durch diese Räumlichkeiten wandern und ihre Geheimnisse doch nicht einmal annähernd ergründen.

Dieser Ort regte seine Fantasie an, und er fragte sich, welche Mysterien und Offenbarungen wohl inmitten dieser Millionen von Seiten verborgen lägen. Er verdrängte den Gedanken, während ihn sein Führer, ein Archivar namens Pater Paul, der die braune Tracht der Franziskaner trug, durch den Turm der Winde zu dem führte, was einst die Villa Borghese gewesen war.

»Der Heilige Vater beansprucht hier einen Raum für sich«, hatte Pater Paul mit furchtsamer Begeiste-rung gesagt, als sie an einer mit Schnitzereien ver-zierten Eichentür vorüberkamen. »Er ist jetzt hier, arbeitet Seite an Seite mit uns.«

»Er ist gleich hier?«, fragte Gaetano. »Direkt hin-ter dieser Tür?«

»Ja«, sagte der Archivar. »Wir sollten leise sein und seine höchst wichtige Arbeit nicht stören. Wenn Sie Glück haben, werden Sie ihn sehen oder sogar begrüßen können.«

He, ich bin begeistert, dachte Gaetano. Und, ja, ich weiß eine Begrüßung für ihn, in Ordnung …

Nachdem Pater Paul die Neuankömmlinge kurz in ihrem Arbeitsbereich herumgeführt hatte, wur-den ihnen Plätze zugewiesen und besondere Rega-le gezeigt, die sie allmählich sichten sollten.

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Gaetanos Platz war an einem langen, glänzend po-lierten Tisch im Aktenraum, der von Bankerlampen mit grünen Glasschirmen unterteilt wurde. Nie-mand hatte eine Bemerkung über die kleine Sport-tasche gemacht, die er bei sich trug, und das über-raschte ihn. Er hatte erwartet, dass sie sorgfältig durchsucht würde, aber entweder waren die Ange-hörigen der Schweizergarde von Egon Leutmann bestochen worden, damit sie ihn in Ruhe ließen, oder niemand befürchtete Schwierigkeiten durch einen Haufen unbedeutender Jesuiten.

Es war wirklich nicht wichtig, dachte er, wäh-rend er sich an dem Tisch niederließ und die Ny-lontasche unter seinen Stuhl schob. Als sich seine übrigen Busgefährten schließlich in dem Gebäude-flügel verstreut hatten, bückte er sich und öffnete den Reißverschluss der Tasche. In ihr befanden sich eine graue Sweathose und ein passender Pul-lover, ein weißes Handtuch und ein Paar Hightech-Basketballschuhe mit dicken Sohlen.

Die Tasche hatte keine Geheimfächer und kei-nen Zwischenboden, und der Inhalt schien sowohl für den beiläufigen Beobachter wie auch für je-manden, der nach Schwierigkeiten Ausschau hal-ten würde, vollkommen harmlos.

Aber sie enthielt dennoch Schwierigkeiten. Gaetano nahm den linken Basketballschuh

hoch, drehte ihn um und drückte auf einen be-stimmten Punkt an der Lauffläche. Mit weiterem Druck nach unten und einer Drehung des Handge-

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lenks glitt die Sohle zur Seite und offenbarte eine Reihe kleiner Porzellan- und Plastikteile, die in passgenauen Vertiefungen im Boden des Schuhs steckten. Er wiederholte die Prozedur mit dem rechten Schuh und begann dann, seine Glock 9 mm-Halbautomatik zu montieren.

Keine Metallteile, kein elektromagnetisches Auf-spüren.

Fein. Auch das letzte Teil rastete mit einem Klicken

präzise ein. Dann ließ er die milchweiße Waffe in seine lose sitzende Soutane gleiten und erhob sich, um die Toilette aufzusuchen. Nachdem er den Waschraum betreten hatte, schloss er sich in der am weitesten von der Tür entfernten Kabine ein und nahm dann vorsichtig und lautlos den Deckel vom Wasserkasten. Mit braunem Paketklebeband an der Innenseite des Deckels befestigt, befanden sich zwei Dreizehner-Streifen für die Glock.

Man konnte sich auf D’Agostinos Wort verlas-sen.

Gaetano fragte sich nicht, wie die Munition an die versprochene Stelle gelangt war. Er steckte ein-fach einen Munitionsstreifen in den Griff der wei-ßen Waffe und versenkte den anderen in seiner linken Tasche.

Wie hieß es in Filmen immer?, dachte er lä-chelnd bei sich. Lock and load!

In der Tat.

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Nach ungefähr einer Stunde vorgeblicher Suche nach einem erläuternden Manuskript aus einem angelsächsischen Kloster des achtzehnten Jahr-hunderts fühlte sich Gaetano sicher genug, um zu handeln. Es war vollkommen still in den Archiven, bis auf das gelegentlich beim Umblättern von Per-gament entstehende Wispern oder das Schließen eines Buches. Er konnte das gesamte Gebäude at-men spüren, ein feines Rascheln, das auf die darin herrschende Geschäftigkeit hinwies. Alle um ihn herum schienen von ihrer Arbeit völlig verein-nahmt, und nicht ein einziger Mensch bemerkte seine Abwesenheit vom Tisch.

Er verließ sich auf das, was er sich von den digi-talisierten Plänen der Archive eingeprägt hatte, und bewegte sich ruhig durch den Gang zu den Räu-men, in denen Peter Carenza zu finden sein würde.

Der Gang blieb menschenleer, während er ver-suchte, den schweren Messingknauf an der dicken Eichentür zu drehen. Niemand sah, wie er sich kurzzeitig anspannte, als ihm klar wurde, dass sie verschlossen war. Er nahm rasch ein Werkzeug mit schmalem Griff aus der Tasche, das aus der Praxis eines Zahnarztes hätte stammen können. Das un-tere Ende war von einer fingerhutähnlichen Gum-mihülle umschlossen, die Gaetano nun abnahm und in der linken Hand behielt. Mit der Rechten führte er das hitzegehärtete Werkzeug in das schwere Schloss ein. Er erspürte durch Tasten die Zuhaltung, bewegte die Spitze des Werkzeugs ge-

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schickt hin und her, verkantete sie, ergriff dann fest den Türknauf und drehte ihn.

Das Schloss gab widerstandslos nach, und er schlüpfte ungesehen und ungehört in den leeren Raum, der an das Büro des Papstes angrenzte. Er umschlich lautlos die Möbel und stieg verstohlen die Wendeltreppe hinauf.

Als er den Laufgang erreichte, ließ er sich auf al-le viere nieder und schob sich langsam voran, wo-bei er immer deutlicher die Stimmen zweier sich unterhaltender Männer hören konnte. Bald wurde offensichtlich, dass Peter seine Absichten mit je-mandem von größerem Einfluss und größerer Macht diskutierte.

Gaetano hatte innegehalten, um seine Waffe hervorzuziehen, deren Griff er nun mit einer Mi-schung aus Respekt und Erleichterung in der Hand hielt.

Der Mann, der mit Peter sprach, hatte eine so sanfte Stimme, dass sie zu fließen schien, aber sie besaß die Kraft von etwas Unaufhaltsamem, wie Lava. Seine Ausdrucksweise zeugte von einer voll-kommenen Beherrschung und einer unendlichen Zuversicht. Gaetano erkannte diese Qualität, die er bisher nur bei sehr wenigen Menschen erlebt hatte. Es war unheimlich, und es erschreckte ihn, wie nur wenige Dinge es je vermocht hatten.

Etwas Merkwürdiges ging vor sich, aber er hatte keine Zeit herauszufinden, was es war. Gaetano wusste, dass er handeln musste, ohne nachzudenken.

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Der Verbindungsgang war keine sechs Fuß lang, und er hatte ihn vollkommen lautlos zurückgelegt. Dem Klang der Stimmen nach zu urteilen, musste der Papst fast unmittelbar unter Gaetano stehen, vor einer Wendeltreppe genau wie diejenige im Nebenraum.

Ein paar Zoll weiter, und Gaetano wäre in Posi-tion.

Vorwärts und feuern und dann im Balkenwerk verschwinden.

Dann hatte ihn der Mann mit der Stimme verra-ten.

Lass dich nicht aufhalten!

Dieser Gedanke traf Gaetano wie Säure ins Ge-sicht. Keine Zeit, zu zögern oder die Möglichkeiten zu erwägen.

Er sprang auf, hechtete zum Geländer und den Treppenstufen, streckte den Arm mit der Waffe aus und zielte über das Geländer hinweg abwärts. Peter stand direkt unter ihm.

Gaetano registrierte alles als verschwommene Bewegungen und Farben. Ein Mann in den schwar-zen Gewändern eines Priesters sprang los und über einen Bibliothekstisch auf Peter zu.

Gerade als Gaetano den Abzug durchdrückte und die Halbautomatik die Stelle, wo Peter stand, mit HV-Kugeln zu durchsieben begann, prallte der rothaarige Priester auf Brusthöhe gegen Peter, wie ein Angreifer, der in einem Baseballspiel an der

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Torlinie auf einen Verteidiger trifft. Carenza wurde an die Rückwand unter der Wendeltreppe ge-schleudert und kam so aus dem Kugelhagel, der durch den ausgestreckten Körper des Priesters fegte.

Die Schüsse hatten viel Aufmerksamkeit erregt, und die Tür zu dem Raum wurde ruckartig geöffnet und ließ eine Flut von schwarzen Gewändern und Wachen in Zivil ein.

Gaetano schoss das gesamte Magazin leer und zog sich vom Geländer zurück, als die Wachleute in Zivil ihre Sig Sauers zückten und auf ihn zielten. Die Schüsse schlugen in der dicken Türschwelle ein, während er sich in dem kurzen Gang zu dem anderen Raum niederwarf. Über den polierten Holzboden schlingernd, gelangte er wie ein Ho-ckeyspieler voran, der die blaue Linie überquert, und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung über das Geländer bei der Treppe.

Der Sturz auf den Bibliothekstisch war nicht so schlimm, wie es aussah, und seine Beine und Knie federten den Aufprall mühelos ab. Vom Tisch springend, ersetzte er das abgeschossene Magazin durch ein neues, als er die Tür erreichte – gleichzei-tig mit jemandem auf der anderen Seite. Gaetano stieß sie mit der Schulter auf und ließ einen Wachmann für seine kluge Vorahnung bezahlen, indem er ihn über den Flur und an die gegenüber-liegende Wand schleuderte. Bevor sich der Mann von dem Zusammenprall erholen konnte, fuhr Gaetano herum und trat ihm unters Kinn,

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wodurch er ihm den Kiefer ausrenkte und ihm das Bewusstsein raubte.

Der in sich zusammensackende Wachmann war noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen, als Gaetano schon mit voller Geschwindigkeit den Gang des Ostflügels hinablief. Ein einzelnes Fens-ter am Ende des Ganges war die einzige Möglich-keit zu entkommen, auch wenn es drei Stockwerke über dem Garten lag. Das einsame Quadrat aus Sonnenlicht, umrahmt von verziertem Purpur und goldfarbenen Vorhängen, wurde immer größer, bis nur noch dieser eine Gegenstand in seinem Sicht-feld übrig blieb.

Flucht war jetzt seine einzige Chance. Er wusste, dass er keine Gelegenheit mehr hätte, Peter zu er-reichen.

Hinter sich hörte er das Klappern von Stiefeln und Schuhen mit harten Sohlen. Seine Ausbildung griff automatisch, und er machte einen Hecht-sprung nach vorn. Während er auf dem Bauch die glatten Fliesen entlangrutschte, surrte eine Salve von Schüssen wie tödliche Bienen über ihn hinweg und zerschmetterte die Glasscheiben des Fensters. Er kam neben dem Sims zum Halt und feuerte sei-nerseits eine schnelle Salve ab, die seine Verfolger zersprengte und ihm gerade genügend Zeit ver-schaffte, um hochzukommen und durch das Fens-ter zu springen.

Eine zweite Salve durchschlug den Holzrahmen, gerade als er auf einem Ziersims nur wenige Fuß

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unter dem Fenster landete. Als er die feste, glatte Oberfläche unter den Füßen spürte, dankte Gaeta-no dem Architekten im Stillen, weil er bei der Ge-staltung der Fassade so hoffnungslos altmodisch gewesen war.

Nachdem er sicheren Halt auf dem schmalen Sims gefunden hatte, stellte er sich rasch links ne-ben das zerbrochene Fenster, aus der Schusslinie heraus, wodurch ihm auch ein paar Sekunden Zeit blieb, den besten Fluchtweg auszumachen. Wenn er hinunterschaute, erschien ihm die Höhe von dreißig Fuß beängstigend, aber nicht tödlich – so-lange er etwas fand, was seinen Fall abbremsen könnte.

Eine weitere Salve durchschlug die Überreste des Fensterglases und -rahmens, nur wenige Zoll von seinem Kopf entfernt, aber er ignorierte es. Bleib konzentriert, dachte er ruhig. Als er das Gelände unter sich absuchte, bemerkte er keine ungewöhn-lichen Aktivitäten. Noch hatte ihn niemand hier oben bemerkt, aber es würde nicht lange dauern. Unmittelbar unter ihm verlief ein Fußweg aus Steinfliesen, der von hohen, dichten, sachkundig gepflegten Hecken gesäumt war und zur Linken zu einem Hof führte. Zur Rechten bildete er ein dia-gonal durch die bunten Farben der vatikanischen Gärten verlaufendes Band.

Der Eingang zu diesem Bereich des Gartens wurde von einem großen Rosenspalier in der Form eines klassischen römischen Bogens markiert.

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Laute Schritte und die Rufe wütender Männer unmittelbar hinter dem zerschossenen Fenster ver-anlassten Gaetano, sich umzuwenden und zu feu-ern. Der erste Mann, der sich aus dem Fenster lehn-te, fing sich einen Schuss in die Schläfe ein, der seinen Kopf wie eine überreife Melone explodieren ließ. Als er hinabstürzte, hielten seine Kollegen entsetzt inne, und Gaetano nutzte den Moment.

Er stieß sich von dem Sims und der Außenwand des Gebäudes ab, auf das große Rosengitter zu. Es war keine Zeit gewesen, sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Er rollte sich kanonen-kugelartig zusammen und hoffte, dass er einen ausreichenden Bogen in seinen Sprung eingerech-net hatte. Die roten und weißen Farbflecke des Ro-senspaliers breiteten sich aus, bis sie sein Sichtfeld vollkommen ausfüllten, und dann prallte er in dessen grüne Mitte.

Das Holzgitter zersplitterte mit lautem Krachen, und tausend Dornen schnitten wie Skalpelle in seine Haut und zerfetzten seine Soutane. Die Mitte des umrankten Holzbogens brach und sackte ein-wärts, sodass das gesamte Gitter ihn wie zwei Hän-de umwölbte und unerwartet sanft auf der Erde absetzte.

Gaetano musste sich aus den Pflanzen mit ihren rasiermesserscharfen Dornen und dem zersplitter-ten Holz freikämpfen – keine leichte Aufgabe, aber weitaus besser als alle anderen Alternativen.

Als er damit begann, hallte plötzlich die Luft

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von panischen, zornigen, entsetzten und rachsüch-tigen Geräuschen wider. Sirenen, Schüsse, quiet-schende Reifen, schreiende Menschen – für ihn alles erfreuliche Geräusche.

Sie bedeuteten einen Mangel an Planung, wie man einen Flüchtigen wie ihn einfangen sollte.

In weniger als zehn Sekunden befreite er sich aus seinem Dornengefängnis, indem er sich wand und herumrollte und duckte und drehte, ungefähr die Zeitspanne, die seine Verfolger im dritten Stock brauchten, um sich auf die neue Situation einzu-stellen und erneut aus dem Fenster auf ihn zu feu-ern. Er tauchte in die nächststehende Heckenreihe ein, entkam so der letzten Salve, und drang auf der anderen Seite wieder hervor, von einem Meer von Hortensien verschlungen. Rasch wand er sich durch die durchdringend süß duftenden Pflanzen und rannte dann los.

Während er wild durch die Gärten stampfte, bemerkte er, dass seine Soutane buchstäblich in lange schwarze Fetzen und Streifen zerrissen war. Seine karmesinrot gestreiften Arme und Beine wa-ren kaum noch bedeckt. Welch ein verdammter Schlamassel!

Wo, zum Teufel, sollte er hingehen, wo er doch so aussah, als wäre er nur knapp einer Begegnung mit einem Holzhäcksler entkommen?

Er lief parallel zur Hecke und blieb in der De-ckung der Blumen- und Strauchbeete, wann immer möglich. Unglaublich, dass ihn noch niemand

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entdeckt hatte, aber das würde sich bald ändern. Wenn er die Zufahrt und die Parkplätze erreichte, müssten sie blind sein, wenn sie ihn nicht sähen.

Aber er hatte keine andere Wahl. Tief geduckt hastete er durch das Grün, rang

nach Atem und kämpfte gegen Seitenstiche an. Aus mehreren tiefen Schnittwunden an seiner Stirn rann Blut, das ihm in die Augen lief und seine Sicht behinderte. Sirenen und Autohupen erfüllten die Luft.

Gottverdammt, er hatte alles total verpfuscht! Aber es war nicht sein Fehler. Der andere Bur-

sche in dem Raum hatte irgendwie gewusst, dass er da war!

Und das war unmöglich – es sei denn, es hätte ihn jemand verraten. Es sei denn, er wäre die ganze Zeit nur eine Art Schachfigur gewesen. Aber wa-rum?

Nichts davon ergab einen Sinn. Gaetano überblickte das vor ihm liegende Ge-

lände. Gleich würde er die Deckung, die ihm die Pflanzen gaben, verlassen müssen. Seine größte Chance zu entkommen bestünde darin, auf der Zufahrt einen Wagen zu finden, den Fahrer heraus-zuzerren und das Fahrzeug zu entführen. Er hasste den Gedanken, aber es könnte die einzige Mög-lichkeit sein zu überleben.

Er trat hinter den Hecken hervor und überprüfte den Fahrweg.

Das Kreischen von Reifen auf Asphalt ließ ihn

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blitzschnell in die entgegengesetzte Richtung bli-cken. Ein schwarzer Mercedes SUV mit verdunkel-ten Fenstern schlitterte um die Ecke.

Gaetano beobachtete, wie alle vier Reifen durchdrehten, als der Wagen wie eine geschmeidi-ge Dschungelkatze vorwärtsschoss.

Direkt auf ihn zu. Das Geländefahrzeug drehte im letzten Moment

ab, wurde hart abgebremst und kam jäh vor ihm zum Stehen. Das Rauchglasfenster glitt herab und offenbarte D’Agostino am Steuer!

»Steigen Sie ein! Schnell!« Gaetano stieß erleichtert den Atem aus, packte

den Türgriff und riss die Beifahrertür auf. Er lächelte, während er in den Wagen sprang

und die Tür hinter sich zuzog. Aber dann bemerkte er die Colt Halbautomatik in D’Agostinos rechter Hand.

Sie deutete auf den schmalen Bereich zwischen Gaetanos Augen.

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Peter Carenza – Vatikanstadt 30. Oktober 2000

haos wogte überall um ihn herum, aber er schien von all dem Geschrei und Herumge-

renne seltsam unberührt. Peter kniete über dem Körper des Priesters mit

dem seltsamen Lächeln und dem dunkelroten Haar, einem so vor Böswilligkeit überströmenden Körper, dass er die Ausstrahlung fast auf seiner Haut spüren konnte. Dunkelgrüne Augen bohrten sich in ihn. Der Körper lebte, aber nur gerade noch, und Peter konnte ein dringendes Verlangen in der ihn bewohnenden Präsenz spüren.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Peter, während er den Kopf des Mannes in den Händen barg.

Ein ganz leichtes Achselzucken. Der Mann sprach unendlich mühsam. »Die Regeln. Kein di-rektes Eingreifen. Alle Wahlen … alle Handlungen … müssen … in menschlicher … Gestalt gesche-hen.«

»Wer war das?« »Muss jetzt … gehen.« »Warten Sie!«

C

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»Kann nicht. Kann nicht … bin hier drinnen ge-fangen …«

»Nein, warten Sie! Was ist mit Gizeh?« Noch während er sprach, konnte Peter sehen, wie das Licht hinter den grünen Augen abrupt erlosch. Ein Schaudern durchlief ihn, als die Wesenheit ent-schwand, und der Körper des Priesters sackte zu-sammen.

Ohne darüber nachzudenken, legte Peter seine Hände über die klaffenden Brustwunden. Wärme baute sich unter seinen Handflächen auf. Der cha-rakteristische Geruch von Ozon durchdrang die Luft, und eine schwache blaue Aura umgab seine Hände. Wie ein unbeteiligter Dritter beobachtete Peter, wie das azurblaue Licht aus seinen Händen in die Brustwunden zu fließen begann, während es vor Lebenskraft knisterte.

Er wurde einen Moment von einem leichten Schwindel erfasst. Das Gefühl, in einen schreckli-chen Strudel unendlicher Dunkelheit hineingezo-gen zu werden, überwältigte ihn, und er wider-stand dem Drang, sich zurückzuziehen, sich zu schützen.

Peter berührte den Stoff des Todes selbst – die ultimative Entropie aller Dinge. Die Abwesenheit der Existenz öffnete sich gähnend vor ihm, und er stellte sich vor, dass sie ihm wie eine verführerische Frau zuwinkte. Er nickte, überwiegend für sich selbst, in Anerkennung der ihr eigenen Anzie-hungskraft der vollkommenen Leere.

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Wie leicht es wäre, ein Teil davon zu werden. Peter öffnete die Augen, wusste nicht, dass er sie

geschlossen hatte. Als er auf die tödlichen Wunden des Priesters hinabblickte, überraschte es ihn zu sehen, dass sie nicht zu verschwinden, zu heilen begonnen hatten. Das versehrte Fleisch hatte sich nicht geglättet, und die zyanotische Gesichtsfarbe des Mannes war noch dunkler geworden.

Er nahm seine Hände fort. Die Aura schwand, und Peter beobachtete, wie die Augenlider des Priesters flatterten und sich dann schlossen.

Sie würden sich nie wieder öffnen. Ein erneutes Schaudern durchfuhr Peter, als er

erkannte, was geschehen war … oder eher, was nicht geschehen war.

Seine Gabe, Leben und Heilung zu gewähren, war viel zu … göttlich gewesen … um seinen letz-ten Selbstoffenbarungen widerstehen zu können. Dieser Gedanke traf ihn wie ein Torpedo mitten in die Eingeweide.

Peter sah auf den toten Mann hinab. Früher in seinem Leben hätte er vielleicht über sein Versa-gen, den Priester nicht gerettet zu haben, geweint. Jetzt, in diesem Moment des sich drehenden Uni-versums, betrachtete er den Mann mit einer Kälte, die ihm Angst einjagte.

Der Moment verging, und plötzlich drangen Leute in den Raum, redeten alle durcheinander, scharten sich um ihn. Die Schweizergarde drängte sich durch die Menge, versuchte, zu ihm zu gelan-

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gen. Als die Gardisten schließlich einen Schutzring um ihn bildeten, musste Peter ihnen immer wieder versichern, dass er unverletzt war.

Er bat einige der Zuschauer, etwas wegen des to-ten Mannes zu unternehmen, in der Hoffnung, dass sich niemand fragen würde, warum er ihm nicht auf die wundersamste Weise geholfen hatte.

Wachleute in Zivil und uniformierte Offiziere trafen ein, kümmerten sich um den Leichnam und geleiteten Peter aus dem Raum. Erst da begriff er wirklich, dass ihn jemand umzubringen versucht hatte. Diese Vorstellung barg für ihn erstaunli-cherweise kein Entsetzen.

Tatsächlich war da eine gewisse Anziehung, die er noch nicht beschreiben konnte. Er blickte mit einem kleinen verzerrten Lächeln zu dem Chefa-genten. »Haben Sie ihn erwischt?«

»Er war wie der Wind«, sagte der Mann. Peter runzelte die Stirn. »Ich verstehe das als ein

Nein.«

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Marion Windsor – Kairo 30. Oktober 2000

ie Arbeitsameisen wuchtete das Bodenper-sonal von SkyFreight rund um sie herum

Frachtstücke auf die Transportbänder oder von ihnen herunter. Niemand schien die drei Men-schen zu bemerken, die den beiden Männern in Beduinengewändern zu entkommen versuchten. Oder wenn sie es taten, kümmerte es sie offensicht-lich nicht.

»Halt!«, sagte eine vertraute Stimme. Marion betrachtete den größeren Mann genauer,

während er auf sie zukam. Es war Pater Francesco, und der Gegenstand, den er aus seinem langen Leinen-Staubmantel gezogen hatte, war keine Pis-tole, sondern ein Umschlag aus Manilapapier.

Bevor sie etwas sagen konnte, ging Kardinal Lareggia schon mit ausgebreiteten Armen schwer-fällig auf ihn zu. »Giovanni! Sie sind es! Ich glaub-te, Sie zu erkennen, selbst von dort hinten.«

Francesco setzte sein verschlagenes Lächeln auf und drückte den wuchtigen Kardinal kurz und flüchtig.

»Also haben Sie es geschafft! Sie sind in Sicher-heit«, sagte Lareggia.

W

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»Ja, mit ein wenig Hilfe einiger Freunde«, sagte Francesco, während er den Overall seines Kollegen mit offensichtlicher Heiterkeit betrachtete. »Ein ganz schöner Unterschied im Vergleich zu Ihrer üblichen Garderobe.«

Der Kardinal errötete vor Verärgerung und Ver-legenheit gleichermaßen, während Francesco auf seinen Begleiter deutete. »Etienne, Miss Windsor, dies ist Bruder Sforza. Er gehört zum Orden der Malteserritter.« Der kleinere Mann stand mit gleichmütiger Miene neben ihm. Mit seinen einge-fallenen Wangen und den scharfen Augen wirkte er wie ein Schleifer der Marines. Er hatte eine musku-löse, kompakte Gestalt und schien in bester Verfas-sung zu sein für jemanden, der nicht mehr in den Vierzigern war.

Begrüßungen wurden ausgetauscht, während die Geschäftigkeit des Frachthangars um sie herum-wogte. Trotz ihres Alters machten die beiden Män-ner einen forschen abenteuerlustigen Eindruck, und ihre Zuversicht war ansteckend.

»Wie haben Sie uns ausfindig gemacht?«, fragte Lareggia.

»Wir haben Sie durch den SSV aufgespürt. Unse-re Einrichtungen sind erstklassig«, antwortete Francesco. »Worum geht es bei alledem hier?«

»Es ist ein Teil von Gottes Plan«, sagte Etienne. »Aber es werden einige Erklärungen nötig sein«,

fügte Marion hinzu, während sie sich im Hangar umsah. »Dies ist wahrscheinlich nicht der beste Ort.«

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»Allerdings nicht«, sagte Bruder Sforza. Seine Stimme ließ vermuten, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Wir haben dafür gesorgt, dass Sie in Kairo separiert werden. Natürlich nicht ge-gen Ihren Willen, aber Sie müssen wissen, dass Peter Carenzas Leute nach Ihnen suchen.«

»Oh, ja«, sagte Marion. »Wir möchten auch, dass Sie über diesen Mann

hier Bescheid wissen«, sagte Francesco und reichte Marion den Umschlag aus Manilapapier. »Sein Name ist Gaetano. Er arbeitet mit uns zusammen – um Peter zu töten.«

Marion öffnete gerade den Umschlag, als er die-se letzten vier Worte äußerte, und sie spürte, trotz ihrer Empfindungen in Bezug auf Peter und das, was aus ihm geworden war, wie sich ihr ganzer Körper kurz anspannte. Der Gedanke, dass jemand Peter töten wollte, war erschreckend, und ihn sich tot vorzustellen, war schwer.

»Ihn töten?«, fragte Lareggia offensichtlich scho-ckiert.

Marion zog ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Umschlag. Es zeigte einen Mann in den Dreißigern mit dunklem Haar und tief liegenden, intensiven dunklen Augen. Er hatte eine kräftige Kinnlinie und Nase und war auf eine raue, bescheidene Art gut aussehend. Und er wirkte seltsam vertraut. Sie hatte das unheimliche Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben.

»Er ist Targenos Bruder«, sagte Francesco.

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So viel zur Vertrautheit, dachte Marion. Sie sah Etienne an, die schwieg. Wenn der Gedanke, dass jemand ihren Sohn töten wollte, sie auch nur im Geringsten beunruhigte, zeigte sie es nicht. In die-ser Hinsicht war sie in ihrem Glauben nicht weni-ger resolut als der biblische Abraham, der bereit gewesen war, seinen Sohn auf Gottes Geheiß hin zu opfern. Und so sollte man vermutlich handeln, dachte Marion sarkastisch, wenn man einen direk-ten Draht zu Gott hatte.

»Ich hoffe, er dient der Kirche ebenso gut, wie sein Bruder es getan hat«, sagte Lareggia.

»Treffen wir diesen Mann?«, fragte Marion. Sforza schüttelte den Kopf. »Das gehört nicht

zum gegenwärtigen Plan, aber man kann in diesem Geschäft nie wissen. Ich wollte nur, dass Sie sich seiner als Teil der Gleichung bewusst sind. Sollten Sie ihm begegnen, werden Sie wissen, dass er auf unserer Seite steht.«

»Sind Sie sich dessen sicher?«, fragte Lareggia. »Wir vertrauen darauf, Paolo«, sagte Francesco.

»Aber er wird auch noch von weiteren Geheim-agenten beobachtet.«

»Sein größter Vorteil ist, dass er in diesem schauerlichen Geschäft vollkommen unbekannt ist«, sagte Sforza.

»Vollkommen unauffällig«, sagte Francesco. »Wo ist er jetzt?«, fragte Marion. Sforza antwortete: »Er befindet sich in den Ge-

heimarchiven, während wir miteinander sprechen.

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Wir sollten sehr bald mehr erfahren. Aber für den Moment möchten wir Sie zu einem sicheren Ort bringen, wo Sie auch etwas angemessenere Klei-dung vorfinden werden.«

Der Kardinal streckte die Arme in dem engen Overall. »Das klingt nach einer hervorragenden Idee. Ich kann es kaum erwarten, hier herauszu-kommen!«

Alle lachten leise, während sie Bruder Sforza zu einer Seitentür des Hangars folgten, die sich auf eine schmale Gasse zwischen den Gebäuden öffne-te.

Ein Mercedes wartete dort, und sie stiegen ein. Nachdem Sforza das Fahrzeug vom Hangargelände gelenkt hatte, betätigte er verschiedene Marion un-bekannte Schalter, die am Armaturenbrett und der Mittelkonsole angebracht waren. Sie nahm an, dass diese Ausrüstung eine Art Anti-Überwachungs-anlage war, fragte aber nicht danach.

Anscheinend zufrieden mit den Daten auf den Instrumenten, drückte Sforza aufs Gaspedal, und alle sanken ein wenig tiefer in die Ledersitze. Als die glänzende Limousine auf die Flughafenstraße eingebogen war und auf das Zentrum von Kairo zuhielt, schaute Sforza zu seinen Fahrgästen zu-rück. »Wohin geht es von hier aus?«

»Nach Gizeh«, sagte Etienne. »Zur Großen Py-ramide.«

Der Malteserritter lächelte. »Beeindruckend. Wann?«

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»Wenn die Sieben Schlüssel dort sind.« Gerade als Marion mit ihrem Bericht beginnen

wollte, wurde sie vom elektronischen Zirpen des Satellitentelefons unterbrochen. Sforza nahm es aus seiner Brusttasche und klappte es auf. Das Ge-spräch war nur kurz, und als es beendet war, sagte er, zu niemandem im Besonderen: »Wir haben Schwierigkeiten.«

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Die Sieben

Charles Green

ie Fahrt vom Flughafen Gatwick aus war nicht so schlimm wie erwartet, da er einen

Taurus mit Automatikgetriebe gemietet hatte – und was machte es da schon, dass sich das Lenk-rad auf der falschen Seite befand! Charlie lächelte vor sich hin, während er eine zweispurige Straße auf der »falschen« Seite in Richtung Glastonbury entlangfuhr.

Tatsächlich bereitete ihm das Fahren keinerlei Mühe, und er fragte sich, ob seine Dyslexie etwas damit zu tun hatte.

Er hatte die Welt schon immer anders gesehen als seine Mitmenschen und musste sich dem an-passen, was sie die reale Welt nannten. Dennoch war ihm bewusst, dass sich fast alle anderen irrten und er recht hatte.

Anders als Joan hielt es niemand für eine gute Idee, dass er zu seiner Mission nach England auf-brach. Die Jungs bei der Arbeit, seine Freunde in der Stadt, die Reporter, sie alle. Niemand außer den Generalbevollmächtigten der Kirche der Heili-

D

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gen der Letzten Tage. Als Charlie ihnen im Tempel seine Geschichte erzählt hatte und ihnen klar wur-de, dass er Kontakt zu einem Geist oder einer Hei-ligenerscheinung gehabt haben mochte, hatten sie ihn ermutigt, dem so genau wie möglich nachzu-gehen. Charlies Ruf als frommer und aufrechter Mann flößte seinen Mormonenälteren Vertrauen ein – so großes Vertrauen, dass sie seine Reise fi-nanziert hatten.

Er fuhr an einem Straßenschild vorbei, das ihm anzeigte, dass es nur noch drei Kilometer bis Glas-tonbury waren. Auch gut. Der Jetlag durch den Nachtflug hatte ihn schließlich eingeholt. Er war erschöpft und hungrig und plante, trotz allem, was er stets über britisches Essen gehört hatte, Massen davon zu vertilgen, egal wo oder was es war.

Wahrscheinlich hätte er nach dem Flug ein we-nig schlafen sollen, aber der Gedanke, den größten Tag seines Lebens zu verpassen, war unvorstellbar – auch wenn er beständig das ausgesprochen lästi-ge Gefühl leugnen musste, dass er von diesem Abenteuer nicht zurückkehren würde.

Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, gleichgültig, welche Gebete er flüsterte. Es beunruhigte ihn, dass Gottes Preis für seinen Dienst und seine Hingabe darin bestehen könnte, dass er seine Frau nie wie-dersehen würde.

Nicht dass das etwas an seiner Entscheidung o-der seiner Ergebenheit Gott gegenüber geändert hätte. Nein, Sir, Charlie Green war kein solcher

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Mensch. Die Lady in seinen Träumen hatte ihm gesagt, er sei ein Schlüssel zu einer der Sieben Kir-chen, und Charlie kannte seine Bibel gut genug, um zu wissen, dass es um diesen Hinweis ging. Und der Gedanke, vielleicht die Verzückung zu erleben, erregte ihn offen gesagt.

Die Stadt Glastonbury kam in Sicht. Zunächst einige verstreute Hütten, dann ein oder zwei Häu-ser, an denen Bed-and-Breakfast-Schilder hingen, sowie einige rote Telefonzellen und plötzlich die Hauptkreuzung, eine Stelle abseits des Zentrums, grasbewachsen, von einem Bordstein zusammen-gehalten und mit einem kleinen Betonobelisk in der Mitte. Glastonbury war eindeutig nicht die Stadt, die Charlie sich nach der Lektüre des Reise-führers auf dem Flug vorgestellt hatte.

Er fuhr langsam an dem kleinen Kreisverkehr vorbei und hielt nach einem Parkplatz Ausschau. Überall am Straßenrand war Platz, und die Fuß-gänger achteten nicht im Geringsten auf ihn. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, blieb er neben dem Fahrzeug stehen und bemerkte einen Zeitungsständer mit dem Globe. Die Schlagzeile beschäftigte sich mit der unbeständigen Sonne. Nun, wenn es so ist, dachte er, dann hat das viel-leicht etwas mit dem Job zu tun, den Gott für ihn ausgesucht hatte.

Das Ende der Welt, wie wir es kennen … Wäre das nicht was?, sann er, während er den

Rücken streckte. Nun, das war für Charlie okay. Er

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hatte sein ganzes Leben lang auf diesen Moment hingelebt, in dem er Gott begegnen würde.

Aber gerade jetzt brachte sein Rücken ihn um. Selbst während seiner Arbeit als FedEx-Fahrer hatte er sich nie daran gewöhnt, über lange Zeit in einer Position zu sitzen. Das Beste wäre, wenn er ein wenig liefe, alle Gelenke lockerte. Er betrachtete sich im Schaufenster eines Geschäfts und stellte fest, dass er ebenso als Brite wie als Yankee durch-gehen könnte. In Khaki, Rollkragenpullover und eine Popelinejacke gekleidet, sah er wie jeder ande-re Fünfzigjährige aus, der an einem milden Tag spazieren ging.

Einen ungefähren Stadtplan aus einem Reise-führer vor seinem geistigen Auge, orientierte er sich in Richtung Glastonbury Abbey und konnte deren beeindruckende Masse auch mühelos ausmachen. Die dicken Mauern standen trotzig da, obwohl das Dach eingestürzt und der Boden grasüberwuchert war. Charlie konnte drei verschiedene Steinschich-ten in dem Mauerwerk ausmachen, eine jede aus-gefeilter in der Technik ihrer handwerklichen Aus-führung, jede wie eine geologische Zeitschicht.

Er fühlte sich einen Moment benommen. Das Alter dieses Ortes umfing ihn wie ein lange ver-misster Verwandter. Etwas begann im Zentrum seiner Seele zu pulsieren, wie ein Metalldetektor oder ein Geigerzähler, und Charlie wurde von die-ser Empfindung sowohl abgestoßen als auch ange-zogen.

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Seelisch-geistig empfindsame Menschen, dachte er, hatten in Bezug auf Glastonbury recht. Es war ein besonderer Ort, ein heiliger Ort. Man konnte es einfach spüren. Während er weiter durch die Rui-nen der Abtei wanderte, erinnerte er sich, in einem der Bücher gelesen zu haben, dass manche Gelehr-te des Neuen Testaments glaubten, Joseph von Arimathaia habe den Ärmelkanal mit Jesus in einer römischen Galeere überquert, als dieser noch ein Kind war. Jetzt erkannte Charlie, dass es wirklich geschehen war. Vielleicht war der junge Christus genau diesen Weg entlanggegangen.

Die Traumlady hatte ihm gesagt, er würde die Kirche erkennen, wenn er sie sähe, und die Kirche würde gleichermaßen ihn erkennen. Und Charlie war nicht so naiv zu glauben, er müsse eine tat-sächliche Kirche finden – besonders da bekannt war, dass die göttliche Offenbarung einer übertrie-benen Metapher sehr nahe kam. Er hielt inne, um eine Gedenktafel zu seinen Füßen zu lesen, die besagte, dass er über den Gräbern von Arthur und Guinevere stand, und einen kurzen Abriss darüber gab, wie Mönche hier Knochen entdeckt hatten, die später von einem rachsüchtigen Henry verstreut wurden.

Er wanderte weiter und traf am entgegengesetz-ten Ende des Abteigeländes schließlich auf einen Garten. Obwohl ihn die Klosteranlage mit ihrer besonderen, uralten Anmut gefangen hielt, war ihm klar, dass dies nicht der Ort war, der ihn suchte.

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Während er zu seinem Wagen zurückkehrte, dachte er über Arthurs Grab und die Legenden, die sich um diesen großen König rankten, nach. Man glaubte, dass Glastonbury selbst die ursprüngliche Lage von Annwn kennzeichnete, das den Eingang zur Unterwelt darstellte. Konnte das die Kirche sein, die er suchte?

Charlie lächelte in sich hinein, als er den robus-ten Taurus anließ. Wenn Annwn sein Ziel war, be-fand er sich in Schwierigkeiten – es wurde in kei-nem der Reiseführer erwähnt.

Aber ein anderer Ort war verzeichnet, ein Ort namens Avalon.

Während er dort am Straßenrand in seinem Wa-gen saß, nahm er einen der Reiseführer aus seiner L. L. Bean-Tragetasche und blätterte ihn bis zu der Seite mit der entsprechenden Straßenkarte durch. Gegen eine Empfindung ankämpfend, die den ers-ten unbestimmten Eindrücken des armen Scott Raney nicht unähnlich war, der mit zerschmetter-ten Gliedern in jenem Brunnen lag, wählte er die Fahrtroute zu seinem nächsten Ziel. Er lenkte die Limousine eine enge Seitenstraße hinab aus der Stadt hinaus und gelangte auf eine Landstraße mit wogenden Wiesen zu beiden Seiten, die durch He-cken abgeteilt waren. Erneut hielt er am Straßen-rand an.

Ein kurzer Spaziergang an den Heckenzäunen entlang endete in einem urtümlichen Tal, von der Sonne vergoldet und mit einem Hügel in der Mitte,

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der wie ein Miniatur-Vulkanschlot aussah und nur wenige hundert Fuß hoch war. Schafe grasten an seinen steilen Hängen, und ein Weg zog sich spi-ralförmig bis zu einem kleinen Turm auf dem Gip-fel.

Einige Historiker waren der Meinung, dieser Ort könne das Avalon der Legende gewesen sein, wo-bei der kleine Turm oben auf dem Hügel der Fel-senturm Merlins wäre. Je näher Charlie dem kegel-förmigen Hügel kam, umso sicherer war er, dass diese Wissenschaftler recht gehabt hatten. Ihn be-schlich das Gefühl, sich einem gewaltigen elektri-schen Generator zu nähern. Seine Haut schien zu kribbeln. In einem der Bücher, die er über Glas-tonbury gefunden hatte, wurde das erwähnt, was die Mystiker »geweihte Geometrie« nannten. Ein Visionär, Alfred Watkins, hatte die Theorie entwi-ckelt, dass alle heiligen Plätze der Welt durch un-sichtbare Kraftlinien, die er »Energielinien« nannte, unter der Erde miteinander verbunden wären. Die Chinesen hatten sie den »Pfad des Drachen« ge-nannt, und in anderen Kulturen waren ihnen ebenso dramatische und mysteriöse Namen zuge-wiesen worden.

Aber Charlie erkannte, dass sie alle dasselbe be-deuteten, zu denselben Schlüssen führten. Geo-mantie. Der Erde wohnte Macht inne.

Und sie war dort, weil Gott sie dort hineingelegt hatte.

Während er den spiralförmigen Weg hinaufging,

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wurden die Einzelheiten des Felsenturms deutli-cher. Das elektrisierende, Hautkribbeln verursa-chende Gefühl nahm so stark zu, dass er fast ein Summen in der Luft hören konnte. Sonnenlicht überzog alles mit warmen Farben. Charlie emp-fand einen tiefen Frieden.

Die grasenden Schafe waren ebenfalls den Hügel hinaufgestiegen, und ihr Hirte, ein junger Mann in einem weißen Pullover mit Zopfmuster und pas-sender Schottenmütze, joggte fast den Hang herauf auf sie zu, rief sie zurück und schwenkte seinen Stab. Die Tiere ignorierten ihn jedoch weitgehend, während sie weiter Gras rupften.

Charlie erreichte den Fuß des Felsenturms, der auf allen vier Seiten offen war und stark an eine zweistöckige Riesen-Schachfigur erinnerte. Plötz-lich wusste er, dass er sich genau in die Mitte des Felsenturms stellen musste.

Genau wie ein Schlüssel in einem Schloss … Diese Vorstellung schien so passend, dass er

unwillkürlich lächelte, während er die letzten Schritte zum Gipfel des Hügels zurücklegte. Die Tallandschaft, die diesen Ort kreisförmig umgab, mochte vielleicht das Bett eines lange verdunsteten Sees gewesen sein.

»Das genügt, Kamerad«, sagte eine Stimme hin-ter ihm.

»Was?« Er wandte sich, nur wenige Fuß vor dem Felsen-

turm, langsam um und sah den Schafhirten im

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weißen Pullover. Große gelbe Zähne waren das Auffallendste an seinem schmalen, grobknochigen Gesicht. Der Mann deutete mit einer Pistole auf Charlie. Auf ihrem Lauf steckte ein Schalldämpfer.

Das hatte Gott also für mich festgeschrieben?, dachte Charlie in dem Moment, in dem er die Waf-fe sah. Der Moment, nach dem sich jeder fragt, der Moment, in dem er erfahren würde, wie er sterben musste, wurde ihm plötzlich und erbarmungslos offenbart. Aus einem unbestimmten Grund hatte Gott es so gewollt. Charlie lächelte und nickte. Das war für ihn in Ordnung. Er würde nur eine kleine Weile warten müssen, bis er Joan wiedersähe.

Charlie blickte seinen Angreifer freundlich an. Er verspürte ein scheußliches Brennen in der Ma-gengegend und begriff, dass die lautlose Waffe eine große Kugel in seine Körpermitte gespien hatte. Der Schmerz hüllte ihn ein wie Napalm. Seine Knie gaben nach, und während er langsam zu-sammenbrach, spürte er, wie der Mann die warme Mündung der Waffe an seine Stirn legte …

Huang Xiao

Es schien, als wäre er den größten Teil seines Le-bens durch die Dunkelheit der Nacht gestürzt. Als die Lady im strahlenden Licht zu ihm sprach, schwand alle Zeit und Bewegung einfach dahin, und Xiao hörte auf zu denken, während er ihr lauschte.

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Gott hatte ihn auserwählt, um zur heiligen Stadt Lhasa zu ziehen!

Nach einer unbestimmbaren Zeitspanne war die Lady mit der Dunkelheit verschmolzen, und Xiao wurde sich seines erschreckenden Sturzes durch die Nacht wieder bewusst. Entsetzen erfüllte ihn, aber er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, wie erschreckt er sein sollte – er war gerade in etwas Dickem, aber Nachgiebigem gelandet.

Die Masse umgab ihn wie Toffee, polsterte sein Gewicht ab, absorbierte die aufgenommene Ge-schwindigkeit. Xiao konnte spüren, wie die kalte Woge dichten Schlamms ihn gänzlich zu ver-schlingen drohte. Er begann um sich zu schlagen und zu treten, in der Hoffnung, auf etwas Festes zu stoßen, während die widerliche Fäulnis des Sump-fes wie eine schwere Plane über ihm zusammen-schlug. Panik durchzuckte ihn, während er den Kopf zurückbog, damit Nase und Mund nicht in dem stinkenden Morast einsanken. Welche Ironie, dass genau das, was ihn gerettet hatte, ihn jetzt vernichten konnte.

Als der Sumpf bereits an seine Mundwinkel schwappte, traf sein Fuß auf etwas Hartes tief im dichten Schlamm. Ein versunkener Stumpf, ein Fels, es war unwichtig – es gewährte ihm Aufschub, einen Halt, um zu Atem zu kommen und sich zu fassen. In weiter Ferne konnte er das schwache Rat-tern des sich entfernenden Zuges hören. Das Ster-nenlicht lieferte ihm eine nur schwache Beleuch-

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tung, aber es genügte ihm zu sehen, dass er am Rand eines Sumpfes eingesunken war. Ein wenig kräftiges Treten und Rudern sollte ihn rasch auf festeren Boden bringen.

Bald lag er auf festem Boden, tat dankbar einige tiefe Atemzüge und versuchte, sich zu sammeln.

Unglaublich war sein erster Gedanke gewesen, bis ihm bewusst wurde, dass ihn die Hand Gottes gestreift hatte. Dann erinnerte er sich an den ur-sprünglichen Grund für seine Flucht, aber tief in seinem Herzen wusste er, dass die Aufgabe, eine einzelne Stadt vor einem Erdbeben zu warnen, weitaus unwichtiger war als seine Verantwortung dem ganzen Planeten gegenüber. Ohne dass die Lady im Licht etwas darüber gesagt hätte, erkannte Xiao, dass dies alles etwas mit den Protuberanzen der Sonne zu tun hatte. Seine Gabe, aufkommende Gefahren in der Erde zu spüren, galt logischerweise auch für das All.

Etwas stand der Welt bevor. Er war sich noch nicht sicher, ob es etwas Gutes

oder Schlechtes war, aber er wusste, dass er unaus-weichlich damit verbunden war.

Aber Lhasa! Wie sollte er jemals dorthin gelan-gen? Was sollte er tun, wenn er in Lhasa ankäme? Und was war mit den Volksmilizionären? Sie wür-den ihre Bemühungen, ihn zu finden, gewiss ver-stärken, wenn sie von seiner Flucht aus dem Zug erfuhren.

Dieser Gedanke brachte Xiao zum Lächeln, als

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er sich vorstellte, wie verärgert die Bosse des Be-zirks sein würden. Es war nicht gut, vor einem Bauernjungen das Gesicht zu verlieren. Sich an den Sternen orientierend, machte er sich auf den Weg nach Yungchi.

*

Der Treck dauerte drei Tage, und er fand es seltsam, dass er auf keinerlei Widerstand traf, dass ihm niemand begegnete, der ihn suchte. Ungeachtet dessen hielt er sich an den Straßenrändern und sprang in Gebüsche und Gräben, um von Vorüber-gehenden nicht gesehen zu werden. Er reiste im Schutz der Nacht, ruhte sich während des Tages aus und stahl Essen und saubere Kleidung aus Koope-rativen, Verteilungszentren und vereinzelten halb-staatlichen Handelsmärkten.

In Yungchi hielt er sich mehrere Tage in Lager-häusern und LKW-Depots auf, hörte zu, schwieg und wartete darauf, von einer Verschiffung nach Kangding oder darüber hinaus, in den Bergbezirk Thanglha, zu hören. Nicht viele Lastwagen fuhren dorthin, sodass er sowohl geduldig als auch un-sichtbar bleiben musste. Er glitt in die Schatten und wieder aus ihnen hinaus, ernährte sich heim-lich und war immer wachsam. Xiao studierte die alltägliche Routine der Verschiffer, Fahrer, Spedi-teure sorgfältig. Er konnte selbst von seinen Verste-cken aus viel daraus schließen, wie Vorgänge ab-

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gewickelt, Fahrpläne eingehalten und Leute kon-trolliert wurden.

Vielleicht wurde Xiao wegen dieser Geduld und Schlauheit so reich belohnt. Oder vielleicht war es das Angesicht Gottes, das lächelnd in seine Rich-tung blickte? Er wollte gerne glauben, dass es eine vom Glück begünstigte Kombination war. Der Truck, den er während der Mittagspause mit Be-schlag belegt hatte, rumpelte und holperte jetzt schlecht instandgehaltene Straßen entlang. Er war mit Kisten beladen, die Ersatzteile für kleine Ben-zinmotoren enthielten, und sollte eine Reihe von Grenzstädten in den an Nepal grenzenden Ausläu-fern des Himalaja anfahren. Die Fahrt dauerte zwei Tage, eine lange, anstrengende Reise, in der Dun-kelheit des Laderaums versunken, mit nur einer gestohlenen Decke, die ihn während der kalten Nächte wärmte. Als der Lastwagen ein Lagerhaus in Tsangpo erreichte, fühlte sich Xiao bereits, als wäre er zur Befragung in einer Informationseinrichtung der Regierung festgehalten worden. Er war so sehr herumgestoßen worden, dass seine Kehrseite und seine Knie völlig blau waren.

Aber an diesem Abend, als der Fahrer sein Fahr-zeug verließ, um sich im örtlichen Vergnügungs-zentrum ein paar Drinks zu genehmigen, zwang sich Xiao, rasch und lautlos zu handeln. Er schlüpf-te in die Seitenstraßen und Quergassen und hielt sich dabei stets südwärts, näher zur Grenze hin.

Er glitt durch Schatten und Lichtkreise wie ein

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Dieb, und niemand gewährte ihm einen zweiten Blick, häufig nicht einmal einen ersten. Aber er musste vorsichtig sein, dass er nicht übertrieben zuversichtlich wurde. Die Sünde des Stolzes lässt auch die Besten straucheln. Besser wäre es, sich ständig so zu verhalten, als würde er verfolgt. Wachsamkeit würde ihm die Freiheit erhalten.

Xiao wusste, dass die Patrouillen entlang der nepalesischen Grenze während der letzten Jahre weniger häufig und weniger gründlich durchge-führt wurden, und er empfand es als fast lächerlich leicht, im Lande des Dalai Lama über eine sternen-beleuchtete Wiese zu schleichen. Er lief die ganze Nacht weiter, ohne Nahrung, ohne Rast, stets berg-auf. Nahe an seinem Ziel, nährte ihn die Macht seines Gottvertrauens, seines Glaubens an die Rechtschaffenheit seiner Mission.

Obwohl er jenseits der Grenzen seiner Heimat nahezu sicher war, wusste er doch, dass seine Re-gierung internationale Vereinbarungen ungestraft ignorieren würde, um zu bekommen, was sie woll-te. Er plante, bis zur Dämmerung zu wandern und sich dann während des Tages auszuruhen, aber nun entdeckte er, wie nahe er seinem Ziel schon gekommen war.

Die Tore Lhasas ragten hinter einer fernen Erhe-bung auf, Zwillingstürme, auf denen jahrhunderte-lang Wachen gestanden hatten. Selbst im fahlen Licht des Firmaments schimmerten sie wie ge-bleichte Knochen. Als er unter den Säulen hin-

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durchging, konnte er das Alter dieses Ortes und die zeitlose Präsenz Tausender Menschen spüren, die durch schmale Gassen und breite Prachtstraßen flaniert waren.

In der einsetzenden Morgendämmerung waren die Straßen noch nahezu verwaist, bis auf einige Männer in Arbeitskleidung und solche, die Over-alls trugen und die Gossen und Bürgersteige reinig-ten. Auch ein paar frühe Händler öffneten bereits ihre Marktstände und Kioske an den Straßenecken. Xiaos Herz hatte zu hämmern begonnen, als er sich seinem Ziel näherte. Er spürte, dass er lächelte, nicht selbstgefällig siegreich, sondern schlicht vor Freude über das Gelingen seines Vorhabens.

Die Tempel und Klöster Lhasas nahmen die Er-hebungen im geometrischen Zentrum der Stadt ein und waren über eine Reihe von in den Stein ge-meißelter Treppen zu erreichen. Als die Sonne die Spitzen der höchsten Türme berührte, begann Xiao den Aufstieg, wohlwissend, dass die letzte Station seiner Reise unmittelbar vor ihm lag. Irgendwo dort oben, innerhalb des Labyrinths uralter Ge-bäude, erwartete ein geweihter Ort seine Anwesen-heit. Er wusste, dass nur das eine nötig war: den Schlüssel in den Raum zu bringen.

Die Treppen führten an mehreren Terrassen, Gärten und Eingängen niedrigerer Gebäude vorbei, und als er an einer rot gestrichenen Tür vorüber-ging, kam ein Mönch in orangefarbenen Gewän-dern heraus.

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»Sie stammen aus dem Haus unseres Nach-barn«, sagte der Mönch. »Wir haben Sie schon er-wartet.«

Während Xiao sich verbeugte, wandte er den Blick von dem heiligen Mann ab. »Ich will Ihnen nichts Böses.«

»Das wissen wir«, sagte der Mönch. »Heiligkeit umgibt Sie. Niemand wird Sie aufhalten.«

»Wissen Sie von meiner … Mission?« »Jedermann hat eine Mission. Die Tragödie ist,

dass einige niemals erkennen, worin sie besteht.« Xiao nickte und schaute aufwärts. Der Mönch berührte seine Schulter und sagte:

»Ich werde Sie begleiten.« Schweigend ausschreitend, legten sie den restli-

chen Weg zurück, als folgten sie einem geheimen Leuchtfeuer, bis sie zu einem kleinen Garten ka-men, der von einem Kreis reich verzierter Säulen umgeben war. Die Sonne schien sich hier zu sam-meln wie geschmolzenes Gold, das auf den Steinen Teiche bildete, darüber hinwegfloss und sie mit einer speziellen Magie erwärmte.

Xiao schaute von den Säulen zu dem Mönch, der mit großer Ehrerbietung nickte und lächelte. »Ja«, sagte er, »so ist es.«

Xiao bewegte sich langsam, aber voller Selbst-vertrauen. Seine Glieder fühlten sich federartig und leicht an, als würden sie von Engelshänden getra-gen. Jeder Schritt war so mühelos, dass er glaubte, er würde schweben. Ein solches Gefühl der Hinga-

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be, der völligen Gelassenheit hatte er niemals er-wartet. Wenn es so war, ewig in der Gegenwart des Schöpfers zu sein, dann würde er seinen Tod will-kommen heißen, wann immer er kommen moch-te.

Als er den Säulenkreis betrat, spürte er die Hän-de Gottes auf sich. Beim Betreten der Kirche der Offenbarung des Johannes war das Siegel geöffnet.

So makellos. Einfach. Und einen Augenblick lang, wie bei einem ra-

schen Blick durch eine kurz geöffnete Tür, sah er die Zukunft der Welt sich wie einen endlosen Tep-pich entrollen. Und es war eine gute Sache. Er spürte keine schrecklichen Folgen, keine Ver-dammnis. War es seine Einbildung, oder schien die Sonne tatsächlich ein wenig stetiger? Xiao lächelte, während er in den Himmel blickte. Seine Aufgabe war es gewesen, dabei zu helfen, einen neuen An-fang einzuleiten, kein Ende.

Als er aus den Säulen heraustrat, erkannte er, dass die Lady im Licht ihn noch immer brauchte. Seine Reise war noch nicht zu Ende, und er musste zu ihr gehen, weil sie seine Kraft benötigte und weil er nun das Zeichen von Gottes Hand auf sei-nem Geist trug, wie ein Leuchtfeuer, das seine un-aufhaltsame Bahn durch die Dunkelheit schnitt. Er sah einen langen Weg sich von seinem jetzigen Standort fortwinden, und ihm wurde klar, wohin er nun gehen musste. All diese Dinge erkannte er,

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als wären sie schon immer ein Teil von ihm gewe-sen.

Xiao verbeugte sich vor dem Mönch, der ihn kniefällig beobachtet hatte, und ging langsam auf die Treppen zu, während er im Geiste bereits er-wog, wie weit es wohl bis zu den Ufern des Nils wäre und wie lange er brauchen würde, um dort-hin zu gelangen.

Carlos Accardi

Warum war ihm all dies widerfahren? Carlos hatte sich diese Frage seit dem Tag, an

dem er von der Brücke gesprungen war, immer wieder gestellt, und bis gestern Nacht hatte er keine Antwort bekommen. Da war ihm die Lady im Licht erneut erschienen und hatte ihm gesagt, er müsse nach Akapana reisen, die Festungsgrabstätte der Götter.

Er hatte nie auch nur von Akapana gehört, aber irgendwie wusste er sofort, wo es sich befand. In Bolivien. Die Bergdschungel der Anden, die älteste Stadt der Welt …

Tiahuanaco.

Er saß auf dem Schleudersitz des gecharterten Sikorsky, während die Zwillingsrotoren ihn mit dreihundert Meilen pro Stunde von Buenos Aires in nordwestlicher Richtung fortbrachten. Als er seine Bosse informiert hatte, dass er kurzzeitig Ur-

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laub benötigte, erfüllten sie seinen Wunsch nicht nur, sondern besorgten ihm auch einen Piloten und einen Chopper und kümmerten sich um Visa und Flugerlaubnisse, um ihm die Reise so leicht wie möglich zu machen.

So behandelte ein dankbares Volk seine Helden. Und Carlos konnte diese Freundlichkeit keines-wegs zurückweisen, auch wenn er es gerne getan hätte.

Der Flug dauerte fast fünf Stunden, und als sie sich den Koordinaten der Ruine näherten, merkte Carlos, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Er wusste, dass er am Rande von etwas Gewaltigem und Unverständlichem stand. Etwas von erschre-ckender Macht, das entweder unerwartete Verzü-ckung oder außerordentliche Verwirrung bewirken könnte.

Was auch immer es war – Carlos würde sich auf seinen Glauben verlassen wie auf einen Kompass. Er glaubte, dass mit Gott an seiner Seite alles mög-lich war und er nichts zu fürchten brauchte.

»Ich werde sie auf dreizehntausend Fuß absen-ken«, sagte sein Pilot, ein kleiner, gedrungener Mann namens Coco Barboza, der seit zwanzig Jah-ren für die Firma flog.

»Wie weit noch?«, fragte Carlos. »Wir sind bald da. Die Koordinaten sind fast er-

reicht. Jetzt müssen wir auf Sichtflug gehen.« Carlos nickte. Tiahuanaco lag in dem dichten

Bewuchs verborgen, der seine über fünfzehntau-

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send Jahre währende Erhabenheit allmählich zu-rückforderte, wenn man dem Archäologen H. S. Bellamy glaubte, den Carlos als unbestrittenen Fachmann für die Ruinen entdeckt hatte. Niemand behauptete, das exakte Datum des Entstehens der Stadt oder den Namen des Volkes zu kennen, das sie erbaut hatte, aber alle schienen mit Bellamy darin übereinzustimmen, dass die Technologie, die nötig war, um Akapana zu errichten, der Welt für weitere zehntausend Jahre verloren war.

Obwohl Coco die Geschwindigkeit des Chop-pers auf einhundert Meilen pro Stunde verringert hatte, würde es nicht leicht sein, die Ruinen zu sichten. Der Dschungel verschlang einen massiven Stein der Stadt nach dem anderen, und Carlos be-nutzte abwechselnd ein Zeiss-Fernglas und seine bloßen Augen, um das unter ihnen dahingleitende Gelände abzusuchen. Ihm war bewusst, dass eben-so viel Glück wie Können dazu gehörte, ihr Zielge-biet ohne Leuchtfeuer oder markante Gelände-punkte zu finden.

»Wir müssten direkt drüber sein!«, schrie Barbo-za.

Carlos betrachtete aufmerksam die dichte, grüne Barriere unter ihnen, die von gelegentlichen Fels-vorsprüngen oder vulkanischem Tafelland durch-brochen war. Plötzlich tanzten und wirbelten schwarze Flecke vor seinen Augen, und er fühlte sich fiebrig. Seine Hände begannen zu zittern, und er hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Die

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Stätte war nahe. Er konnte spüren, wie sie sich nach ihm ausstreckte. Vielleicht war da doch ein Leuchtfeuer.

»Es ist dort unten«, sagte er und stieß den Pilo-ten an. »Nahe. Ich kann es spüren!«

Barboza sah ihn überrascht an. »Señor, geht es Ihnen gut? Sie sehen furchtbar aus.«

Carlos nickte und schob dann das Schiebefens-ter aus Plexiglas zurück. Als der Luftstrom laut in die Kabine toste, lehnte er sich hinaus, so weit es der Sicherheitsgurt zuließ, und übergab sich. Wäh-rend sich das lange, von Galle durchsetzte Rinnsal abwärtsschlängelte, fühlte er sich allmählich bes-ser.

Seine Augen tränten, und als er blinzelte, um wieder klar zu sehen, bemerkte er die leuchtend weißen Steine der Stadt, die aus dem Grün hervor-ragten wie die Rippen eines in der Sonne trock-nenden Kadavers.

Carlos deutete hin, rief etwas, richtete sein Fern-glas darauf und spürte, wie ein Adrenalinschub alle seine Sinne mobilisierte. Während der Sikorsky tiefer ging, registrierte Carlos immer mehr Details der Ruinen. Breite Prachtstraßen, mehrschichtige Ebenen von dachlosen Gebäuden, die Geschäfte oder Ställe oder apartmentähnliche Behausungen hätten sein können.

»Ist das zu glauben?«, fragte Carlos laut. Seine Übelkeit war vergangen, von der reinen Freude der Entdeckung verdrängt.

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»Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen, Señor. Das ist wunderschön!«

»Sehen Sie! Sehen Sie nur, wie groß sie ist!« Woher kamen sie? Das Volk, das einen solchen Ort geschaffen hatte, mitten im dichtesten Dschungel verborgen. Woher hatten sie all diese fantastischen weißen Steinblöcke? Und wie hatten sie sie hierher transportiert?

»Wissen Sie, wo ich dieses Ding runtersetzen soll?«, schrie Barboza über das Wummern der Ro-toren hinweg.

»Nicht wirklich. Ich suche Akapana – es wird die Grabstätte der Götter genannt.«

»Wie sieht es aus?« »Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl,

dass ich es erkennen werde, wenn ich es sehe.« Barboza nickte, neigte den Steuerknüppel ge-

schickt und sank weiter auf die Bäume und Ranken zu, die in und über die Steine Tiahuanacos gekro-chen waren. Fast im gleichen Moment fing etwas Helles und strahlend Weißes den vollen Glanz der Sonne ein und blitzte kurz auf, als wollte es ihnen ein Zeichen geben. Für einen Augenblick spürte Carlos erneut dieses fiebrige Gefühl durch sich hindurchrauschen und deutete auf die Stelle.

Als der Pilot darauf zuhielt, konnte Carlos die Oberfläche von etwas ausmachen, was offensicht-lich der oberste Punkt eines pyramidenförmigen Gebildes war. Große glänzende Granitplatten bil-deten die Außenwände, aber viele waren so verwit-

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tert, dass sie herausgebrochen waren, sodass eine tiefere Ebene aus großen, soliden Blöcken sichtbar wurde. Während der Sikorsky fast unmittelbar über dem obersten Punkt schwebte, sah Carlos, dass das Gebilde extrem groß und höher als die höchsten Bäume war.

Und als sie genau über die Mitte der Pyramide hinwegflogen, kam es ihm vor, als schnitte ihn ei-ne heiße Klinge in zwei Hälften. Welch ein Gefühl!

Akapana. Dort unter ihm. »Runter!«, schrie er. »Genau hier! Das ist der

Ort!« »Ich kann nicht zwischen den Bäumen landen,

Señor!« »Dann so nahe wie möglich!« Der Pilot nickte und suchte das Laubdach nach

der nächstgelegenen Öffnung ab, nach einer Stelle, wo sich die Rotoren drehen konnten, ohne dass man befürchten musste, dass sie beschädigt wurden.

Carlos brannte regelrecht vor Aufregung und ei-ner schrecklichen Unruhe. All die Schicksalhaf-tigkeit und das Mysterium und die Erregung, von einem Boten Gottes berührt worden zu sein … für diesen Moment.

»Das sieht gut aus«, sagte Barboza. Er deutete auf eine Lücke im Laub, wo sich die Steinplatten dessen, was einst eine breite Prachtstraße gewesen sein musste, in Richtung der mächtigen Masse von Akapana kühn durch den Dschungel schlugen.

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Carlos schloss die Augen, als der Chopper nah an den Baumwipfeln vorbeisank und sofort von tiefgrünen Schatten umschlossen wurde. Sobald der Sikorsky den Boden berührte, machte Carlos seinen Sicherheitsgurt auf und kletterte hinaus. Zu seiner Rechten konnte er den Steinweg sehen, breit und flach wie das Deck eines Flugzeugträ-gers, der zu einer Treppe und einer Plattform führte, die einst einen breiten öffentlichen Ein-gang zu der großen Pyramide gestützt haben mussten.

Als er und der Pilot sich Akapana näherten, er-blickte er überall Beweise für das unerbittliche Vorankriechen des Dschungels. Ranken und Wur-zeln hatten sich jahrtausendelang in die Risse der Steine und Platten vorgearbeitet, sie angehoben und verschoben und schließlich alle Blöcke ver-rückt. Und was für Blöcke das waren! Aufgrund seiner Kenntnisse über Baumaterialien schätzte Carlos, dass jeder einzelne mindestens 150 Tonnen wiegen musste.

Ungeachtet dessen würde der Dschungel diesen Ort auseinandernehmen, wenn ihm genügend Jahrtausende blieben, ihn Stein um Stein zermah-len und alles wieder im Lehm und in der Erde ver-senken.

Aber noch nicht. Während sie aufwärtskletterten, erkannten sie,

was einst eine mit Kolonnaden versehene, freitra-gende Plattform mit je einer Treppe an beiden Sei-

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ten gewesen war – ein Ort, an dem Priester vor den versammelten Massen Rituale ausgeführt hatten.

»Dort drinnen«, sagte Carlos, während er auf den Eingang deutete. Er rückte den schmalen Werkzeuggürtel zurecht, den er trug, und überprüf-te automatisch, ob noch alle Werkzeuge vorhanden waren.

Die dunkle, halb eingestürzte Öffnung an der Seite der Pyramide erwartete sie wie der geöffnete Rachen eines riesigen Ungeheuers. Barboza zögerte und sagte dann mit einer Stimme, die seine Verle-genheit verriet: »Vielleicht sollte ich hier draußen auf Sie warten, Señor.«

»Sie haben Angst«, sagte Carlos. »Schämen Sie sich dessen nicht.«

»Aber Sie waren solch ein großer Held, ein guter Mensch. Meine Angst verleiht mir das Gefühl, in Ihrer Gegenwart wertlos zu sein.«

»Coco, ich habe ebenso große Angst wie Sie, aber ich erlaube mir nicht, darüber nachzudenken. Darin liegt der einzige Unterschied zwischen uns.« Carlos schlug ihm mit einer Geste betont männli-cher Anerkennung auf die Schulter. »Außerdem ist es klüger, wenn Sie hierbleiben, um den Chopper jederzeit startbereit zu halten.«

Coco lachte leise. »Meinen Sie, Señor? Ich werde bereit sein!«

Carlos ging weiter, bahnte sich seinen Weg durch den Schutt. Eine Mischung aus Erregung und Furcht erfüllte ihn, die mit jedem Schritt an Stärke

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zunahm. Als er sich dem Eingang näherte, bemerk-te er einen merkwürdigen Klang, ein flüsterndes Sirren, das von überall und nirgends gleichzeitig zu kommen schien. Es erinnerte ihn an kräftige, aber in Zeitlupe schlagende Insektenflügel. Er hatte die-ses Geräusch noch niemals zuvor gehört. Es war etwas ursprünglich Erschreckendes daran. Als er zu Barboza zurückblickte, konnte er erkennen, dass der Pilot das seltsame Geräusch auch gehört hatte und den Dschungel und den Himmel nach dessen Ursache absuchte.

Das Sirren wurde beständig lauter und unheim-licher. Während sich Carlos in die kalte Dunkelheit des Pyramideneingangs duckte, lauschte er ange-strengt auf jegliche Geräusche, die aus ihrem Inne-ren dringen mochten. Er bemerkte, dass die Stein-blöcke perfekt aufeinanderpassten, die Kanten so glatt aneinandergefügt, dass sie mit einem Laser hätten geschnitten sein können. Er regte sich nicht, verursachte kein Geräusch. Das uralte Gebäude war ebenso still.

Während er eine Taschenlampe von seinem Gürtel löste, bereit, tiefer in den Gang vorzudrin-gen, schaute er ein letztes Mal nach draußen, wo sich die Quelle des sanften Sirrens jäh offenbarte. Durch das Laubdach auf die freie Fläche hinab-sinkend, wo Barboza wie gelähmt stand, sah es wie eine riesige Libelle aus. Carlos erkannte, dass er ein plötzlich Wirklichkeit gewordenes Objekt der modernen Mythologie betrachtete. Der glän-

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zende schwarze Helikopter, lange Zeit von Ver-schwörern bevorzugt, hing einen Moment re-gungslos über dem Sikorsky, die Motoren kaum ein Flüstern, und setzte dann lautlos auf der stei-nernen Prachtstraße auf. Als ein halbes Dutzend bewaffnete Männer aus seinem Bauch drangen und Barboza umringten, handelte Carlos, ohne nachzudenken, wandte sich um und lief so schnell er konnte ins Innere der Pyramide, die Akapana genannt wurde.

Der Boden war von Staub bedeckt, der sich über mehr als zehntausend Jahre angesammelt hatte. In leichtem, aber stetigem Winkel neigte sich der Weg abwärts. Der Strahl seiner Taschenlampe war stark und drang weit in den Gang vor. Das fiebrige Ge-fühl war zurückgekehrt, und Carlos begriff, dass er sich dem Ziel seiner Mission näherte, der Kern-quelle des Bauwerks. Seine Schöpfer hatten es das Grabmal der Götter genannt, aber es war eine der geheimnisvollen apokalyptischen Kirchen des hei-ligen Johannes.

Carlos beschleunigte sein Tempo, die Stiefel auf dem Steinboden hart aufsetzend. Der Klang seiner Schritte schien durch den Gang zu hallen wie Donner. Die Männer in dem schwarzen Helikopter suchten nach ihm, wie er wusste, aber es kümmerte ihn nicht, was mit ihm geschah, solange er dem Geheiß seines Gottes nachkam.

Die Zeit verlor allen Sinn für Proportionen, während er weiter in das Gebilde hineinlief. Der

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Gang gabelte und wand sich mehrere Male, wie ein Labyrinth, aber Carlos rannte jedes Mal unbeirrt weiter, dachte nicht einmal darüber nach, welcher Weg der richtige wäre, sondern entschied einfach und setzte seinen Weg fort.

Hinter ihm die Geräusche seiner Verfolger. Die immer lauter wurden, immer näher kamen.

Seine fieberhafte Erregung nahm zu, und er fühlte sich, als wäre sein Blut kurz vor dem Siede-punkt. Carlos wollte innehalten, sich sammeln, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Wie ein Funkempfänger, der lauter und stärker wird, wenn er sich einem Sender nähert, fühlte er alle seine Sinne schärfer werden.

Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe traf in sei-nem vorderen Bereich jäh auf etwas sehr Helles, und ihm wurde klar, dass er fast am Ziel war. Er beschleunigte seine Schritte noch einmal, rannte den Steingang hinab auf die unaufgelöste Hellig-keit zu.

Und dann konnte er es sehen. Aus einem massi-ven Stück weißem Quarz gehauen, wie eine riesige Eisskulptur, ruhte in einem zentralen pyramiden-förmigen Raum eine exakte Miniaturausgabe Aka-panas. Ein bleistiftdünner Lichtstrahl berührte den obersten Punkt der Pyramide in einem perfekten Winkel, um sie mit prismatischem Licht zu erfül-len. Carlos schaltete seine Taschenlampe aus, blieb in dem unheimlichen Licht stehen und trat dann nahe genug heran, um den Strahl zu erkennen, der

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sich durch das Herz der Pyramide geradewegs zu dem Punkt hinaufbohrte, der noch immer durch das Laubdach des Waldes ragte. Er sammelte das Sonnenlicht und die Hitze und fokussierte sie hier, auf das Modell.

»Halt, Señor Accardi!«, schrie eine Stimme, aber Carlos war bereits vorwärtsgesprungen wie jemand, der in eine Lagune eintaucht.

Er landete mit um die Miniaturpyramide ausge-streckten Armen, und einen Moment lang wurden die fieberhafte Hitze, die in ihm pulsierte, und das fokussierte Prismenlicht der Quarzstruktur eins. Der Augenblick der Verschmelzung erfüllte ihn mit dem weiß-heißen Feuer reiner Freude, und er be-griff, dass er das Siegel geöffnet hatte.

Spektrallicht erfüllte den Raum, als er von der Quarzkopie herabrollte und unter Blinzeln erkann-te, dass die bewaffneten Männer aus dem schwar-zen Helikopter ihn umringten. Er lächelte ihnen zu, ungeachtet dessen, was als Nächstes kommen mochte, in dem Wissen, dass er vollbracht hatte, was von ihm gefordert wurde.

»Stehen Sie auf, Accardi«, sagte einer von ihnen.

»Sie kommen zu spät. Das Siegel ist geöffnet«, sagte Carlos, während er sich langsam von den Knien erhob.

»Solange wir Sie haben, sind wir nicht zu spät«, sagte der Anführer der Gruppe, ein muskulöser Mann von Ende zwanzig.

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»Wer sind Sie?«, fragte Carlos. »Der Papst hat uns geschickt.« Carlos war ehrlich verblüfft. »Der Papst! Er will,

dass Sie mich zu ihm bringen?« Der Mann im schwarzgrünen Drillichanzug

lachte leise. »Nein, Señor, er will, dass wir Sie tö-ten.«

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Gaetano – Rom 30. Oktober 2000

evor Sie es tun«, sagte Gaetano, »lassen Sie mich zunächst erzählen, was geschehen ist.«

D’Agostino blieb starr und schwieg. Er trug eine dunkle Sonnenbrille mit runden Gläsern, die sei-nem langen, kantigen Gesicht ein entschieden to-tenkopfartiges Aussehen verlieh. Er hielt seine Waf-fe direkt auf Gaetanos Gesicht gerichtet. »Warum sollte ich?«

»Warum wollen Sie mich erschießen?« Der Mann mit der Pistole lachte leise. »Weil Sie

diesen Job richtig vermasselt haben.« »Es war nicht meine Schuld!« »Unser Orden darf nicht gefährdet werden.«

D’Agostino zuckte die Achseln. »Hören Sie einfach zu, was ich Ihnen zu erzählen

habe, und dann entscheiden Sie«, sagte Gaetano. »Hier ist nicht der richtige Ort für eine ausge-

dehnte Unterhaltung«, sagte D’Agostino. »Wir müssen diesen Bereich verlassen.«

Gaetano legte die Hände hinter den Kopf, setzte sich auf und streckte die Beine aus. »Sie haben mein Wort als Ritter … keine Tricks.«

B

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»Man hat mir gesagt, ich sollte Ihnen nicht trauen.« »Und ich sage Ihnen, dass Sie mir doch trauen

können.« Gaetanos Blick blieb fest; es war keine Ausflucht beabsichtigt oder angedeutet.

D’Agostino schwieg, senkte aber die Waffe. Irgendwo erklang eine Polizeisirene. »Wir müssen los. Keine Tricks.« Der Agent

drückte aufs Gaspedal und lenkte den Wagen ge-schickt die schmale Straße hinab.

Gaetano atmete so ruhig wie möglich aus und ein, auch wenn die plötzlich nachlassende An-spannung das Bedürfnis in ihm weckte, tiefe Atem-züge zu machen. Er hielt die Hände deutlich sicht-bar über dem Kopf, zuversichtlich, dass er sicher war, solange er dem Agenten keinen Grund gab, ihn zu erschießen.

Nachdem sich D’Agostino in den Verkehr auf der Via Crescenzio eingefädelt hatte, schlängelte er sich in hoher Geschwindigkeit über die Fahrspuren und wechselte seine Position wie ein Stein auf ei-nem Damebrett, bis er fast einen Bus streifte, als er praktisch auf zwei Rädern an der Piazza Adriana nach rechts abbog.

»Wir müssen auf die andere Seite des Flusses ge-langen!«

»Wohin fahren Sie?« »Nach Süden!«, sagte er nur, während er den

schleudernden Wagen plötzlich nach rechts zog und dann noch einmal rechts auf die Ponte Um-berto abbog.

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Jenseits der Brücke wechselte D’Agostino von einer Straßenseite auf die andere und hielt stetig auf die Via delle Terme zu, die sie schließlich auf eine der Hauptverkehrsadern aus der Stadt hinaus-führen würde. Die Straßennamen rasten rasch und verwirrend vorüber: del Corso, dell’ Umiltà, Ple-biscito … Gaetano hatte jegliche Orientierung ver-loren.

An einer Kreuzung bei Teodora war ein kleiner Lieferwagen zur falschen Zeit am falschen Ort.

»Festhalten«, sagte D’Agostino und drückte das Gaspedal durch.

Reifen quietschten, der große Mercedes schoss vorwärts wie ein Harrier-Flugzeug und streifte den vorderen Kotflügel des Lieferwagens gerade im richtigen Winkel. Die Masse und die Geschwindig-keit der großen Limousine ließen das andere Fahr-zeug in die Seite eines geparkten Wagens krachen.

Seine Fahrt kaum verlangsamend, wich der gro-ße Mercedes Fußgängern und dem Verkehr aus wie ein zielbewusster Futboler auf dem Weg zum Tor. Sie schleuderten an Monte Celio vorbei, und der Verkehr wurde allmählich schwächer.

»Nun, wenn sie bisher nicht nach diesem Wagen gesucht haben«, sagte Gaetano, »werden sie es jetzt tun.«

D’Agostino drückte wieder aufs Gaspedal, und sie erreichten rasch neunzig Meilen pro Stunde. »Können Sie erkennen, ob jemand Interesse an uns zeigt?«

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»Wenn, dann tun sie es heimlich.« »Gut. Halten Sie die Hände da, wo ich sie sehen

kann.« »Wohin fahren wir?« Gaetano stützte seine

Hände mit den Handflächen nach unten aufs Ar-maturenbrett.

»Wenn das hier vorbei ist? Ich fahre nach Anzio. Sie … da bin ich mir nicht so sicher.«

Eine weitere scharfe Biegung, an einem Wo-chenmarkt vorbei. Als der Wagen in die Kurve schlitterte, rannten Verkäufer und Kunden entsetzt von den Ständen fort. Aber niemand folgte ihnen, und das schien seltsam.

»Niemand hinter uns. Was halten Sie davon?«, fragte Gaetano.

»Es gefällt mir nicht. Zu leicht.« Die Straße erstreckte sich nun gerade vor ihnen,

und es tauchten einzelne frei liegende Wiesen, Gär-ten und Felder auf. Die Vororte Roms waren hier dünner gesät. Sie erreichten die Kreuzung an der Nationalstraße 7, und der Mercedes bog sanft nach rechts auf die Autobahn ein. Der Asphalt schlängel-te sich träge durch eine Reihe wogender Hügel.

Beide Männer schwiegen mehrere Minuten, und Gaetano überprüfte ihre Lage weiterhin in alle Richtungen. Er wollte gerade erneut die fehlenden Verfolger kommentieren, als er den Schatten be-merkte.

An ihrer linken Seite, von der westwärts stehen-den Sonne bewirkt, erschien er, wann immer sie

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ein Haus oder eine Scheune oder einen Hain pas-sierten, etwas, das groß genug war. Aber solche Dinge wurden auf dem offenen Lande seltener, und beide Männer hatten ihn bis jetzt nicht be-merkt.

Obwohl seine Gestalt unbestimmt war, stand außer Frage, was es sein könnte. Der Chopper hing direkt über ihnen und hielt mit ihnen Schritt.

»Ärger«, sagte Gaetano und deutete auf den be-drohlichen Schatten.

»Gottverdammt! Einer der schwarzen Drachen.« Gaetano wusste von den schwarzen Helikoptern

mit den Flüsterjetrotoren, aber er hatte noch nie ei-nen gesehen. Sie waren so tödlich leise, dass es kaum zu glauben war. »Sie haben uns aus einem bestimmten Grund noch nicht beschossen«, sagte er.

D’Agostino nickte. »Sie wollen sehen, wo wir sie vielleicht hinführen. Ein großer Fehler. Für sie!«

Der Agent fuhr weiter, als hätten sie nichts Auf-fälliges bemerkt. Er deutete auf die Konsole zwi-schen den beiden Vordersitzen. »Öffnen Sie sie«, sagte er.

Gaetano entriegelte den Deckel, schaute hinun-ter und sah Munition für eine Vielzahl von Waffen. »Welche wollen Sie?«, fragte er, während er sich innerlich gegen den bevorstehenden Ärger wapp-nete.

»Uzi. Das Teil liegt unter Ihrem Sitz.« »Also vertrauen Sie mir jetzt?« Er nahm drei

Streifen heraus, die er brauchen würde.

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D’Agostino lächelte. »Besser der Teufel, den man kennt, als derjenige, der einem begegnen wird.«

»Komisch, dass Sie ihn erwähnen ….« »Wen, den Teufel?« D’Agostino lachte leise.

»Warum?« »Das erkläre ich Ihnen später«, sagte Gaetano,

während er sich hinunterbeugte und die vertrauten Umrisse der Ehrfurcht gebietenden israelischen Waffe erspürte. Er zog sie hervor und schob ein Ma-gazin in den Lauf. Mit dieser unglaublich leichten und doch höchst tödlichen kleinen Automatik war er sehr vertraut. Obwohl es keine dieser Waffen war, die sich der Hand anpassen wie ein alter Freund, nahm sie einen für sich ein, sobald man den Abzug betätigte. Auch wenn man so rasch und mit solcher Macht eine Salve abfeuerte, dass man buchstäblich eine Palme fällen oder einen Menschen zweiteilen konnte, hatte die Waffe fast keinen Rückstoß.

»Fertig?«, fragte D’Agostino während er die Ge-schwindigkeit der Limousine allmählich steigerte. Er drückte eine Taste am Lenkrad und schaute ei-nen Moment zum Sonnendach hinauf, während eine rauchfarbene Glasscheibe lautlos in die dafür vorgesehene Dachaussparung glitt. Darüber befand sich noch eine weitere Scheibe, auf gleicher Höhe mit dem Dach, die noch geschlossen war.

Gaetano nickte. »Wenn ich die äußere Scheibe öffne, werden Sie

nur wenige Sekunden haben, bevor sie erkennen, was vor sich geht.«

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Gaetano löste seinen Sicherheitsgurt, richtete sich auf die Knie auf und stützte die Uzi auf die Vorderkante des Sonnendachs. »Los«, sagte er.

Die Versiegelung rund um die äußere Scheibe löste sich, und Luft rauschte herein. Bevor die Scheibe auch nur einen Zoll beiseitegeglitten war, schoss Gaetano Kugeln in den Bauch des schwar-zen Choppers. Das Gewehr feuerte so schnell, dass die Kugeln einen Moment eine dünne, schwarze Linie vom Dach des Wagens zum Hubschrauber zu beschreiben schienen. Die Nähe des »schwarzen Drachen« überraschte Gaetano – er war ihnen ge-folgt, schwebte so dicht über ihnen, dass er die Nieten an den Nahtstellen sehen und die kleinen Warnaufkleber bezüglich des Auftankens lesen konnte.

Als die Geschosse auf das Fahrwerk prallten, sprühten Funken wie bei einem Magnesium-Leuchtfeuer, und Gaetano wurde klar, dass der He-likopter gepanzert war. Aber etwas musste unge-schützt gewesen sein, da er sofort ruckartig nach oben und nach rechts zog. Gaetano ließ sich fallen, öffnete hastig das Beifahrerfenster, stützte die Uzi auf den Fensterrahmen und kämpfte gegen den Wind an, um die Waffe ungefähr in Richtung des Choppers zu halten. Der schwarze Drache hing ungefähr zwanzig Fuß über dem Boden, schwebte zunächst vor und dann hinter ihrer beschleuni-genden Limousine. Er wankte deutlich, wie ein im Umkippen begriffener Kreisel. Einige der Kugeln

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mussten in die Zwillingsrotoren eingeschlagen sein, die nicht gepanzert waren.

Gaetano konnte an Bord des Hubschraubers mehrere Dinge gleichzeitig ablaufen sehen – der Pilot kämpfte mit dem Steuerknüppel und den Kontrollinstrumenten, um den Helikopter in der Luft zu halten, und einige angeheuerte Schläger im mittleren Bereich schoben eine kleine Luke zurück, was bedeutete, dass bald irgendeine Art Waffe aus dieser Öffnung hervorschauen würde.

»Ich werde ihnen noch eine Salve verpassen, und dann steigen Sie auf die Bremsen!«, schrie er D’Agostino zu.

Ohne auf eine Antwort zu warten, feuerte er ein weiteres Magazin leer, und die Kugeln schwärmten über die Seite des Choppers, schwirrten und schlu-gen Funken.

Gleichzeitig sah er aus dem dunklen Inneren der Luke eine Art Mündungsblitz hervordringen, und dann wurde er heftig von seinem Sitz geschleudert, als D’Agostino den Wagen abrupt abbremste. Gaetano packte mit der linken Hand den Sicher-heitsgurt und stemmte sich gegen den plötzlichen Schwung, um seinen Aufprall auf dem dick gepols-terten Leder des Armaturenbretts abzufangen. Rei-fen quietschten protestierend, und etwas explodier-te auf der Straße vor ihnen und ließ eine sich bau-schende Wolke flüssigen Feuers aufsteigen. Der Chopper hatte eine schwere Salve auf die Stelle abgeschossen, wo sie hätten sein sollen.

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Leicht benommen versuchte Gaetano, sich auf-zurichten und sich zu konzentrieren. D’Agostino hatte das Lenkrad hart nach links gerissen, um der Explosion auszuweichen, und die Limousine schoss auf der anderen Straßenseite in einen fla-chen Graben und darüber hinweg. Die Landschaft war wellig und die Straße kurvenreich. Mehrere Meilen voraus sah Gaetano auf einem Hügel die Türme und Dächer einer Stadt. Wenn sie den rela-tiven Schutz der Gebäude erreichten, könnte der Chopper nicht so nahe an sie herankommen.

Aber es war sehr zweifelhaft, ob sie ohne Glück und einige geschickte Ausweichmanöver so weit kämen.

D’Agostino kämpfte darum, den Wagen wieder auf die Straße zu bekommen, wobei die harte Be-anspruchung der robusten Radaufhängung des Mercedes scheinbar nichts anhaben konnte. Zu ihrer Rechten hatte der Pilot den schwarzen Heli-kopter wieder so weit unter Kontrolle, dass er eini-germaßen ruhig neben ihnen herflog. Gaetano leg-te seinen Sicherheitsgurt an, rammte ein neues Ma-gazin in die Uzi und durchlöcherte den Bereich rund um die geöffnete Luke des Choppers.

Der Flug des Hubschraubers wurde wieder un-steter, aber er schaffte es immer noch, neben ihnen zu bleiben. Ein weiterer Blitz aus dem Bauch des schwarzen Luftfahrzeugs, und ein Geschoss flog an der voranrasenden Motorhaube des Mercedes vor-bei wie ein Torpedo, der den Bug eines Schiffes

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verfehlt. Gaetano beobachtete den Aufprall des Objekts an einem Hang linksseits der Straße. Der Schutt und die Druckwelle warfen die Limousine mehrere Fuß zur Seite, aber der Wagen blieb auf der Straße. Gaetano beeilte sich, ein viertes Maga-zin abzufeuern, rammte es in die Uzi und leerte es in Richtung der Zwillingsrotoren des schwarzen Luftfahrzeugs. Funken flogen, und eine dünne Wolke tintenschwarzen Rauchs entströmte den Motoren des Turbojet. Jetzt »flüsterte« der Helikop-ter nicht mehr – es war eher ein Schaben oder Schleifen.

Gaetano warf einen vorsichtigen Blick nach vor-ne und war überrascht zu sehen, wie nahe sie der Stadt auf dem Hügel schon waren – weniger als eine halbe Meile entfernt. Sie könnten es schaffen.

»Festhalten!«, schrie D’Agostino, während er in die Bremsen stieg und der Chopper ihnen voraus-schoss. Bevor sich sein Pilot der neuen Situation bewusst werden konnte, leerte Gaetano ein weite-res Magazin in das Heck des Helikopters, der wild nach rechts zu taumeln begann.

»Guter Beschuss!«, sagte D’Agostino, während er den Mercedes wieder beschleunigte.

Mit jeder Sekunde schlingerte der Hubschrauber mehr, bis er plötzlich wie ein beschädigter Dra-chen in einem gefährlichen und unverzeihlichen Winkel an Höhe verlor. Das leise Flüstern seiner Rotoren war von einem grotesk mahlenden Ge-räusch ersetzt worden, das noch deutlicher wurde,

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als die sich wild drehenden Rotorblätter rechts von der Straße in die weiche Erde einschnitten.

Gerade als der Mercedes an dem Chopper vor-beischoss, krachte dieser auf den Boden und ex-plodierte. Die heiße Feuerwoge schwappte an Gaetanos Gesicht, der sich rasch von der Explosion abwandte. Tausende verbogene Metallteile zerfetz-ten die Seite der Limousine. Gaetano duckte sich hinter die Beifahrertür und entging so den tödli-chen Trümmerteilen, aber D’Agostino hatte keine Chance.

Ein Metallsplitter schoss unmittelbar oberhalb des Ellenbogens durch seinen Arm und trennte ihn fast ab. Blut spritzte aus der zerfetzten Arterie über-allhin wie Wasser aus einem umgestürzten Hyd-ranten. Dann bohrte er sich durch D’Agostinos Brust und durchschlug zu guter Letzt das gegen-überliegende Fenster. Der Agent war von dem hef-tigen Aufprall so benommen, dass er unter Schock zusammenbrach.

Der Mercedes kam mit hoher Geschwindigkeit von der Straße ab, versank aber auf der linken Seite mit den Reifen in einem schlammgefüllten Ent-wässerungsgraben, was ihn rasch zum Stehen brachte.

Gaetano löste so schnell wie möglich beide Si-cherheitsgurte, sprang aus dem Wagen, sprintete zur Fahrertür, hob D’Agostino aus dem Wagen und legte ihn auf den grasbewachsenen Hang. Die Blu-tung hatte etwas nachgelassen, aber die schlimmste

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Verletzung hatte D’Agostino am Oberkörper da-vongetragen: Ein großer Teil seiner Brust war zer-fetzt, und er blutete aus Nase und Mund. Gaetano rechnete damit, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hatte.

»Können Sie mich hören? Drücken Sie meine Hand, wenn Sie mich hören können«, sagte er sanft. Hinter ihnen knisterte die Luft vom bren-nenden Wrack des Choppers, weiter entfernt er-klangen die ersten Sirenen, und das Dorf in den nahe gelegenen Hügeln regte sich.

Druck. Dann: »… gut … gemacht.« »Versuchen Sie, nicht zu sprechen«, sagte Gaeta-

no. Er sah sich verzweifelt nach etwas um, was die schreckliche Blutung stoppen könnte, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war.

»Wenn … nicht jetzt … dann … nie …« Die Worte drangen pfeifend aus D’Agostinos Kehle und sprudelten aus seiner Brustwunde.

Gaetano nickte. »Ich … wollte … Sie … nicht töten …«

D’Agostinos Blick wurde unscharf und sein Griff immer schwächer.

»Das ist gut zu wissen. Ich wollte auch nicht, dass Sie umkommen.«

Druck. »Gehen … Sie … jetzt …« »Ich kann warten. Hilfe ist unterwegs.« Druck … Dieses Mal stärker. »Nein!« Gaetano barg den Kopf des Mannes ein wenig

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fester, sanfter. Er beugte sich herab und flüsterte ihm ins Ohr, um sicherzugehen, dass D’Agostino ihn hörte. »Niemand sollte auf diese Art … allein sein.«

D’Agostinos Gesicht bekam für einen kurzen Moment Farbe, und seine Augen strahlten. »Mein … Erlöser … wartet auf mich. Ich bin … nicht al-lein. Ich werde es … niemals sein.«

»Ich kann Sie hier nicht liegen lassen«, sagte Gaetano.

»Sie müssen … Peter weiß … Sie halten … ihn auf.«

»Ich kann ihn aufhalten«, sagte Gaetano. »Ich werde es tun.«

D’Agostino gelang ein andeutungsweises Ni-cken. »Gehen Sie nach … Anzio … Schuhmacher … Solotano …«

Der Agent rang nach Luft. Die Farbe wich rasch aus seinem Gesicht. Der kurzzeitige Energieschub war verbraucht.

»Was ist mit ihm?«, fragte Gaetano rasch. »Solo-tano – warum? Was muss ich tun? Soll ich ihm etwas sagen?«

»Sagen Sie … ihm …« Er hielt inne. »Was soll ich ihm sagen?«, flüsterte Gaetano

drängend und bemühte sich, nicht zu hart zu klin-gen. Aber innerlich dachte er: Du kannst mich hier nicht einfach so im Regen stehen lassen.

»… Sonnyboy … ist … zu Hause.« »Sonnyboy ist zu Hause.«

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D’Agostinos Augenlider flatterten, und seine Augen verdrehten sich. »Leben Sie … wohl …«

Er tat einen schwachen Atemzug – seinen letz-ten. Gaetano ließ ihn sanft auf das Gras zurücksin-ken.

Zeit zu verschwinden. Er wollte niemandem et-was erklären müssen – auch nicht dem Bürgermeis-ter und dem Polizisten eines Dorfes. Sosehr es ihm missfiel, durchsuchte er doch D’Agostinos Klei-dung rasch nach Waffen, Geld oder etwas ande-rem, was sich als nützlich erweisen könnte. Dann erhob er sich, rannte zum Mercedes und nahm Munition, Ausweispapiere und die Uzi heraus, be-vor er links von der Straße durch das hohe Gras davonrannte. Er duckte sich, so tief es ging, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, und lief wie ein betrunkener Orang-Utan in großen Sprüngen. Als Ziel hatte er einen kleinen Hang ausgemacht, auf dessen Grat sich ein großer Hain befand.

Er bedauerte, den Mercedes zurücklassen zu müssen, aber es war keine Zeit, ihn aus dem Gra-ben herauszumanövrieren. Die örtlichen Behörden würden Alarm schlagen, der von demjenigen, der gefährliche Helikopter besaß, nicht unbeachtet bleiben würde. Bald wäre diese Gegend von bösen Jungs überlaufen.

Was bedeutete, dass er eine Wahl treffen musste – entweder so weit wie möglich von hier fortzu-kommen oder sich die Nacht über in dem Dorf zu verstecken und erst dann zu verschwinden, wenn

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die Umstände größtmöglichen Erfolg versprachen. Sollten sie die Suche nach ihm sehr intensiv be-treiben, würden sie Flugzeuge und vielleicht sogar Satelliten mit Wärmedetektoren benutzen, die sei-ne Körperwärme genau lokalisieren konnten, gleichgültig, wo er sich in diesem Gebiet versteckte.

Aber wenn er einfach in das Dorf hineinspazier-te, würde sich das Abbild seiner Körperwärme un-ter denen der Dorfbewohner verlieren. Er würde sich direkt unter ihrer Nase verstecken.

Besser. Viel besser. Gaetano wartete, bis mehrere Wagen bei der Un-

fallstelle eingetroffen waren, bevor er, sich an den Waldrand haltend, die Rückseite des Hügels hinab-schlich und auf das Dorf zuhielt. Da die Unfallstel-le im Norden der Ortschaft lag, wollte er aus südli-cher Richtung ankommen. Bald würde die Sonne untergehen und das Aufräumen und Befragen et-waiger Zeugen bis zum Morgen verzögern.

Was für ihn ebenso gut war. Der Ort bot ihm Schutz und die Möglichkeit, sich zu verbergen oder angemessenere Kleidung und vielleicht sogar ein Fluchtfahrzeug ausfindig zu machen. Die zerrisse-ne und blutige Jesuiten-Soutane ließ ihn außerge-wöhnlich erscheinen, und er musste sie so bald wie möglich loswerden. Aber ein Einbruch in einem Bekleidungsgeschäft und ein Autodiebstahl im Dorf hätten dieselbe Wirkung wie das Hinterlassen einer Visitenkarte für Peters Leute.

Nichts davon wäre wichtig, solange seine Ver-

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brechen bis zum Morgen unbemerkt blieben. Da Anzio nur eine Stunde entfernt war, konnte er bis dahin mit einigem Vorsprung im Untergrund ver-schwunden sein. Seine Spur wäre sehr, sehr kalt.

Gaetano folgte dem Waldrand, der ihn näher an die Ausläufer des Dorfes heranführte. In einem Maulbeerbaumhain voller saftiger Beeren und mit einem schützenden dichten, grünen Laubdach ließ er sich schließlich auf dem Boden nieder. Der Ge-ruch nach Erde und Laub umschloss ihn wie eine Umarmung. Von dort, auf dem abschüssigen Hang eines Hügels, der zur Autobahn führte, hatte er einen ungehinderten Blick auf die Unglücksstelle und das Dorf.

Bei Einbruch der Nacht würde er handeln. Inzwischen kehrten seine Gedanken zu den

vollkommen verrückten Ereignissen dieses Tages zurück.

Liebling, ich bin zu Hause! Wie mein Tag war? Nun, warte: Ich habe einen Jesuitenpriester verkörpert, den Papst zu ermorden versucht, eine Unterhaltung mit Luzifer unterbrochen und mit einer kleinen Waffe ei-nen Helikopter abgeschossen. Und du?

Gaetano lachte gequält auf. Alles wahr. Er hatte versucht, nicht über D’Agostino nach-

zudenken. Trotz seiner Ausbildung hatte er nie ei-nen Menschen auf diese Weise sterben sehen. Ihn in seinen Armen zu halten und zu spüren, wie seine Lebenskraft, seine Seele wie Dampf aus einem de-

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fekten Ventil entwich. Alle Erinnerungen und Ein-drücke, Vorstellungen und Hoffnungen und Ängste – alles, was einen Menschen zu dem macht, was er ist, was er war …

Zu spüren, wie all dies sich in irgendeinen kos-mischen Äther verflüchtigte, war etwas, was er nicht so bald vergessen würde.

Seltsam, wie ein einziger Moment einen Men-schen prägen konnte, dachte er, während er die Sonne wie einen leuchtenden Segensspender auf die fernen Hügel zu sinken sah. Er hatte D’Agostino nicht sehr gut gekannt, aber die Ver-trautheit, die zwischen ihnen entstanden war, als der Agent im Sterben lag, hatte ihn tief berührt, und in einem gewissen Sinne kannte er den Mann jetzt besser als jeden anderen in seinem Leben.

Als Gaetano zu dem Wrack des Mercedes blick-te, in dessen Nähe mittlerweile mehrere Fahrzeuge standen, sah er, wie einige Leute sich mit dem zer-fetzten Leichnam eines Malteserritters abmühten.

Leb wohl, mein Freund, dachte Gaetano. Ich konnte dir nie von dem Teufel erzählen, den du nicht kanntest …

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Die Sieben

Grace Allbright

ie Soldaten führten sie zur Mitte des Platzes, auf dem sich eine große Menschenmenge

versammelt hatte, um das Schicksal einer Ungläu-bigen mitzuerleben. Ein großer Mann ohne Hemd und in gebauschten Pantalons stand wartend da, die Hände auf dem Heft des Krummsäbels, dessen Spitze in dem sandigen Boden vor ihm steckte. Neben ihm plätscherte ein schwacher Wasserstrahl in einem kleinen Springbrunnen, der mit kunstvol-len Verzierungen und mosaikartigen Einlegearbei-ten versehen war.

Während Grace zu der ihr angewiesenen Stelle trat, dachte sie an Herman und ihren Gott und dass sie bald bei ihnen wäre. Die kürzlichen Ereig-nisse gingen ihr durch den Sinn, und sie klammer-te sich an die Erinnerungen, denn es wären die letzten in ihrem irdischen Leben.

Es schien nur wenige Tage her zu sein, dass Grace, den Kopf voller Gedanken – einerseits durch das Erspüren, andererseits durch die katholi-sche Lady in ihrem Traum –, aus ihrem Bett gestie-

D

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gen war. Tatsächlich gingen ihr so viele wichtige Sachen durch den Kopf, dass sie nicht gewusst hat-te, worüber sie zuerst nachdenken sollte.

Aber das war nicht die ganze Wahrheit, erinner-te sie sich gedacht zu haben, während sie in ihrem kleinen Escort zu Sheriff DeWayne Davis’ Büro hinüberfuhr – unmittelbar nachdem sie ein schnel-les, aus frisch gebackenem Maisbrot und höllisch starkem Kaffee bestehendes Frühstück zu sich ge-nommen hatte. Das letzte Frühstück dieser Art, das sie wahrscheinlich jemals haben würde, wie sich herausstellte. Sheriff DeWayne war so froh, sie mit ihrem kleinen Notizblock hereinkommen zu se-hen, dass sie schon dachte, er würde aufspringen und sie umarmen. Aber er tat es nicht, sondern wartete darauf, dass sie ihre Geschichte erzählte – die sie so gut kannte, dass sie kaum auf ihrem Block mit den Notizen von letzter Nacht nachse-hen musste.

Aber sie überprüfte die Notizen dennoch, um si-cherzugehen, dass sie die Nummer der State Road richtig wiedergab, bevor sie die lange Fahrt zu der baufälligen Scheune jenseits der alten Conway Crossroads beschrieb. Sheriff Davis war so aufge-regt nach ihrem Bericht über das, was die Lady ihr im Traum mitgeteilt hatte, dass er kaum die Jungs von der State Police anrufen und ihnen sagen konnte, sie sollten zu der alten Kreuzung fahren und sich an diesen hageren Mann in Röhrenjeans heranschleichen. Ja, Sir, sie konnte, wie sie sich

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erinnerte, noch immer diese Stelle mit dem von der Sonne gebleichten Red-Man-Chewing-Tobacco-Schild vor sich sehen, als wäre sie selbst dort her-umgeschlendert.

Die jungen Burschen in ihren gebügelten und gestärkten Polizeiuniformen fuhren die Route 384 zu dieser Scheune hinunter, in der Abby Carstairs durch ein Stück Badezimmer-Abflussrohr atmete … und sie waren einigen Kugeln ausgewichen und hatten selbst mehrere Schüsse abgegeben.

Die Zeitungen erzählten den Rest der Geschichte – wie der verrückte Mann sein Gewehr abgefeuert hatte und von der State Police in Notwehr getötet wurde – und bezeichneten sie als Helden. Miss Carstairs’ Rettung schrieben sie dem zuverlässigen Tipp eines anonymen »Augenzeugen« zu.

Grace kümmerte es nicht wirklich, wie den Menschen ihre Hilfe erklärt wurde. Sie war stets glücklich damit gewesen zu wissen, dass sie ihre Gabe benutzte, um Gottes Werk zu tun, und es hatte sie nie gekümmert, dass die Polizei nieman-den wissen lassen wollte, dass sie ihre Hinweise von einer kleinen, alten schwarzen Lady bekam, die einen Chor leitete.

Vom Büro des Sheriffs war sie direkt nach Hause gefahren, um einige Vorkehrungen zu treffen. Es dauerte mehrere Wochen, die Reise vom Florence City County Airport über London und Jidda nach Mekka, das sie per Bus erreichen würde, zu organi-sieren. Sie hatte zu einem Preis gebucht, den sie

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sich leisten konnte. Außerdem musste sie sich ge-gen einige schreckliche Leiden impfen lassen und einen Ersatz für den Chor suchen. Sie hatte alles mit ihrer Discover Card bezahlt, da sie wusste, dass der Herr für die Kosten Sorge tragen würde. Es war sein Wille, dem sie folgte, und ihr Glaube hatte ihr stets Sicherheit gegeben.

Grace hatte das Fliegen schon immer gehasst und stellte sicher, dass sie auf der Reise die meiste Zeit schlafen würde. Es herrschte eine ziemliche Hitze im Mittleren Osten, und sie hätte sich nie-mals dazu entschieden, an einen Ort wie diesen zu reisen, wenn Gott sie nicht gebeten hätte, es zu tun – was er getan hatte. Die Temperatur betrug annä-hernd vierzig Grad, aber Grace fühlte sich in ihren langen Gewändern in Cremefarben und Babyblau überraschenderweise wohl. Ihr Kopf war durch einen passenden Burnus im Stil der afghanischen Stammesangehörigen geschützt – traditionelle Kleidung, die sie auf Vorschlag eines Angestellten im Reisebüro am Flughafen gekauft hatte.

Sie hatte ihre Reiseführer ausreichend studiert, um die Standard-Touristenfloskeln zu beherrschen, und darauf vertraut, dass der Herr ihr einen Weg eröffnen würde, in die heilige Stadt Mekka zu ge-langen, auch wenn sie eine Ungläubige war. Nach-dem sie die Berichte anderer westlicher Reisender über ihre Besuche an dieser heiligen Stätte des Is-lam gelesen hatte, hielt sie es für das Beste, Schutz in der Menge zu suchen. Sie würde sich einer der

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fast immer organisierten Pilgergruppen anschlie-ßen.

Grace stieg in den alten Grumman-Bus, der sie und ihre »Mit-Afghanen« vom Flughafen am Roten Meer fünfzig Meilen durch die Wüste bringen wür-de. Die fast dreistündige Fahrt würde bei der le-gendären Stadt Makkah, im Westen als Mekka be-kannt, in einem von niedrigen Hügeln umgebenen Tal enden.

Als der Schulbus, dessen Farbe von zahllosen windgepeitschten Sandstürmen zu einem matten Beige poliert worden war, anhielt, verkündete der Fahrer, dass sie am Ziel seien. Grace stand auf und stieg mit den afghanischen Gläubigen langsam aus. Viele von ihnen intonierten einleitende Gebete und gingen langsamen, ehrerbietigen Schrittes, der ihre Hingabe demonstrierte. Grace betrachtete die lan-gen Menschenschlangen, die sich auf die schmalen Tore zuwanden, die in den inneren Kreis der Stadt und schließlich zu den inspirierenden freien Flä-chen von al-Haram, der großen Moschee, führten.

Sie betrachtete die Pilger mit demselben Mangel an Verständnis, das sie für gewöhnlich für die ar-men Leute von Hartstown aufbrachte, die sie sonn-tags die Stufen der Kirchen hinabströmen sah, die keine Baptistenkirchen waren. Sie fragte sich, wieso sie den Irrtum ihrer Glaubenswahl nicht erkennen konnten – insbesondere, wenn sie an dieser gro-ßen, steinernen, wie ein Schloss wirkenden Saint Charles Catholic Church vorüberfuhr.

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Nun, hier würde sie auf Geheiß einer katholi-schen Nonne eines der Sieben Siegel öffnen, von einer Million Menschen umgeben, die nicht nur keine Baptisten, sondern nicht einmal Christen waren …

Und plötzlich erkannte Grace, dass es ganz ein-fach unwichtig war.

Hatte sie denn jemals die Religionszugehörig-keit irgendeines der Menschen hinterfragt, denen sie mit ihrem Erspüren geholfen hatte?

Natürlich nicht. »Verzeihen Sie, Madame …« Sie blieb stehen und wandte sich um, schaute

nach demjenigen, der sie angesprochen hatte – auf Englisch!

»Ja?« Und erkannte augenblicklich, dass sie einen

Fehler begangen hatte. Große, grobe Hände packten sie an den Schul-

tern und rissen sie so hart herum, dass ihr Kopf zur Seite ruckte, was sie für einige Sekunden benom-men machte. Männer in Militäruniform zogen die vollkommen kraftlose Grace aus der Menschen-schlange und warfen sie auf den Rücksitz eines Ge-ländewagens. Sie fuhren durch enge Nebenstraßen, bis sie den elektrischen Metallzaun und das Wachtor eines kleinen saudischen Militärstütz-punktes erreichten.

Grace wurde, halb getragen und halb gezogen, vom Wagen in eine karge, düstere Baracke geführt,

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wo zwei Männer in dunklen Anzügen auf sie warte-ten. Sie waren dunkelhäutig, wirkten aber nicht wie Araber. Der jüngere der beiden hatte einen Ziegenbart. Der ältere Mann wurde bereits kahl.

»Sie sind Amerikanerin«, sagte der Ältere und führte sie zu einem primitiven Klappstuhl.

Grace schwieg und versuchte vorzugeben, nichts zu verstehen.

Der Mann mit dem Ziegenbart lachte leise. »Bit-te, kein Theater, Signora! Wir wissen, dass Sie Grace Allbright aus South Carolina, USA, sind.«

Besiegt schüttelte Grace den Kopf. »Wer sind Sie?«

»Wir sind Soldaten Christi«, sagte der kahl wer-dende Mann. Aber er sprach ohne Ehrerbietung. »Wir haben die Zollpapiere von allen überprüft, die aus dem Ausland in diese Stadt kommen. Wir haben sehr sorgfältig nach jemandem gesucht, und ich glaube, wir haben ihn gefunden.«

»Der Herr wird mich beschützen«, sagte Grace mit erhobenem Kopf und erhabener Stimme. Sie war stolz, auf der Seite des Erlösers zu stehen.

Der Mann mit dem Ziegenbart lächelte. »Und genau das wird er tun müssen.«

Der Kahle fügte hinzu: »Sie befinden sich auf einer gegen den Papst gerichteten Mission.«

Grace hätte beinahe laut aufgelacht. Der Papst! »Ich befinde mich auf einer Pilgerreise. Ich habe nichts Unrechtes getan.«

Genau in dem Augenblick, als sie das sagte, be-

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traten drei Saudis in traditioneller Beduinenklei-dung den Raum und nahmen an einem Klapptisch ihr gegenüber Platz. Sie saßen so steif und formell da, als leiteten sie ein Tribunal.

Der Mann mit dem Ziegenbart lächelte erneut. »Wir gehören der International Law Enforcement Community an. Wir tauschen mit Behörden auf der ganzen Welt Informationen aus. Der Name Grace Allbright erscheint sowohl in den FBI-Computern als auch in dem der State Police von South Carolina, USA.«

»Was?« Grace war wahrhaft überrascht. »Sie lösen Fälle mit übersinnlichen Mitteln«,

verkündete der Ziegenbart. »Und Sie haben Ihre Reise nach Mekka kurzfristig gebucht.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Grace log nicht gerne, aber diese Männer ängstigten sie all-mählich sehr. »Was wollen Sie von mir?«

Der Kahle begann unheilvoll: »Wir brauchen …« »Ich fürchte, es gibt ein Problem«, unterbrach

der saudische Gesandte ihn, der in der Mitte des Trios saß.

»Und welches?«, fragte der Ziegenbart, der die Araber scharf und über die Einmischung offen-sichtlich verärgert ansah.

»Diese Frau hat sowohl die behördlichen als auch die religiösen Verbote verletzt. Sie ist eine Ungläubige, und sie hat versucht, den heiligsten der heiligen Orte des Islam zu betreten. Was sie getan hat, ist verboten und muss bestraft werden.«

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»Wie lautet die Strafe?«, fragte der Ziegenbart. Der saudische Gesandte streckte die Arme mit

erhobenen Handflächen aus und zuckte die Ach-seln, als wäre die Antwort offensichtlich. »Tod.«

Als sie diese Worte hörte, hatte Grace das Ge-fühl, gleich in Ohnmacht zu fallen oder einfach von ihrem Stuhl zu gleiten wie vom Tisch laufen-der Sirup.

Zugleich verspürte sie jedoch auch eine unge-heure Erleichterung, die sie mit Wärme erfüllte wie der Whiskey mit Honig, den ihre Mutter ihr zu ver-abreichen pflegte, wenn sie mit Grippe im Bett lag. Grace dachte an all jene Nächte, in denen sie ohne Herman zu Bett gehen musste – fünfzehn Jahre lang –, und daran, dass sie sich immer wieder ge-fragt hatte, wann sie ihn wiedersehen würde. Nun, anscheinend war die Zeit der Fragen vorbei.

»Wir haben genug gesehen. Das Gesetz ist abso-lut eindeutig«, sagte ein anderer Saudi.

»So steht es geschrieben«, bekräftigte das Trio. Die drei Männer erhoben sich und bedeuteten

Grace, ebenfalls aufzustehen. Als sie der Aufforderung Folge geleistet hatte,

verkündete der mittlere der Saudis: »Morgen früh, wenn die Sonne das höchste Minarett berührt, werden Sie auf dem al-Haram-Platz sterben. Möge Allah Ihr letzter Richter sein.«

»Sie gestatten, dass wir daran teilnehmen?«, frag-te der Kahle.

»Es ist gestattet«, sagte der Abgesandte zur Linken.

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Dann brachten die Uniformierten sie in einen kahlen Raum mit einem Feldbett und einem Zinkeimer in einer Ecke. Sonst nichts. Kein Essen. Kein Wasser.

Nun führte sie einer der Soldaten zu dem Spring-brunnen. »Sie dürfen sich von Ihren Sünden reini-gen«, sagte er.

Das Wasser funkelte im Licht der frühen Däm-merung. Es schien der schönste Anblick zu sein, den Grace je gesehen hatte. Sie trat vor, um ihre Hände in das fließende Wasser zu tauchen, als sie es plötzlich erkannte …

Das war es! Eine Hitzewelle durchströmte sie wie ein Fieber.

Dann beruhigte sie die Berührung des Wassers und überflutete sie mit dem vollkommensten Frieden, den sie je erfahren hatte. Ihre Angst verflüchtigte sich in einer weißen Lichtexplosion, die von der Mitte ihrer Seele ausstrahlte.

Mit der Gelassenheit kam das Wissen. An dieser Quelle hatten vor Tausenden von Jahren Moses und die Israeliten auf ihrer vierzigjährigen Wande-rung durch die Wüste Wasser geschöpft. Hier hatte Mirjam aus dem Sand Wasser heraufbeschworen, um ihr Volk zu retten. Es war ein heiliger Ort, ein Ort des Lebens.

Kaum merklich veränderte sich am Himmel das Licht der Sonne, als wäre eine Wolke oder eine große Hand darüber hinweggezogen. Alle schauten

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auf und fragten sich, was geschehen war. Nur Grace erhielt die Gabe des Verstehens.

Die Kirchen der Offenbarung. Das Siegel. Sie hatte die Arbeit des Herrn vollbracht! Während Grace sich ein wenig Wasser ins Ge-

sicht tupfte, lächelte sie und wandte ihren Henkern dann das Gesicht zu. Der Soldat half ihr, sich hin-zuknien, und brachte ihren Kopf sanft in Position.

Danke, Herr. Grace dachte diese Worte, als sie ein kollektives

Keuchen aus der Menge hörte, die den Atem an-hielt, weil der Henker sein Schwert erhoben hatte. Es war das letzte Geräusch, das sie jemals hörte.

Shanti Popul

»Das steht außer Frage!« Momdar schritt in der kleinen Wohnung auf und ab, das Gesicht durch seinen Zorn um mehrere Schattierungen dunkler.

Shanti wollte zu ihm gehen, seine Wange berüh-ren und versuchen, ihn zu beruhigen. Aber sie hat-te ihren Mann noch nie in einem solchen Zustand erlebt. »Aber du hast die Wahrheit dessen, was ich sage, gesehen. Gott teilt uns etwas mit, mein Ehe-mann!«

Frustriert und wie abwesend fuhr Momdar sich mit den Fingern durch die Haare. »Gott? Es gibt viele Götter, und es gibt keine! Dies sind moderne Zeiten, Shanti!«

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»Habe ich dir mit diesen lieben Leuten in Mathura nicht den Beweis gezeigt? Sie waren mei-ne Familie, als ich Ludgi war.«

»Du warst niemals Ludgi!«, schrie Momdar sie an, noch zorniger als zuvor. »Du wurdest hypnoti-siert! Betrogen!«

»Betrogen?« Shanti verspürte das Bedürfnis zu lachen, weil das, was er sagte, so töricht war, aber sie wusste, dass er noch zorniger würde, wenn er glaubte, dass sie ihn auslachte. »Von wem?«

Momdar hielt inne, einen Moment von seinen eigenen Worten gefangen, dann: »Von dem Mann, der hierherkam!«

»Sevi?« Shanti zog sich in das entgegengesetzte Ende des kleinen Raumes zurück, die Couch zwi-schen sich und ihrem Mann. »Aber, Momdar, aus welchem Grund? Warum sollte mir ein Mensch so etwas antun wollen?«

Er ging erneut auf und ab, hielt sich mit beiden Händen die Schläfen, wie in großer Qual. »Ich weiß es nicht!«, schrie er. »Aber ich weiß, dass es Betrug sein muss, denn was du sagst, ist nicht mög-lich.«

Shanti blickte ihn ausdruckslos an, obwohl die Gefühle in ihrem Inneren tobten. Ihre Erinnerun-gen an ihre andere Familie, ihre Babys von früher und ihr Anblick jetzt, und mit welch freudigem Schmerz es sie erfüllt hatte, sie zu sehen …

Schließlich sagte sie, so sanft wie möglich: »Momdar, du warst bei mir. Du hast mich nach

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Mathura gefahren, zu Sripaks Haus! Wie konnte ich wissen, wo alles war? Wie konnte ich so viel über sie wissen?«

Er sah sie finster an, wandte sich ab, schaute aus dem Fenster über ihrer Nähmaschine, als gäbe es dort etwas sehr Interessantes zu sehen. Er sprach, ohne sie anzusehen. »Ich weiß nicht, wie oder wa-rum, aber aus einem unbestimmten Grund hat meine Frau beschlossen, mir etwas vorzumachen.«

»Momdar, du verletzt mich, wenn du so etwas sagst. Ich will dir nicht wehtun. Ich liebe dich, wie ich dich immer geliebt habe.«

»Und doch sagst du, du hättest diesen … Sripak geliebt?«

Ist es das?, überlegte sie rasch. Mein Mann ist ei-fersüchtig? »Das war ein anderes Leben! Ein ande-res Ich. Ich kann es nicht erklären. Ich weiß nur, dass es geschehen ist. Nur die Vision zu haben und das Wissen dessen … ist eine Gabe von Gott.«

Er wandte sich um, betrachtete sie mit immer noch zorniger Miene. »Und diese … Reise, die wir deiner Meinung nach machen sollen. Was ist da-mit?«

»Gott hat mir die Erinnerungen gegeben, um mir zu zeigen, dass ich besonders bin«, sagte Shan-ti und senkte den Blick, als sie bemerkte, wie stolz sie klang. Und so fügte sie hinzu: »Für seine Zwe-cke besonders.«

Momdars Züge wurden für einen Moment wei-cher. »Shanti, hast du eine Vorstellung davon, wie

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viele Kleider du nähen musst, um Flugtickets nach England zu bezahlen? Ausgerechnet nach Ston-ehenge!«

»Ich habe sechs Wochen lang zusätzliche Arbeit angenommen! Ich habe jede Rupie gespart. Aber ich dachte, es wäre nicht richtig, Gottes Wünsche zu berechnen.«

Momdar blickte zur Decke, die Hände vor Ent-täuschung fest zu Fäusten geballt. »Berechnen? Be-rechnest du unsere eigene Zukunft, Shanti? Was ist mit unseren Träumen? Mein Maschinenladen? Deine Näherei?«

»Ich glaube, es wird für uns gesorgt werden …« »Weißt du«, sagte er, als hätten seine Worte ei-

nen schlechten Geschmack, »ich dachte immer, du hättest so hohe moralische Grundsätze, aber jetzt … schäme ich mich.«

»Oh, Momdar, wie kannst du das sagen?« »Weil du uns ruinieren wirst!« Die Worte dran-

gen aus ihm hervor wie ein Lavafluss. Er schrie sie an. »England! Stonehenge!«

Shanti wusste, dass sie nicht länger in der klei-nen Wohnung bleiben konnte. Ihr Mann stand kurz davor, gewalttätig zu werden, und sie konnte es nicht ertragen, das zu sehen. Die Räume waren wie ein winziger Käfig, in den zwei Megären hin-eingeworfen wurden, obwohl nur Platz für eine war. Shanti, die zur Eingangstür zurückwich, fürch-tete, was als Nächstes geschehen könnte.

»Wohin willst du?«, schrie Momdar.

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»Ich kann nicht bleiben, mein Ehemann.« Shan-ti begann zu weinen. Sie hasste es, dass er es sah – er würde es als Schwäche interpretieren. In Wahr-heit war es der Ausdruck ihrer unendlichen Trau-rigkeit, ihn zu verlieren.

»Er hatte recht!«, schrie Momdar, seine Miene seltsam leuchtend, fast triumphierend.

»Wer, Momdar? Wovon sprichst du?« Sein Blick verschränkte sich mit ihrem, als blicke

er durch ein Visier. Sie hatte ihn noch nie so … so gefährlich wirken sehen. »Ein Bettler … ich hätte ihn auf der Straße beinahe umgerannt. Ich schaute auf, und da war er plötzlich direkt vor mir. Ich ig-norierte ihn, versuchte, über ihn hinwegzusteigen«, sagte Momdar, die Stimme plötzlich ruhiger. »Und er streckte eine dürre Hand aus, wie eine Knochen-klaue, und packte mein Bein! Er zwang mich, ihn anzusehen. Ich war bereit, ihm ins Gesicht zu tre-ten, aber sein Blick war so rein …«

»Was ist geschehen?« Shanti rückte näher zur Tür und hoffte, dass er es nicht bemerkte. Er schien in einer Art Trance zu sein und sprach, als erinnere er sich eines Albtraums.

»Er sagte etwas, was mich tief innerlich gefrieren ließ. Er sagte: ›Ihre Frau wird heute versuchen, Sie zu verlassen. Und Sie müssen sie aufhalten … auf jede Ihnen mögliche Weise.‹«

Die Art, wie Momdar die Worte wiedergab, sagte Shanti, dass der Mann kein Bettler gewesen war – wahrscheinlich nicht einmal ein Mensch.

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Als sie mit einer Hand die Tür berührte, zog Momdar ein Messer aus dem Holzblock in der Kü-che. Die Zacken funkelten grausam, wie die Zähne eines lächelnden Raubtiers. Sie war von seinem unwirklichen Glanz wie versteinert.

»Rühr dich nicht!«, sagte Momdar, mit jedem Wort höher und schriller. Seine Kiefermuskeln zuckten, als er die untere Zahnreihe in der bizarren Parodie eines Lächelns vorreckte.

Shanti hatte mehr als genug gesehen und riss die Tür auf.

Eine schwere Masse prallte gegen sie, auf Schul-terhöhe, und sie wurde grob gegen den Rahmen der geöffneten Tür gestoßen. Etwas traf sie am Rü-cken, unterhalb ihrer linken Schulter, etwas, was mit kaltem Feuer brannte. Momdar schrie einige unverständlich Worte, während er das gezackte Messer ruckartig hinabstieß. Als es zwischen ihre Rippen drang, wurde der Schmerz zu einem schwarzen Schleier, der sie einhüllte. Sie wollte aufschreien, aber er legte eine Hand über ihren Mund und riss ihren Kopf zurück.

Und plötzlich strömte Kälte ihre Kehle hinab, erfüllte ihre Brust, und dann erfolgte eine nasse und glitschige Hitzeexplosion.

Momdar ließ sie los, und sie merkte, wie sie zu-sammenbrach, spürte ihr Leben sich ihre Brust hinab ergießen und sich auf dem Boden zu ihren Füßen sammeln. Sie fühlte sich so müde, so träge und schwach. Alles schien von ihr fortzufließen,

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als befände sie sich in einem langen Tunnel. Das Einzige, was konstant blieb, war der durchdrin-gende Schmerz von Momdars Schrei.

Aber dann schwand auch das.

Bruder Mauro

Seine letzte Zugfahrt lag so lange zurück, dass ihn das endlose Vorüberziehen Italiens am Fenster sei-nes Privatabteils von Neuem faszinierte. Die Städte rollten vorüber, ihre Namen wie Poesie – Arezzo, Cortona, Ascoli Piceno, Ortona a Mare, Lanciano … Während Mauro wie ein kleiner Junge das Ge-sicht an die Scheibe drückte, hatte er plötzlich eine Offenbarung und verstand, warum er die Zugfahrt so sehr genoss.

Es war seine früheste Erinnerung. Er saß in ei-nem Zug auf dem Schoß seiner Mutter, wahr-scheinlich zwischen Catania und Messina, wo sei-ne Großeltern lebten. Die Erinnerung umfasste nicht viel, nur Farbblitze und das gedämpfte Rat-tern und Dröhnen. Er saß warm und sicher auf dem Schoß seiner Mutter.

Draußen kokettierte die Sonne mit den Gipfeln des Apennin, und bald würde sein Zug die endlose blaue Schneise der Nacht hinabsausen und erst im Termini Otranto Halt machen. Von dort würde Mauro am Morgen die Fähre über das Adriatische Meer nach Levkas nehmen. Dann eine weitere herrliche Zugfahrt zu der mythischen Stadt Delphi.

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Mauro nahm ein Kissen von der Ablage über ihm, streckte sich über zwei Polstersitze aus und döste bis zum nächsten Stopp in San Severo. Bei dem jähen Halt kippte er fast über den Rand der Sitze und erwachte mit einem überraschten Auf-schrei. Er war verlegen und froh, dass er allein im Abteil war.

Und dann klopfte es leise an die innen mattierte Glasscheibe, so leicht, dass er nicht sicher war, ob er wirklich etwas gehört hatte.

Klopf, klopf. Ja, er hatte etwas gehört. »Herein«, sagte er. Die Tür glitt zurück und offenbarte eine Frau

mit dichtem dunklen Haar und haselnussfarbenen Augen, die fast golden wirkten. Sie hatte ein klassi-sches Gesicht, mit einem langen, schlanken Hals. Sie trug ein schwarzes, locker sitzendes Kleid aus mehreren hauchdünnen Lagen, die dennoch ihre schlanke Gestalt preisgaben, als sie das Abteil mit einem kleinen Gepäckstück aus exquisit gearbeite-tem Leder betrat. Die Frau wirkte wie eine aristo-kratische Künstlerin oder Zigeunerin, und sie lä-chelte ihm zu.

Es war das faszinierendste, freundlichste Lä-cheln, das er je gesehen hatte.

»Oh, verzeihen Sie, Pater«, sagte sie und wandte den Blick einen Moment ab. »Der Schaffner mein-te, dieses Abteil sei leer.«

»Nein, bitte! Kommen Sie herein, Signora!«, sag-te er, während er das Kissen in die Ecke hinter sich

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stopfte und sich bemühte aufzustehen. Während-dessen fuhr der Zug plötzlich an, und er fiel fast vornüber.

Leise lachend trat sie in das Abteil und schloss die Tür hinter sich. Mauro war von ihrem Duft, ihrem Parfüm, ihrer Wirkung hingerissen. Sie setz-te sich hin und schlug die Beine übereinander, die aufreizend unter ihrem langen Rock hervorsahen. Ihre Schuhe bestanden nur aus Riemchen und ho-hen Absätzen. »Danke, Pater«, sagte sie, nachdem sie es sich auf den Sitzen ihm gegenüber bequem gemacht hatte.

»Ich bin kein Priester«, sagte er. »Ich bin ein Bruder. Bruder Mauro Barzini. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Sie nickte. »Gabriella di Pietro. Ich bin Schau-spielerin.«

»Das überrascht mich nicht. Sie sehen … sehr dramatisch aus.«

»Oh, danke! Aber es ist nicht viel Dramatisches am Bologneser Fernsehen. Ich bin ein ›Ballonmäd-chen‹ bei Take It Off!«

Sie lachte leichthin, fast melodisch, und blitzte ihn mit ihren goldenen Augen an. Ihre Wirkung auf ihn war enorm, und Mauro wollte den Blick abwenden, aber er konnte es nicht. Er hatte noch niemals zuvor in seinem Leben so nahe bei einer solchen Frau gesessen.

»Ich fürchte, ich sehe nicht sehr viel fern.« »Ist es in Ihrem … Zuhause erlaubt?«

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»Ich lebe in der Franziskanerabtei in Siena.« »Ich liebe diese Stadt!«, sagte sie und klatschte in

die Hände. »Ich habe dort auf dem Platz einmal ein unglaubliches Pferderennen gesehen, Wein getrun-ken und Mozzarella und Brot gegessen. Ich war ein junges Mädchen, und es war sehr aufregend.«

Mauro fiel keine Erwiderung ein, und er merkte, dass er Gabriella gewissermaßen anstarrte.

»Führen Sie ein klösterliches Leben?« »Eh, nein, wir können kommen und gehen, wie

wir wollen.« Gabriella lächelte und neigte den Kopf, griff

dann in ihre Handtasche und brachte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser zum Vorschein. »Ich bin immer vorbereitet«, sagte sie. »Trinken Sie ein Glas Bardolino mit mir?«

Mauro war so schockiert über ihre Einladung, dass er spürte, wie das Herz in seiner Brust häm-merte. Er war sicher, dass sie es auch hören konnte. Seine Hände, ganz in Gaze gewickelt und von wei-ßen Baumwollhandschuhen bedeckt, begannen zu zittern.

»Nun, ich weiß nicht …« Gabriella lächelte, stellte die beiden Gläser auf

das Tischchen unter dem Fenster, entkorkte die Flasche und goss beide Gläser halb voll. Sie nahm eines hoch und sah ihn dann an.

»Nun gut«, sagte er, und es gelang ihm, die pa-thetische Imitation eines Lächelns zustande zu bringen. Er hob das Glas an.

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»Salute!«, sagte sie und leerte ihr Glas in einem Zug.

Mauro nippte höflich, während sie ihr Glas er-neut füllte und wieder leerte. Mauro war, trotz des häufigen Kontakts mit den Medien, nicht welter-fahren. Er war wechselweise unbeholfen, verlegen oder aufgeregt.

Einer Frau wie derjenigen, die ihm hier gegen-übersaß, war er noch nie begegnet. Es war ihm im-mer leichtgefallen, seine Gelübde einzuhalten, und er fragte sich oft, warum Gott es so eingerichtet hat-te. Manchmal sah er seine Kollegen mit Begehren und Versuchungen ringen, aber er konnte ihre missliche Lage oft nicht verstehen. Als er die Gabe der Stigmata zum ersten Mal empfing, hatte er Gott oft nach dem Grund gefragt und wissen wollen, ob es eine Belohnung für seine erfolgreiche Einhaltung der strengen Gelübde seines Ordens war.

Aber jetzt … Gabriella streckte ihre Beide nun über den Gang

zwischen den gegenüberliegenden Sitzen hinweg aus. Ihr dunkles Haar ergoss sich auf elegante Art über ihre Schultern, und jede ihrer Bewegungen, ihre ganze Haltung, wirkten lässig und entspannt, niemals leichtfertig oder billig. Sie füllte noch einmal ihr Weinglas, und ihr Lächeln wurde brei-ter, ihre Zähne weißer, ihre Lippen voller.

»Sie mögen Ihren Wein nicht, Bruder Mauro?« »O nein, er ist sehr gut. Darum trinke ich ihn

lieber in kleinen Schlucken.«

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Sie lachte. »Das Leben ist kurz. Nehmen Sie große Bissen. Spülen Sie sie mit viel Wein hinun-ter!«

Gabriella beugte sich vor, und trotz der losen Lagen ihrer Bluse konnte Mauro die Fülle und Rundung ihrer Brüste unter dem Stoff sehen. Er stellte sich vor, wie sie seine Hände ausfüllen wür-den.

Von seinen eigenen Gedanken schockiert, setzte er sich auf seinem Platz jäh auf.

»Was ist los, Mauro?«, fragte sie. »Sie wirken plötzlich bestürzt.«

Er entschied, dass er ehrlich zu ihr sein sollte. Täuschung würde ihn vielleicht noch weiter vom rechten Weg abbringen. »Miss di Pietro, Sie sind eine wunderschöne Frau. Ich gebe zu, dass ich be-züglich Ihrer Person unreine Gedanken hege.«

Sie lachte erneut dieses melodische Lachen und sah ihn dann mit neugierig geneigtem Kopf und verengten Augen an. »Sagen Sie mir, sind Sie einer jener Menschen, die glauben, dass der Gedanke dasselbe ist wie die Tat?«

»Aber ja, das lehrt die Kirche.« »Nun«, sagte sie mit spöttisch gerunzelter Stirn,

»wenn das wirklich wahr wäre, dann müsste die Kirche beim sonntäglichen Herumreichen des Kol-lektenkorbes damit zufrieden sein, dass die Men-schen nur daran denken, den Priestern ihr Geld zu geben, anstatt es tatsächlich zu tun!«

Mauro fiel keine Erwiderung ein. Er hatte dieses

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Argument noch nie zuvor gehört und wünschte, er hätte in seinen Logik- und Philosophiestunden besser aufgepasst. Schließlich sagte er: »Ich habe das Gefühl, Sie unterliegen einem Denkfehler, der darin besteht, eine Gruppe Variable mit einer an-deren zu vergleichen. Ich glaube, man nennt es ›Scheinargument‹.«

»Also glauben Sie immer noch, dass der Gedan-ke der Tat gleichkommt?«

»Ja, das glaube ich.« »Interessant«, sagte Gabriella. »Haben Sie ir-

gendeine Vorstellung davon, was ich im Fernsehen mache?«

»Sie sagten, Sie seien Schauspielerin.« Sie zwinkerte in gespielter Selbstparodie mit den

Augen. »Mauro, ich war freundlich – zu mir selbst.« »Ich verstehe nicht.« »Ich erscheine in einem ganz aus Luftballons

bestehenden Kostüm auf dem Set. Es ist eine Gameshow, und die Kandidaten spielen entweder um Geld oder um die Chance, meine Ballons mit Nadeln platzen zu lassen.«

Während sie ihre Tätigkeit beschrieb, schuf sein Geist lüsterne Bilder, die des Dekamerone würdig gewesen wären. Er konnte nicht glauben, dass ihm das geschah! Ohne nachzudenken, trank er seinen restlichen Wein, genoss den würzigen Beige-schmack der seine Kehle hinabströmenden Flüs-sigkeit. »Was geschieht«, hörte er sich fragen, »wenn sie alle Ihre Ballons platzen lassen?«

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Gabriella sah ihn mit einem leicht durchtriebe-nen Lächeln an. »Nun, was könnte schon gesche-hen? Ich bin natürlich nackt!«

Mauro schwieg – tatsächlich konnte er nicht sprechen. Seine Gedanken waren von den fiebrigen Vorstellungen erfüllt, wie diese Fantasiefrau unbe-kleidet aussehen musste. Er verspürte eine Regung in seinem Penis, ein Gefühl, das er erfolgreich ig-noriert hatte, seit er ein junger Heranwachsender gewesen war. Das Gefühl war gleichzeitig wider-wärtig und äußerst berauschend.

Gabriella füllte sein Glas nach. Er widersprach nicht. Dann setzte sie sich neben ihn, und er konn-te die animalische Hitze ihres Oberschenkels spü-ren, wo er seinen berührte. Er hatte keine Ahnung, dass sich etwas so anfühlen konnte. Ihr Parfüm war die reine Einflüsterung von Süße, gemischt mit etwas Tieferem, Dunkleren.

Er spürte einen Stromstoß seinen Arm hinauf-laufen, und als er hinsah, erkannte er überrascht, dass sie seine behandschuhte Hand berührte. »Ha-ben Sie sich verletzt?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er, wohlwissend, dass er seine Hand zurückziehen sollte. Er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht. »Es tut nicht weh. Nie. Es blutet nur. Meine Hände, in den Handflächen.«

»Sie haben die Male Christi«, sagte sie. »Sie nennen es die Stigmata«, sagte er mit so viel

Würde, wie er aufbringen konnte. »Und Sie tragen immer diese Handschuhe?«

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»Ja. Meistens.« Gabriella sah ihm in die Augen, und er konnte

den Blick nicht von diesen dunklen, goldenen Tei-chen wenden.

»Also berühren Sie nichts?« »In gewisser Weise, nein … vermutlich nicht.« Sie beugte sich näher zu ihm und stellte ihr Glas

auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster ab. Sie rückte nicht fort. Ihre Lippen verweilten nahe an seinem Ohr, und sie flüsterte heiser: »Aber Sie würden mich sehr gerne berühren, nicht wahr?«

»Ja!« Das Wort brach ungewollt und absichtslos aus

ihm hervor. Es war die natürlichste, menschlichste Reaktion, die er jemals hätte äußern können, aber in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er Del-phi niemals erreichen würde. Er wusste es in einem Aufblitzen bitterer Voraussicht.

Außerhalb ihres Abteils ratterte die Nacht vo-rüber, aber er fühlte sich so von der Welt isoliert, dass er und diese verführerische Frau ebenso auf dem Meer oder in einem aufgegebenen Raumschiff durch das All hätten treiben können. Gabriella sah ihn an, ihre goldenen, mandelförmigen Augen so groß, dass er ihre Lust sich dahinter winden sehen konnte. Sie knöpfte ihr Kleid auf, das dann mit einem Rascheln weichen Stoffs zu Boden fiel, wäh-rend sich ihm prächtige Brüste entgegenreckten.

»Sag es noch einmal.« »Ja!«

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Mauro hatte noch nie in seinem Leben solche Regungen verspürt. Wie von einem schrecklichen Fieber befallen, hatte er keine Kontrolle mehr über sein Handeln. Er fühlte sich vollkommen von einer atavistischen Reaktion vereinnahmt. Er schlang die Arme um die nackte Gabriella, sofort von ihrer Aura süßen, nach Moschus riechenden Dufts und ihrer Körperhitze vereinnahmt. Niemals hatte er sich so etwas vorgestellt. Seine Hände glitten über ihren Körper, und er war von ihrer Haut, die un-glaublich weich und doch von zarten Muskeln ge-prägt war, zutiefst gebannt.

Vor Verlangen blind, streifte er die Gaze und die dünnen Baumwollhandschuhe ab und spürte zum ersten Mal die unbeschreibliche Zartheit des Flei-sches einer Frau.

Als er den rollenden Rhythmus des Eisenbahn-waggons wahrnahm, erkannte er, dass sich der Kreis schloss – die schaukelnde Behaglichkeit des Zuges, die nachgiebige Sicherheit eines Frauenkör-pers. Seine Mutter, die ihn als kleiner Junge in ei-nem Zug auf dem Schoß hielt, hatte ihn auf diese Reise geschickt. Sein ganzes Leben lang hatte er diese Art Wohlbefinden gesucht und nie gefunden, das unsterbliche Verlangen verschüttet.

Bis zu diesem Moment. Bis zu diesem Verzicht auf alles, was jemals Be-

deutung für ihn hatte. Gabriella seufzte unter seiner Berührung, nahm

dann seine Hände und hob sie an ihre leicht ge-

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öffneten Lippen. Sie küsste sie sanft und dann lei-denschaftlicher, bis sie jäh innehielt und ihre ver-schränkten Hände langsam senkte wie einen Vor-hang beim Schlussakt.

»Mauro, mein lieber Mauro«, flüsterte sie. »Schau! Es ist ein Wunder!«

Er war im Sog ihres Blickes verloren gewesen, jenseits der Fähigkeit, klar oder vernünftig zu den-ken. Er konzentrierte sich mit unglaublicher Mühe und sah …

… Hände, weiß und glatt, unverletzt. Seine Hände. Es war der entsetzlichste Anblick seines Lebens.

Etwas verschob sich im tiefen Gewölbe seiner See-le, zwang sich durch eine viel zu enge Kehle auf-wärts. Als es hervorbrach, war es der schrecklichste Laut, den er jemals gehört hatte – nicht wirklich ein Schrei, vielmehr ein Klagen um äußersten Ver-lust, um erkannte Verdammnis.

Tränen brannten in seinen Augen wie Säure, und er taumelte zurück, stolperte von Gabriella fort, hielt seine unverletzten Hände in benomme-nem Unglauben hoch. Mauro griff nach dem Tür-riegel, ließ ihn aufspringen und schob die matte Glasscheibe zur Seite. Während er in den schmalen Gang stolperte, streckte sich das spöttische Lachen der Hure wie eine Schlange von einem Baum nach ihm aus.

In einer blitzartigen, äußerst klaren Wahrneh-mung erkannte er, dass das Lachen nicht aus der

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Kehle einer Frau hervorgedrungen war, sondern aus etwas, was Menschen normalerweise unbe-kannt war …

Seine Sicht durch die brennenden Tränen ver-schwommen, drängte er sich durch die Tür, die seinen Waggon mit dem nächsten verband, und hörte das Brüllen von Stahl an Stahl auf sich ein-peitschen und -schlagen sowie den rauen Fahrt-wind des Zuges. Unter ihm, zwischen den Wag-gons, jenseits der gewaltigen Koppelglieder, die wie geballte, schwarze Fäuste ineinandergriffen, erwar-tete ihn die Schmiere des Bahnkörpers und der Eisenbahnschwellen.

Mauro unterdrückte den endlosen Schrei, der noch immer aus ihm entweichen wollte, und trat vorwärts, um unter den Rädern zerfetzt zu wer-den.

Pierce Ericsson

Er schaute blinzelnd zu den Geräten hoch, die ihn wie Roboter in einem geschmacklosen Science-Fiction-Film umgaben. Sie alle piepten und über-wachten und regulierten, und er erkannte, dass er in einem Krankenhaus lag.

Was? Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er

aus dem Wagen dieser Reporterin ausgestiegen und die Treppe zu seinem Haus hinaufgegangen war, und …

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… und was? Pierce konnte nicht klar denken – jeder Gedan-

ke, jede Erinnerung war überaus mühsam aufzu-bauen und scharf zu bedenken. Was, zum Teufel, war mit ihm los? Betäubt? Möglich, aber warum? Da waren noch mehr Erinnerungen, dessen war er sich sicher, aber es wäre so schwer, sie zurückzu-bringen, sie aus den Tiefen hervorzuziehen. Er be-gann, seine Finger zu bewegen, die Fäuste zu bal-len und wieder zu öffnen, dann seine Beine auszu-probieren. Alles fühlte sich gummiartig, unemp-fänglich an. Eindeutig betäubt, vielleicht erschöpft, aber würden diese Maschinen registrieren, dass er wieder bei Bewusstsein war, und ihm eine weitere Dosis Lotusblüte verpassen?

Das glaube ich nicht, dachte er angestrengt, und es war der erste wirklich klare Gedanke, zu dem er seit seinem Erwachen fähig war.

Er bewegte einen Arm und hoffte, dass er sich tatsächlich bewegte und es nicht nur eine betäubte Erinnerung daran war, wie es sich anfühlte, einen Arm zu bewegen. Dann griff er nach dem dünnen Schlauch, der sich zu der Nadel hinabschlängelte, die in einer deutlich sichtbaren Vene seines linken Handrückens steckte und mit Pflastern fixiert war. Ein Ruck, und sie war draußen. Nun, auch wenn es den Maschinen nicht gefiel, was sie sahen, konnten sie doch nichts dagegen tun.

Langsam, ohne Zeitgefühl, wartete er, bis Bilder und Eindrücke und schließlich Bruchstücke ganzer

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Ereignisse an die Oberfläche seines Bewusstseins drangen.

Er musste geduldig sein und hoffen, dass nie-mand hereinkam, um nach ihm zu sehen. Als er daran dachte, aus dem Fenster zu schauen, sah er zwischen den dünnen Lamellen der Jalousien nur Dunkelheit. Was bedeutete, dass in diesem Kran-kenhaus, oder was auch immer es war, höchst-wahrscheinlich nur eine Notbesetzung arbeitete. Das machte die Entdeckung, dass er die pharma-zeutische Fessel abgelegt hatte, weniger wahr-scheinlich. Die Vergangenheit klärte sich allmäh-lich.

Die Vision, der Tunnel und die Einsturzstelle, die Flucht mit der Fernsehreporterin, das Betreten seiner Wohnung …

Da wurde alles verschwommen, unheimlich, als versuche sein Unterbewusstsein das, was folgte, zu umgehen. Keinesfalls, dachte er, ich muss da durch.

… er stand in seinem Wohnzimmer, Sydney drückte ihn an sich, während er alles erzählte, und sie reagierte mit der erwarteten Ungläubigkeit und mit Entsetzen. Aber sie war bei ihm geblieben, nicht zurückgezuckt – daran erinnerte er sich plötz-lich. Seine Frau war da gewesen, wo sie immer war: unmittelbar an seiner Seite. Kein Spott, keine Strafe oder Beschuldigungen. Das war Sydney.

Sie hatten über die Details gesprochen, wie er so rasch wie möglich nach Jerusalem käme. Genau

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dort im Wohnzimmer hatte sie begonnen, mit ihm Pläne zu schmieden. Sie glaubte ihm nicht nur, sondern sie glaubte an ihn, was alles in seinem Le-ben erleichterte.

Bis es an die Wohnungstür klopfte … Sie hatten irgendwie herausgefunden, wo er

wohnte. Durch das Wrack seines Wagens oder die Fahrzeugpapiere, oder vielleicht sogar durch die Reporterin – wie hieß sie noch? –, die geschworen hatte zu schweigen. Sie belagerten sein Haus in Riverside: Zeitungen, Fernsehen und Radio, Ret-tungsteams, Sanitäter, sogar Militärtechniker. Alle entschlossen, einen Teil von ihm für seine oder ihre Zwecke zu beanspruchen. Kaum hatte Sydney den Riegel zurückgeschoben, als sie sein Heim auch schon wie plündernde Barbaren buchstäblich stürmten. Der Lärm der Invasion hatte seine klei-nen Mädchen geweckt, die entsetzt und verwirrt vom zweiten Stock herabschauten. Pierce erinnerte sich, dass er alle angeschrien hatte, sie sollten ge-hen und sie in Ruhe lassen, aber niemand hörte zu. Eine gewaltige Menschenmenge, alle durch den Tunnelunfall getrieben, alle auf eine große Story oder auf weitere Informationen versessen.

Dieser Mann, Pierce Erickson, der so viele Leben gerettet hatte, gehörte jetzt ihnen.

In einer überwältigenden Anzahl schwärmten sie um ihn herum, und er wurde wütend. Zu schreien und zu stoßen machte keinen Unter-schied. Mikrofone und Kameras wogten über dem

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Meer von Körpern wie Bojen in einem Sturm. Je-mand stieß jemanden, Arme und Hände flogen in alle Richtungen. Pierce sah eine Hand nach Sydney greifen und sie herumreißen, damit sie in das obs-zön gaffende Auge eines Camcorders blickte. Er sprang auf den Angreifer zu, seine Faust landete unmittelbar im Gesicht des Mannes, und das Handgemenge geriet rasch außer Kontrolle.

Er erinnerte sich, dass er auf den Teppich gewor-fen wurde und Menschen über ihn stürzten. Er hat-te sie mit Fäusten bearbeitet, sich bemüht, hoch-zukommen, Sydney zu helfen, seine Töchter zu finden! Sie stießen ihn wieder um, und jemand rammte ihm eine Nadel in den Arm, einfach durch sein weißes Hemd hindurch, und die ganze Szene wirbelte in Dunkelheit hinab …

… und nun lag er da und kochte erneut vor Wut. Diese Bastarde! Was glaubten sie, wer sie wa-ren? Und sobald sie herausfanden, dass er bei Be-wusstsein war, würden sie ihn erneut bestürmen. Nichts als ein Haufen Blutsauger, die Schlange standen, um ihn auszusaugen.

Keinesfalls. Pierce setzte sich auf, rang einen Moment um

sein Gleichgewicht und löste sich dann metho-disch von den restlichen Monitoren. Wenn er im Schwesternzimmer Alarm auslöste, würde er sich später darum kümmern. Eins nach dem anderen. Und zuerst musste er aus diesem von hinten belüf-teten Krankenhaushemd heraus. Das trübe Licht

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der Natriumdampflampen auf dem Parkplatz vor seinem Fenster sickerte durch die Jalousien. Es half ihm, den Schrank am Fußende des Bettes auszu-machen, in dem sich sein Anzug, sein Hemd und seine Schuhe befanden. Seine Brieftasche und die Haustürschlüssel waren nicht da, aber sie hatten seine Brille in dem Etui in seiner Brusttasche gelas-sen. Gut, sehr gut. Er zog sich rasch an. Während er die Schnürsenkel zuband, öffnete sich die Tür und verbarg Pierce.

Ein nicht sehr kräftiger Mann in der grünen Be-kleidung eines Chirurgen blieb im Eingang stehen und bemühte sich herauszufinden, was geschehen war. »Was, zum Teu…«

Pierce stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, deren Kante gegen die Schläfe des Mannes krachte. Es war, als wäre er von einem Hammer getroffen worden. Er brach zusammen und regte sich nicht mehr, als Pierce über ihn hinweg in den Gang trat.

Der Korridor war leer, aber vielleicht nicht mehr lange, und er beugte sich vor, um auf Zehenspitzen ein Schild zu suchen, das ihm den Weg zum Aus-gang wies. Das Treppenhaus wurde von hartem, kaltem, fluoreszierendem Licht beleuchtet, und er musste aufpassen, während er die Treppe hinablief. Noch immer kämpfte er gegen die Nachwirkungen der Betäubung an, fühlte sich schwindelig. Aber er hastete weiter, drei Treppen bis zum Erdgeschoss, wo er in einen verwaisten Flur kam, der durch

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mehrere Doppeltüren unterteilt wurde und direkt unter einem weiteren Ausgangsschild endete.

Im Laufen stieß er die Türen auf und fand sich schließlich in einem Verbindungsgang wieder, der zur Anfahrtsrampe des Krankenhauses führte. Er rannte zur nächstgelegenen Straße und überdachte rasch seine Lage. Sie hatten ihn ins Columbia Me-dical gebracht, was bedeutete, dass er nicht allzu weit von seinem Haus entfernt war, aber dort konnten noch immer viele Menschen sein und Verwirrung herrschen.

Er musste von allen fort, sich mit Sydney in Verbindung setzen, um ihr zu versichern, dass es ihm gut ginge, und so schnell wie möglich nach Jerusalem gelangen. Das Bild der Frau, die ihm begegnet war, würde er nie vergessen, ebenso we-nig wie ihre warnenden Worte und ihre Botschaft, dass Gott ihn brauchte.

Pierce war klar, dass er rasch handeln musste. Er konnte jedoch nicht wissen, wie viel Zeit ihm blieb, bis der Mann in Grün wieder zu sich kam. Nachdem er seine Brille hervorgeholt hatte, griff er in eine Seitentasche seines Jacketts und nahm drei Gegenstände heraus, die er brauchen würde – zwei Van-Schlüssel und eine Kreditkarte. Er lächelte, als er daran dachte, dass Sydney sich stets über seine Angewohnheit lustig gemacht hatte, diese »Notfall-gegenstände« bei sich zu haben. Und er hatte ihr stets erklärt, dass die beiden Dinge, um die er sich am meisten Sorgen machte, der Verlust seiner

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Brieftasche war sowie die Möglichkeit, dass er seine Schlüssel im Wagen einschloss. Daher dieses »Überlebensbesteck« in dem kleinen Lederkäst-chen, das er vor Jahren aus dem Levenger-Katalog bestellt hatte.

Und so nahm er, nachdem er am Geldautoma-ten das Bargeldlimit abgefragt hatte, ein Taxi zum internationalen Terminal des John F. Kennedy Air-port. Als er dort ankam, war die Sonne schon fast aufgegangen, und der Terminal erwachte bereits zum Leben. Er trat zum nächstgelegenen Telefon und wählte eine 888er-Nummer, die ihn in die Computer seiner Firma einwählte. Bei der inner-halb von vierundzwanzig Stunden zu erledigenden Prüfung und Regelung der Ansprüche ihrer größten Firmenkunden hatte Providential Casualty Insu-rance Pionierarbeit geleistet, was zum großen Teil den neuesten Erkenntnissen der Kybernetik zu ver-danken war. Pierce würde sie nun auch zu seinem eigenen Vorteil nutzen.

Als das digitale System ihn begrüßte und nach seinem Passwort fragte, gab er es ein und rief das Untermenü »Flugreservierung« auf, das Schadens-prüfern die Möglichkeit gab, sofort mit einem Lear-jet der Firma in alle Teile der Welt zu gelangen. Er tippte rasch die erforderlichen Daten ein und er-hielt eine Buchungsbestätigung für einen Flug vom JFK nach Tel Aviv. Abflug in weniger als neunzig Minuten – darum war seine Firma die beste. Er konnte Sydney auch vom Flugzeug aus anrufen.

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Er nahm einen Pendelbus zum Privathangar der Providential Casualty und trug sich bei Dan McClory, dem Leiter der Flugbereitschaft der Fir-ma, ein.

»Guten Morgen, Mr Erickson«, sagte Dan. »Wie üblich Pläne in letzter Minute?«

»Darauf können Sie wetten.« Pierce lächelte, während er durch die Sicherheitsschleuse ging. »Darum zahlen sie mir so viel!«

McClory lachte leise und winkte ihn in den Auf-enthaltsraum für Geschäftsführer, wo er auf seinen Flug warten konnte. »Das Flugzeug wird bereits für Sie startklar gemacht, Sir. Es dauert nur noch ein paar Minuten.«

Er nutzte die Zeit, um sich in der Herrentoilette Gesicht und Hände zu waschen und sich zu rasie-ren, und entschied, dass er nicht zu zerschlagen aussah, wenn man bedachte, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatte. Nachdem er einen frischen Kaffee getrunken und ein Brötchen gegessen hatte, fühlte er sich wieder wie neu. Als der Aufruf kam, an Bord zu gehen, war er sehr optimistisch.

Er stieg in den Passagierbereich ein, wo er von seinem Piloten und dem Kopiloten begrüßt wurde. Der Raum erinnerte an eine Atelierwohnung. Au-ßerhalb des Flugzeugs rannte Bodenpersonal um-her, das die Zugmaschine andockte, die den Jet zur Startbahn ziehen würde. Wie abwesend beobachte-te Pierce das Treiben durchs Fenster. Er plante be-

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reits, wie er nach der Ankunft in Israel vorgehen würde, bis er plötzlich etwas zu sehen glaubte, was eindeutig nicht sein sollte.

Als der Learjet langsam rückwärts rollte, wandte sich ein Mitglied des Bodenpersonals um, eine junge, schwarze Frau, die am Tankwagen stand und zum Flugzeug schaute, direkt durchs Kabinen-fenster zu Pierce. Es war kein beiläufiger, sondern ein bewusster Blick, der dem Flugzeug so lange folgte, bis sie sicher war, dass Pierce sie nicht nur gesehen, sondern auch erkannt hatte.

Es war nicht möglich! Sie konnte unmöglich hier sein …

Die Frau, die sich Shaenara Williamson genannt hatte, hob ihre rechte Hand, lächelte ihr perfektes Kameralächeln und winkte zum Abschied.

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Gizeh 31. Oktober 2000

Marion Windsor

ie war von einem wehleidig klagenden Laut erwacht.

Es war nicht wirklich ein Schrei, irgendwie sanf-ter und von unendlicher Traurigkeit erfüllt. Marion bemerkte, dass das Geräusch von Etienne kam, die in tranceähnlichem Zustand neben ihr lag.

Sollte ich sie berühren, sie aufwecken? Der Gedanke alarmierte Marion. Etienne reiste

vielleicht außerhalb ihres Körpers, führte einen ihrer »Besuche« durch, wie sie es einmal ausge-drückt hatte.

Es klopfte an der Zimmertür, und Marion erhob sich von ihrem Strohlager, um sie einen Spaltbreit zu öffnen. Francesco und Sforza standen da, auf Schwierigkeiten gefasst.

»Was ist los?«, fragte der Jesuit, der noch hagerer als gewöhnlich wirkte.

»Sie schläft, aber sie hat eine Art Traum oder Vi-sion oder Ähnliches.« Marion blickte an ihnen vorbei. »Wo ist der Kardinal?«

S

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»Er schläft wie ein Toter«, sagte Francesco. Und der Laut brach ab. Einfach so. Die beiden

Männer betraten vorsichtig und leise den Raum. Marion wandte sich um und sah, wie Etienne sie, auf einen Ellenbogen aufgestützt, alle drei ansah.

»Die Dinge verlaufen schlecht«, sagte sie, als be-fände sie sich mitten in einer Unterhaltung.

»Was meinen Sie?«, fragte Francesco, trat zu ihr hinüber und hockte sich neben sie.

»Die Sieben Schlüssel … Peter muss von ihnen wissen.«

»Warum? Was ist geschehen, Etienne?«, fragte Marion. »Erzählen Sie.«

»Einige der Siegel bleiben ungeöffnet.« »Ist das schlecht?«, fragte Sforza. »Ich weiß es nicht. Aber nur einer der Gerechten

lebt noch!« Sie berichtete von ihrer letzten Vision, in der sie Zeugin der Schicksale jener geworden war, die sie gerufen hatte. Alle hörten zu, ohne sie zu unterbrechen.

»Was bedeutet das?«, fragte Francesco sanft. »Siegt dieser Bastard?«

»Noch nicht, aber er kann siegen«, sagte Etienne. »Ist uns klar, was die Siegel repräsentieren?«,

fragte Sforza. Francesco sah ihn an. »Wie klar war uns jemals,

worum es bei der ganzen Offenbarung geht?« »Das stimmt«, sagte Sforza. Er fuhr sich mit ei-

ner Hand nachdenklich über den kahlen Schädel,

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eine Geste, die er so häufig machte, dass es schon auffällig war.

»Pater, ich fühle mich verantwortlich«, sagte Eti-enne. »Ich habe diese Menschen in den Tod ge-schickt.«

»Nein«, sagte Francesco. »Gott hat das getan. Sie waren nur sein Instrument.«

»Im Herzen weiß ich das, aber ich habe sie ster-ben sehen. Sie waren alle so tapfer, so voller Ver-trauen.« Etienne schüttelte den Kopf und erhob sich dann. »Wir müssen gehen. Jetzt. Der nächste Vollmond beginnt.«

»Interessant«, sagte Francesco. »Morgen ist Aller-seelen.«

»Also ist dies der Abend von Allerheiligen.« Sforza sprach sehr ernst. »Der Zeitpunkt in der An-tike, als dem Bösen die Freiheit geschenkt wurde.«

»Es ist eine Zeit der Vorsicht«, sagte Etienne. »Wir müssen rasch weiterziehen.«

»Was?«, fragte Marion. »Wohin?« »Nach Gizeh. Zur Großen Pyramide. Wir müs-

sen vor Peter dort sein.« »Er kommt nach Gizeh?«, fragte Francesco. »O ja. Er weiß, was auf dem Spiel steht, und er

hat keine andere Wahl. Er ist in den Händen des Gegners. Er ist jetzt verpflichtet, das durchzu-stehen.«

»Jemand muss den dicken Mann aufwecken«, sagte Francesco. »Ich bin mir sicher, dass er die Show nicht verpassen will.«

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Sforza lachte leise. »Kommen Sie, wir werden uns alle bereitmachen.«

Marion beobachtete, wie die beiden Männer den Raum verließen, und wandte sich dann wieder an Etienne. Sie empfand ein zunehmendes, unbe-stimmtes Entsetzen. »Etwas Schlimmes wird ge-schehen, nicht wahr? Was bedeutet das alles, Eti-enne?«

»Die Siegel sind Tore zu jeweils einem neuen Zeitalter. Sie sind an sich nicht wichtig, nur als Symbole. Indem wir sie öffnen, zeigen wir Gott, dass wir den Fortbestand der Welt wollen.«

»Warum will Peter, dass sie endet?« Marion dachte immer noch, wie sehr er sich verändert hat-te, wie seltsam er geworden war. Wie hatte er sich dazu entscheiden können, ein solches Ungeheuer zu werden?

Etienne lächelte matt. »In seinem Herzen will er das vielleicht nicht. Aber er dient jetzt jemandem, der diese Welt vernichtet sehen will, damit eine andere – die ihm mehr zusagt – ihren Platz ein-nehmen kann.«

»Es ist die Sonne, oder?«, fragte Marion. »Sie erinnern sich an meinen Traum von der

schwarzen Sonne?« »Ja«, sagte Marion. »Und ich habe in den Nach-

richten darüber gehört. Die Wissenschaftler haben seltsame Aktivitäten registriert.«

»Das hängt vielleicht alles zusammen, ja.« Einen Moment lang fehlten Marion die Worte.

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Sich vorzustellen, dass die Welt tatsächlich enden könnte … Wie könnte das geschehen? O Gott, wie …?

Etienne sah sie mit einem Ausdruck vollkom-mener Gelassenheit an, und Marion wünschte, sie könnte wie diese Frau sein. »Marion, haben Sie Vertrauen …«

»Aber Sie sagten, die Dinge verliefen schlecht. Was ist mit den Sieben geschehen? Wie hat Peter sie aufgehalten?«

»Das hat er noch nicht«, sagte Etienne. »Solange noch einer Gottes überragende Herrlichkeit bestä-tigen kann, wird die Welt nicht enden.«

»Aber es ist nur noch einer übrig!« »Wir brauchen auch nur einen, und darum müs-

sen wir in Gizeh sein, um ihn zu treffen. Wir kön-nen ihn vor Peters Zorn beschützen und es dort beenden.«

»Warum Gizeh?« Etienne zuckte die Achseln. »Es ist einer der hei-

ligsten Orte der Welt, und wahrscheinlich auch der älteste und daher wichtigste. In der Erde verlaufen geomantische Linien, wie Übertragungskabel, durch die alle heiligen Orte miteinander verbun-den sind. Gizeh ist der Mittelpunkt. Alle Linien laufen dort hindurch. Die Pyramiden sind wie Prismen spiritueller Energie.«

Marion lächelte ironisch. »Also gibt es wirklich so etwas wie eine ›Pyramidenkraft‹.«

»Ja. Es ist nichts, worüber man scherzen sollte.«

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»Die alten Ägypter wussten das?« »Wenn sie die Pyramiden gebaut haben, ja.« Eti-

enne wandte sich um und betrat das Badezimmer der elenden Bruchbude, in der Sforzas Leute sie versteckt hatten. Spät im letzten Jahrhundert von kühnen britischen Hoteliers erbaut, war das Ge-bäude seitdem zu einem Wohnhaus mit algerischer Nachbarschaft geworden. Die mit Stuck verzierten Wände waren schmutzig, die sanitären Einrichtun-gen funktionierten kaum, und die Stromversor-gung war trügerisch und auf ein Mindestmaß be-schränkt. Als sie Marion gesagt hatten, sie würde in ein sicheres Haus gebracht, hatte sie sich etwas an-deres vorgestellt. Aber es war in der Tat sicher ge-wesen – niemand achtete hier auf sie.

Nachdem sie die unberechenbaren sanitären Anlagen ausprobiert hatte, schloss sie sich den an-deren wieder an. Sie kleideten sich nun wie Ama-teur-Archäologen, ein Stil, der sie an die Beklei-dungskataloge für vermeintlich kühne und aben-teuerlustige Menschen erinnerte.

Marion stieg auf den Rücksitz eines uralten Landrovers, der Sforza gehörte. Der stämmige, muskulöse Mann fuhr mit dem Elan eines Men-schen, der die Stadt genau kannte, durch die Ne-benstraßen Kairos, und sie nahm an, dass seine Vertrautheit mit Hunderten von Städten zu einem seiner wichtigsten Werkzeuge des Überlebens ge-worden sein musste. Marion schloss die Augen vor der über den niedrigen Dächern aufgehenden Son-

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ne. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, wie dicht die Straßen dieser Stadt bevölkert waren – nicht nur mit Menschen, sondern mit allem. Müll, Fahrzeuge jeglichen Alters und aller Art, Katzen und Hunde, die alle um kostbaren Raum rangen.

Der Rover nahm eine enge Kurve, und plötzlich befanden sie sich in der Nähe des Hafenviertels, hinter dem in dunstiger Ferne ihr nach oben spitz zulaufendes Ziel aufragte.

Giovanni Francesco

Sein Leben neigte sich dem Ende zu. Er konnte es spüren. Nicht wegen der jeden

Morgen erforderlichen Anstrengung, sich aus ei-nem unbeständigen Schlaf emporkämpfen zu müs-sen, der ihm niemals Erholung verschaffte. Nein, es war eher eine spirituelle Anstrengung – eine Er-schöpfung, die nicht länger durch den Antrieb der Neugier oder unerledigter Aufgaben ersetzt werden konnte. Er dachte, er habe für eine Lebensspanne genug gesehen und getan, und er fragte sich, was als Nächstes käme.

Während der Rover auf die Gangway der al-Tariq-Fähre zufuhr, die sie über den Nil bringen würde, dachte Giovanni über die Rechtfertigungen und Ausreden nach, mit denen er sich und seinen Gott sein ganzes Leben lang genährt hatte, um sein abtrünniges Verhalten zu entschuldigen. Er war kein sehr guter Priester gewesen, außer dass er den

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Zölibat eingehalten hatte. Während so viele seiner Kollegen ihren natürlichen Bedürfnissen in perver-ser Weise nachgekommen waren oder sich einfach gelegentlich einer Prostituierten bedient hatten, war Giovanni von dieser Art Versuchung seltsam unberührt geblieben. Seine Gelüste waren anderer Art. Mit jeder Gelegenheit, ein Stückchen Macht zu erlangen, wuchs das Verlangen nach mehr.

Es ging immer um Macht. Einem Papst oder weltlichen Führer die Macht zu erhalten, mehr Macht für sich selbst zu erlangen, dafür zu sorgen, dass andere von ihr ferngehalten wurden. Er hatte festgestellt, dass weltumfassende Intrigen und Spi-onage sein verhängnisvolles Aphrodisiakum wa-ren, was seine Mitverantwortlichkeit an der Geburt des Ungeheuers erklärte, das sich jetzt Papst Peter II. nannte.

Wie dumm er gewesen war zu glauben, er könn-te solch eine Schöpfung kontrollieren oder sogar manipulieren! Die kleine Mary Shelley hatte die Torheit dieser Denkweise erkannt, den äußersten Wahnsinn, der solchen Stolz hervorbrachte. Aber Francescos Schöpfung wäre besser als alle, die vor ihm kamen. Gott würde es nicht wagen, ihn fehlen zu lassen.

Nein, das würde Gott nicht tun. Giovanni würde einen viel besseren Job machen. Und nun, wie im Gedicht, kam die Stunde endlich heran … aber alles könnte sehr wohl im Feuer enden statt im Eis. Immerhin konnten nicht alle Dichter recht haben,

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dachte er mit einem von Gelehrsamkeit gezeichne-ten Lächeln. Was er jetzt brauchte, war ein Mittel, um alles das, was er so viele Jahre lang falsch ge-macht hatte, zu korrigieren.

Er fühlte sich wie einer jener Sheriffs in den ame-rikanischen Western, die er so sehr geliebt hatte, als er jung war – der Mann, der mitten in die Stadt marschierte, wohlwissend, dass er den sicheren Tod durch Gangsterhand vor Augen hatte, es aber nicht so sehr darum tat, weil es das Richtige, sondern weil es die einzige verbliebene Möglichkeit war.

Etienne sagte, Peter sei auf dem Weg zu diesem Ort. Gut, dachte er. Ich bin mein ganzes Leben lang vor der einen oder anderen Sache davongelau-fen, einschließlich der Wahrheit über meine furchtbarste Schöpfung. Das hört jetzt auf.

Peter Carenza

Nun gab es kein Zurück mehr. Wie eine beschädigte Stelle auf einer CD wie-

derholte sich der Gedanke immer wieder in seinem Geist, drängte sich willkürlich zwischen andere Gedanken. Lästig, aber erträglich. Und in einem gewissen Sinn gefiel ihm diese Belästigung sogar, weil sie das, was geschah, und den Weg, den er schließlich bedingungslos eingeschlagen hatte, un-terstrich.

Alles vor der Zeit völlig durchzuplanen war et-was so Calvinistisches, dass Peter nicht gerne daran

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dachte. Es ergab einfach keinen Sinn. Nein, Gott liebte es offensichtlich, die Menschen zu prüfen, obwohl Peter sich nicht erinnern konnte, selbst irgendeiner besonderen Prüfung unterzogen wor-den zu sein. Es war so, als hätte Gott frühzeitig be-schlossen, dass er … verdorbene Ware und daher der Rettung nicht wert war.

Das war für Peter okay. Er fühlte sich mit der Rolle des ›Notwendigen Bösen‹ letztendlich wohl.

Er lächelte, während sein Privathelikopter tief über das Mittelmeer hinweg, westlich am Hafen von Alexandria vorbei und dann weiter südlich flog, dem Lauf des Nils folgend. Die messingfarbe-ne Sonnenbarke hatte ihre Reise über das uralte Land unter ihm gerade begonnen.

Das Notwendige Böse. Er wiederholte den Be-griff im Stillen.

Wie vollkommen ist dagegen Zen. Das Bedürf-nis nach einer unendlichen kosmischen Symmetrie war ein Thema, das viele westliche christliche Phi-losophen ignoriert, behutsam gestreift oder gänz-lich umgangen hatten.

Einer der wichtigsten Gesichtspunkte dieser Symmetrie war, dass die Konzepte von Gut und Böse ihre Bedeutung verloren. Das Gleichgewicht im Universum ist nicht mehr und nicht weniger als die elementar entgegengesetzte Natur von Proto-nen und Elektronen. Keines von beidem kann als »besser« bezeichnet werden, nur als anders.

Wie ich anders bin, dachte Peter.

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Ist die Antilope »besser« als der Löwe, der sie schlägt und frisst? Und würde die Antilope nicht den Löwen fressen, wenn sie es könnte? Was ist mit den Mikroben, die sich in der Struktur und im Gewebe von allem verkriechen und vermehren, was es auf dem Planeten gibt? Ergibt es auch nur den geringsten Sinn, wenn man sie mit morali-schen Maßstäben misst?

Peter hatte seinen Platz in der Realität endlich gefunden und sich damit arrangiert. Er hatte mit dem Einen kommuniziert, von dem sich fernzuhal-ten und den zu schmähen man ihn sein ganzes Leben lang gelehrt hatte, und es war, ehrlich ge-sagt, gar nicht schlimm gewesen.

»Landung in zwanzig Minuten«, sagte sein Pilot. »Wissen die ägyptischen Behörden, wer wir

sind?« Peter schaute hinab und betrachtete das glitzernde Mäandern des sagenumwobensten Was-serweges der Welt. Eine Fähre glitt wie eine verletz-te Wasserwanze über seine glatte Oberfläche.

Sein Pilot grinste und schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, dass der Papst hier ist, wenn Sie das meinen. Vielmehr denken sie, wir kämen vom NATO-Sicherheitsdienst und suchten hier nach einem unserer Agenten.«

»Was bedeutet das für uns?« »Nun, dass ihre eigenen Geheimagenten uns

zwar beobachten, aber in Ruhe lassen werden. Es sei denn, wir unternehmen etwas Außergewöhnli-ches.«

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Peter lächelte. »Wissen Sie, ich dachte gerade, dass sie vielleicht erfahren sollten, dass der Papst hier ist. Vielleicht erleichtert uns das unsere Aufga-be.«

Etienne

Der Rover war über den Fluss gelangt, und Sforza fuhr nun eilig durch Gizeh, folgte den Hinweisen zu den Pyramiden. Als sie sich der weltberühmten Touristenattraktion näherten, bemerkte Etienne, wie rasch sich alles von tiefer Armut zu fremdartiger Kommerzialisierung veränderte. Auf der Alexandria Desert Road kamen sie an vielen noblen Hotel-komplexen vorbei, die auch in Las Vegas hätten stehen können. Sie sagte: »Nehmen Sie die Western Desert Road zur Dashur-Pyramide hinunter.«

»Aber das ist südlich der Stelle, wo Sie hinwol-len«, wunderte sich Sforza. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, antwortete Etienne. »Es gibt noch eine an-dere Route zur Großen Pyramide, einen seit vielen Tausenden von Jahren unbenutzten Weg.«

»Etwas sagt mir, dass sich das alles verändern wird«, bemerkte Paolo Lareggia, der sich in seiner locker sitzenden Baumwolljacke und den volumi-nösen Safari-Shorts offensichtlich wesentlich woh-ler fühlte, obwohl sie bereits große Schweißflecke aufwiesen.

»Keine Angst«, sagte Marion mit tapferem Lä-cheln. »Diese Lady hat normalerweise recht.«

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Etienne sah Marion an und lächelte ebenfalls. Sie mochte die junge Frau, besonders weil sie es sich selbst nie erlaubt hatte, engstirnig oder gar zynisch zu werden. Marion hätte sich leicht den Mächten ergeben können, die Peter beherrschten, aber Etienne glaubte, dass sie eine innere Kraft be-saß, die sich ihr erst jetzt allmählich erschloss.

Sie führen an der vertrauten Ansammlung der Pyramiden vorbei und weiter zu den Ausläufern einer archäologischen Ausgrabungsstätte, die keine oder eine nur geringe Aufmerksamkeit der Touris-ten auf sich zog. Etienne sah in der Ferne einen seltsamen Umriss. Die Dashur-Pyramide lag un-mittelbar jenseits der nur zum Teil freigelegten Folge von antiken Gärten, Boulevards und Tem-peln. »Dort ist sie«, sagte sie.

»Sie sieht anders aus als die übrigen«, sagte Francesco.

»Sie wird die ›gebogene‹ Pyramide genannt, wo-bei niemand weiß, warum ihre Linien so ge-krümmt sind.«

»Seltsam«, sagte Francesco. »Ich habe noch nie davon gehört.«

»Das ist weit genug«, sagte Etienne zu Sforza. »Fahren Sie von der Straße ab. Wir müssen zum Fuß der Pyramide laufen. Vergewissern Sie sich, dass wir Taschenlampen dabeihaben – wir werden sie brauchen.«

In dieser Gegend war es sehr ruhig, und wenn jemand die kleine Gruppe sah, die sich der

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Dashur-Pyramide näherte, so achtete er nicht da-rauf. Etienne führte sie zu einer Stelle mehrere Me-ter südlich des Fußes der Pyramide, zu einer Reihe von Steinplatten, die zum Belag eines breiten Bou-levards oder einer Promenade zu gehören schie-nen. Einige der Platten waren entfernt worden und gaben einen abschüssigen Einstieg zu einem unter-irdischen Gang frei.

»Wir gehen hier hinein«, sagte Etienne. »Wohin führt uns dieser Gang?«, fragte

Francesco, der eine große Taschenlampe einschal-tete und sich hinter Etienne aufstellte.

»In die Große Pyramide«, antwortete sie. »Zu ei-nem Raum, der die Kammer der Königin genannt wird.«

Lareggia, gefolgt von Marion, reihte sich hinter Francesco ein, sodass Bruder Sforza die Nachhut bildete. Der Gang war ungefähr sieben Fuß hoch und breit, und sowohl die Seitenwände als auch die Decke und der Boden bestanden aus glänzen-dem Kalkstein. Die Fugen zwischen den Steinen waren fast unsichtbar, und der Boden war extrem eben. Eine Weile gingen sie schweigend voran, obwohl Etienne Fragen spüren konnte und auch die Anspannung, die sich in ihnen allen aufbaute. Dies war wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt, eini-ge Wissenslücken zu füllen.

»Wir sind nicht die Ersten, die dies tun«, sagte sie. »Im Jahre 1000 brauchte Gott die sieben Ge-rechten zum ersten Mal für die Siegel.«

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»Sie meinen hier?«, fragte Marion. »Sie kamen hierher?«

»Ja«, sagte Etienne. »Wer waren sie?« Lareggia litt unter der körperli-

chen Anstrengung. Jedes seiner Worte klang so, als könnte es sein letztes sein.

»Araber und Christen. Tatsächlich war einer sogar ein maltesischer Ritter«, sagte sie. »Vielleicht kennen Sie die Geschichte von Roland, Bruder Sforza.«

Sforza brummte bestätigend. »Es ist eine nur in Bruchstücken erhaltene Geschichte«, sagte er. »Mehrere Versionen beschreiben, wie er Luzifer auf einer gigantischen Sonnenuhr entgegentrat und auch am Eingang der Höllengrube selbst.«

Etienne lächelte. »Ja, und beide sind wahr, so wie alle Legenden wahr sind. In den 800er-Jahren hatte der große Kalif von Bagdad, Harun al-Rashid, einen Sohn, Abdullah al-Mamun, der einer der aufgeklärtesten Herrscher des Zeitalters wurde. Er war Gelehrter, Wissenschaftler, Forscher und Phi-losoph. Seine Expedition war die erste, die das In-nere der Großen Pyramide vollständig erkundete und aufzeichnete – obwohl viele behaupten, er hätte es nur entweiht. Einer seiner Nachkommen, Masudi al-Kaisi, kehrte vor eintausend Jahren zu diesem Ort zurück, um für das einzutreten, was in uns gut ist, zusammen mit dem heiligen Roland und fünf weiteren Männern.«

»Sieben Schlüssel zu Sieben Kirchen«, sagte Ma-rion.

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»Ja«, bestätigte Etienne. »Es sind immer sieben. Für jede Zeit.«

»Nur nicht für die jetzige«, sagte Marion. »Was meinen Sie?«, fragte Lareggia. »Es ist nur einer übrig.« »Das wird genügen«, sagte Etienne. »Vertrauen

Sie auf unseren Gott.« »Wie lautet der Name dieser Person?«, fragte

Sforza. Etienne lächelte, als sie an ihn dachte. »Es ist ein

junger Mann. Er heißt …«

Huang Xiao

Sein Weg war umständlich gewesen, während er sich südlich der hohen Gipfel in Nepal voranarbei-tete. In diesem Teil Asiens waren motorisierte Fahrzeuge nicht sehr leicht zu bekommen.

Mit jeder Stunde, die er durchhielt, wurde er sich der Tatsache deutlicher bewusst, dass sich ein Druck aufbaute, und die Bürde seiner Reise wurde schwerer. Er schlief in Abwasserkanälen, in Verpa-ckungskisten, in verlassenen Schuppen – wo im-mer er nicht entdeckt werden konnte. Nach einer zweitägigen Fahrt mit verschiedenen Güterzügen quer durch Nordindien, während er die vorüber-ziehenden Städte wie Perlen an einer Kette zählte – Patna, Kanpur, Agra, Delhi –, landete er schließlich bei einem ASL (Luft/Meer/Land)-Containerdock in Peshawar. Da er sehr vorsichtig vorging, verbrachte

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er fast vierundzwanzig Stunden damit, die Kenn-zeichnung zahlloser Container zu entziffern und ihren Weg zu den Schiffen zu verfolgen, bis er die Einteilung des Docks in ihren Grundzügen heraus-gefunden hatte und wusste, welche Container für welches Ziel bestimmt waren.

Die Zeit war seine Hauptsorge. Er musste so bald wie möglich in Gizeh eintreffen. Das Beste wäre gewesen, einen für Kairo bestimmten Container zu finden, aber das Einzige, was er in der kurzen Zeit erreichen konnte, war Port Said.

Die Ladung des Containers bestand aus Bauma-terialien und Werkzeugen, und Xiao öffnete meh-rere Kartons und bereitete sich aus Holzwolle und Luftpolsterfolie ein einigermaßen komfortables Bett. Während er schlief, wurde der Container in ein Frachtflugzeug verladen, und nach dem vier-stündigen Flug in den Mittleren Osten auf einen Tieflader verfrachtet und zu einem Verteilerzent-rum östlich der Said-Docks transportiert. Als Xiao das Klirren der großen Riegel hörte, bemühte er sich, zwischen den Kisten und Kartons ungesehen zu bleiben – zumindest lange genug, um die An-zahl der Leute abschätzen zu können, die er umge-hen musste.

Das Licht, das in den offen stehenden Container drang, sagte ihm, dass er sich in einer Halle be-fand, höchstwahrscheinlich ein Lagerhaus. Schritte hallten gegen die Wände des Containers, vom rau-en Brummen und den einsilbigen Kommentaren

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der Arbeiter unterbrochen, die damit begonnen hatten, die Ladung auf das geöffnete Ende des Containers zuzuschieben. Xiao achtete darauf, dass sich immer eine große Kiste oder ein großer Karton zwischen ihm und den Arbeitern befand. Als spiele er ein gigantisches Schachspiel auf einem unsicht-baren Brett, arbeitete er sich allmählich voran, immer näher an die Öffnung.

Was auch immer ihn dort draußen erwartete, er würde sich darum kümmern, wenn er darauf traf … oder wenn es ihn traf.

Er musste nicht lange warten. Als die letzte der größeren Holzkisten entladen

wurde, schlich Xiao an der Außenwand des Con-tainers entlang und schlüpfte um die Ecke. Er hörte niemanden in seine Richtung brüllen und nahm an, dass er nicht entdeckt worden war, zumindest im Moment.

Rasch sah er sich um: ein riesiges Lagerhaus, in dem es vor Arbeitern wimmelte, und ein Entlade-dock, wo Hunderte von Kartons und Holzkisten auf ihre Einlagerung oder ihren Abtransport mit Last-wagen warteten. Er hatte auf seiner Reise durch Asi-en ähnliche Anlagen gesehen und wusste, dass er so schnell wie möglich von hier verschwinden musste.

Als Xiao auf eine Reihe von Gängen und Lager-regalen zulief, bemerkte ihn schließlich doch je-mand – unverständliche Schreie folgten ihm. Doch er rannte weiter, so schnell seine dürren jungen Beine ihn tragen konnten.

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Er sauste einen langen Gang hinab, in dem mehrere Arbeiter mittelgroße Kartons stapelten. Sie blickten zu ihm auf, aber entweder kümmerte er sie nicht, oder sie hatten kein Interesse daran, ihn aufzuhalten.

Als er das Ende des Ganges erreichte, wandte er sich auf gut Glück nach links, einem weiteren Gang zu, der an einer Doppeltür zu enden schien. Wäh-rend er auf sie zurannte, sah Xiao sich um, aber es war niemand zu sehen, abgesehen von ein paar völlig gleichgültigen Arbeitern, die wahrscheinlich dankbar dafür waren, dass er derjenige war, der in Schwierigkeiten war, und nicht sie.

Er stürmte durch die Doppeltür und fand sich auf einem schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden wieder. Ein Ende war von einem gepark-ten Lastwagen blockiert, das andere frei. Als er den Weg entlangrannte, tauchte aus einem seitlichen Zugang jemand auf, schrie etwas und folgte ihm dann. Einen kurzen Blick über die Schulter wer-fend, sah er einen uniformierten Mann, der dro-hend eine Waffe schwang. Xiao lief schneller und im Zickzack. Er hatte das Ende des Durchgangs fast erreicht, als plötzlich ein weiterer Uniformierter auftauchte, der die Waffe in seiner Hand direkt auf Xiaos Gesicht richtete.

Xiao reagierte rein instinktiv. Er ließ sich fallen, rollte herum und gelangte so an dem Sicherheits-mann vorbei, der seine Waffe mehrmals abfeuerte. Die Schüsse hallten laut von den Wänden wider.

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Xiao sprang auf, schaute zurück und sah seinen Verfolger auf dem Rücken liegen, die Brust blutver-schmiert. Der zweite Wächter war an die Seite sei-nes Kollegen geeilt, und Xiao rannte weiter, durch ein offen stehendes Metalltor und an Parkplätzen voller LKWs vorbei.

Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er wusste nur, dass er nach Gizeh gelangen musste. Also weiter …

Paolo Kardinal Lareggia

Warum hatte er zugestimmt mitzukommen? Weil Peter ihn wahrscheinlich hätte töten lassen,

wenn er im Vatikan geblieben wäre, antwortete er sich selbst.

Paolo keuchte und hatte Mühe, mit den anderen mitzuhalten. Sie liefen anscheinend schon seit Stunden. Etienne hielt der Schinderei zwar ihre Geschichten entgegen, aber er war dennoch er-schöpft. Das Herz hämmerte unstet in seiner Brust. Er war zu alt und kränklich, um bei diesem Tempo mithalten zu können.

Aber er wusste, dass er diese Tortur nicht länger durchstehen musste. Nach dem flammenden Baum und den Engelsscharen in den Himmeln über Afrika war ihm klar, dass Gottes Hand die Karten neu mischte. Und das genügte als Zeichen dafür, dass ihm das stolze Projekt, das er in Gang gesetzt hatte, indem Peter zum Leben erweckt wur-

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de, vielleicht vergeben würde. Er erwartete, bald zu sterben.

Diese Aussicht erfüllte ihn seltsamerweise nicht mehr mit Furcht.

Peter Carenza

Die Änderung ihrer Strategie war eine sehr gute Idee gewesen.

Der Helikopter wartete in der Luft schwebend, während die Egyptian Tourist Agency and Parks Police einen Landeplatz für sie räumte und beritte-ne Polizisten schickte, um den Eingang zur Großen Pyramide zu sichern. Nach Gizeh Zurückkehrende schockierte es stets zu sehen, in welch ungeheuerli-chem Ausmaß der Kommerz die Umgebung prägte. Voller Souvenirstände, Imbissbuden, Hotels, Bett-lern und geführten Touristengruppen war der Ort von einer nahezu unerträglichen Hässlichkeit, und das plötzliche Auftauchen der Obrigkeit in diesem Kielwasser des Merkantilismus brachte nicht weni-ge Leute aus der Fassung. Peter beobachtete das Geschehen mit verzerrtem Lächeln.

Sein Pilot bewegte den Steuerknüppel, und in einem Mahlstrom aus umherfliegendem Sand lan-dete der Helikopter. Noch bevor die Rotoren zum Stillstand gekommen waren, eilten ägyptische Be-amte auf ihn zu – zwei gleichsam militärisch wir-kende junge Männer, die als Sicherheitskräfte des National Park Service fungierten.

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»Euer Heiligkeit«, sagte einer der beiden und nahm jäh Haltung an. »Unser Präsident hat mir den Befehl erteilt, Sie zu begrüßen und Ihnen sein Erstaunen über Ihren unangekündigten Besuch unserer Denkmäler zu übermitteln.«

»Danke«, sagte Peter. »Ich bedaure es, dass ich ihn nicht im Voraus über meine Reise informieren konnte.«

Der Mann nickte. »Was kann meine Regierung tun, um Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten?«

Peter lächelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Ja, Heiliger Vater.« Peter lächelte noch immer, aber auf eine Art, die

dem jungen Mann offensichtlich Unbehagen berei-tete. »Es wäre mir am liebsten, Sie würden mich allein lassen.«

»Was? Ich verstehe nicht …« »Ich habe eine Verabredung mit meinem Gott –

in Ihrem Heiligtum. Es ist eine Privatangelegen-heit. Ich fürchte, ich kann es nicht anders erklä-ren.«

»Verstehe«, sagte der Wachmann. »Einen Mo-ment, bitte.« Er trat zurück und führte über sein Funkgerät ein mehrere Minuten dauerndes Ge-spräch.

Peter wartete. Jenseits der Landefläche hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, aber an-scheinend erkannte ihn niemand. Es ging ihm in

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diesem Moment so gut, dass er sich wie berauscht fühlte. Nein, mehr als das. Noch nie hatte er eine solch unglaubliche Mischung aus Gefühlsregungen und Wahrnehmungen erlebt, die ihm alle sugge-rierten, dass er unbesiegbar und allwissend sei. Als er in den bronzefarbenen Himmel hinaufschaute, betrachtete er die Sonne als eine alte Freundin.

Der Wachmann kam zurück. »Meine Regierung wäre glücklich, Ihnen auf jede erdenkliche Art hel-fen zu können«, sagte er. »Aber ich muss Sie beglei-ten, während Sie sich in der Pyramide befinden, aus Sicherheitsgründen.«

»Gut«, sagte Peter. »Ich möchte sofort hineinge-hen. Können wir aufbrechen?«

Der junge Mann beriet sich mit seinem Kamera-den und sagte dann: »Gehen wir. Möchten Sie et-was Spezielles sehen?«

Peter lachte leise. »Ja, ich möchte meine Mutter sehen.«

Marion Windsor

Sie waren fast da. Die Kammer der Königin. Etienne erzählte

ihnen, dieser Raum sei von den Arabern, die das unglaubliche Bauwerk geplündert und die glän-zenden Außensteine davongetragen hatten, um damit die Moschee Sultan Hassans zu bauen, falsch benannt worden. Sie wussten nicht, dass die alten Ägypter Frauen, selbst eine Königin, eines

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solchen Grabmals nicht für wert erachteten. Tat-sächlich stelle dieser Raum den Mittelpunkt des gesamten Gebäudes dar, fügte Etienne hinzu.

Eine Zeit lang, die Marion nicht abschätzen konnte, waren sie in sehr gerader Linie über eine leicht geneigte Fläche gegangen. Etienne führte sie, wie Marion dachte, sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne durch die Dunkelheit. Plötzlich blieb sie stehen.

»Was ist los?«, fragte Marion, die nicht weit an der Nonne vorbeisehen konnte.

»Bis hierher geht der Gang«, sagte Etienne. Marion folgte dem Strahl von Etiennes Taschen-

lampe zu der Stelle, wo er auf einer glatten Wand aus Kalksteinblöcken hin und her tanzte.

»Was jetzt?«, fragte sie. Etienne lächelte ein kleines, leicht spitzbübi-

sches Lächeln und deutete mit ihrer Taschenlampe unmittelbar aufwärts, über ihre Köpfe. »Wir gehen dort entlang.«

»Das sieht sehr schwierig aus«, sagte Marion. Der Lichtstrahl erhellte einen senkrechten Schacht mit einer äußerst akkurat in die Wand eingearbei-teten Leiter an einer Seite.

»Etienne«, fragte Francesco, »woher wissen Sie diese Dinge?«

Sie sah ihn noch immer lächelnd an. »Woher wissen Sie, dass Gott Sie liebt?«

Francesco nickte und schwieg nun. »Wie weit hinauf gehen wir?«, fragte Sforza, der

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sich auf ein Knie niedergelassen hatte, um seinen Rucksack zu öffnen. »Wir werden das anbringen müssen.«

»Eine Strickleiter«, sagte Marion. »Wie?« »Sie werden sich auf meine Schultern stellen

und irgendwo in der Nähe der untersten Sprossen des Schachts diese Haken in die Spalte zwischen den Blöcken treiben. Können Sie das?«

»Ich kann«, sagte Marion. Und sie tat es. Innerhalb weniger Minuten wa-

ren alle bereit, die Leiter hinaufzusteigen. Alle außer dem Kardinal. »Ich kann nicht!«, sag-

te er, fast weinend. »Ich schaffe es kaum, auf ebe-nem Boden zu laufen. Wie soll ich mich da in das Innere dieses Schachts hinaufhieven«

»Wenn Sie hierbleiben, könnten Sie sterben«, sagte Francesco, der seinen Kollegen mit einem Ausdruck ehrlicher Besorgnis ansah. »Paolo, ich meine es ernst. Bitte, geben Sie nicht auf, ohne es zu versuchen.«

»Danke, Vanni. Aber ich muss genau hierblei-ben.«

Lareggia hielt das untere Ende der Strickleiter für alle anderen fest und beobachtete traurig, wie sie hinaufstiegen. Marion bemerkte, dass die in den Stein gehauenen Sprossen und Griffe den Aufstieg so leicht wie möglich machten, aber der Gedanke daran, Hunderte von Metern hochklettern zu müs-sen, war beängstigend.

Bald war das kleine Viereck, das den Eingang

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des Schachts unter ihnen bezeichnete, zu einem winzigen Fleck gelben Lichts von Lareggias Ta-schenlampe geschrumpft.

Während Marion weiterkletterte und sich be-mühte, nicht darüber nachzudenken, was sie tat, ließ sie noch einmal die letzten Jahre Revue passie-ren. Ihr ganzes Leben und, noch wichtiger, ihr grundsätzliches Verständnis vom Leben waren durch zwei seltsame Ereignisse so tiefgreifend ver-ändert worden, dass sie kaum glauben konnte, dass sie tatsächlich stattgefunden hatten. Und wenn sie schon solche Schwierigkeiten hatte, sich vorzustel-len, wie alles begonnen hatte, war es noch schwie-riger, sich vorzustellen, wie es enden könnte.

Es hatte etwas mit der Sonne zu tun, das wusste sie, aber niemand hatte großes Interesse daran ge-habt, darüber zu reden. Auch wenn sie die Gele-genheit hatte, wissenschaftliche Diskussionen über die Sonnenprotuberanzen zu lesen oder sich sol-che Diskussionen anzusehen, war doch offensicht-lich, dass sich niemand mit den schlimmsten Kon-sequenzen der Unbeständigkeit der Sonne aufhal-ten wollte. Vor allem weil es nichts gab, wie die Wissenschaftler glaubten, was die Menschen dage-gen tun konnten …

Aber darin irren sie sich, dachte Marion. Es kann etwas getan werden, und wir tun es. »Wir sind fast da«, sagte Etienne leise. Ihre Worte

ließen kein Anzeichen von Anstrengung oder Er-schöpfung erkennen. »Ich kann die Öffnung sehen!«

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»Gott sei Dank«, flüsterte Marion, der plötzlich klar wurde, wie wahr ihr unwillkürlicher Ausruf mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit war.

»Ich bin in der Kammer!«, rief Etienne. Ihre Stimme hallte wider, als stünde sie in einem un-ermesslichen Raum mit einer perfekten Akustik.

Marions Herzschlag wurde schneller, während sie sich über den Rand hochzog. Als sie aufschaute, sah sie etwas, was nicht möglich sein konnte …

Paolo Kardinal Lareggia

Er konnte den Klang ihrer Stimmen wie einen sanf-ten Wasser fall den Schacht hinabperlen hören, aber ihre Worte vermischten sich während des Auf-stiegs, sodass er nichts verstehen konnte.

Paolo hatte sich die Zeit mit Beten vertrieben. Und er war zufrieden mit dem Tenor der Worte, die er für seinen Schöpfer ersann, da es nicht die eigennützigen, unterwürfigen Vermächtnisse eines Menschen waren, der Angst vor dem Schicksal sei-ner Seele hat. Paolo fühlte sich privilegiert, weil er von den Manifestationen Gottes berührt worden und ihr Zeuge gewesen war. Nur sehr wenige Sterb-liche erhielten jemals ein solches Geschenk, aber er lebte in letzter Zeit anscheinend jeden Moment unter dem ewigen Ratschlag des Herrn im Himmel.

Paolo merkte, dass er lächelte, während er er-neut in den Schacht hinaufblickte, in dem seine

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tapferen und weitaus fitteren Begleiter nun ent-schwunden waren. Langsam trat er zur Wand, lehnte sich dagegen und ließ sich in eine sitzende Haltung nieder. Sein massiger Körper sank so voll-ständig hinab, dass er sich fragte, ob er sich jemals wieder erheben könnte. Er nickte ein, als die über-standenen Strapazen ihn schließlich einholten …

Er hörte Schritte. Augenblicklich öffnete er die Augen und ver-

harrte in nervöser Wachsamkeit. Adrenalin durch-strömte ihn wie Elektrizität.

Ein schabender, vibrierender Klang hallte von den engen Wänden des Ganges wider und ließ die kurzen Haare in seinem Nacken sich aufrichten, bis er plötzlich realisierte, dass er dem brüllenden Pfeifen seines eigenen Atems lauschte.

Er fühlte sich töricht, hielt mehrere Sekunden lang den Atem an und prüfte die Stille.

Anscheinend weit, weit entfernt erklangen Schritte, ein Geräusch, das mit jeder Wiederholung lauter wurde. Lauter wurde und näher kam. Paolo ließ abrupt den Atem los, aber nicht die Anspan-nung. Er wurde an Shakespeares klassische Zeile über drohendes Grauen erinnert: Das Böse kommt auf leisen Sohlen.

Die Schritte wurden lauter. Paolo richtete seinen Lichtstrahl in die Dunkel-

heit, der von Millionen Staubteilchen aus Kalkstein reflektiert und wie das Licht von Autoscheinwer-fern in dichtem Nebel zu ihm zurückgeworfen

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wurde. Er konnte über eine unangenehm kurze Entfernung hinaus nichts sehen.

»Wer ist da?«, rief er. Die Schritte hielten inne, aber nur einen Mo-

ment. Lareggia öffnete den Mund, um erneut zu spre-

chen, während er den Strahl der Taschenlampe weiterhin geradeaus richtete, aber kein Wort ent-rang sich ihm. Er saß an der rückwärtigen Wand, ohne irgendwohin gehen zu können, ohne Fluchtmöglichkeit vor dem, was sich ihm wie ein Höllenhund näherte.

Dann sah er in dem trüben Licht eine Bewegung, die näher kam, sich zu einer zunächst vage mensch-lichen Gestalt auflöste, dann weiter. Noch ein Schritt, und er würde wissen, er könnte sehen …

Ein junger Mann, wohl kaum über das Teena-geralter hinausgelangt, ein Asiat mit schmutzigen schwarzen Haaren und tief liegenden, dunklen Au-gen, die durch die Schatten darunter in ihren Höh-len zu verschwinden schienen. Seine Wangenkno-chen, wenn auch hoch angesetzt, waren scharf ge-schnitten und verliehen ihm ein seltsam bedrohli-ches Aussehen. Der Pullover, die Hose und die Ja-cke waren schmutzig und halb zerrissen, und er stank. Paolo konnte seinen stechenden Körperge-ruch selbst aus der Entfernung von zehn Schritten riechen. Der Junge hielt inne, um seine Augen vor dem Lichtstrahl zu schützen. Er wirkte unheimlich und verletzlich zugleich.

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Aber er besaß noch ein weiteres Merkmal, das alle anderen bedeutungslos erscheinen ließ und Paolo plötzlich verdeutlichte, was all die Künstler und Aufklärer längst vergangener Jahrhunderte zu erklären versucht hatten – dieser abgerissene junge Mann schritt mit weichen und gedämpften Bewe-gungen auf ihn zu, von einer fahlen, geisterhaften Aura umgeben, und um seinen Kopf war etwas, was man nur als Nimbus bezeichnen konnte.

Huang Xiao

Er hielt die Hände hoch und wartete, bis der Mann den Lichtstrahl seiner Taschenlampe von seinem Gesicht abwandte. Xiao neigte den Kopf ein wenig und versuchte zu erkennen, wer da vorne in dem Gang wartete, zu dem er wie in einer Art Trance »hingeführt« worden war.

Seitdem er auf dem Alexandria Desert Highway von dem kleinen Lieferwagen gesprungen war, fühlte er sich, als liefe er nahezu im Schlaf. Aber jetzt, als er den Mann betrachtete, der da vor ihm an der Wand lehnte, war ihm klar, dass seine Reise fast vorüber sein musste. Und er fühlte sich plötz-lich sehr wach.

Der Mann war groß und fettleibig wie ein Su-mo-Ringer, aber ohne den sehnigen Unterbau. Er schien bereits in einem fortgeschrittenen Alter zu sein, aber Xiao war sich dessen wegen der Körper-fülle nicht ganz sicher. Zunächst hatte er gedacht,

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der Mann sei verletzt, aber das schien nicht der Fall zu sein, und er wirkte recht gütig.

Also trat Xiao vor ihn hin und verbeugte sich. Sein Englisch war begrenzt, aber er versuchte es und deutete zunächst auf seine eigene Brust.

»Ich Huang Xiao. Ich … die Lady …« Der dicke Mann lächelte. »Etienne!«, sagte er,

und Xiao wusste instinktiv, dass dies der Name seiner Traumlady war.

Er nickte enthusiastisch. Der Dicke zeigte auf die Strickleiter, hielt den

Daumen hoch und nickte. Xiao ergriff die Leiter ohne Zögern und kletterte

seiner Bestimmung entgegen.

Etienne

Sie hatte keine Ahnung, wie es geschah, aber sie wusste gewiss, warum.

Obwohl sie in einer Kammer Hunderte Meter tief unter Millionen Tonnen Stein lebendig begra-ben waren, standen sie da und schauten zum un-endlichen Himmelsgewölbe jenseits der milchig blauen Atmosphäre und in die unendlichen Wun-der der Galaxie hinauf. Die dreißig Tonnen schwe-ren Steinblöcke waren durchsichtig geworden!

»Schaut«, sagte Etienne, während sie auf die Knie sank, »das Wunder von Gottes Hand.«

Francesco, Sforza und Marion folgten ihrem Bei-spiel schweigend. Ihre Mienen durchliefen alle

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Stadien von Ehrfurcht zu reinem Entsetzen. Sogar Etienne war von der erstaunlichen Erhabenheit dieses Schauspiels überwältigt. Unter dem Ein-druck der geheimnisvoll schimmernden Kuppel wie erstarrt, spürte sie das Licht all der leuchtenden Sterne wie winzige Finger auf ihrem gesamten Kör-per.

Unermesslich lange knieten sie dort, während das Universum den Atem anhielt und die Juwelen der Schöpfung auf sie herniederfunkelten.

Marion war es, die das Schweigen schließlich brach und sie wieder an ihre Aufgabe erinnerte. »Wie ist das geschehen? Etienne? Was bedeutet das?«

Etienne sah ihre drei Gefährten an und spürte, wie sich die Worte mühelos von ihrer Zunge lös-ten. »Diese Kammer bezeichnet das genaue Zent-rum der Pyramide. Alle Linien treffen hier zusam-men. Alles, was von den Kirchen der Erde aus-strömt, führt auf den Drachenpfaden hierher. Die Siegel sind lediglich Wegweiser auf dem unendli-chen Weg. Wie das Möbiusband führen die Siegel, wenn sie geöffnet wurden, alle zum gleichen Ort …«

»… hierher.« »Dies ist der Schmelztiegel, in dem das Bewusst-

sein ursprünglich genährt wurde.« Etienne schloss die Augen. Sie konnte das Ende

all dieser Mühen sich unmittelbar jenseits des Schleiers dessen abzeichnen spüren, was sie nun

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sehen konnten. Jetzt wusste sie, dass die Tode der Gerechten notwendig gewesen waren, wie der Tod es stets wäre, damit Leben bestehen konnte, und das Leben Aufrechter würde stets mehr bewegen als das der Verderbten. Für sie ergab jetzt fast alles ei-nen Sinn. Sie fühlte sich, als wäre ihr ein ganz kur-zer Einblick in einen ungemein komplexen Me-chanismus gewährt worden.

Fast alles hatte sich zurechtgerückt. In diesem seltsam vorhersehenden Geisteszu-

stand, der sie unerwartet häufig traf, wusste Eti-enne, dass sich bald alles entwirren würde.

Der Moloch, der das Schicksal der Welt war, nä-herte sich rasch, und sie glaubte, dass sie vorberei-tet waren, trotz ihrer Erkenntnis eines fehlenden Teils.

Marion, die noch immer zu dem sie umgeben-den Gewölbe endlosen Raums hinaufblickte, sagte wie im Gebet: »Es ist so wunderschön.«

Peter Carenza

Er hörte die Worte, als er die Kammer der Königin in Begleitung des ägyptischen Wachmanns betrat, und fühlte sich einen Moment zurückversetzt, weit, weit zurück, zu einer Nacht unter einem Himmel in Indiana, als Marion ähnliche Worte über ihre Situation, über ihr Wissen voneinander und eine gewisse, lange verlorene Unschuld gesprochen hat-te.

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»Ja, Marion, nicht wahr?«, sagte er. Seine Worte verspotteten sie und kündigten ihn gleichzeitig an. Der Wachmann, der ihn in den Raum geführt hat-te, stand in schweigendem Entsetzen da, während er zu dem gähnenden Sternenquell hinaufschaute, der ihn auf ewig einzusaugen drohte. Er sank schreiend und weinend auf die Knie und sah sich dann auf der Suche nach einer Antwort um, die ihm die Angst nehmen würde.

»Dies ist der Ort des Schöpfers«, sagte ein stämmiger Mann neben dem hageren Francesco. Er stellte sich Peter gegenüber. »Ich bin Bruder Sforza vom Heiligen Orden der Malteserritter. Bei der Macht von allem, was ich zu beschützen geschwo-ren habe, fort mit Ihnen!«

»Sehr dramatisch«, erwiderte Peter lächelnd. »Haben Sie diese Zeilen sehr lange geübt?«

Sforza griff nach einer Waffe an seinem Gürtel, und Peter streckte einen einzelnen Finger in seine Richtung aus. Sanftes Licht brach auf, wie eine bil-lige Glühbirne, die eingeschaltet wird. Sforza schrie auf und fiel, sich vor Schmerz windend, auf die Knie. Seine rechte Hand und das Handgelenk wa-ren in einen schwelenden Stumpf verkohlten Flei-sches verwandelt worden. Er schüttelte ihn gequält, brach dann auf dem Boden zusammen und verlor das Bewusstsein.

»Wagen Sie es nicht, mich aufzuhalten«, sagte Peter mit der sanftesten Stimme, die er hervorbrin-gen konnte.

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»Er steht unter Schock«, rief Marion, während sie sich neben Sforza kniete. »Verdammt sollst du sein!«

»Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte Francesco.

Der ägyptische Wachmann erhob sich schwerfäl-lig auf die Knie und kroch auf die Stelle zu, wo sich der Eingang zur Kammer hätte befinden müssen, wenn sie nicht durchsichtig gewesen wäre. Peter schaute auf den Mann hinab, seine duckmäuseri-sche Schwäche verachtend. Er trat ihm mit un-glaublicher Wucht in den Bauch und spürte, wie das weiche Gewebe unter dem Tritt riss.

Die Angst des Wachmanns schien den Kraft rau-benden Schmerz zu überwiegen, denn er erhob sich mühsam und stürzte sich in den Zugangs-schacht, vor Angst und Qual heulend.

»Haben Sie das mit uns allen vor?«, fragte Francesco.

»Schlimmeres«, sagte Peter. »Und ich muss Sie nicht einmal berühren.«

Etienne lächelte mit wehmütiger Traurigkeit, während sie ihren Sohn betrachtete. »Sehen Sie? Er kann mir nicht einmal in die Augen sehen. Seiner eigenen Mutter. Was ist es, Peter? Scham? Oder verabscheust du mich so sehr?«

Peter, der sie noch immer nicht direkt ansah, täuschte ein Lächeln vor und sagte: »Das ist es, du hast es erraten, Mutter.« Er sprach dieses letzte Wort so höhnisch wie möglich aus und versuchte sein Bestes, gelangweilt zu klingen.

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»Es tut mir leid, mein Sohn, aber ich glaube dir nicht.«

»In wenigen Minuten wird es nicht mehr wichtig sein, was du glaubst.« Er lächelte sie alle erneut an, aber es fühlte sich noch immer nicht richtig an.

»Peter«, sagte Francesco, »muss es so sein?« »Ja, mein lieber Pflegevater«, sagte er mit spötti-

schem Stirnrunzeln zu dem Jesuiten, »ich fürchte, ja.«

Giovanni Francesco schüttelte den Kopf. »Ich war damals ein junger Mann und nahm an, ich könnte alles erreichen«, sagte er. »Das glaube ich nicht mehr – aber ich denke, dass Sie scheitern werden.«

Peter ärgerte sich zunehmend darüber, dass niemand ihm so überrascht oder ängstlich begeg-nete, wie er es gerne gesehen hätte. Etwas stimmte nicht.

»Giovanni, glauben Sie auch, dass Sie derjenige sein werden, der mich aufhält?«

Der alte Jesuit zuckte die Achseln. »Nein«, sagte er. »Ich vermute, dass Sie sich letztendlich selbst aufhalten werden.«

»Gut gesagt, Vater«, bemerkte Etienne. Der Blick seiner Mutter war so unverwandt auf

ihn gerichtet wie bei einem Raubtier, das seine nächste Mahlzeit auswählt. Er wandte den Blick ab, aber das Bild ihrer Augen konnte er nicht loswer-den – kalt und düster, hart und reptilienhaft.

Etwas stimmte nicht.

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Warum hatte ihm der … der »Seminarist« gesagt … er solle hierherkommen?

»Gizeh … geh dorthin«, hatte er gesagt. Aber wa-rum? Weil sie siegten? Weil sie aufgehalten werden mussten? Nichts davon ergab viel Sinn. Peter war hier offensichtlich im Vorteil. Nur einer der Sieben war durch sein Netz geschlüpft. Ah, darum war er hier, nicht wahr? Um denjenigen zu erledigen.

Um die ganze Angelegenheit zu beenden. Dieser letzte Gedanke lastete wie Blei auf sei-

nem Geist und begann dann einzusinken, lang-sam, in den tiefsten Teil seines Seins. Er hatte einen gewissen Reiz, und Peter hatte niemals aufgehört, sich zu fragen, warum. Aber er begann zu verste-hen … Er begann das ganze … Spiel leid zu wer-den. Und das war es, wenn man es näher betrach-tete – nur auf einem größeren Brett, einem größe-ren Feld gespielt.

Er erinnerte sich, wie er vor mehreren Jahren (auch wenn es wie mehrere Lebensspannen schien), als er Gemeindepriester in New York gewesen war, die Älteren hatte sagen hören, sie seien müde und bereit zu gehen. Müde war das Wort, das sie be-nutzt hatten, und Peter merkte nun, dass er zuge-hört, aber er niemals wirklich begriffen hatte, was die alten Leute meinten, wenn sie dieses Wort be-nutzten. Sie waren des Lebens überdrüssig und gelangweilt und fühlten sich unbehaglich und un-fähig, die Dinge im Leben zu genießen, die ihnen einst Freude gemacht hatten. Das Leben war nicht

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mehr lebenswert. Es klang so einfach, aber es un-terstrich eine wesentliche philosophische Frage: War das Leben jemals lebenswert?

Als suche er eine Antwort bei jenen, die ihm nun gegenüberstanden, konnte er die Überzeu-gung, die in den Kesseln ihrer Seelen kochte und brodelte, in ihren Augen ebenso sehen wie spüren. Sie glaubten an etwas, und dieser Glaube überwog jede alberne Frage nach dem Existenzialismus.

Vielleicht brauchten sie eine Demonstration, um …

In diesem Moment bemerkte er ein seltsames Glühen, das aus dem vertikalen Schacht in der Mit-te des Raumes kam. Alle blickten mit neugieriger Faszination zu der quadratischen Öffnung. Der Klang von auf den Steinsprossen der Leiter knir-schenden Sohlen begann als rhythmisches Flüs-tern, das allmählich lauter wurde.

Das war es, dachte Peter. Der Grund, warum er hierhergekommen war.

Das Glühen wurde in erschreckendem Maße heller. Plötzlich tauchte ein junger Mann aus dem Schacht auf, und in diesem Moment schien die gesamte Struktur des Raumes, vielleicht die Große Pyramide selbst, anzuschwellen und sich zusam-menzuziehen, beides zugleich. Dann schimmerte das durchsichtige Gewölbe der Galaxie rund um sie herum und krümmte sich einen Moment.

Der junge Mann sah sich in dem Raum um, sei-ne Miene ehrfurchtsvoll, aber entschlossen, blieb

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stehen und blickte Etienne mit einem Ausdruck des Wiedererkennens an. Er war jung, Asiat und wirkte der Erschöpfung nahe. Seine Kleidung war zerlumpt und zerrissen, und er roch schlecht, aber er war von einer Aura umgeben, einem surrealen und schwach sichtbaren Glühen, von dem Peter wusste, dass es an keinem anderen Ort als hier, diesem Brennpunkt elementarer Kräfte, zu sehen wäre.

»Ich bin Huang Xiao, Traumlady«, sagte er zu Eti-enne. »Ich bin zu Ihnen gekommen, wie Sie es erbe-ten hatten.«

Er sprach in einem Dialekt der nördlichen Pro-vinzen Chinas, aber Peter konnte die Worte verste-hen und vermutete, dass alle anderen es auch konnten.

Etienne lächelte. »Das Siegel ist geöffnet.« »Das Siegel bedeutet nichts!«, sagte Peter. »Ich

kenne das Geheimnis der Sieben. Die Welt wird niemals enden, solange einer von ihnen lebt. Und dieser Junge ist der Letzte.«

Etienne sah ihn mit ihren Rabenaugen an, aber er schaute lieber zu Xiao. »Die Welt ist nicht so verkommen, dass Gott nicht sieben weitere erwäh-len kann«, sagte sie.

Peter lächelte. Er hatte seine Lektionen gut ge-lernt. »Nur wenn Ihm niemand entgegentritt. Und dieses Mal tut es jemand – dank der metaphysi-schen Einmischung von Pater Giovanni Francesco und seinen Freunden.«

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»Ich sage mich von dir los«, verkündete Francesco.

»Oh«, sagte Peter, »ich habe solche Angst.« Er streckte eine Hand in Richtung des chinesi-

schen Jungen aus und öffnete die Handfläche. Xiao schrie auf und wölbte den Rücken, während er langsam in die Mitte des Raumes zu schweben be-gann, als wäre er zu einem Raumkörper geworden, um den sich die Galaxie drehte …

… und vielleicht war er das. »Es ist an der Zeit, zum Ende zu kommen«, sagte

Peter. Und Xiao begann zu schreien.

Gaetano

Er brachte den Geländewagen mit dem breiten Aufbau und der grauenhaften Aufhängung an seine Grenzen, indem er ihn scheppernd und krachend über Fels und Sand jagte. Dieses Fahrzeug war ein-deutig dafür gemacht, missbraucht zu werden. Mithilfe des an Bord befindlichen GPS-Computers hatte er Gizeh, den Vorstadtbezirk Kairos, angepeilt und dachte, dass er schon erkennen würde, wo das Geschehen stattfand. Er musste nur auf die richti-gen Zeichen achten, wenn er dorthin kam. Jede Minute musste es so weit sein. Auf seiner eiligen Reise nach Süden hatte er einen flüchtigen Blick auf die saphirblauen Windungen des Nil erhascht, und die Spitzen der Pyramiden, die den Abbildun-

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gen auf den alten Camel-Zigarettenpackungen sehr ähnlich sahen, tauchten im Morgennebel auf.

Gaetano bemühte sich, nicht an die immense Maschinerie zu denken, die auf der ganzen Welt im Untergrund rasselte, um es Menschen wie ihm zu ermöglichen, sich mit der Mühelosigkeit und schattengleichen Präsenz zu bewegen, die der Rest der Welt niemals vermuten würde. Er musste über all die Menschen mit ihren Visa und Pässen und Passierscheinen lachen, wie auch darüber, wie ge-treu sie sich all der vermeintlichen Sicherheit füg-ten.

Sie erkannten nicht, dass diejenigen, die durch all den Mist kontrolliert und überwacht werden mussten, dem ursprünglich niemals zugestimmt hatten.

Gaetano schüttelte den Kopf, während er die hektische Kette von Ereignissen überdachte, die ihn hierher geführt hatte. D’Agostino hatte für ihn gesorgt. Es hatte in Anzio tatsächlich eine Schuh-macherwerkstatt gegeben, und der Eigentümer war ein richtiger Schuster – die Art, wie man sie kaum noch sah. Und als Gaetano ihm sagte: Sonnyboy ist zu Hause, kümmerte er sich um alles. Solotano war alt, aber er war auf das Schlimmste vorbereitet und hatte Verbindungen zu den richtigen Leuten. In-nerhalb einer Stunde war Gaetano mit einem Mo-torboot übers Mittelmeer zu einem ägyptischen Fischerboot drei Meilen vor der Küste von Ale-xandria gebracht worden. Drei urige Typen hatten

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ihn an Bord genommen, ihm Fischerkleidung ge-geben und ihn mit Netzen voller silbriger Fische, wie er sie noch nie gesehen hatte, an Land ge-bracht. Von dort war er zum Kreuzungspunkt von Tobruk und Alamein gebracht worden, wo ein »hervorragendes Transportmittel« auf ihn wartete.

Der Geländewagen strotzte vor Waffen und an-derem tödlichen Zubehör wie Granaten mit Auf-schlagzündern, SAM-Flugkörpern und tragbaren Raketenwerfern, Flammenwerfern sowie einer Viel-falt von Gegenständen mit scharfen Spitzen und Kanten. Gaetano hatte so viele der kleinen tragba-ren Waffen wie möglich in seine Safariweste ge-stopft, die er jetzt trug, und mehrere Handfeuer-waffen auf dem Beifahrersitz bereitgelegt.

Von den Zugangsstraßen und Parkplätzen aus gesehen traf er in einem schrägen Winkel auf die Pyramiden, da er von Nordwesten kam, um so die geballte Konzentration der touristischen Einrich-tungen zu meiden. Während er sich der größten der gewaltigen Pyramiden näherte, sah er, dass Lastwagen und andere Fahrzeuge ägyptischer Be-hörden um einen glänzenden Helikopter und ein großes Areal zusammengezogen worden waren. Dieser Bereich, in dem auch der Zugang zur Gro-ßen Pyramide lag, war ausgewiesen als ein Gebiet, das nur nach vorhergehender Kontrolle betreten werden durfte.

Nicht der direkte Weg, dachte er, während er herunterschaltete und aufs Gaspedal trat. Der Wa-

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gen reagierte, indem er buchstäblich über eine Sanddüne sprang. Dann schlitterte er, große Sand-wolken aufwirbelnd, einen steilen Hang hinauf und kam nur wenige Meter vor dem Eingang der Großen Pyramide rutschend zum Stehen. Gaetano spürte die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit der Touristen und der ägyptischen Obrigkeit und er-griff eine Uzi und eine Ruger, ein 45er Halbauto-matik-Sturmgewehr.

»He da!«, rief einer der Wachmänner, der zur Fahrerseite des Wagens herankam. Gaetano streck-te ihn zu Boden, indem er die Tür ruckartig auf-stieß, während er vom Sitz sprang. Die Landsleute des Wachmanns, insgesamt fünf, zögerten, um eine Entscheidung bemüht, ob sie ihre kleinen Waffen vom Kaliber .32 ziehen oder die großen Jungs vom aktiven Heer rufen sollten.

Gaetano kümmerte es nicht wirklich, was sie ta-ten. Er gab mit der Ruger einige Warnschüsse in die Luft ab und verschwand im Eingang der Pyramide. Als er ungefähr dreißig Meter zurückgelegt hatte, begingen mehrere der Wachleute den Fehler, ihm nicht nur zu folgen, sondern sogar einige Schüsse auf ihn abzugeben. Er wandte sich einen Moment um, beharkte den Gang mit Kugeln, rollte eine Granate mit Aufschlagzünder auf den Eingang zu und rannte los.

Sehr schnell, einen allmählich ansteigenden Gang hinauf, wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und …

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… die Explosion bringen! Die Druckwelle war den Gang hinauf spürbar

und traf ihn wie der Luftzug eines vorüberfahren-den Güterzuges. Die durch die Explosion verdich-tete Luft warf ihn zu Boden und setzte sich bis ins Herz der Pyramide hinauf fort. Gaetano rappelte sich hoch und lief ihr hinterher – um dem unmit-telbar folgenden Feuerball zu entgehen.

Marion Windsor

»Lass ihn in Ruhe!«, rief sie, als sich Xiao wie auf einem Barbecuespieß langsam in der Luft drehte, das Gesicht eine entsetzliche Maske der Qual.

Peter wandte den Blick einen Moment von sei-ner Beute ab und versuchte, Marion anzulächeln. Aber es war nichts in ihm übrig, was ihn diese Herzlichkeit auch nur hätte heucheln lassen, so-dass ihm lediglich eine grimmige Parodie des au-ßer Kontrolle geratenen Gefühls gelang, das Mari-on in der Nacht aus ihm hatte hervorbrechen se-hen, als er Daniel Ellington getötet hatte.

Das war die Nacht gewesen, in der sie erkannt hatte, dass sie mit einem Ungeheuer ins Bett ge-gangen war.

Etwas polterte den Gang hinauf, durch den Peter gekommen war. Er stand im Eingang, als ihn die Schockwelle der Explosion erreichte. Er stand un-bewegt da und schrie triumphierend, als wäre der überhitzte Luftstoß ein Signal, das das Ende aller

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Dinge ankündigte. Marion beobachtete, in einer Art atavistischer Lähmung gefangen, wie Peter sei-ne Hand über Xiaos Kopf hielt, die Faust schloss und sie jäh herabsenkte, als werfe er etwas zu Bo-den.

Und Huang Xiao, der sich in Peters dämoni-schem Griff gewunden und geschrien hatte, wurde zu Boden geschleudert. Während sie beobachtete, wie der Junge auf die transparente Barriere der Bo-denschicht des Raumes zuraste, stellte Marion sich einen Moment lang vor, dass sich Xiao den fernen Sternen entgegenwinden würde.

Aber das tat er nicht. Und als sie den mörderischen Aufprall seines

Körpers auf dem unsichtbaren Stein hörte, wusste sie, dass er den wahren Status eines Heiligen er-reicht hatte … und eines Märtyrers.

Etwas war furchtbar schiefgegangen. Die Sieben gab es nicht mehr.

»Es ist vorbei!«, schrie Peter, wirbelte herum und deutete in die sie umgebende Sternennacht.

Er zeigte auf die Sonne, und Marion begriff, dass Peter es geschafft hatte, über alles das zu trium-phieren, wofür sie gearbeitet und woran sie ge-glaubt hatten. Tränen des Entsetzens entströmten ihr, während sie beobachtete, wie sich von der Ko-ronosphäre der Sonne plötzlich ein gewaltiger Feu-erarm ausstreckte und über den Abgrund des Rau-mes hinwegpeitschte wie eine neunschwänzige Katze …

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… aber er griff nicht nach der Erde … Stattdessen wand und rollte er sich in sich

selbst, und die ungeheure Sonnenprotuberanz be-rührte etwas anderes, etwas auf der entgegengesetz-ten Seite der Stelle, an der sich der Planet drehte und seine gewohnte Bahn zog. Was auch immer das Lodern auf diese Art berührte, es flammte kurz auf, wie Zunder, der durch eine Flamme gezogen wurde, und erlosch dann wieder.

Einen Augenblick standen sie alle schweigend und benommen da.

»Was …?«, rief Peter und fuhr herum, um die kleine Frau düster anzustarren, die seine Mutter war.

»Noch einer«, sagte sie sehr sanft. »Was?«, fragte Marion, die kaum hören konnte,

was sie sagte. »Einer der Sieben, die du getötet hast, war nicht

derjenige, den du in Wahrheit suchtest«, sagte Eti-enne.

Peter schien verwirrt. Er schaute in die Leere hinter ihm und dann zu Etienne. »Was sagst du da, Frau?«

Etienne trat einen Schritt auf ihn zu, und er zö-gerte, wich zurück.

»Du weißt es«, sagte sie. »Du hast es immer ge-wusst.«

»Nein!« Etienne trat noch näher, und Marion begriff. Sie

konnte spüren, wie ihr Herz einen Satz tat. Alles pulsierte und floss. Das war es, das war es wirklich.

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Armageddon, auf Familienart. »Vernichte mich, Peter, und alles gehört dir«,

sagte Etienne.

Peter Carenza

Es war so falsch! Der Gedanke wand sich wie Stacheldraht durch

seinen Geist. Und dann fühlte sich alles an, als würde es umherwirbeln – der Raum, die Sterne, sein Zugriff auf die Realität. Peter kämpfte darum, wieder die Kontrolle zu erlangen und herauszufin-den, was er als Nächstes tun musste.

Er musste die ultimative Sünde begehen. Gott hatte nicht fair gespielt, weil er es nicht nö-

tig hatte, und Peter konnte das anerkennen, aber er hatte nicht erwartet, dass ihn das Rad des Schick-sals so hart angehen würde.

Die ultimative Sünde. Etienne stand auf Armeslänge vor ihm. Er würde

sie nicht einmal berühren müssen, und sie würde sterben und die Welt ebenso. Während die Gedan-ken weiterhin in ihm brodelten, zögerte er und fühl-te sich von der bitteren Ironie des Augenblicks ver-einnahmt – weil er nun erkannte, dass er nie gewe-sen war, was sie alle von ihm erwartet hatten, ein-schließlich ihm selbst. Eine Kuriosität, ein metaphy-sischer Bastard, ein kosmischer Scherz, der sich ge-weigert hatte, tief genug in den dunklen Teich seiner Seele zu blicken, um seine wahre Natur zu verstehen.

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»Du wurdest in Falschheit geboren, Peter«, sagte Etienne.

Er sah sie an und spürte Tränen auf seinen Wan-gen brennen. »Weißt du, was Hitler sagte, unmit-telbar bevor er sich umbrachte?«

»Nein«, antwortete seine Mutter. »Er sagte: ›Ich habe nie darum gebeten, geboren zu

werden.‹« Etienne sah ihn emotionslos an. Ihre Ruhe

schien unheimlich, weil etwas sein Inneres ziem-lich gründlich aufwühlte.

»Empfindest du auch so?«, fragte sie. »Ich denke, dass ich vielleicht immer so emp-

funden habe … dass ich vielleicht auf einer be-stimmten Ebene immer wusste …«

»Dass du was wusstest?« »Dass etwas nicht stimmte«, sagte er. »Mit mir.« »Du bist das Scheusal«, sagte Etienne. »Du wur-

dest nicht aus Liebe geboren.« »Dann soll es so sein«, sagte er und spürte

Traurigkeit ihn durchströmen wie vergossene Säu-re.

»Wähle, Peter«, sagte Etienne. »Ich kann dich nicht aufhalten. Ich werde es nicht versuchen.«

»Ich erwähle …« »Nein!«, schrie Francesco. Peter schaute auf den dünnen, alten Priester mit

den hageren Wangenknochen und dem grauen Bürstenschnitt hinab. Er kniete über dem wie ein Fötus gekrümmt daliegenden Sforza und hielt mit

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beiden Händen eine kleine Plastik- oder Porzel-lanwaffe vage auf Peter gerichtet.

»Pater, nein!«, rief Marion. »Er wird Sie umbrin-gen!«

»Sie sind eine Bestie«, sagte Giovanni Francesco. Peter grinste schwach. »Vielleicht.« »Ich habe Ihnen das Leben geschenkt«, sagte der

Priester. »Und jetzt – den Tod.« Die Ablenkung durch Francesco war genau das,

was er brauchte, da es ihm die Kraft gab, sich von dem bezwingenden Blick seiner Mutter zu lösen. Er spürte, wie er von ihr fortwirbelte, während sich erneut eine dunkle Energie in ihm sammelte. »Al-ter Mann!«, sagte er laut. »Sie tun mir einen Gefal-len!«

Peters Worte wurden von einer Reihe von Ex-plosionen verschluckt, die den Gang hinter ihm heraufdröhnten. Seine Brust zersprang in einem Schleier rötlichen Nebels. Etwas Rot-Heißes prallte gegen seinen Rücken und schleuderte ihn vorwärts, in Etiennes Arme. Brennender Schmerz strömte von seinen Eingeweiden aus wie brodelndes Mag-ma. Er konnte spüren, wie sein Atem verströmte, aber ihm fehlte die Kraft, ihn zurückzurufen.

Jemand klagte, wie aus weiter Ferne. Er war sich vage bewusst, dass ihn jemand in den Armen hielt, während er in dichten Nebel hinaufschaute. Ein Mann stand über ihm, ein Mann, der entfernt ver-traut wirkte. Peter erinnerte sich kurzzeitig an ei-nen anderen Mann, diesem sehr ähnlich, der mit

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einer Pistole auf ihn gezeigt hatte und dann in Flammen aufgegangen war.

»›Die Rache ist mein, sagt der Herr‹«, zitierte der Mann. »Aber auch mein, Sie Bastard!«

Peter sah den Menschen an, der ihn hielt – eine Frau mit kurzem, dunklen Haar und sanften, man-delförmigen Augen, alterslos und recht hübsch, und von einer Liebe erfüllt, die er nie gekannt hatte.

»Ich … brauche … nur eines«, sagte er, jedes Wort wie eine gezackte Klinge, die durch seine Kehle hinaufgezogen wurde. Etwas Nasses und Schweres sammelte sich inmitten seiner Brust und erschwerte jede Bewegung entsetzlich.

»Sag es mir«, forderte seine Mutter ihn auf. Andere Gestalten wankten im Nebel, während

sie sich um ihn versammelten und wie aus gewalti-gen, unmöglichen Höhen auf ihn herabblickten.

»Ver…gebung«, sagte er und schloss die Augen.

Marion Windsor

Sie war auf nichts davon vorbereitet gewesen. Ihr gesamter Körper erzitterte unter der abnor-

men Kälte, die in den Raum gedrungen war. Als sie zu Etienne hinabblickte, die Peter hielt, spürte Ma-rion, wie der gazeartige Vorhang eines Déjà-vu-Erlebnisses sie streifte, auch wenn sie noch nie zu-vor Zeuge einer solchen Szene geworden war.

Aber unheimlicherweise war sie von Michelan-gelo in seiner Pietà vorhergesagt worden.

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»Ich vergebe dir«, sagte Etienne. Francesco kniete sich hin und legte eine Hand

auf Peters Stirn. »In nomine Patris …« begann er, rasch die rituellen Gebete der Letzten Ölung mur-melnd, die Sterbesakramente.

Peters Augen blieben geschlossen, während die letzten Atemzüge aus ihm wichen.

Dann öffnete er sie jäh noch einmal und er-schreckte Marion damit so sehr, dass sie keuchte. Einen Moment schien er von Energie durchströmt und sah sie alle nacheinander an, während er sagte: »Ich danke euch.« Zuletzt richtete sich sein Blick auf Gaetano. »Besonders Ihnen.«

Als er die Augen schloss, sollte er sie nicht wie-der öffnen.

Marion schien es, als würden die Sterne um sie herum heller werden.

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EPILOG

ie New York Times (AP). In den Monaten seit den spektakulären Sonnenprotuberanzen,

welche die Oberfläche des Planeten Merkur er-reichten und zum Teil verbrannten, scheint sich die unregelmäßige Aktivität in der Koronosphäre unse-rer Sonne stabilisiert zu haben. Dies ist die letzte Schlussfolgerung, verkündet von Wissenschaftlern des California Institute for Solar Research im Mo-jave Center. »Alle ungewöhnlichen und unregel-mäßigen Verhaltensmuster der Sonneneruption haben aufgehört«, sagte Dr. Warren Kimball vom CISR. »Die Zeichen für einen grundlegenden Wan-del, die wir bei unserer Sonne beobachteten, sind ebenfalls nicht mehr festzustellen, und sie scheint zu einem vorhersehbareren Verhaltensmuster zu-rückgekehrt zu sein.« Dr. Kimball wurde gefragt, ob er eine Erklärung für das hätte, was auf der Ober-fläche der Sonne geschehen war, aber er lächelte nur, hob die Hände und sagte: »Wissen Sie, die Wissenschaft kennt nicht immer alle Antworten.«

D